So, mein Beitrag zum vorletzten Geschichtenwettbewerb (glaube ich^^). Endlich komplett überarbeitet, entkürzt und in der Fassung, in der ich ihn gerne im Wettbewerb gesehen hätte, aber durch die Wortbegrenzung behindert wurde.
Außerdem ein Wink an alle, die Goethes "Faust" kennen.
In dieser Geschichte sind nicht nur die Namen der Protagonisten an jenes Werk angelegt, sondern auch die Beziehung beider Charaktere, wobei ich keineswegs 1:1 kopiert habe, sondern vielmehr den Faust Stoff aus meiner persönlichen Perspektive neu interpretiert habe.
Wünsche Vergnügen, hoffe auf Resonanz. :slaanesh:
Ein Mädchen, das Gretchen
Der Ruck, der durch das Landeshuttle ging, als es auf der Plattform aufsetzte, war zwar nicht heftig,aber doch weitaus mehr, als viele Passagiere des zivilen Transporters gewöhnt waren. Man hatte sich bewusst gegen eine militärische Maschine entschieden, mit der der Flug noch um einiges unsanfter ausgefallen wäre, aber eines der fortschrittlichen Antigravitationsflugschiffe, die der Großteil der Delegation von ihrer Heimatwelt Rai Deva gewöhnt war, war ihr Fluggerät bedauerlicherweise auch nicht. Am ungehaltensten von allen Insassenwar mit Abstand die Frau des Obersten Direktors von Rai Deva, die sich dermaßen an ihren Gemahl klammerte, dass es schon beinahe dem Protokoll nicht angemessen erscheinen wollte. Der Direktor selbst, der in seiner Uniform kerzengerade auf seinem Platz saß, ertrug dieTurbulenzen des Fluges mit stoischer Ruhe, denn es hätte allesandere als gut ausgesehen, würde er sich vor den Offizieren und Beamten eine Blöße geben, welche ihrerseits jedoch nicht alle seine Fassung hatten. Nur unmerklich wandte er seinen Kopf zu seiner ein Jahrzehnt jünger wirkenden Frau und flüsterte ihr etwas zu. Bestimmt etwas wie, dass der Flug ja jetzt vorbei sei, was durchaus der Wahrheit entsprach, wahrscheinlich aber eher das Versprechen, sie bei ihrer Heimkehr mit Geschenken zu überschütten. Inmitten all der imperialen Funktionsträger ging allerdings eine Gestalt fast unter. Zwischen der Frau des Direktors und dem stellvertretendenKommandanten der Leibwache saß ruhig, aber wegen des holprigen Fluges nichtsdestotrotz ein wenig bleich im Antlitz, ein Junge von gut vierzehn Jahren. Der Sohn des Obersten Direktors. Er trug eine Uniform wie sein Vater und die anderen Männer von Rai Deva, doch ohne Rangzeichen an den Oberarmen, ohne Schärpe, ohne Orden und ohne Waffengurt. Und vor allem, ohne Sektionszeichen. Eines Tages würde er das Sektionszeichen seines Vaters übernehmen, was ihn als Herrn über ein Milliardenheer von Arbeitern und Planeten voller Produktionsstätten ausweisen würde. Im Moment musste er sich mit den Privilegien seines doch sehr zufriedenstellenden Standes begnügen. Seinem Vater folgend, saß er aufrecht da und blickte an die metallene Decke, hoffte, dass er sich bald würde entfernen dürfen, um etwas gegen seine chronische Langeweile unternehmen zu können.
Ein letztes Mal seufzte die Hydraulik, mit einem Zischen vollzog sich die atmosphärische Angleichung von Außen- und Innendruck, dann begann die Heckluke, sich in gebührend provokativer Langsamkeit zu öffnen, und helles Sonnenlicht strömte in den abgedunkelten Innenraum des Landeshuttles. Aus unerfindlichen Gründen hatte der Ingenieur hinter diesem Machwerk auf Bullaugen oder ähnliches verzichtet.
Als erstes erhob sich die Leibwache des Direktors, die sich sofort vor dem noch nicht ganz geöffneten Ausgang positionierte. Ihre massigen Gestalten versperrten die Sichtlinie zur Luke und dunkelten für die Personen hinter ihnen so die Szenerie wieder ab. Direkt dahinter stelle sich der Direktor selbst, der nochmals den Sitz seiner Uniform überprüfte und auch seine Frau trat an seine Rechte, dezent einen Blick in ihren Handspiegel riskierend. Beamte und Offiziere nahmen ihre Position gemäß dem Protokoll ein, die Luke war fast geöffnet. Der Sohn des Direktors, dem eigentlich ein Platz zur Linken seines Vaters bestimmt war, stellte sich allerdings auf einen der hinteren Plätze. Die Anwesenden nahmen diesen Protokollbruch mit einem Blinzeln zur Kenntnis und rückten alle eine Position auf, sodass es nun der Wirtschaftsdirektor war, der zur Linken des Direktors stand. Das war wahrscheinlich auch besser so, war doch der Grund des Besuchs dieser Delegation schlicht die Überprüfung, ob denn nicht noch weiterer Tribut aus diesem bedauernswerten Hinterwäldlerplaneten gezogenwerden konnte. Und der Direktor wusste, wie schnell sich sein Sohn langweilte. Allen anderen Anwesenden hätte ein Protest sowieso nicht zugestanden. Als die Luke den Boden berührte und eine von außen nicht sichtbare Lampe über dem Ausgang blau aufleuchtete, schritt die Leibgarde voran aus dem Transporter, sich schnell in Formationauf dem winzigen Landeplatz verteilend. Die Delegation folgte in getragenerem Tempo. Die räumliche Begrenztheit des Ortes, sowie sein recht heruntergekommenes Erscheinungsbild, ließen die Besucher erheiternd deplatziert wirken, was dem Sohn des Direktors zumindest den Anflug von Schadenfreude verschaffte. Dem Protokoll folgend trat der knöcherige planetare Verweser an den Direktor heran und grüßte ihn mit Aquilla und Verbeugung. Der Reihe nach küsste er der Fraudes Direktors den Handrücken, nickte dem Kommandanten der Leibwachen zu und reichte dem Wirtschaftsdirektor die Hand. Eigentlich hätte er jetzt diese Hand schütteln sollen, dachte sich Gaius, der gelangweilt dreinblickende Sohn des Direktors von Rai Deva, während er seinen Blick über die sie in Empfang nehmende Gesellschaft schweifen ließ. Beamte in schlichten Roben, Adelige in peinlichen grünen und rosanen Aufmachungen, Soldaten mit polierterArmaplastpanzerung und mit verschlissenen Lasergewehren eines Schemas, welches er noch nie gesehen hatte. Ein Gesicht ungepflegter als das vorherige.
Er musste kämpfen, ein Gähnen zu unterdrücken.
Eine grausig langweiligeProduktionswelt, die nichts außer Rohstoffen lieferte. Ohne Mittelschicht, nennenswerte Großstädte oder auch nur einer Möglichkeit, sich zu standesgemäß amüsieren. Und er musste hier ganze vier Tage zubringen. Wie oft hatte er seinen Vater gebeten, an Bord der Profitable Aussicht bleiben zu dürfen. Dort konnteer wenigstens seine Zeit mit Holospielen oder auf dem Schießstand totschlagen, bis er in knapp fünf Standartmonaten wieder zuhause sein würde. Hier konnte er allenfalls hoffen, die lokale Fauna mit seiner Pistole etwas dezimieren zu können, vorausgesetzt es gab hier überhaupt etwas, auf das man schießen konnte. Die beiden nun vermischten Delegationen setzten sich in Bewegung und Gaius beobachtete, wie der Verweser vor seinem Vater jämmerlich katzbuckelte. Einst würde er die Position seines Vaters innehaben, dachte er erneut. Und dann würden solche wertlosen Gestalten sich vor ihm in den Dreck werfen. Er konnte jenen Tag kaum erwarten, nichtsdestotrotz wünschte er seinem Vater noch ein langes und produktives Leben. Zumindest solange, bis es Gaius an zweiter Stelle nicht zu öde werden würde. Die Menschengruppe bewegte sich mittlerweile auf eine Treppe zu, die sie über einen schäbigen Platz in den Palast führen würde. Palast war ein höchst euphemistischerAusdruck für die halbverfallene, spätfeudale Burg, die die Planetenherren bei der Wiederentdeckung durch das Imperium vor sieben Jahrhunderten zum Regierungssitz bestimmt hatten. Dieser Planet war ein weiteres Beispiel dafür, warum Gaius es hasste, aus den zivilisierteren Sektoren der Galaxis herauszukommen.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte ein Leibwächter, der neben dem Jungen stehen geblieben war. Da er Helm und Kampfbrille trug, war sein Gesicht nicht zu erkennen.
„Weiß nicht.“, antwortete dieser, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Der Palast, so er denn diesen Namen verdient, sieht aus, als könne man darin jeden Moment an Langeweile krepieren.“
„Als Sohn des Direktors musst du ebenfalls auf den Planeten herunter. Etwas anderes wäre eine protokollarische Unhöflichkeit.“
Der Junge winkte ab.
„Klar, mein Vater hat mich dessen schon belehrt, dutzende Male. Das heißt aber nicht, dass wir bis zum Bankett heute Abend unser Dasein in dieser überdimensionierten Bruchbude zu fristen haben.“
Er begann schelmisch zu grinsen, wobeier einen Blick in Richtung des Mannes an seiner Seite warf.
„Arminius, was trägt denn die gewöhnliche Schicht hier für eine... Kluft?“
„Willst du dich in der Stadt umsehen?“, fragte sein Leibwächter, halb belustigt, jedoch auch halb mit sorgenvoller Stimmlage.
„Klar. Mutter sieht das zwar nichtgerne, aber Vater hat dich mir nicht umsonst an die Seite gestellt. Du treibst Kleidung auf und ich gehe einige von der PVS aushorchen, was man hier so treiben könnte. Das wäre doch gelacht, wenn wir nicht irgendwo auf diesem überwucherten Felsen eine Beschäftigung finden.“
Arminius der Leibwächter blickte seinem Herrn hinterher, eine böse Vorahnung und einige recht heikle Erinnerungen im Hinterkopf.
„Zwei Stunden! Zwei Stunden sind wir jetzt hier und haben nichts Interessantes entdeckt. Gar nichts!“, beschwerte sich Gaius, nachdem er einen Schluck des alkoholfreien Bieres probiert hatte. Eine Schande, dass die hiesige Bevölkerung es mit dem Alter so genau nahm.
„Du solltest vielleicht deine Erwartungen etwas zurücknehmen. Wir sind hier schließlich nicht auf Polis Utopia.“, versuchte sein Leibwächter zu beschwichtigen.
Gaius erinnerte sich. Polis Utopia war ein sauberer und weltoffener Planet am östlichen Rand des von seinemVater beherrschten Raumes und ein wahres Paradies für Gelangweilte.Besonders da der Planet nur oberflächlich sauber war. Und nebenbei bemerkt auch nur oberflächlich weltoffen.
„Ist mir egal. Wenn wir hier nicht bald mal was interessantes entdecken, beschaffen wir ein Fahrzeug und Gewehre und fahren in den Wald, der auf diesem Wanderstern in Unmengen vorhanden zu sein scheint. Mal ehrlich, hast du vom Orbit aus etwas anderes als Wasser und Wald gesehen?“
„Wie sind denn die örtlichen Gesetze zu Jagd und Waffengebrauch?“, fragte Arminius.
„Ist doch schnuppe.“, zeterteGaius. „Wenn einer fragt, geben wir unsere Identitäten preis. Was sollen diese Dörfler schon machen?“ Der bleiche Junge erhob sich und ließ seinen Blick durch die Schankstube schweifen. Viel Holz und schlechte Glühlampen unterstrichen die Rückständigkeit desPlaneten, aber die Jagdtrophäen an einer der Längswände des Schankraumes deuteten auf annehmbare Jagdvorschriften hin. Er malte sich bereits aus, welche Trophäe er für seine Sammlung würde schießen können, das Vorhaben scheiterte allerdings an dem Mangel an Informationen über die planetare Tierwelt. Doch gerade als er sich setzen und Arminius sagen wollte, dass sie die Idee mit dem Jagdausflug umsetzen sollten, öffnete sich die Tür zur Schenke und Neuzugang trat herein, der angenehmen Zeitvertreib implizierte. Der große bärtige Kerl, der mit einem Fass auf der Schulter hereintrat und sofort auf den Wirt zusteuerte, interessierte Gaius nicht im Geringsten, sodass er praktisch durch diese Gestalt hindurchsah. Doch dessen Anhängsel, ein Mädchen von etwa fünfzehn Jahren, also in seiner Altersklasse, das einen Korb mit Brot und undefinierbaren Zeug hinter dem Mann hertrug, interessierte ihn umso mehr. Er zwinkerte Arminius zu, sodass dieser sich umwandte und nun seinerseits den Grund für Gaius Aufmerksamkeit in Augenschein nahm. Innerhalb von Sekunden hatte sich der adelige Sohn für eine Masche entschieden.
„Falls der Hüne mich anspricht, komm und sag, du seist mein Onkel.“
Ohne auf die Antwort seines Bewachers zu warten, der arme Mann hatte sowieso keine Wahl, als den Anweisungen seines Schützlings zu folgen, trottete Gaius in RichtungTresen. Er brauchte nur noch einen lokal klingenden Namen.
„Hallo, mein Name Heinrich.“, sagte er, als er sie erreicht hatte. „Kann ich dir mit dem Korb helfen?“ Das Mädchen blickte ihn zunächst aus ihren dunkelblauen Augen verwirrt an, doch dann lächelte sie und drückte ihm den Korb in die Hand. Gerade lange genug blieben Gaius Augen an denen des Mädchens, sodass sie nicht anders konnte, als den Blick zu erwidern.
„Ich heiße Margarete. Danke für dieHilfe. Der Korb soll dort hinten ins Lager.“ Sie deutete auf eineTür. Gaius nickte und schleppte den überraschend schweren Korb am Tresen vorbei, die Blicke des Wirts und des Bärtigen auf ihn gerichtet, und platzierte seine Last in einem Regal. Für ein Mädchen hatte sie die Last überraschend problemlos getragen, andererseits durfte der Direktorensohn nicht vergessen, dass er auf einer zurückgebliebenen Welt war. Auf dem Rückweg musterte Margarete ihn von Kopf bis Fuß.
„Du bist nicht von hier, oder?“,fragte sie. Dass sie ihn so leicht durchschaute, verwirrte ihn zunächst. Doch schnell fasste er sich und erinnerte sich, dass sie mit „hier“ eben jene Stadt meinte, in der sie sich momentan befanden.
„Sicher. Woran hast du es gemerkt?“
„Die Männer, erst recht die Jungen hier, würden einem Mädchen nie helfen. Die Erwachsenen sind zu faul und die Jungen zu schüchtern. Und beide Altersklassen sind zudemnoch zu chauvinistisch.“ Letzteres kommentierte sie mit einem Zwinkern, welches nur ihm galt.
„Sieht ganz so aus, als wäre Konkurrenz praktisch nicht vorhanden.“, erwiderte er mit einem Lächeln. Er roch einen leichten und schnellen Sieg, aber besse rnichts überstürzen.
„Wer ist der Junge?“, fragte plötzlich eine donnernde Stimme hinter ihm. Der Riese war zu ihnen getreten, glücklicherweise sah er nicht verärgert aus. Freundlich wirkte er jedoch auch nicht, das konnte er sicher nichtmal, dachte sich der Direktorensohn schelmisch. Mit diesen Händen könnte er sicher Orks erwürgen.
„Das ist Heinrich, er ist nicht vonhier, wie du sicher sofort erkannte hast, Vater.“
„Allerdings.“ Dieser Typ, der wirkte, als würde er zum Vergnügen mit Bären ringen, war also ihr Vater. Die Natur trieb manchmal interessante Spielchen, dachte ersich.
„Gibt es ein Problem?“ Arminius war hinzugetreten.
„Sie sind?“, fragte Margaretes Vater.
„Herbert Faust, ich bin Heinrichs Onkel und habe ihn während meiner Geschäftsreise mitgenommen.“ Gute Arbeit, lobte Gaius seinen Aufpasser innerlich. In den letztenMonaten hatte der einst verklemmte Mann bemerkenswerte Fortschritte in den wichtigen Fähigkeiten des Lebens erzielt.
„Wilhelm Frömm.“, kam die Antwort und sogleich streckte er seine schaufelartige Hand zum Gruß aus. „Mir gehört der größte Bauernhof der Stadt.“ Dass dieses Gesicht lächeln konnte. „Sie sagten Geschäftsreise, sind Sie vielleicht Krämer?“
Arminius wollte zu einer Antwor tansetzen, wobei er zu Gaius blickte, der zufrieden grinste, doch er kam nicht dazu.
„Bevor sich hier wieder ein nicht enden wollendes Männergespräch entspinnt, erlaubst du, Vater, dass wir verschwinden?“, fragte Margarete.
„Sicher, geht nur.“, entgegnete Wilhelm Frömm und war schon mit seiner Aufmerksamkeit ganz woanders, denn er rief den Wirt zu sich und stellte seinen neuen Bekannten vor. Wegen des Nachnamens musste er mit Arminius allerdingsnoch ein Wörtchen reden. Einfach so den Namen eines gefürchteten Inquisitors anzunehmen, war nicht die klügste Wahl gewesen.
Die Beiden traten aus der Schankstube hinaus. Das Wetter war mittlerweile diesig, die Sonne hinter einer homogenen Wolkendecke verschwunden. Auf den breiten Straßen der äußeren Stadtbezirke war um diese Uhrzeit, kurz nach Mittag, wenig Verkehr. Die Menschen waren entweder zuhause, bei der Arbeit oder, wer momentan keine Arbeit hatte, in einer der zahlreichen verrauchten Tavernen. Brummend und wankend torkelte eine Droschke an den beiden Jugendlichen vorbei, Gaius wäre jede Wette eingegangen, dass dieses Pfuschwerk an Technik sicherlich keinem STK entsprungen sein konnte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite trotteten zwei Tagelöhner der nächsten Kneipe entgegen, und das zur Mittagszeit!
„Dein Vater hat uns aber schnell gehen lassen.“, bemerkte Gaius. Es war besser, erstmal den anständigen Jungen aus der Provinz zu mimen.
„Wieso sollte er auch Einwände haben? Du bist doch keine gefährliche Person, Oder etwa nicht?“ Margarete schien es ernst zu meinen, denn er konnte keinerlei Sarkasmus oder Süffisanz heraushören. Wenn Verbrechen hier sodermaßen unbekannt waren, dann hatte es sowohl etwas Positives, wieauch etwas Negatives. Positiv war sicherlich, dass Gaius mit den wahrscheinlich stümperhaften Sicherheitskräften, von denen er nochnicht ein Mitglied gesehen hatte, leicht fertig werden könnte. Einen Halunken seines Formats hatten sie gewiss noch nicht erlebt. Andererseits konnte er hier auf keinerlei Strukturen des halblegalen Vergnügens aufbauen, was jeder Beschäftigung mehr Vorbereitungszeit voranstellte.
„Und? Was kann man hier so sehen?", fragte Gaius.
„Ich dachte, du interessierst dichfür mich und nicht die hiesigen Sehenswürdigkeiten. Nicht, dass wirhier viel hätten.“, sagte sie mit einem wissenden Lächeln. Ob sie ahnte, dass er gar nicht Heinrich hieß. Doch ob sie einen Verdacht hatte oder nicht, sie fasste ihn an der Hand und zog ihn die Straße entlang. Ziemlich gewieft für eine Dirne, musste Gaius anerkennen. Schnell sorgte er dafür, dass es zumindest optisch so wirkte, als würde er sie führen, seine Eitelkeit ließ er sich auch nicht von diesem Mädchen nehmen, und folgte ihr weiter durch breite Hauptstraßen und dann mehr und mehr durch schmalere Nebenstraßen, immer weiter vom Stadtzentrum mit dem hässlichen Verwaltungssitz weg. Die Gebäude begannen, immer kleiner zu werden, schließlich waren sie nicht mehr denn bessere Hütten, und die Straßen veränderten sich von gepflasterten Wegen zu staubigem Boden. Die Bewohner sahen zwar immer noch recht sauber und gesund aus, aber der Direktorensohn war sich sicher, durch ein Wohnviertel von Tagelöhnern und deren Familien zu gehen. Nicht zwangsweise der Ort, an dem er nach Unterhaltung Ausschau zu halten pflegte. Also würde er Margarete die Zügel überlassen, wenigstens vorerst. Nach einigem Weg passierten sie die letzte Hütte und hinter ihr erstreckte sich eine grüne, recht verwilderte Wiese gut einen halben Kilometer weit ins Land, ehe die ersten Baumgrüppchen den Wald ankündigten.
Das Mädchen zog ihn völlig ungeniert weiter, ließ ihm kaum Zeit, die malerische Landschaft zu betrachten und nötigte ihn sogar einen Hügel hinauf. Auf der Kuppe erst ließ sie von ihm und lenkte seine Aufmerksamkeit auf dengegenüberliegenden See, der kristallklar im fahlen Sonnenlichtschimmerte. Nur ein kleiner Teil des Seerandes tangierte die Lichtung. Der Großteil des Ufers war von strammen und dunklen Bäumen eingenommen, die ihre Äste weit übers Wasser streckten und Schatten auf der klaren Wasseroberfläche tanzen ließen. Die exakten Dimensionen des Gewässers ließen sich von der Hügelkuppe aus nicht abschätzen, doch dieser Ort war genau das, wonach er gesucht hatte. Ein erinnerungswürdiges Fleckchen, um für eine Weile sein Interessezu fokussieren.
„Komm, da unten kannst du mir gerne sagen, was du dir in der Schenke gedacht hast.“, sprach sie und lief auch schon die Erhebung wieder hinab. „Und übrigens darfst du mich Gretchen nennen.“ Gaius folgte ihr nicht sofort, sondern blickte ihr nach, wie ihre hellbraunen Haare im Wind wehten, wie sie leicht und geschickt den unwegsamen Untergrund überquerte, ihr hellgrünes Kleid. Nun gut, dachte er sich. Besser gekleidete Mädchen hatte er schon viele gesehen, aber wenigstens sollte es bei ihrer schlichten Garderobe keine Schwierigkeiten mit dem Ausziehen geben. Überheblich grinsend, sich seiner Eroberung schon sicher wähnend, lief er ihr nach. Hinter ihm erschien auf der Flur ein Schatten, der stetig größer und größer wurde. Und hätte sich Gaius umgesehen, wüsste er was dieses Zeichen zu bedeuten hatte. Seine gesamte Aufmerksamkeit jedoch lag auf dem Objekt seiner Begierde.
Stunden vergingen, in denen Gaius dem Mädchen ein Leben vorlog, das er nie geführt hatte, und Geschichten, die ihm tatsächlich passiert waren, so modifizierte, dass sie ihm in seiner Rolle passiert sein konnten. Die Mädchengeschichten ließ er natürlich aus, ebenso wie die Schießerei, in die er und sein Leibwächter auf einer Makropolwelt gelangt waren. Seitdem erlaubte ihm sein Vater auch, der den Anlass für die Auseinandersetzung glücklicherweise nicht wissen wollte, eine Laserpistole zu tragen. Bei dem Gedanken an seine Waffe erinnerte er sich, dass er sie im Moment bei sich hatte und so passte er einen günstigen Moment ab, um sie von Gretchen unbemerkt hinter einer dicken Wurzel verschwinden zulassen. Da seine falschen Lebensumstände sowieso egal waren, hatte er bereits nach wenigen Geschichten die Gesprächsinitiative an sich gerissen und fragte sie stattdessen aus. Nicht, dass ihre Lebensgeschichte ihn sonderlich interessiert hätte oder er sich etwas Interessantes in ihrer Vergangenheit vorstellen konnte, aber erspürte, dass er dieses Mädchen sowieso nicht so leicht herumkriegen konnte. Sie hatte Anstand, Charakter und eine faszinierende Form der Würde, die Gaius bei ihrer Herkunft nicht für möglich gehalten hatte. Eine Würde, die ihm beinahe glauben ließ, er spräche mit einer der adeligen Industriellentöchter von Rai Deva.
Und so hörte er zu, von dem anstrengenden aber friedlichen Leben auf einem Bauernhof, dem frühen Tod ihrer Mutter durch Krankheit, der strikten Arbeitsmoral ihres Vaters, dass sie ein, zu ihrem Leidwesen, Einzelkind war. Zeitweise fragte sich Gaius, ob er es wirklich mit ihr wagen sollte, schließlich war sie keine dumme Schlampe aus einer unteren Makropolschicht. Solche Mädchen konnte er nicht einfach benutzen und wenn er nicht aufpasste, könnte dieses Gretchen selbst einen mächtigen Adeligen wie ihn in Bedrängnis bringen. Mit Schrecken stellte er fest, dass er sich nach einer Weile für sie zu interessieren begann. Anders als das Interesse in der Schänke und anders als die Faszination auf der sonnengefluteten Wiese. Dabei wollte er eigentlich nur ihr schönes Gesicht berühren und sie ihrer weniger schönen Kleider entledigen. Ohne dass er sagen konnte, ab wann bei ihm der Punkt erreicht war, hörte er ihr nicht mehr richtig zu. Ihre Worte schienen ineinander zu fließen, ihre sanfte Stimme liebkoste sein Trommelfell, so als könnte er sie physisch wahrnehmen. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, denn zu viel hatte er bereits über sie gehört, die er ursprünglich nach demheutigen Tag vergessen wollte. Und wenn es ihm noch gelingen sollte, auch sie letztlich loszuwerden, was er bei seiner Herkunft unbedingt musste, durfte er nicht mehr länger zögern.
Er wartete, bis sie wieder eine Pause einlegte und, da er scheinbar auf ihre letzten Worte nichts weitererwiderte, hinaus auf den klaren, glitzernden See blickte. Er rückte näher an sie heran, womit er sofort ihre Aufmerksamkeit erregte. Geschickt, bedacht nicht zu schnell zu handeln, legte er einen Arm um sie und führte sein Gesicht ganz nahe an ihres. Seine andere Hand legte er auf ihren Oberschenkel, fuhr ihr Bein bis zum Saum ihres Kleider hinunter. Millimeter für Millimeter bewegte er seine Hand wieder nach oben, diesmal jedoch mit seiner Hand auf ihrer blanken Haut. In ihren Augen tanzten Schrecken und Faszination. Sie leistete keinen Widerstand, also ging er einen Schritt weiter und küsste sie. Sie erwiderte den Kuss, obwohl es mit Bestimmtheit ihr erster war, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie schloss die Augen und ließ sich in Gaius Arm zurücksinken, ihre feie Hand legte sich auf sein Gesicht und strich über seine Wange. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihm, als würde er den Kuss genießen, ihn aufrichtig so verstehen, wie Gretchen es sicher tat. Aber schnell wischte er den Gedanken beiseite, sie war nur eine Ablenkung, um die Zeit auf diesem Planeten im Nirgendwo zu überbrücken.
Er wähnte sich am Ziel, legte seineHand auf ihre Schulter, um sie unmerklich an den Verschluss ihres Kleides auf ihrem Rücken gleiten zu lassen.
Im nächsten Moment aber riss sie sichlos, blickte ihn mit tränennassen Augen an und sprang auf. Ehe erwusste, wie ihm geschah, rannte sie davon, den Weg, den sie gekommenwaren und ihm blieb nichts, als ihr nachzublicken.
„Verdammt.“, zischte er. Was war denn los, wo hatte er einen Fehler begangen? Er hätte sich nicht auf sie einlassen dürfen. Er hätte sich eine suchen sollen, die dümmer aussah. Schließlich wollte er nur ein bisschen Spaß haben, bis er am Abend sich auf jenem Empfang zu Tode langweilen durfte. Doch das hatte er sich jetzt selbst verbaut. Er ließ sich ins Gras fallen und beschloss, einfach eine Weile liegen zu bleiben. Mürrisch holte er seine kunstvoll verzierte Laserpistole aus ihrem Versteck hervor und betrachtete ihre fließenden Muster im Licht.
Auf seinem Rückweg traf er keinen einzigen Menschen.
In den Randbezirken hatte er sich noch nichts dabei gedacht, erfahrungsgemäß waren die weniger privilegierten Teile einer Stadt nicht gerade Horte des Gemeinwesen, doch als er näher zum Stadtzentrum kam, ließ er seine Hand nichtmehr von der aktivierten Laserpistole. Irgendwann machte er nicht mal mehr den Versuch, die Waffe in der Jackentasche zu verstecken, sondern hielt sie demonstrativ in der Rechten, während er langsam weiterging, in jede Seitenstraße spähte, jedes Fenster und jeden dunklen Türrahmen genau im Auge behielt. Arminius hatte er nicht in der Taverne angetroffen, obwohl er dort hätte warten sollen. Überhaupt war auch die Taverne seltsam verlassen, die Stühle durcheinander und halbvolle Becher auf den Tischen. Keine Spur des Hünen, Gretchens Vater, oder des massigen Wirts. In der Entfernung ragte die feudale Burg über dem Stadtbild auf, ebenfalls ohne ein Lebenszeichen. Ihm war deutlich unwohl bei der Situation, doch es gelang ihm, jegliche aufkeimende Furcht zu unterdrücken. Schließlich war er zu arrogant, sich selbst Furcht vor solchen Lächerlichkeiten wie menschenleeren Straßen einzugestehen.
Ein Geräusch vor ihm ließ ihn zusammenzucken.
Die Pistole schnellte vor und Gaius drehte am Regler die Feuerenergie auf. Zu seiner Überraschung zielte er auf einen imperialen Soldaten. Und er war kein Mitglied der PVS.
„Ah Soldat, Sie kommen mir recht. Was geht hier vor?“
Doch der Mann, der ihn erst jetzt bemerkte, richtete sein Hochenergie- Lasergewehr auf ihn und brüllte los:
„Waffe senken. Leiste keinenWiderstand.“ Hinter einer Hausecke erschien ein Zweiter. Beide in guter Armaplastpanzerung. Der Erste brüllte in exzellentem Hochgotisch. Ihre Uniformen waren weinrot, die Panzerung dunkelgrau, Funkgeräte und Atemmasken waren denen der Deva Garde seiner Heimatwelt ebenbürtig. Also musste man mit diesen Gesellen reden können, rückständig waren sie gewiss nicht.
„Sie wissen wohl nicht, wer ich bin? Ich heiße Gaius Flavius von Rai Deva, Sohn des obersten Direktors von Deva Magna Prim, Erbe des vierten Hauses von Rai Major. Also runter mit der Waffe.“
Der Soldat senkte augenblicklich sein Gewehr. Geht doch, triumphierte Gaius innerlich. Seine Titel hatten den erwarteten Respekt in den Gardisten geweckt. Auf einmal nahmen beide Männer, ein Feldwebel und ein Obergefreiter, überraschendschnell Haltung an, die Waffen wurden in ihre Halterungen am Rückengenerator zurückgeführt.
„Junger Herr, wir haben Sie bereits gesucht. Ein Offizier der Leibwachen wartet am nächsten Kontrollpunkt und hat uns aufgetragen, Sie zu ihm zu führen.“
Na bitte, dachte Gaius. Auf den guten Arminius war stets Verlass, auch wenn er sich beizeiten einen Leibwächter mit mehr Sinn für Humor wünschte. Er folgte den beiden Grenadieren, jedenfalls deutete er ihr Zugehörigkeitsabzeichen zu dieser Truppengattung, einige Straßen weiter bis zu einem großen Platz. Auf dem Weg sprach keiner ein Wort, er nicht, weil es nichts zu bereden gab und die Soldaten nicht, weil es sich nicht schickte, eine Person von seiner Geburt unaufgefordert anzusprechen. Oder irrte sich der Junge darin? Der Anblick des Hauptplatzes vor deraltertümlichen Burg, eingerahmt von für diese Welt vergleichsweise hohen Bauten, verblüffte ihn sofort. Sämtliche Menschen der Stadt waren in Gruppen zu mehreren Dutzend zusammengefasst und von weiteren perfekt gerüsteten Soldaten bewacht. Zwischen den Gruppen bewegten sich Explikatoren, Servitoren und buckelige Schreiber, nahmen scheinbar Identitäten auf und teilten hier und dort Menschen von einer Gruppe einer anderen zu. Diese willkürlich erscheinenden Zuteilungen wurden jedes Mal von einem Aufschrei, einem lauten Wehklagen, einem kleinen Tumult begleitet, der stets die schweigsamen Gardisten auf den Plan rief, die augenblicklich einschritten und die Zuweisungen der Schreiber durchsetzten, wenn nötig auch mit Schlagstock und Gewehrkolben. Er ließ den Blick schweifen, den herannahenden Arminius ließ er nicht nur äußerlich links liegen.
„Ich hatte mir bereits Sorgengemacht. Bist du unverletzt?“
„Um mich?“, winkte er ab. „Was geht hier ab?“
„Die Inquisition hat eine Sperre überden Planeten verhängt.“
In diesem Moment entdeckte er Gretchen, die neben ihrem Vater in einer der Menschengruppen stand. DieInquisition also. Dann war die Situation tatsächlich kritisch, wahrscheinlich würde keiner der Leute vor seinen Augen noch allzulange leben. Wie unschön, dass ihre Inspektion gerade mit dem Eintreffen der geheimen Wächter des Imperiums zusammenfiel.
Er hatte Geschichten gehört, teilsauch von seinem Vater, keine Information war allerdings offiziell bestätigt und so konnte er nur mutmaßen, wann und wie schmerzhaftdie Bevölkerung dieser waldigen Kugel, deren Namen er immer noch nicht kannte, ausgelöscht werden würde. Bei diesem Gedanken wanderten seine Augen zurück zu Gretchen, die verunsichert inmittenlaut diskutierender Menschen stand. Sie näherte sich aus irgendeinemGrund nicht ihrem Vater, obwohl dieser immer wieder einen Blick auf seine Tochter warf. Das Mädchen musste sicher unter Schock stehen.
Wenn ich es nicht vermasselt hätte, dachte sich der junge Adelige. Dann wären sie womöglich zusammen zurückgegangen und er hätte sie vor der Inquisition bewahren können. Er verstand nicht, wieso er das eigentlich wollte, aber sein Verstand kreiste um jenes Mädchen und ignorierte vollkommen seinen immer noch sprechenden Leibwächter, die Rufe, die Schreie, das Weinen. Alles schien wie hinter einem dichten Vorhang, der den Schall dämpfte und nur er und Gretchen, deren Wimmern er klar unddeutlich vernahm, waren diesseits des Vorhangs.
Nein, noch konnte er sie retten.
„Die gesamte Situation ist etwa schaotisch, wie haben kaum alle Delegationsmitglieder finden können.“, fuhr Arminius fort. Dass Gaius ihm nicht zuhörte, interessierte ihnnicht, daran war er gewöhnt. Doch der letzte Satz des Soldaten war für den Erben von Rai Deva eine willkommene Vorlage.
„Was!“, schauspielerte er. „Aber dann müssen wir Lucretia finden.“
Arminius verstand sofort und spielte mit. Die Unverfrorenheit seines jungen Herrn war wohl ansteckend.
„Bei der Suche nach dir habe ich sie vollkommen vergessen.“, rief er aufgebracht und unterwürfigzugleich. Er wandte sich an den Hauptmann der Inquisitionsgarde.
„Wer ist Lucretia?“, fragte dieser, glücklicherweise bevor Arminius es übertreiben konnte.
„Meine Dienerin.“, sagte Gaius. „Wir haben uns am Stadtrand getrennt, weil ich mir den Wald ansehenwollte...“ Jetzt schien ihm ein guter Zeitpunkt. Er wandte wie zufällig den Kopf ein Stück zur Seite. „Da steht sie ja!“ Er deutete in ihre Richtung und rannte los, gefolgt von den Soldaten. „Ein Glück.“, hörte er seinen Aufpasser direkt hinter sich. Hunderte Augenpaare richteten sich auf die kleine Gruppe aus Soldaten und zwei merkwürdigen Zivilisten.
„Da bist du ja.“, sagte Gaius und nahm das verwirrte Mädchen bei der Hand. „Warum hast du denn nicht einfach deinen Namen genannt? Diese Soldaten können keine Bürgerin von Rai Deva festhalten.“ Letzterem folgte ein herablassender Blick zum Hauptmann, den er sich von seinem Vater abgeguckt hatte. Er wirkte hervorragend, der Offizier reagierte seiner Natur entsprechend mit respektvoll angespannter Haltung.
„Komm, wir sollten gehen und die Inquisition nicht bei der Verrichtung ihrer heiligen Pflichtbehindern.“
Gretchen nickte nur. Sie trat an die Seite des jungen Adeligen und senkte den Kopf, wohl um nicht ihren verwirrten Blick offen zu zeigen. Doch den umstehenden Gardistenschien erschien es wie die normale Reaktion einer Dienerin, die der Weisung ihres Herrn folgte. Gaius Scharade wirkte. Jetzt galt es nur noch ein Detail zu bedenken.
Während sich der Hauptmann der Gardistensich bereits abwandte, um seinen Männern neue Anweisungen zu geben, er wollte etwas tun, womit er nicht erneut das Missfallen eines Mächtigen erregen würde, nutzte Gaius den Moment, um Gretchens Vater eine Botschaft zu übermitteln. Der Mann war zu verwirrt und zu machtlos, um einzugreifen. Ungläubig betrachtete er die Vorgänge und musste mit ansehen, wie seine Tochter mit einem Fremden davonging, und zudem ohne jeden Protest. Der Direktorensohn deutete ein Kopfschütteln an. Er hatte die Aufmerksamkeit des Hünen. Wie um ihm zu zeigen, dass er auf seine Tochter achten würde, legte er eineHand auf ihre Schulter. Er nickte in Richtung der Soldaten. Er ging ein Risiko ein. Hätte der Hauptmann oder einer der anderen Offiziere der Inquisitionstruppen in jenem Moment die Beiden betrachtet, wie sie still und doch nicht ohne Zeichen kommunizierten, sein ganzes Schauspiel wäre in sich zusammengefallen, wie ein Turm aus Lho-Stäbchen. Den Konflikt im Gesicht des Vaters hätte selbst einverkrüppelter Mutant richtig deuten können.
Gaius zog Gretchen mit sich, darauf bedacht, möglichst erhaben zu wirken, ein gönnender Herr, der Nachsicht mit seiner Bediensteten hatte. Arminius an seiner anderen Seite verließen sie ohne weitere Behelligung den Platz. Gaius hastete ein wenig, denn noch konnte Gretchens Vater sie verraten.
Keine Stunde später befanden sich Gaius und Gretchen auf dem privaten Aussichtsdeck der Direktorenfamilie auf ihrem Kreuzer, der Profitable Aussicht. Schweigend blickten drei Augenpaare auf den kleiner und kleiner werdenden Planeten, während sich ihr Raumfahrzeug zu den Eintrittskoordinaten zum Warpraum bewegte. Gaius Vater stand nebenden beiden Jugendlichen und ihm gingen seine eigenen Sorgen durch den Kopf. Er hatte ohne Protest der Inquisition das Feld überlassen, auch für einen Mann wie ihn gab es Gegner, denen man besser aus dem Weg ging, doch mit dieser Welt hatte er Abgaben, Credits und Einfluss verloren, den zu ersetzen eine schwierige Aufgabe sein würde. Warum die Inquisition überhaupt erschienen war, hatte er nicht in Erfahrung gebracht und es war vermutlich besser so.
Gaius hatte seinem Vater die Geschichte seines bewegten Tages ehrlich und in allen Punkten offengelegt. Etwas, was der Sohn selten tat und der Vater selten verlangte. Und zur Verblüffung des Jungen hatte sein Vater ihn angesehen, wie er es niemals zuvor getan hatte.
„Mein Sohn.“, hatte er gesagt. „Ich habe dir jede Freiheit gelassen, denn auch mir wurden sie von meinem Vater gelassen. Erst durch die Erfahrung, keine Grenzen zu kennen, kann einem Mann in späteren Jahren die Bedeutung von Grenzen, natürlichen und selbst auferlegten, gewahr werden. Und heute hast du etwas getan, was ein Mann tun würde, nicht ein Junge. Du hast Verantwortung übernommen, obwohl sie dir zum Schluss aufgezwungenwurde. Gut gemacht.“
Mehr hatte der streng dreinblickende Mann in Uniform nicht gesagt und mehr musste Gaius auch nicht hören. Obwohl er natürlich hoffte, dass die Zeit seines Erwachsenwerdensnoch eine Weile auf sich würde warten lassen und er noch einige Schweinereien mit Arminius würde unternehmen können. Beim nächstenMal bevorzugt ohne Inquisitionsbeteiligung.
Gretchen war seit dem Vorfall auf dem großen Platz schweigsam geblieben. Sie hatte wortlos die Blicke der Delegation akzeptiert, als das Shuttle die letzten Devaner vom Planeten brachte, sie hatte schweigend zur Kenntnis genommen, wie Gaius und sein Vater ihr eine Identität schufen, ihr den Namen Lucretia gaben, sie in den Dienst ihrer Familie nahmen und in prächtige Gewänder kleideten. Und schweigsam und ohne Regung hatte sie den Planeten, ihre Heimat, betrachtet, die mit jedem Atemzug ferner und ferner lag. Sie hatte ihren Planeten, wahrscheinlich sogar ihren Heimatort, vor diesem Tag nicht verlassen. Während die Planetenkugel schließlich vollends verschwand und der Direktor wortlos das Aussichtsdeck verließ, starrte Gaius in die Schwärze des Weltraums, als könne er dort eine Antwort auf sein Handeln undseine Zukunft finden. Doch die Sterne blieben schweigsam.
„Danke.“, hörte er die engelsgleiche Stimme des Mädchens neben sich, für die er auf dem Planeten Leben und Stellung riskiert hatte, ohne zu wissen warum. Er warf einen Blick zur Seite und erstarrte.
Die edelsteinartigen Augen Gretchens blickten ihn mit einer Kraft und Bestimmtheit an, die er selbst bei den willensstärksten Offizieren und Direktoren nie geschaut hatte. Sie war wie verändert, saß nun liebreizend und offenherzig an seiner Seite, ihr schönes Gesicht schien zu strahlen. Der schattigeRaum schien sich mit Licht zu füllen, von einer Quelle, die nicht zuerkennen war.
„Danke, dass du mich von diesemPlaneten gerettet hast, mein lieber Junge.“
Was redete sie da? Lieber Junge, siewar doch kaum älter als er selbst.
„Für deine Hilfe werde ich dich entlohnen wie keinen Zweiten.“
Ihren letzten Satz hauchte sie, ihre Stimme verführerisch schwingend und ihr Gesicht sich näher und näher seinem annähernd. Während Gaius versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, pressten sich die Lippen des bildschönen Mädchens auf seine. Und ihr Kuss war nicht der eines unerfahrenenjungen Mädchens.
Außerdem ein Wink an alle, die Goethes "Faust" kennen.
In dieser Geschichte sind nicht nur die Namen der Protagonisten an jenes Werk angelegt, sondern auch die Beziehung beider Charaktere, wobei ich keineswegs 1:1 kopiert habe, sondern vielmehr den Faust Stoff aus meiner persönlichen Perspektive neu interpretiert habe.
Wünsche Vergnügen, hoffe auf Resonanz. :slaanesh:
Ein Mädchen, das Gretchen
Der Ruck, der durch das Landeshuttle ging, als es auf der Plattform aufsetzte, war zwar nicht heftig,aber doch weitaus mehr, als viele Passagiere des zivilen Transporters gewöhnt waren. Man hatte sich bewusst gegen eine militärische Maschine entschieden, mit der der Flug noch um einiges unsanfter ausgefallen wäre, aber eines der fortschrittlichen Antigravitationsflugschiffe, die der Großteil der Delegation von ihrer Heimatwelt Rai Deva gewöhnt war, war ihr Fluggerät bedauerlicherweise auch nicht. Am ungehaltensten von allen Insassenwar mit Abstand die Frau des Obersten Direktors von Rai Deva, die sich dermaßen an ihren Gemahl klammerte, dass es schon beinahe dem Protokoll nicht angemessen erscheinen wollte. Der Direktor selbst, der in seiner Uniform kerzengerade auf seinem Platz saß, ertrug dieTurbulenzen des Fluges mit stoischer Ruhe, denn es hätte allesandere als gut ausgesehen, würde er sich vor den Offizieren und Beamten eine Blöße geben, welche ihrerseits jedoch nicht alle seine Fassung hatten. Nur unmerklich wandte er seinen Kopf zu seiner ein Jahrzehnt jünger wirkenden Frau und flüsterte ihr etwas zu. Bestimmt etwas wie, dass der Flug ja jetzt vorbei sei, was durchaus der Wahrheit entsprach, wahrscheinlich aber eher das Versprechen, sie bei ihrer Heimkehr mit Geschenken zu überschütten. Inmitten all der imperialen Funktionsträger ging allerdings eine Gestalt fast unter. Zwischen der Frau des Direktors und dem stellvertretendenKommandanten der Leibwache saß ruhig, aber wegen des holprigen Fluges nichtsdestotrotz ein wenig bleich im Antlitz, ein Junge von gut vierzehn Jahren. Der Sohn des Obersten Direktors. Er trug eine Uniform wie sein Vater und die anderen Männer von Rai Deva, doch ohne Rangzeichen an den Oberarmen, ohne Schärpe, ohne Orden und ohne Waffengurt. Und vor allem, ohne Sektionszeichen. Eines Tages würde er das Sektionszeichen seines Vaters übernehmen, was ihn als Herrn über ein Milliardenheer von Arbeitern und Planeten voller Produktionsstätten ausweisen würde. Im Moment musste er sich mit den Privilegien seines doch sehr zufriedenstellenden Standes begnügen. Seinem Vater folgend, saß er aufrecht da und blickte an die metallene Decke, hoffte, dass er sich bald würde entfernen dürfen, um etwas gegen seine chronische Langeweile unternehmen zu können.
Ein letztes Mal seufzte die Hydraulik, mit einem Zischen vollzog sich die atmosphärische Angleichung von Außen- und Innendruck, dann begann die Heckluke, sich in gebührend provokativer Langsamkeit zu öffnen, und helles Sonnenlicht strömte in den abgedunkelten Innenraum des Landeshuttles. Aus unerfindlichen Gründen hatte der Ingenieur hinter diesem Machwerk auf Bullaugen oder ähnliches verzichtet.
Als erstes erhob sich die Leibwache des Direktors, die sich sofort vor dem noch nicht ganz geöffneten Ausgang positionierte. Ihre massigen Gestalten versperrten die Sichtlinie zur Luke und dunkelten für die Personen hinter ihnen so die Szenerie wieder ab. Direkt dahinter stelle sich der Direktor selbst, der nochmals den Sitz seiner Uniform überprüfte und auch seine Frau trat an seine Rechte, dezent einen Blick in ihren Handspiegel riskierend. Beamte und Offiziere nahmen ihre Position gemäß dem Protokoll ein, die Luke war fast geöffnet. Der Sohn des Direktors, dem eigentlich ein Platz zur Linken seines Vaters bestimmt war, stellte sich allerdings auf einen der hinteren Plätze. Die Anwesenden nahmen diesen Protokollbruch mit einem Blinzeln zur Kenntnis und rückten alle eine Position auf, sodass es nun der Wirtschaftsdirektor war, der zur Linken des Direktors stand. Das war wahrscheinlich auch besser so, war doch der Grund des Besuchs dieser Delegation schlicht die Überprüfung, ob denn nicht noch weiterer Tribut aus diesem bedauernswerten Hinterwäldlerplaneten gezogenwerden konnte. Und der Direktor wusste, wie schnell sich sein Sohn langweilte. Allen anderen Anwesenden hätte ein Protest sowieso nicht zugestanden. Als die Luke den Boden berührte und eine von außen nicht sichtbare Lampe über dem Ausgang blau aufleuchtete, schritt die Leibgarde voran aus dem Transporter, sich schnell in Formationauf dem winzigen Landeplatz verteilend. Die Delegation folgte in getragenerem Tempo. Die räumliche Begrenztheit des Ortes, sowie sein recht heruntergekommenes Erscheinungsbild, ließen die Besucher erheiternd deplatziert wirken, was dem Sohn des Direktors zumindest den Anflug von Schadenfreude verschaffte. Dem Protokoll folgend trat der knöcherige planetare Verweser an den Direktor heran und grüßte ihn mit Aquilla und Verbeugung. Der Reihe nach küsste er der Fraudes Direktors den Handrücken, nickte dem Kommandanten der Leibwachen zu und reichte dem Wirtschaftsdirektor die Hand. Eigentlich hätte er jetzt diese Hand schütteln sollen, dachte sich Gaius, der gelangweilt dreinblickende Sohn des Direktors von Rai Deva, während er seinen Blick über die sie in Empfang nehmende Gesellschaft schweifen ließ. Beamte in schlichten Roben, Adelige in peinlichen grünen und rosanen Aufmachungen, Soldaten mit polierterArmaplastpanzerung und mit verschlissenen Lasergewehren eines Schemas, welches er noch nie gesehen hatte. Ein Gesicht ungepflegter als das vorherige.
Er musste kämpfen, ein Gähnen zu unterdrücken.
Eine grausig langweiligeProduktionswelt, die nichts außer Rohstoffen lieferte. Ohne Mittelschicht, nennenswerte Großstädte oder auch nur einer Möglichkeit, sich zu standesgemäß amüsieren. Und er musste hier ganze vier Tage zubringen. Wie oft hatte er seinen Vater gebeten, an Bord der Profitable Aussicht bleiben zu dürfen. Dort konnteer wenigstens seine Zeit mit Holospielen oder auf dem Schießstand totschlagen, bis er in knapp fünf Standartmonaten wieder zuhause sein würde. Hier konnte er allenfalls hoffen, die lokale Fauna mit seiner Pistole etwas dezimieren zu können, vorausgesetzt es gab hier überhaupt etwas, auf das man schießen konnte. Die beiden nun vermischten Delegationen setzten sich in Bewegung und Gaius beobachtete, wie der Verweser vor seinem Vater jämmerlich katzbuckelte. Einst würde er die Position seines Vaters innehaben, dachte er erneut. Und dann würden solche wertlosen Gestalten sich vor ihm in den Dreck werfen. Er konnte jenen Tag kaum erwarten, nichtsdestotrotz wünschte er seinem Vater noch ein langes und produktives Leben. Zumindest solange, bis es Gaius an zweiter Stelle nicht zu öde werden würde. Die Menschengruppe bewegte sich mittlerweile auf eine Treppe zu, die sie über einen schäbigen Platz in den Palast führen würde. Palast war ein höchst euphemistischerAusdruck für die halbverfallene, spätfeudale Burg, die die Planetenherren bei der Wiederentdeckung durch das Imperium vor sieben Jahrhunderten zum Regierungssitz bestimmt hatten. Dieser Planet war ein weiteres Beispiel dafür, warum Gaius es hasste, aus den zivilisierteren Sektoren der Galaxis herauszukommen.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte ein Leibwächter, der neben dem Jungen stehen geblieben war. Da er Helm und Kampfbrille trug, war sein Gesicht nicht zu erkennen.
„Weiß nicht.“, antwortete dieser, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Der Palast, so er denn diesen Namen verdient, sieht aus, als könne man darin jeden Moment an Langeweile krepieren.“
„Als Sohn des Direktors musst du ebenfalls auf den Planeten herunter. Etwas anderes wäre eine protokollarische Unhöflichkeit.“
Der Junge winkte ab.
„Klar, mein Vater hat mich dessen schon belehrt, dutzende Male. Das heißt aber nicht, dass wir bis zum Bankett heute Abend unser Dasein in dieser überdimensionierten Bruchbude zu fristen haben.“
Er begann schelmisch zu grinsen, wobeier einen Blick in Richtung des Mannes an seiner Seite warf.
„Arminius, was trägt denn die gewöhnliche Schicht hier für eine... Kluft?“
„Willst du dich in der Stadt umsehen?“, fragte sein Leibwächter, halb belustigt, jedoch auch halb mit sorgenvoller Stimmlage.
„Klar. Mutter sieht das zwar nichtgerne, aber Vater hat dich mir nicht umsonst an die Seite gestellt. Du treibst Kleidung auf und ich gehe einige von der PVS aushorchen, was man hier so treiben könnte. Das wäre doch gelacht, wenn wir nicht irgendwo auf diesem überwucherten Felsen eine Beschäftigung finden.“
Arminius der Leibwächter blickte seinem Herrn hinterher, eine böse Vorahnung und einige recht heikle Erinnerungen im Hinterkopf.
„Zwei Stunden! Zwei Stunden sind wir jetzt hier und haben nichts Interessantes entdeckt. Gar nichts!“, beschwerte sich Gaius, nachdem er einen Schluck des alkoholfreien Bieres probiert hatte. Eine Schande, dass die hiesige Bevölkerung es mit dem Alter so genau nahm.
„Du solltest vielleicht deine Erwartungen etwas zurücknehmen. Wir sind hier schließlich nicht auf Polis Utopia.“, versuchte sein Leibwächter zu beschwichtigen.
Gaius erinnerte sich. Polis Utopia war ein sauberer und weltoffener Planet am östlichen Rand des von seinemVater beherrschten Raumes und ein wahres Paradies für Gelangweilte.Besonders da der Planet nur oberflächlich sauber war. Und nebenbei bemerkt auch nur oberflächlich weltoffen.
„Ist mir egal. Wenn wir hier nicht bald mal was interessantes entdecken, beschaffen wir ein Fahrzeug und Gewehre und fahren in den Wald, der auf diesem Wanderstern in Unmengen vorhanden zu sein scheint. Mal ehrlich, hast du vom Orbit aus etwas anderes als Wasser und Wald gesehen?“
„Wie sind denn die örtlichen Gesetze zu Jagd und Waffengebrauch?“, fragte Arminius.
„Ist doch schnuppe.“, zeterteGaius. „Wenn einer fragt, geben wir unsere Identitäten preis. Was sollen diese Dörfler schon machen?“ Der bleiche Junge erhob sich und ließ seinen Blick durch die Schankstube schweifen. Viel Holz und schlechte Glühlampen unterstrichen die Rückständigkeit desPlaneten, aber die Jagdtrophäen an einer der Längswände des Schankraumes deuteten auf annehmbare Jagdvorschriften hin. Er malte sich bereits aus, welche Trophäe er für seine Sammlung würde schießen können, das Vorhaben scheiterte allerdings an dem Mangel an Informationen über die planetare Tierwelt. Doch gerade als er sich setzen und Arminius sagen wollte, dass sie die Idee mit dem Jagdausflug umsetzen sollten, öffnete sich die Tür zur Schenke und Neuzugang trat herein, der angenehmen Zeitvertreib implizierte. Der große bärtige Kerl, der mit einem Fass auf der Schulter hereintrat und sofort auf den Wirt zusteuerte, interessierte Gaius nicht im Geringsten, sodass er praktisch durch diese Gestalt hindurchsah. Doch dessen Anhängsel, ein Mädchen von etwa fünfzehn Jahren, also in seiner Altersklasse, das einen Korb mit Brot und undefinierbaren Zeug hinter dem Mann hertrug, interessierte ihn umso mehr. Er zwinkerte Arminius zu, sodass dieser sich umwandte und nun seinerseits den Grund für Gaius Aufmerksamkeit in Augenschein nahm. Innerhalb von Sekunden hatte sich der adelige Sohn für eine Masche entschieden.
„Falls der Hüne mich anspricht, komm und sag, du seist mein Onkel.“
Ohne auf die Antwort seines Bewachers zu warten, der arme Mann hatte sowieso keine Wahl, als den Anweisungen seines Schützlings zu folgen, trottete Gaius in RichtungTresen. Er brauchte nur noch einen lokal klingenden Namen.
„Hallo, mein Name Heinrich.“, sagte er, als er sie erreicht hatte. „Kann ich dir mit dem Korb helfen?“ Das Mädchen blickte ihn zunächst aus ihren dunkelblauen Augen verwirrt an, doch dann lächelte sie und drückte ihm den Korb in die Hand. Gerade lange genug blieben Gaius Augen an denen des Mädchens, sodass sie nicht anders konnte, als den Blick zu erwidern.
„Ich heiße Margarete. Danke für dieHilfe. Der Korb soll dort hinten ins Lager.“ Sie deutete auf eineTür. Gaius nickte und schleppte den überraschend schweren Korb am Tresen vorbei, die Blicke des Wirts und des Bärtigen auf ihn gerichtet, und platzierte seine Last in einem Regal. Für ein Mädchen hatte sie die Last überraschend problemlos getragen, andererseits durfte der Direktorensohn nicht vergessen, dass er auf einer zurückgebliebenen Welt war. Auf dem Rückweg musterte Margarete ihn von Kopf bis Fuß.
„Du bist nicht von hier, oder?“,fragte sie. Dass sie ihn so leicht durchschaute, verwirrte ihn zunächst. Doch schnell fasste er sich und erinnerte sich, dass sie mit „hier“ eben jene Stadt meinte, in der sie sich momentan befanden.
„Sicher. Woran hast du es gemerkt?“
„Die Männer, erst recht die Jungen hier, würden einem Mädchen nie helfen. Die Erwachsenen sind zu faul und die Jungen zu schüchtern. Und beide Altersklassen sind zudemnoch zu chauvinistisch.“ Letzteres kommentierte sie mit einem Zwinkern, welches nur ihm galt.
„Sieht ganz so aus, als wäre Konkurrenz praktisch nicht vorhanden.“, erwiderte er mit einem Lächeln. Er roch einen leichten und schnellen Sieg, aber besse rnichts überstürzen.
„Wer ist der Junge?“, fragte plötzlich eine donnernde Stimme hinter ihm. Der Riese war zu ihnen getreten, glücklicherweise sah er nicht verärgert aus. Freundlich wirkte er jedoch auch nicht, das konnte er sicher nichtmal, dachte sich der Direktorensohn schelmisch. Mit diesen Händen könnte er sicher Orks erwürgen.
„Das ist Heinrich, er ist nicht vonhier, wie du sicher sofort erkannte hast, Vater.“
„Allerdings.“ Dieser Typ, der wirkte, als würde er zum Vergnügen mit Bären ringen, war also ihr Vater. Die Natur trieb manchmal interessante Spielchen, dachte ersich.
„Gibt es ein Problem?“ Arminius war hinzugetreten.
„Sie sind?“, fragte Margaretes Vater.
„Herbert Faust, ich bin Heinrichs Onkel und habe ihn während meiner Geschäftsreise mitgenommen.“ Gute Arbeit, lobte Gaius seinen Aufpasser innerlich. In den letztenMonaten hatte der einst verklemmte Mann bemerkenswerte Fortschritte in den wichtigen Fähigkeiten des Lebens erzielt.
„Wilhelm Frömm.“, kam die Antwort und sogleich streckte er seine schaufelartige Hand zum Gruß aus. „Mir gehört der größte Bauernhof der Stadt.“ Dass dieses Gesicht lächeln konnte. „Sie sagten Geschäftsreise, sind Sie vielleicht Krämer?“
Arminius wollte zu einer Antwor tansetzen, wobei er zu Gaius blickte, der zufrieden grinste, doch er kam nicht dazu.
„Bevor sich hier wieder ein nicht enden wollendes Männergespräch entspinnt, erlaubst du, Vater, dass wir verschwinden?“, fragte Margarete.
„Sicher, geht nur.“, entgegnete Wilhelm Frömm und war schon mit seiner Aufmerksamkeit ganz woanders, denn er rief den Wirt zu sich und stellte seinen neuen Bekannten vor. Wegen des Nachnamens musste er mit Arminius allerdingsnoch ein Wörtchen reden. Einfach so den Namen eines gefürchteten Inquisitors anzunehmen, war nicht die klügste Wahl gewesen.
Die Beiden traten aus der Schankstube hinaus. Das Wetter war mittlerweile diesig, die Sonne hinter einer homogenen Wolkendecke verschwunden. Auf den breiten Straßen der äußeren Stadtbezirke war um diese Uhrzeit, kurz nach Mittag, wenig Verkehr. Die Menschen waren entweder zuhause, bei der Arbeit oder, wer momentan keine Arbeit hatte, in einer der zahlreichen verrauchten Tavernen. Brummend und wankend torkelte eine Droschke an den beiden Jugendlichen vorbei, Gaius wäre jede Wette eingegangen, dass dieses Pfuschwerk an Technik sicherlich keinem STK entsprungen sein konnte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite trotteten zwei Tagelöhner der nächsten Kneipe entgegen, und das zur Mittagszeit!
„Dein Vater hat uns aber schnell gehen lassen.“, bemerkte Gaius. Es war besser, erstmal den anständigen Jungen aus der Provinz zu mimen.
„Wieso sollte er auch Einwände haben? Du bist doch keine gefährliche Person, Oder etwa nicht?“ Margarete schien es ernst zu meinen, denn er konnte keinerlei Sarkasmus oder Süffisanz heraushören. Wenn Verbrechen hier sodermaßen unbekannt waren, dann hatte es sowohl etwas Positives, wieauch etwas Negatives. Positiv war sicherlich, dass Gaius mit den wahrscheinlich stümperhaften Sicherheitskräften, von denen er nochnicht ein Mitglied gesehen hatte, leicht fertig werden könnte. Einen Halunken seines Formats hatten sie gewiss noch nicht erlebt. Andererseits konnte er hier auf keinerlei Strukturen des halblegalen Vergnügens aufbauen, was jeder Beschäftigung mehr Vorbereitungszeit voranstellte.
„Und? Was kann man hier so sehen?", fragte Gaius.
„Ich dachte, du interessierst dichfür mich und nicht die hiesigen Sehenswürdigkeiten. Nicht, dass wirhier viel hätten.“, sagte sie mit einem wissenden Lächeln. Ob sie ahnte, dass er gar nicht Heinrich hieß. Doch ob sie einen Verdacht hatte oder nicht, sie fasste ihn an der Hand und zog ihn die Straße entlang. Ziemlich gewieft für eine Dirne, musste Gaius anerkennen. Schnell sorgte er dafür, dass es zumindest optisch so wirkte, als würde er sie führen, seine Eitelkeit ließ er sich auch nicht von diesem Mädchen nehmen, und folgte ihr weiter durch breite Hauptstraßen und dann mehr und mehr durch schmalere Nebenstraßen, immer weiter vom Stadtzentrum mit dem hässlichen Verwaltungssitz weg. Die Gebäude begannen, immer kleiner zu werden, schließlich waren sie nicht mehr denn bessere Hütten, und die Straßen veränderten sich von gepflasterten Wegen zu staubigem Boden. Die Bewohner sahen zwar immer noch recht sauber und gesund aus, aber der Direktorensohn war sich sicher, durch ein Wohnviertel von Tagelöhnern und deren Familien zu gehen. Nicht zwangsweise der Ort, an dem er nach Unterhaltung Ausschau zu halten pflegte. Also würde er Margarete die Zügel überlassen, wenigstens vorerst. Nach einigem Weg passierten sie die letzte Hütte und hinter ihr erstreckte sich eine grüne, recht verwilderte Wiese gut einen halben Kilometer weit ins Land, ehe die ersten Baumgrüppchen den Wald ankündigten.
Das Mädchen zog ihn völlig ungeniert weiter, ließ ihm kaum Zeit, die malerische Landschaft zu betrachten und nötigte ihn sogar einen Hügel hinauf. Auf der Kuppe erst ließ sie von ihm und lenkte seine Aufmerksamkeit auf dengegenüberliegenden See, der kristallklar im fahlen Sonnenlichtschimmerte. Nur ein kleiner Teil des Seerandes tangierte die Lichtung. Der Großteil des Ufers war von strammen und dunklen Bäumen eingenommen, die ihre Äste weit übers Wasser streckten und Schatten auf der klaren Wasseroberfläche tanzen ließen. Die exakten Dimensionen des Gewässers ließen sich von der Hügelkuppe aus nicht abschätzen, doch dieser Ort war genau das, wonach er gesucht hatte. Ein erinnerungswürdiges Fleckchen, um für eine Weile sein Interessezu fokussieren.
„Komm, da unten kannst du mir gerne sagen, was du dir in der Schenke gedacht hast.“, sprach sie und lief auch schon die Erhebung wieder hinab. „Und übrigens darfst du mich Gretchen nennen.“ Gaius folgte ihr nicht sofort, sondern blickte ihr nach, wie ihre hellbraunen Haare im Wind wehten, wie sie leicht und geschickt den unwegsamen Untergrund überquerte, ihr hellgrünes Kleid. Nun gut, dachte er sich. Besser gekleidete Mädchen hatte er schon viele gesehen, aber wenigstens sollte es bei ihrer schlichten Garderobe keine Schwierigkeiten mit dem Ausziehen geben. Überheblich grinsend, sich seiner Eroberung schon sicher wähnend, lief er ihr nach. Hinter ihm erschien auf der Flur ein Schatten, der stetig größer und größer wurde. Und hätte sich Gaius umgesehen, wüsste er was dieses Zeichen zu bedeuten hatte. Seine gesamte Aufmerksamkeit jedoch lag auf dem Objekt seiner Begierde.
Stunden vergingen, in denen Gaius dem Mädchen ein Leben vorlog, das er nie geführt hatte, und Geschichten, die ihm tatsächlich passiert waren, so modifizierte, dass sie ihm in seiner Rolle passiert sein konnten. Die Mädchengeschichten ließ er natürlich aus, ebenso wie die Schießerei, in die er und sein Leibwächter auf einer Makropolwelt gelangt waren. Seitdem erlaubte ihm sein Vater auch, der den Anlass für die Auseinandersetzung glücklicherweise nicht wissen wollte, eine Laserpistole zu tragen. Bei dem Gedanken an seine Waffe erinnerte er sich, dass er sie im Moment bei sich hatte und so passte er einen günstigen Moment ab, um sie von Gretchen unbemerkt hinter einer dicken Wurzel verschwinden zulassen. Da seine falschen Lebensumstände sowieso egal waren, hatte er bereits nach wenigen Geschichten die Gesprächsinitiative an sich gerissen und fragte sie stattdessen aus. Nicht, dass ihre Lebensgeschichte ihn sonderlich interessiert hätte oder er sich etwas Interessantes in ihrer Vergangenheit vorstellen konnte, aber erspürte, dass er dieses Mädchen sowieso nicht so leicht herumkriegen konnte. Sie hatte Anstand, Charakter und eine faszinierende Form der Würde, die Gaius bei ihrer Herkunft nicht für möglich gehalten hatte. Eine Würde, die ihm beinahe glauben ließ, er spräche mit einer der adeligen Industriellentöchter von Rai Deva.
Und so hörte er zu, von dem anstrengenden aber friedlichen Leben auf einem Bauernhof, dem frühen Tod ihrer Mutter durch Krankheit, der strikten Arbeitsmoral ihres Vaters, dass sie ein, zu ihrem Leidwesen, Einzelkind war. Zeitweise fragte sich Gaius, ob er es wirklich mit ihr wagen sollte, schließlich war sie keine dumme Schlampe aus einer unteren Makropolschicht. Solche Mädchen konnte er nicht einfach benutzen und wenn er nicht aufpasste, könnte dieses Gretchen selbst einen mächtigen Adeligen wie ihn in Bedrängnis bringen. Mit Schrecken stellte er fest, dass er sich nach einer Weile für sie zu interessieren begann. Anders als das Interesse in der Schänke und anders als die Faszination auf der sonnengefluteten Wiese. Dabei wollte er eigentlich nur ihr schönes Gesicht berühren und sie ihrer weniger schönen Kleider entledigen. Ohne dass er sagen konnte, ab wann bei ihm der Punkt erreicht war, hörte er ihr nicht mehr richtig zu. Ihre Worte schienen ineinander zu fließen, ihre sanfte Stimme liebkoste sein Trommelfell, so als könnte er sie physisch wahrnehmen. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, denn zu viel hatte er bereits über sie gehört, die er ursprünglich nach demheutigen Tag vergessen wollte. Und wenn es ihm noch gelingen sollte, auch sie letztlich loszuwerden, was er bei seiner Herkunft unbedingt musste, durfte er nicht mehr länger zögern.
Er wartete, bis sie wieder eine Pause einlegte und, da er scheinbar auf ihre letzten Worte nichts weitererwiderte, hinaus auf den klaren, glitzernden See blickte. Er rückte näher an sie heran, womit er sofort ihre Aufmerksamkeit erregte. Geschickt, bedacht nicht zu schnell zu handeln, legte er einen Arm um sie und führte sein Gesicht ganz nahe an ihres. Seine andere Hand legte er auf ihren Oberschenkel, fuhr ihr Bein bis zum Saum ihres Kleider hinunter. Millimeter für Millimeter bewegte er seine Hand wieder nach oben, diesmal jedoch mit seiner Hand auf ihrer blanken Haut. In ihren Augen tanzten Schrecken und Faszination. Sie leistete keinen Widerstand, also ging er einen Schritt weiter und küsste sie. Sie erwiderte den Kuss, obwohl es mit Bestimmtheit ihr erster war, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie schloss die Augen und ließ sich in Gaius Arm zurücksinken, ihre feie Hand legte sich auf sein Gesicht und strich über seine Wange. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihm, als würde er den Kuss genießen, ihn aufrichtig so verstehen, wie Gretchen es sicher tat. Aber schnell wischte er den Gedanken beiseite, sie war nur eine Ablenkung, um die Zeit auf diesem Planeten im Nirgendwo zu überbrücken.
Er wähnte sich am Ziel, legte seineHand auf ihre Schulter, um sie unmerklich an den Verschluss ihres Kleides auf ihrem Rücken gleiten zu lassen.
Im nächsten Moment aber riss sie sichlos, blickte ihn mit tränennassen Augen an und sprang auf. Ehe erwusste, wie ihm geschah, rannte sie davon, den Weg, den sie gekommenwaren und ihm blieb nichts, als ihr nachzublicken.
„Verdammt.“, zischte er. Was war denn los, wo hatte er einen Fehler begangen? Er hätte sich nicht auf sie einlassen dürfen. Er hätte sich eine suchen sollen, die dümmer aussah. Schließlich wollte er nur ein bisschen Spaß haben, bis er am Abend sich auf jenem Empfang zu Tode langweilen durfte. Doch das hatte er sich jetzt selbst verbaut. Er ließ sich ins Gras fallen und beschloss, einfach eine Weile liegen zu bleiben. Mürrisch holte er seine kunstvoll verzierte Laserpistole aus ihrem Versteck hervor und betrachtete ihre fließenden Muster im Licht.
Auf seinem Rückweg traf er keinen einzigen Menschen.
In den Randbezirken hatte er sich noch nichts dabei gedacht, erfahrungsgemäß waren die weniger privilegierten Teile einer Stadt nicht gerade Horte des Gemeinwesen, doch als er näher zum Stadtzentrum kam, ließ er seine Hand nichtmehr von der aktivierten Laserpistole. Irgendwann machte er nicht mal mehr den Versuch, die Waffe in der Jackentasche zu verstecken, sondern hielt sie demonstrativ in der Rechten, während er langsam weiterging, in jede Seitenstraße spähte, jedes Fenster und jeden dunklen Türrahmen genau im Auge behielt. Arminius hatte er nicht in der Taverne angetroffen, obwohl er dort hätte warten sollen. Überhaupt war auch die Taverne seltsam verlassen, die Stühle durcheinander und halbvolle Becher auf den Tischen. Keine Spur des Hünen, Gretchens Vater, oder des massigen Wirts. In der Entfernung ragte die feudale Burg über dem Stadtbild auf, ebenfalls ohne ein Lebenszeichen. Ihm war deutlich unwohl bei der Situation, doch es gelang ihm, jegliche aufkeimende Furcht zu unterdrücken. Schließlich war er zu arrogant, sich selbst Furcht vor solchen Lächerlichkeiten wie menschenleeren Straßen einzugestehen.
Ein Geräusch vor ihm ließ ihn zusammenzucken.
Die Pistole schnellte vor und Gaius drehte am Regler die Feuerenergie auf. Zu seiner Überraschung zielte er auf einen imperialen Soldaten. Und er war kein Mitglied der PVS.
„Ah Soldat, Sie kommen mir recht. Was geht hier vor?“
Doch der Mann, der ihn erst jetzt bemerkte, richtete sein Hochenergie- Lasergewehr auf ihn und brüllte los:
„Waffe senken. Leiste keinenWiderstand.“ Hinter einer Hausecke erschien ein Zweiter. Beide in guter Armaplastpanzerung. Der Erste brüllte in exzellentem Hochgotisch. Ihre Uniformen waren weinrot, die Panzerung dunkelgrau, Funkgeräte und Atemmasken waren denen der Deva Garde seiner Heimatwelt ebenbürtig. Also musste man mit diesen Gesellen reden können, rückständig waren sie gewiss nicht.
„Sie wissen wohl nicht, wer ich bin? Ich heiße Gaius Flavius von Rai Deva, Sohn des obersten Direktors von Deva Magna Prim, Erbe des vierten Hauses von Rai Major. Also runter mit der Waffe.“
Der Soldat senkte augenblicklich sein Gewehr. Geht doch, triumphierte Gaius innerlich. Seine Titel hatten den erwarteten Respekt in den Gardisten geweckt. Auf einmal nahmen beide Männer, ein Feldwebel und ein Obergefreiter, überraschendschnell Haltung an, die Waffen wurden in ihre Halterungen am Rückengenerator zurückgeführt.
„Junger Herr, wir haben Sie bereits gesucht. Ein Offizier der Leibwachen wartet am nächsten Kontrollpunkt und hat uns aufgetragen, Sie zu ihm zu führen.“
Na bitte, dachte Gaius. Auf den guten Arminius war stets Verlass, auch wenn er sich beizeiten einen Leibwächter mit mehr Sinn für Humor wünschte. Er folgte den beiden Grenadieren, jedenfalls deutete er ihr Zugehörigkeitsabzeichen zu dieser Truppengattung, einige Straßen weiter bis zu einem großen Platz. Auf dem Weg sprach keiner ein Wort, er nicht, weil es nichts zu bereden gab und die Soldaten nicht, weil es sich nicht schickte, eine Person von seiner Geburt unaufgefordert anzusprechen. Oder irrte sich der Junge darin? Der Anblick des Hauptplatzes vor deraltertümlichen Burg, eingerahmt von für diese Welt vergleichsweise hohen Bauten, verblüffte ihn sofort. Sämtliche Menschen der Stadt waren in Gruppen zu mehreren Dutzend zusammengefasst und von weiteren perfekt gerüsteten Soldaten bewacht. Zwischen den Gruppen bewegten sich Explikatoren, Servitoren und buckelige Schreiber, nahmen scheinbar Identitäten auf und teilten hier und dort Menschen von einer Gruppe einer anderen zu. Diese willkürlich erscheinenden Zuteilungen wurden jedes Mal von einem Aufschrei, einem lauten Wehklagen, einem kleinen Tumult begleitet, der stets die schweigsamen Gardisten auf den Plan rief, die augenblicklich einschritten und die Zuweisungen der Schreiber durchsetzten, wenn nötig auch mit Schlagstock und Gewehrkolben. Er ließ den Blick schweifen, den herannahenden Arminius ließ er nicht nur äußerlich links liegen.
„Ich hatte mir bereits Sorgengemacht. Bist du unverletzt?“
„Um mich?“, winkte er ab. „Was geht hier ab?“
„Die Inquisition hat eine Sperre überden Planeten verhängt.“
In diesem Moment entdeckte er Gretchen, die neben ihrem Vater in einer der Menschengruppen stand. DieInquisition also. Dann war die Situation tatsächlich kritisch, wahrscheinlich würde keiner der Leute vor seinen Augen noch allzulange leben. Wie unschön, dass ihre Inspektion gerade mit dem Eintreffen der geheimen Wächter des Imperiums zusammenfiel.
Er hatte Geschichten gehört, teilsauch von seinem Vater, keine Information war allerdings offiziell bestätigt und so konnte er nur mutmaßen, wann und wie schmerzhaftdie Bevölkerung dieser waldigen Kugel, deren Namen er immer noch nicht kannte, ausgelöscht werden würde. Bei diesem Gedanken wanderten seine Augen zurück zu Gretchen, die verunsichert inmittenlaut diskutierender Menschen stand. Sie näherte sich aus irgendeinemGrund nicht ihrem Vater, obwohl dieser immer wieder einen Blick auf seine Tochter warf. Das Mädchen musste sicher unter Schock stehen.
Wenn ich es nicht vermasselt hätte, dachte sich der junge Adelige. Dann wären sie womöglich zusammen zurückgegangen und er hätte sie vor der Inquisition bewahren können. Er verstand nicht, wieso er das eigentlich wollte, aber sein Verstand kreiste um jenes Mädchen und ignorierte vollkommen seinen immer noch sprechenden Leibwächter, die Rufe, die Schreie, das Weinen. Alles schien wie hinter einem dichten Vorhang, der den Schall dämpfte und nur er und Gretchen, deren Wimmern er klar unddeutlich vernahm, waren diesseits des Vorhangs.
Nein, noch konnte er sie retten.
„Die gesamte Situation ist etwa schaotisch, wie haben kaum alle Delegationsmitglieder finden können.“, fuhr Arminius fort. Dass Gaius ihm nicht zuhörte, interessierte ihnnicht, daran war er gewöhnt. Doch der letzte Satz des Soldaten war für den Erben von Rai Deva eine willkommene Vorlage.
„Was!“, schauspielerte er. „Aber dann müssen wir Lucretia finden.“
Arminius verstand sofort und spielte mit. Die Unverfrorenheit seines jungen Herrn war wohl ansteckend.
„Bei der Suche nach dir habe ich sie vollkommen vergessen.“, rief er aufgebracht und unterwürfigzugleich. Er wandte sich an den Hauptmann der Inquisitionsgarde.
„Wer ist Lucretia?“, fragte dieser, glücklicherweise bevor Arminius es übertreiben konnte.
„Meine Dienerin.“, sagte Gaius. „Wir haben uns am Stadtrand getrennt, weil ich mir den Wald ansehenwollte...“ Jetzt schien ihm ein guter Zeitpunkt. Er wandte wie zufällig den Kopf ein Stück zur Seite. „Da steht sie ja!“ Er deutete in ihre Richtung und rannte los, gefolgt von den Soldaten. „Ein Glück.“, hörte er seinen Aufpasser direkt hinter sich. Hunderte Augenpaare richteten sich auf die kleine Gruppe aus Soldaten und zwei merkwürdigen Zivilisten.
„Da bist du ja.“, sagte Gaius und nahm das verwirrte Mädchen bei der Hand. „Warum hast du denn nicht einfach deinen Namen genannt? Diese Soldaten können keine Bürgerin von Rai Deva festhalten.“ Letzterem folgte ein herablassender Blick zum Hauptmann, den er sich von seinem Vater abgeguckt hatte. Er wirkte hervorragend, der Offizier reagierte seiner Natur entsprechend mit respektvoll angespannter Haltung.
„Komm, wir sollten gehen und die Inquisition nicht bei der Verrichtung ihrer heiligen Pflichtbehindern.“
Gretchen nickte nur. Sie trat an die Seite des jungen Adeligen und senkte den Kopf, wohl um nicht ihren verwirrten Blick offen zu zeigen. Doch den umstehenden Gardistenschien erschien es wie die normale Reaktion einer Dienerin, die der Weisung ihres Herrn folgte. Gaius Scharade wirkte. Jetzt galt es nur noch ein Detail zu bedenken.
Während sich der Hauptmann der Gardistensich bereits abwandte, um seinen Männern neue Anweisungen zu geben, er wollte etwas tun, womit er nicht erneut das Missfallen eines Mächtigen erregen würde, nutzte Gaius den Moment, um Gretchens Vater eine Botschaft zu übermitteln. Der Mann war zu verwirrt und zu machtlos, um einzugreifen. Ungläubig betrachtete er die Vorgänge und musste mit ansehen, wie seine Tochter mit einem Fremden davonging, und zudem ohne jeden Protest. Der Direktorensohn deutete ein Kopfschütteln an. Er hatte die Aufmerksamkeit des Hünen. Wie um ihm zu zeigen, dass er auf seine Tochter achten würde, legte er eineHand auf ihre Schulter. Er nickte in Richtung der Soldaten. Er ging ein Risiko ein. Hätte der Hauptmann oder einer der anderen Offiziere der Inquisitionstruppen in jenem Moment die Beiden betrachtet, wie sie still und doch nicht ohne Zeichen kommunizierten, sein ganzes Schauspiel wäre in sich zusammengefallen, wie ein Turm aus Lho-Stäbchen. Den Konflikt im Gesicht des Vaters hätte selbst einverkrüppelter Mutant richtig deuten können.
Gaius zog Gretchen mit sich, darauf bedacht, möglichst erhaben zu wirken, ein gönnender Herr, der Nachsicht mit seiner Bediensteten hatte. Arminius an seiner anderen Seite verließen sie ohne weitere Behelligung den Platz. Gaius hastete ein wenig, denn noch konnte Gretchens Vater sie verraten.
Keine Stunde später befanden sich Gaius und Gretchen auf dem privaten Aussichtsdeck der Direktorenfamilie auf ihrem Kreuzer, der Profitable Aussicht. Schweigend blickten drei Augenpaare auf den kleiner und kleiner werdenden Planeten, während sich ihr Raumfahrzeug zu den Eintrittskoordinaten zum Warpraum bewegte. Gaius Vater stand nebenden beiden Jugendlichen und ihm gingen seine eigenen Sorgen durch den Kopf. Er hatte ohne Protest der Inquisition das Feld überlassen, auch für einen Mann wie ihn gab es Gegner, denen man besser aus dem Weg ging, doch mit dieser Welt hatte er Abgaben, Credits und Einfluss verloren, den zu ersetzen eine schwierige Aufgabe sein würde. Warum die Inquisition überhaupt erschienen war, hatte er nicht in Erfahrung gebracht und es war vermutlich besser so.
Gaius hatte seinem Vater die Geschichte seines bewegten Tages ehrlich und in allen Punkten offengelegt. Etwas, was der Sohn selten tat und der Vater selten verlangte. Und zur Verblüffung des Jungen hatte sein Vater ihn angesehen, wie er es niemals zuvor getan hatte.
„Mein Sohn.“, hatte er gesagt. „Ich habe dir jede Freiheit gelassen, denn auch mir wurden sie von meinem Vater gelassen. Erst durch die Erfahrung, keine Grenzen zu kennen, kann einem Mann in späteren Jahren die Bedeutung von Grenzen, natürlichen und selbst auferlegten, gewahr werden. Und heute hast du etwas getan, was ein Mann tun würde, nicht ein Junge. Du hast Verantwortung übernommen, obwohl sie dir zum Schluss aufgezwungenwurde. Gut gemacht.“
Mehr hatte der streng dreinblickende Mann in Uniform nicht gesagt und mehr musste Gaius auch nicht hören. Obwohl er natürlich hoffte, dass die Zeit seines Erwachsenwerdensnoch eine Weile auf sich würde warten lassen und er noch einige Schweinereien mit Arminius würde unternehmen können. Beim nächstenMal bevorzugt ohne Inquisitionsbeteiligung.
Gretchen war seit dem Vorfall auf dem großen Platz schweigsam geblieben. Sie hatte wortlos die Blicke der Delegation akzeptiert, als das Shuttle die letzten Devaner vom Planeten brachte, sie hatte schweigend zur Kenntnis genommen, wie Gaius und sein Vater ihr eine Identität schufen, ihr den Namen Lucretia gaben, sie in den Dienst ihrer Familie nahmen und in prächtige Gewänder kleideten. Und schweigsam und ohne Regung hatte sie den Planeten, ihre Heimat, betrachtet, die mit jedem Atemzug ferner und ferner lag. Sie hatte ihren Planeten, wahrscheinlich sogar ihren Heimatort, vor diesem Tag nicht verlassen. Während die Planetenkugel schließlich vollends verschwand und der Direktor wortlos das Aussichtsdeck verließ, starrte Gaius in die Schwärze des Weltraums, als könne er dort eine Antwort auf sein Handeln undseine Zukunft finden. Doch die Sterne blieben schweigsam.
„Danke.“, hörte er die engelsgleiche Stimme des Mädchens neben sich, für die er auf dem Planeten Leben und Stellung riskiert hatte, ohne zu wissen warum. Er warf einen Blick zur Seite und erstarrte.
Die edelsteinartigen Augen Gretchens blickten ihn mit einer Kraft und Bestimmtheit an, die er selbst bei den willensstärksten Offizieren und Direktoren nie geschaut hatte. Sie war wie verändert, saß nun liebreizend und offenherzig an seiner Seite, ihr schönes Gesicht schien zu strahlen. Der schattigeRaum schien sich mit Licht zu füllen, von einer Quelle, die nicht zuerkennen war.
„Danke, dass du mich von diesemPlaneten gerettet hast, mein lieber Junge.“
Was redete sie da? Lieber Junge, siewar doch kaum älter als er selbst.
„Für deine Hilfe werde ich dich entlohnen wie keinen Zweiten.“
Ihren letzten Satz hauchte sie, ihre Stimme verführerisch schwingend und ihr Gesicht sich näher und näher seinem annähernd. Während Gaius versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, pressten sich die Lippen des bildschönen Mädchens auf seine. Und ihr Kuss war nicht der eines unerfahrenenjungen Mädchens.
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