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Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
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07


Das Licht der Zwillingsschwestern Taous und Tages ließ die Fluten des Freon in den Farben einer Milliarde Diamanten glitzern.
Gemächlich schlängelte sich der breite Strom in seinem Bett, folgten Millionen von Litern ihrem längst in Stein geformten Lauf. Und auf ihrem Weg nahmen sie die Wünsche, Träume und Gebete der Menschen mit sich. Zyniker hätten wohl angemerkt, dass darunter auch Abfall und Fäkalien fielen.
Haestian Carrick blickte gedankenverloren auf das funkelnde Wasser, ließ seine Überlegungen und Sorgen wie Steine über die sich leicht kräuselnden Wellen springen in der Hoffnung, sie würden irgendwann in die Fluten eintauchen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen spürte er Stiche in seinem Herzen, seltsame Gefühle der Verlorenheit und des inneren Unglücks.
Wäre jemand auf ihn zugekommen und hätte ihn gefragt, ob er diese Empfinden näher beschreiben könne, seine Antwort wäre wohl ein Faustschlag gewesen. Gut platziert, versteht sich.
Irgendwo in der Ferne schrie ein Gladius-Vogel, riss den Major aus seinen Grübeleien.
Er sah auf.
Gladii waren seltsame Vögel. Manchmal kam es einem vor, als verhöhnten die wunderbar bunten Himmelswächter den Zuhörer, manchmal empfand er ihre Rufe als melancholisch klagend.
Für Carrick besaßen die Laute hingegen nur eine, tragische Bedeutung: Ein akustischer Beweis dafür, dass das Leben weiterging. Es marschierte voran wie eine unendlich lange Kolonne von Soldaten, strebte vorwärts einem ungewissen Ziel entgegen.
Und ähnlich den mächtigen Fluten des Freon nahm es die Wünsche, Träume und Gebete der Menschen mit – sie selbst blieben irgendwann auf der Strecke. Sanken zu Boden und hauchten ihren letzten, verzweifelten Atem in die Luft einer Million verschiedener Welten, bevor der große Imperator sie zu sich nahm und der ganze Kreislauf von vorn begann.
Den Gladius-Vogel interessierte dies wahrscheinlich wenig. Er war vermutlich nur auf der Suche nach einer Partnerin. Einer Gefährtin, mit der er sein ganzes Leben zusammenbleiben und Eier ausbrüten konnte.
Um diese Aufgabe rotierte sein Lebensziel: Möglichst viele Nachkommen zeugen, damit der infernalische Lärm der Brutgebiete nie endete.
Im Grunde, dachte der Major weiter, unterscheidet er sich dabei nicht groß von uns.
Das stimmte. Tatsächlich kreiste auch die menschliche Daseinsberechtigung um den Fakt, dass möglichst viele, möglichst reine Vertreter der menschlichen Rasse das Licht der Welt erblickten und sich wiederrum fortpflanzten, um den unendlichen Raum des von ihnen besiedelten Universums mit ihren Leibern zu füllen.
Und so wie die Jäger Bastets, die großen Raubtiere und natürlichen Feinde des stolzen Vogels damit beschäftigt waren seine Ausbreitung einzudämmen, strömten auch die Feinde des Menschen aus den Tiefen des Alls herbei, um seinen Einfluss auf die Galaxis zu negieren – und seine Präsenz gleich mit.
Aber es gab einen Unterschied zwischen den Vögeln und den Humanoiden: Letztere standen unter dem Licht des großen Imperators. Und dieses Licht diente als Leuchtfeuer. Als Wegweiser durch die Finsternis zwischen den Sternen.
Die Gladii konnten diese Besonderheit nicht geltend machen. Wobei – wirklich schräge Vögel kannte der Major auch unter den Menschen. Einer von ihnen führte sein Regiment.
Er schnaubte missvergnügt, als er an seinen Colonel dachte. Ekko. Je länger er darüber nachgrübelte, umso mehr wollte es ihm vorkommen als wenn der Wahnsinn des imperialen Regimentskommandeurs von einer nur schwer zu verstehenden Methode war. Der Auswuchs eines besonders perfiden Genies, das es nicht zuließ, dass ihm jemand in die Karten schaute.
Anders war sein wechselhaftes Benehmen nicht zu erklären.
Um sein Verhalten einer spontanen Häresie zuzuschreiben fehlte ihm der unkontrollierte Wahn einer mit der Versuchung in Berührung gekommenen Person.
Für einen Karriereoffizier war er zu unkonventionell.
Und für eine Überforderung mit der Last des Dienstes zeichneten sich seine Pläne am Ende einer langen Kette von Absurditäten stets durch eine wichtige Eigenschaft aus: Sie waren erfolgreich.
Es gab wohl keine Sache, die dem Major mehr Unbehagen bereitete als ein Vorgesetzter, der in seiner eigenen, kleinen Welt lebte und selbst in dieser als vollkommen Verrückter bekannt war. Vor allem, wenn die Welt gewisse Berührungspunkte mit der Realität aufwies, an denen es kontinuierlich zu kräftigen Blitzentladungen kam, die mit einer Macht wüteten wie die berüchtigten Gewitter in den Bergen des Jareth-Bezirks.
Carrick seufzte leise.
Es betrübte und frustrierte ihn ungemein, dass seine Gedankenwelt selbst hier, mehr oder weniger fern ab vom Regiment, von der Präsenz Colonel Ekkos beherrscht wurde. Dass sich der Vorgesetzte in seine mentalen Prozesse fläzte und dort ganz entspannt bei einem Glas Sarether Rotwein auf den Sonnenuntergang blickte, während er seinem Stellvertreter zuprostete. Vergleichen ließ sich das am Ehesten mit dem Effekt einer Nadelpistole: Geht ins Ohr – bleibt im Kopf.
»Entschuldigen Sie, Major«, sprach ihn die kraftlos gewordene Stimme einer jungen Frau von hinten an.
Er wandte sich um. »Ja, Mae?«, fragte er und schalt sich beinahe postwendend dafür, denn das Mädchen zuckte vor dem Klang seiner Worte zurück.
Es schien sie ein ums andere Mal zu erschrecken, ihn einfach nur anzusehen.
So, als würde sie sein Antlitz, seine bloße Existenz, an all das Furchtbare erinnern, das sie und ihre Familie hatten erleiden und erdulden müssen.
Und obwohl der Major wusste, dass er wohl am Wenigsten für die Situation konnte, in der die Familie seiner Frau – und somit irgendwo auch seine Familie – steckte, so fühlte er sich schuldig an ihrer Lage.
»Was möchtest du?«, bemühte er sich freundlich anzufügen. Es hörte sich falsch an – und wenn er ehrlich sein sollte, dann war es das auch. Denn so sehr er für das Mädchen den Schrecken des Vergangenen darstellen mochte, so sehr besaß sie denselben Effekt auf ihm. Sie war Teil einer Welt, die ihm fremd geworden war. Die er nicht mehr verstand und vielleicht auch nicht verstehen wollte. Und sie war die Inkarnation seines Lebens, also jener Dinge die er nicht mitbekommen hatte und die einfach an ihm vorbeigeschlendert waren. Vermutlich sogar mit einem Glas Sarether Rotwein.
»Ich … wir würden gerne wissen, ob Sie mit uns essen würden?«
Ja, das war das Problem mit Rotweinen: Wenn man es am Wenigsten vermutete, stiegen sie einem ins Hirn und lachten über die unbeholfenen Versuche, ihrer Herr zu werden, während gleichzeitig die mentalen Barrieren brachen und tausende unschuldiger Hirnzellen ertranken. Und das war sogar der Fall, wenn man das Getränk noch gar nicht zu sich genommen hatte, sondern einfach nur daran dachte.
Der Major neigte ein wenig beschämt den Kopf. »Ich möchte euch sicherlich nichts wegnehmen«, merkte er an. »Nur, wenn ihr wirklich darauf besteht.« Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Zumindest versuchte er es. Dass seine Bemühungen fruchtlos waren und die eher hölzerne Miene das Mädchen nur noch eher verunsichern würde, wurde ihm erst klar, als ein weiterer Schatten über das mutlose Gesicht zog. Es machte seine eigenen Empfindungen nur noch schlimmer.
Er hatte gesehen, in welchen ärmlichen Verhältnissen die Familie seiner Frau lebte. Eine höchst erschreckende Entwicklung, betrachtete man die Tatsache, dass sie einst zu den wohlhabenden Familien Bastets gehört hatten.
Um zu verstehen, wie es so weit kam, musste man den Hintergrund der bastetischen Kultur dem allgemeinen Imperialen Kult gegenübersetzen.
Beiden gemeinsam war die Tatsache, dass sie einer höheren Entität huldigten, zu einen der Heiligen Bastet, zum anderem dem Heiligen Imperator, dem Herren alles Seins und aller Wesen, der das Imperium geschaffen und die Menschheit geeint hatte.
Und sie besaßen noch eine Gemeinsamkeit. In beiden Kulturen verlieh der Glaube Macht. Dies mochte mit der Tatsache zusammenhängen, dass sich die bastetische Kultur dem Imperialen Kult unterordnete, doch selbst wenn es nicht genauso gewesen wäre, dann hätte sich zumindest eine parallele Gesellschaft mit ähnlichen Gedanken und Vorstellungen entwickelt.
Frommheit bedeutete Aufstieg. Wer an die großen Entitäten glaubte und ihnen huldigte, wer seinen Glauben an ihre Allmacht offen zeigte und bewies, dass er in ihrem Namen große Taten zu vollbringen bereit war, der durfte hoffen, dass man den roten Teppich des gesellschaftlichen Wohlgefallens vor ihm ausrollte.
Die Gunst des Ekklesiarchie – also jener Institution, welche den Glauben und alle damit zusammenhängenden Dinge verwaltete – zu gewinnen bedeutete, die Gunst der Gesellschaft zu gewinnen. Ruhm, Macht und Reichtum gaben sich die Klinke in die Hand, um ein Teil der jeweiligen Familie zu werden.
Doch an diesem Punkt endeten die Gemeinsamkeiten zwischen dem Imperialen Kult und der bastetischen Kultur.
Besonders in einem wichtigen, wenn nicht sogar essentiellen Teil ihrer Basis unterschieden sie sich.
Während man im Imperium davon ausging, dass der Imperator besonders hingebungsvolle Diener prüfte, um ihnen im Anschluss an jene Prüfung eine noch größeren Aufgabe zuzugedenken oder wankelmütige Diener wieder auf den rechten Weg zurückzuführen, kehrte den bastetische Glaube diese Vorstellung um.
Auf der dritten Welt des Bastet-Systems betrachtete man die Prüfung als Strafe. Aus Krankheiten, Unglücken oder ungeplanten Beförderungen wurden so Anzeichen dafür, dass die angebeteten Entitäten das Vertrauen in ihre Diener verloren hatten und ihnen durch die Auferlegung einer schweren Last eine letzte Verwarnung zukommen ließen. Fingen sie sich und kämpften gegen das ihnen geschehene Unglück, so gelang es ihnen möglicherweise, zurück in den barmherzigen Schoss oder an die Brust der jeweiligen Gottheit zu kriechen. Besonders bei der Heiligen Bastet schien dies doch recht erstrebenswert.
Wenn es also soweit kam, dass der Imperator oder die Heilige Bastet entschieden, jemanden zu prüfen, dann gerieten mehr als nur göttliche Hebel in Bewegung.
Denn sobald sich herauskristallisierte, dass jemand in der Gunst Bastets oder des Imperators gefallen war, nahm auch das Weltliche Abstand zu den so Gezeichneten.
Damit einher gingen Verlust der Ämter, der Privilegien und sämtlicher einst genossener Einflüsse in Politik, Wirtschaft und Kultur.
Man rutschte die soziale Rangleiter abwärts bis an jenen Punkt, an dem nur der Respekt einstiger Größe ein Gitter vor jene glitschigen Steine schob, von denen man sonst in die braune Abwassersuppe der Unterschicht stürzte und dort höchstwahrscheinlich ertrank.
Ab und an waren sogar benannte Gitter rostig genug, dass der Unglückliche sie mit Schwung durchbrach und in der Folge im Sumpf des Vergessens versank.
Und das war mit den Angehörigen von Laetitia Nebet geschehen.
Mit der Entscheidung, die Krankheit der eigenen Tochter zu akzeptieren und ihr Unglück somit auf die Familie zu übertragen, hatte sie sich ins gesellschaftliche Aus katapultiert.
Ihr »Fangnetz« stellte allein die Tatsache dar, dass man sie nicht aus ihrem Haus geworfen hatte – was aber auch keinen Unterschied machte, denn das Gebäude, das Carrick zum ersten Mal seit längerer Zeit betreten hatte, stellte nur noch einen Bruchteil jener Villa dar, die der Major vor etwas mehr als zwei Jahren zum letzten Mal verlassen hatte.
Er seufzte leise und nickte. »Nach dir!«
Sie traten von der dem Freon zugewandten Terrasse zurück ins Gebäude. Zum wiederholten Male beschlich den Major das Gefühl, die Temperatur um ihn herum sänke um eine beträchtliche Gradzahl ab. In dem großen Raum, der den Eingangsbereich sowie den Wohnbereich samt Esstisch und Altar umschloss, herrschte selbst im Angesicht der hell strahlenden Mittagssonnen partielle Düsternis.
Selbst Taous und Tages schienen ihren Strahlen etwas Besseres zumuten zu wollen als den entwürdigenden Kontakt mit einer gefallenen Familie.
Insgesamt drei Personen blickten von dem großen Esstisch auf, an dem vor nicht allzu langer Zeit noch Oberste des bastetischen Politikapparats gesessen und sich bei eigentümlichen, wenn auch herrlichen Speisen in Diskursen über politische, wirtschaftliche und soziale Themen ergangen waren.
Das Oberhaupt der Familie, Dios Nebet, hatte einst zu den großen Stadtvätern Serarehs gehört. Ein Mann des Volkes, der sich um die einfachen Leute kümmerte und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten stets für sie eingesetzt hatte. Ihm war – im Gegensatz zu vielen anderen Politkern des Planeten – die immense Bedeutung bewusst gewesen, welche die Bevölkerung Bastets für den von Abermilliarden von Milliarden menschlichen Wassertropfen gefüllten Pool der menschlichen Sphäre hatte. Oder zumindest die Bedeutung, die sie sich zu haben erhoffte.
Wie Holz, Kohle oder jene Stoffe, aus denen Promethium gewonnen wurden, waren auch die Menschen eine schier unerschöpfliche Ressource. Sie wuchsen nach, verbreiteten und gewannen an Macht.
Doch dazu mussten sie erst einmal heranwachsen. Und das dauerte. Für einen ausgewachsenen Menschen berechnete bis zu zwanzig Jahre Entwicklungszeit.
Einem Planeten wie Bastet mit seiner doch eher beschränkten Bevölkerungsgröße konnte so etwas eine durchaus tödliche Zeitspanne sein. Erntete man mehr Material als sich in der Zeit entwickeln konnte, dann verdammte man eine Welt (oder in den meisten Fällen auch nur eine Bevölkerung) zum Untergang.
Das wollten die Oberen natürlich um jeden Preis verhindern.
So hatte Nebet um jedes Leben gekämpft, versucht jedem Einwohner der Stadt einen Sinn zuzuweisen; Sei es auch nur dadurch gewesen, dass er einen Obdachlosen statt einen produktiven Arbeiter in die Reihen der für die Imperiale Armee nötigen Zehntregimenter befahl.
Nun allerdings blickte Carrick von der Stirnseite des prächtigen Holztisches ein gebrochener, ergrauter Mann entgegen, dessen Gesicht sich zu einem Sammelbecken harter Schatten entwickelt hatte.
Seine Frau, Neferti, hatte einst den gleichermaßen beachteten wie auch verpönten Beruf der Trophäenpartnerin ausgeübt und in diesem Zusammenhang ein gewisses Verständnis für die Basteter Politik entwickelt.
Sie im herkömmlichen Sinn als schön zu bezeichnen wäre vermutlich ein wenig zu viel der Ehre gewesen, aber sie besaß eine attraktive Ausstrahlung, die zumindest ihren jetzigen Ehemann dazu verleitet hatte, sie als Partnerin, nicht als Trophäe in seine Familie aufzunehmen und mit ihr zwei Töchter zu zeugen, von denen eine schließlich das Herz eines gewissen imperialen Offiziers eroberte.
Doch auch sie schien nicht mehr zu sein als ein Echo ihrer früheren Person. Zwar gelang es ihr besser als ihrem Mann, den Schmerz wegzudrücken und es erscheinen zu lassen, als habe das Geschehene keinen besonderen Eindruck hinterlassen, aber für einen etwas geübten Beobachter stellte es keine große Herausforderung dar zu erkennen, dass sich der Schrecken tief in ihre Seele und ihren Körper gegraben hatte.
Die dritte Person am nur spärlich gedeckten Tisch war die Hospitallerinnen-Schwester, die seine Frau seit geraumer Zeit betreute und die, wie er inzwischen herausgefunden hatte, Evette hieß.
Als Teil der ekklesiarchischen Exekutive war sie über jeden Zweifel erhaben und so besaß der Kontakt zu den Nebets keinerlei negative Auswirkungen auf ihre Reputation.
Sie trug ein einfaches Hospitallerinnen-Gewand mit entsprechender Haube, das ihr ansprechendes, herzförmiges Gesicht einrahmte und den Blick auf ihre mit einigen wenigen Sommersprossen verzierten Wangen zentrierte. Warme, braune Augen und der schmale Mund mit den blassen Lippen taten ihr Übriges, um der jungen Frau eine kühle und zugleich mädchenhaft-unschuldige Schönheit zu verleihen, die auf einen Verletzten oder Sterbenden ohne Frage einen immensen Effekt ausstrahlte. Wie ein Engel, der ihn zu sich nahm.
Sie sieht gut aus, dachte er sich. Zumindest wirkt sie attraktiv.
Schwester Evette saß still und mit im Schoß abgelegten Händen am Tisch, so als befände sie sich an einem Ort, an den sie nicht gehörte und den sie am liebsten verlassen hätte, indem sie durch den Boden ins Erdreich emigrierte.
Auf Carrick wirkte sie nicht wie eine fremde, distanzierte Ordensschwester, sondern wie jemand, der sich für das Schicksal der Familie verantwortlich fühlte und neben ihrer Tätigkeit als Heilerin mit der Frage beschäftigt zu sein schien, wie sie das seelische Wohlergehen der in den Fall verwickelten Menschen wiederherstellen könnte.
Sie faszinierte den Major.
Mae rückte einen Stuhl zur Seite und ließ den imperialen Offizier Platz nehmen, bevor sie sich selbst an den ihr zugedachten Teller setzte.
Das Familienoberhaupt erhob seine dunkle vom Schmerz durchsetzte Stimme: »Und nun lasst uns beten.«
Sie kreuzten die Hände zum Symbol des Aquila, dem imperialen Doppeladler.
Dann folgte Schweigen.
Carrick betrachtete es durchaus als ungewöhnlich, dass niemand ein Wort des Gebets sagte, und als sich die Stille zu vertiefen schien, niedergedrückt von unsichtbaren Mächten, blickte er unwillkürlich auf.
Die Anwesenden starrten konzentriert auf ihre Teller, so als gelänge es ihnen dadurch, das Geschirr in Bewegung zu versetzen. Diesen Versuchen widmeten sie sich derart verbissen, dass es für einen kurzen Moment wirklich so schien, als wäre ihrem Vorhaben ein gewisser Erfolg beschieden.
Zumindest erweckten die Teller den Eindruck, als würden sie sich wirklich bewegen.
Hätte jemand den Mut besessen, in diesem Augenblick ein Maßband hervorzuholen und nachzumessen, so wäre es dieser Person vielleicht sogar möglich gewesen festzustellen, dass die Teller tatsächlich nicht mehr an exakt derselben Stelle befanden, an der sie vorher gewesen waren.
Eine entsprechende Umfrage unter dem Geschirr wiederum hätte ergeben, dass sie versuchten, den stummen Blicken der sie betrachtenden Menschen auszuweichen.
Es dauerte etwas bevor sich die Anwesenden aus ihrer wortlosen Verkrampfung lösten und begannen, dem mehr oder weniger spärlich gedeckten Tisch ihre Aufmerksamkeit zu widmen.
Der Major beobachtete sie dabei.
Eine Suppe bildete das Hauptgericht. Man hätte nicht sagen können, dass man von der Suppe zu wenig bekommen hätte, sie war auch mit Fleisch und Gemüse gefüllt, sodass sich durchaus von einer nahrhaften Mahlzeit sprechen ließ. Aber sie war recht dünn, entweder gestreckt oder nicht richtig zubereitet.
Dazu gab es Brot und gesalzenes Gemüse, das dazu gedacht war, den Appetit anzuregen.
Obwohl er nicht wusste, weshalb, fühlte sich Carrick beim Anblick dessen, was ihm aufgetischt wurde, erleichtert. Bei dem beobachteten Zustand der Familie hatte er schon geglaubt, sie würde sich von angeschwemmten Tierkadavern und toten Ratten ernähren, während der Schimmel auf den Ären viel zu feuchter Brotgetreidesorten die entsprechende Beilage darstellte.
Man nagte also nicht unbedingt am Hungertuch. Zumindest noch nicht.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Laetitias Mutter, während sie ihm einen scheuen Blick zuwarf. »Die Suppe hat Mae gekocht. Leider sind uns alle Diener fortgelaufen«, erklärte sie entschuldigend, woraufhin er die Hand hob und jede weitere Entschuldigung im Keim erstickte.«
»Sie ist ausgezeichnet«, erwiderte Carrick, obwohl wohl jedem klar war, dass er noch nicht einen Löffel probiert hatte. Dabei vermied er es, der jüngeren Schwester seiner Frau einen Blick zuzuwerfen aus Angst, sie könne diesen falsch auffassen und weinend aus dem Zimmer verschwinden. »Ich war nur in Gedanken versunken.«
Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Schwester Evette, die so leise und geräuschlos aß, dass sich einem der Eindruck aufdrängte, sie vollführe lediglich eine mechanische Bewegung, ohne dass der Löffel je ihre Lippen, geschweige denn den Teller berührte. »Es freut mich festzustellen, dass der Hospitallerinnen-Orden sich einer derartigen Situation angenommen hat«, bemerkte er in Richtung der Sororita.
Die richtete sich ertappt auf. »Na … natürlich«, erwiderte sie nach einer kurzen Schrecksekunde. »Wir alle dienen dem Imperator. Und es ist unsere Aufgabe, in seinem Namen alles uns Mögliche zu vollbringen, um uns den Mächten des Bösen entgegenzustellen.« Offensichtlich zählte sie auch Krankheiten dazu.
Carrick nickte nachdenklich und tauchte den Löffel in die Suppe. »Ich verstehe. Ich meinte mich nur zu erinnern, dass der Ordo Militaris hier auf Bastet die Hand über die zivilen Orden gehalten und untersagt hatte, dass man Schwestern für langwierige Heilungen ziviler Personen abstellt. Vor allem, wenn …« Er brach ab, denn er die Worte »sie in Ungnade gefallen sind« wollten einfach nicht über seine Lippen kommen.
Das wäre aber auch gar nicht nötig gewesen.
»Es gibt keinen Ordo Militaris mehr auf Bastet«, bemerkte die Schwester. Eine kleine Nebensächlichkeit. Nicht der Rede wert … oder zumindest kaum. Es war ja nicht so, als wenn die Armeen der Ekklesiarchie auf Bastet mehr als viertausend Schwestern stark gewesen waren – im Jargon der Imperialen Armee bedeutete das ein verstärktes Regiment. Im Rahmen der Gefechtsführung fiel diese Größe sogar noch stärker ins Gewicht, denn durch ihre Ausrüstung, ihren Glauben und ihre Bewaffnung tendierte man in Kreisen imperialer Befehlshaber dazu, eine einzelne Schwester im Angesicht der unendlichen Masse an sterbenswilligen Soldaten deutlich höher zu gewichten. Es gab also Leute, die einen Militarierorden wie jenen der Rose der brennenden Agonie (so der Name der Schwesternschaft auf Bastet) kampfkrafttechnisch auf Divisionsebene hoben und daher mit faktisch nicht vorhandenen Truppen planten, was die Sororitas unter Zugzwang setzte, das in sie gesetzte Vertrauen auch zu erfüllen.
Eine technisch einwandfreie Motivationsmethode, wie ein Außenstehender anerkennend feststellen musste.
Der Major hingegen dachte gar nicht darüber nach. Ihn interessierte nur eine Sache, die ihn mit der Kraft eines Vorschlaghammers traf und in ihm ein Gefühl zurückließ, das am Ehesten mit dem Resultat vergleichbar war, das man erreichte, indem besagter Hammer ihm das Herz aus dem Leib schlug.
Die Schwestern waren fort! Einfach so!
»Was?«, fragte er. Dass die dünne Suppe von seinem Löffel zurück auf den Teller tropfte und dabei das fleckige Tischtuch vollspritzte, fiel ihm gar nicht auf.

***​
Im Büro von Konsul Bragg Fradd herrschte reges Treiben.
Zumindest wenn man in der Lage gewesen wäre, Gedanken rattern zu hören.
Tatsächlich rasten dem Administraten derart viele Überlegungen durch den Kopf, dass es fast an einer Wunder grenzte, dass sie nicht überschlugen, miteinander kollidierten und in einer gewaltigen Kettenreaktion explodierten, woraufhin ein mächtiger Atompilz aus den Ohren des imperialen Verwalters emporquoll.
Im Büro selbst hingegen war es erstaunlich leise.
Vermutlich lag es daran, dass der Konsul sich bemühte, nach Möglichkeit kein lautes Geräusch zu machen, wahrscheinlich aus Furcht, es könnte seiner Reputation schaden oder – noch schlimmer – den Zorn der Ekklesiarchie auf sich ziehen.
Man hätte schon sehr genau hinhören müssen, damit sich einem das unstete Zittern offenbarte, das unter der Robe des Konsuls sein Unwesen trieb.
Und dieses Zittern, mehr noch Bibbern im Angesicht der der kalten Schauer, die dem Mann über den Rücken liefen.
Erst vor kurzem hatte er erfahren, dass er am heutigen Tag Besuch erwartete. Eine Tatsache, von der er bis dato gar nichts wusste. Vor allem sein Kalender schien verwirrt, schüttelte seine Seiten und machte mit vorsichtigem Rascheln auf die Tatsache aufmerksam, dass die terminlichen Verpflichtungen für den heutigen Tag doch eher rar gesät waren.
Zudem war dies nicht irgendein Besuch. Nein. Der Mann, der ihn mit der eigentlich für einen Konsul wie Fradd eher erschreckenden Ehre seiner Präsenz entsetzte, war der Hohe Konfessor Cobis, imperialer Magistrat der Ekklesiarchie und höchster Priester des Systems Bastet.
Ein Mann, dessen Aussehen seinem Namen entsprach. Gut gebaut und trainiert, erhaben und zugleich finster im Wesen, pflanzte er die Saat des Respekts und der Furcht in die Herzen sowohl seiner Feinde wie auch Freunde.
Wer mit Cobis zu tun bekam, der spürte die Macht der Ekklesiarchie auf seinen Schultern ruhen wie ein Raubvogel, der sich zum Angriff bereitmachte.
Man tat gut daran, den Confessor nicht zu reizen, zumindest, wenn man plante, länger im Dienst des imperialen Verwaltungsapparats zu verweilen – oder zu überleben.
Es klopfte an der großen, hölzernen Flügeltür.
Fradd sah erschrocken auf.
»Ja?«, rief er ein wenig heiser, was das reich verzierte Kunstwerk veranlasste, vorsichtig ins Zimmer aufzuschwingen, immer darauf bedacht keine Bewegung zu machen, die etwaige Leibwächter veranlasste, aus irgendwelchen Schatten hervorzuspringen und sie mit Kettenschwertern in eine vierteilige Flügeltür zu verwandeln, die man je nach Größe des Besuchers variabel öffnen konnte.
In einer, mit dem langsamen Öffnen des Eingangs einhergehenden, fließenden Bewegung, materialisierte sich Nator im entstandenen Spalt.
»Der Konfessor ist hier«, meldete er mit leiser, leicht metallener Stimme.
Fradd schluckte. »Her-herein mit ihm«, winkte er dem Lexicaten zu und versuchte, sich wenig elegant aus seinem Sessel zu erheben.
Ein kurzes Nicken seitens Nator folgte, dann stemmte sich der halb-menschliche Diener in das schwere Holz der Tür und drückte sie vollständig auf.
Urplötzlich wurde es kalt im Raum. Aura flutete das Büro des Konsuls wie unsichtbarer Nebel, erstickte jeden Einfluss, der sich auch nur im Ansatz mit der Macht des Konfessors hätte messen können und begann dann, die Umgebung forschend zu untersuchen.
Sie kroch über den Boden, kletterte unter Tische und über Möbel, kraxelte die Wände empor und riss einem letzten Quäntchen Selbstbewusstsein, das Fradd in seinem Kronleuchter verborgen hatte, triumphierend den Kopf ab.
Dann ließ sie sich so elegant wie eine Assassine auf einen der bequemen Sessel fallen, schlug zufrieden die Beine übereinander und deutete auf den Eingang.
Der Konsul folgte ihrem Blick.
Eine hochgewachsene Gestalt tauchte im vom Licht der beiden Zwillingssonnen scharfkantig ausgeleuchteten Gang auf, marschierte mit langen, dennoch gemessenen Schritten durch den Zugang ins Büro und sah sich gleichgültig um.
Nator verneigte sich tief.
Die Priester des Ministorums teilten sich grundsätzlich in zwei Stereotype, denen sich auf die eine oder andere Weise sämtliche anderen Unterarten und Charaktere der Ekklesiarchie unterordnen ließen.
Die einen waren die Bösartigen. Gleich einem Tumor, der durch Absiedlung Metastasen in jedem nur erdenklichen Körperteil zu bilden in der Lage waren, verteilten diese schleimigen und kriecherischen Individuen ihre Schlechtigkeit in den geheiligten Hallen ekklesiarchischer Gemäuer. Dort, wo Reinheit und Glaube Kernaufgabe des bußfertigen Mannes hätten sein sollen, drapierten sie ihre von Selbstsucht und Gier zerschundenen Leiber, pokerten um Macht und Ruhm, waren sich selbst am Nächsten und verteilten die von ihnen gelebten Dogmen an das sie umgebende Gewebe der imperialen Kirche weiter.
Es hieß sogar, sie schliefen mit jungen, männlichen Progena, weil sich ihnen nie eine Frau ergeben hätte, weder in der Beichte, noch bei einer Konfrontation auf dem Schlachtfeld.
Die andere Sorte waren jene Äbte, die man in Angst vor einer Fehlinterpretation anderer Begriffe nur als die »Wahrhaften« zu bezeichnen wagte.
Jene Männer, denen die Rechte und Pflichten der Priesterschaft in Fleisch und Blut übergegangen waren. Denen die Ränkelspiele um jede wie auch immer geartete Form vom Reichtum oder Macht so fern waren wie der Kern der Galaxis dem Heiligen Terra. Deren natürliche Machtprojektion ausreichte, um sie ihren Platz erkennen zu lassen.
Denen sich die Frauen reihenweise an die Brust warfen, um zu beichten und denen sie lieber zeigen denn erzählen wollten, wie sie gesündigt hatten.
Nein. Diese Männer benötigten wahrhaftig kein von Geltungssucht und stetem Kampf aufgefressenes Leben. Sie strahlten aus, was sie waren und wo sie standen.
Es bedurfte keiner geistigen Anstrengung zu erkennen, welcher Sorte Cobis angehörte.
Anders als Colonel Ekko fand er auch keinen Gefallen daran, nicht als das erkannt zu werden, was er darstellte.
Die selbstverständliche Projektion geballter Macht, die der Mann wie einen besonders eng anliegenden Stoff am Leib trug, wob einen schützenden Kokon um den Konfessor, der ihn für sämtliche Versuche der Annäherung unempfänglich machten.
Einzig der Imperator führte ihn, durch Licht und Sturm, beleuchtete seinen Weg und ließ ihn niemals straucheln.
»Ehrenwerter Konfessor Cobis«, begann der Konsul und beeilte sich, um den Schreibtisch herumzukommen, damit er dem Konfessor seine persönliche Aufwartung machen konnte.
»Konsul Fradd«, erwiderte der Konfessor unterkühlt. Seine große, auf trainierte Weise breite Gestalt – in ihrer Form eher der eines Kommandosoldaten gleich – schien sich etwas vorzubeugen, um den deutlich kleineren Mann wie ein interessantes Ausstellungsstück in einem Museum zu mustern.
Sein breites, liturgisches Gewand, das unter der schweren Dalmatik hervorlugte und der darüber liegende Vespermantel, von dem eine Vielzahl imperialer Epitrachelien herabhingen, wiesen den Betrachter auf die hohe Position hin, die der Konfessor in den Reihen des Ministorums einnahm. Ein einschüchternder Anblick, der durch die hohe Mitra auf dem Kopf des Epsikopos nur verstärkt wurde.
Eilig kniete sich der Konsul auf den Boden, um die Ehre wahrzunehmen, den Signums-Ring des imperialen Klerikers zu küssen. Großzügig hielt ihm Cobis seine Hand hin.
Nachdem dieser erste Schritt getan war, erhob sich der Besuchte eilig und bot seinem wichtigen Besucher einen Platz an. Er bemühte sich, nicht dem Stuhl zu nehmen, auf dem die Aura des Konfessors bereits residierte, aus Angst, die beiden könnten die Ströme kreuzen und so das Ende des Universums – oder zumindest seiner Karriere – herbeiführen.
Doch der Konfessor ignorierte das Angebot. Stattdessen durchwanderte er den Raum, interessierte sich für alles – nur nicht für Fradd.
»Eure Exzellenz!«, begann dieser mit gemessener Stimme. »Es ist eine Ehre, Euch in meinem bescheidenen Dienstzimmer willkommen heißen zu dürfen! Leider wurde mir erst gerade eben mitgeteilt, dass Ihr …«
Sein Gast hob seine mit Pontifikal-Ringen besetzte Hand. »Spart euch das«, sagte er mit dunkler, schleppender Stimme. »Wir kamen nicht her, uns in eurer Aufwartung zu suhlen«, schmetterte er jede Gefälligkeitsbekundung seitens des Konsuls ab. »Wir sind aus einem anderen Grund hier.«
»Ein …«, begann der Konsul und spürte, wie sich Schweiß aus seinen Poren quetschte. Aufregung und Sorge brandeten in ihm auf wie Kohlensäure in einer Wasserflasche, die man zu lange geschüttelt hatte und er musste dem Drang widerstehen, am enger werdenden Kragen seines Gewands zu zupfen. »Ein anderer Grund?«, brach es aus ihm hervor.
Cobis, gerade mit dem Studium eines Bücherregals beschäftigt, das etwas abseits des Besucherbereichs stand und ebenso unsicher wirkte wie Fradd, nickte gedankenverloren. Er ließ seinen Zeigefinger über die Buchrücken gleiten und murmelte dabei unverständliche Worte. Schließlich entschied er sich für ein Werk – Standardausrüstungslisten für die Regimenter der Imperialen Armee, wie Fradd feststellte – und begann darin zu blättern.
»Ich verstehe nicht«, hakte ein plötzlicher Gedanke des Konsuls nach, eher er es verhindern konnte. »Ich hoffe doch, dass niemand es wagen würde, Euch ….«
Das Buch schlug zu. Der Knall, dem Laut eines durchdringenden Schmerzensschreis gleich, hallte von den Wänden des Büros wieder, ging über in die sich erhebende Stimme des Ekklesiarchen: »Uns ist zu Ohren gekommen – und sicherlich könnt ihr uns besser über den Stand in Kenntnis setzen – dass sich eine kämpfende Abteilung des Astra Militarum zur Auffrischung auf Bastet III befindet. Das 512. Regiment?«
Der Schweiß auf Fradds Haut begann nun Rinnsale zu bilden
»Ja. Ja, das ist richtig«, gestand er und spürte, wie sich Stolz und Sorge in seinem Innern bekämpften, zusammen mit der Frage, worauf das Gespräch wohl hinauslaufen würde. »Das 512. Regiment Sera.«
Der Konfessor nickte betont langsam, was seinem Gegenüber den Eindruck vermittelte, er rastere ihn mit seinem unheimlichen, berechnenden Blick ab. Wie eine Schlange, die ihr Opfer beobachtete und daraus eine Antwort auf die Frage ableitete, ob es nötig war, dass sie zur bevorstehenden Mahlzeit den Kiefer aushängen musste oder nicht. »Das 512. Regiment Sera. Genau. Das war ihr Name. Das 512. Regiment Sera der Imperialen Armee, ausgehoben auf Bastet III.«
Der Konsul bemerkte, wie sich seine Stirn runzelte. Er konnte es nicht verhindern.
Die Imperiale Armee? Jenes mächtige Werkzeug der Menschheit, das die Feindes des Imperators unter der schieren Last seiner Leiber zu erdrücken in der Lage war? Warum sollte sich ein Mitglied des Ministorums …?
In der imperialen Gesetzgebung gab es einen Passus, der es der Ekklesiarchie verbot, jemals wieder eine Armee zu besitzen. Wörtlich stand dort geschrieben, dass der Ekklesiarchie nie mehr ein Mann unter Waffen dienen sollte.
Dieses Dekret Passivum, der Grund für die Existenz des Adeptus Sororitas, stammte noch aus dem Zeitalter der Apostasie, einer Phase unfassbarer Dekadenz und Selbstgerechtigkeit, in der sich das Imperium erfolgreich selbst an den Rand der Zerstörung getrieben hatte.
Die Gründe dafür waren vielfältiger Natur, doch im Endeffekt lag die Schuld bei Goge Vandire, einem wahnsinnigen Administraten, der sich während einer Phase des Misstrauens zwischen Administration und Ekklesiarchie an die Macht beider Organisationen putschte.
In den diesem Coup folgenden siebzig Dekaden übte er eine Herrschaft des Blutes aus, vernichtete Millionen über Millionen von Leben und wurde schließlich von der Anführerin seiner eigenen Leibwache exekutiert, aus denen schließlich das Adeptus Sororitas hervorging. Soweit die Kurzfassung.
Das bedeutete im Umkehrschluss allerdings, dass es der Ekklesiarchie nicht erlaubt war, sich in irgendwelche Belange des militärischen Grundbetriebs einzumischen oder auf irgendeine andere, erdenkliche Weise an Tätigkeiten, die den Aufgaben des Administratums unterlagen, teilzunehmen.
Fradd spürte, wie die Rinnsale aus Schweiß auf seiner Haut zu Flüssen wurden. Sollte er dies dem Konfessor gegenüber wirklich ansprechen? Sich und seine Gedanken ihm auf diese Weise offenbaren?
Wer konnte schon wissen, welchen Plan der Diener der Ekklesiarchie verfolgte – und in Anbetracht der Situation, in der sich Bragg Fradd befand, mochte dies nicht die beste Lösung für seinen weiteren Werdegang darstellen.
Bastet war eine ihm wenig freundlich gesonnene Welt. Doch wer wusste schon, was jenseits davon auf ihn lauerte?
Dennoch. Einfach so konnte und wollte er seinem Besucher das Zepter nicht einfach in die Hand geben.
»Aber, Exzellenz«, setzte er an, »Darf ich Euch daran erinnern, dass es der Ekklesiarchie …« Er brach ab und überlegte es sich anders. »Diese Einheit ist im Neuaufbau begriffen und derzeit nicht unbedingt gefechtsbereit. Wenn Ihr mir sagen würdet, wofür Ihr das Regiment benötigt, dann bin ich mir sicher, dass das Departmento Munitorium ein Regiment findet, das für Euer Vorhaben besser geeignet ist als dieses.«
Erneut hob der Konfessor die Hand. »Spart euch eure Sorge, Konsul«, verlautbarte er, bevor sein Gesprächspartner die Gelegenheit wahrnehmen konnte, um (in seinen Augen) noch mehr absurde Aussagen in Umlauf zu bringen.
Cobis drehte sich um. Glühende Augen erwiderten den Blick des Konsuls. »Wir haben kein Interesse an einer kämpfenden Abteilung für die Ekklesiarchie.«
Diese Aussage brachte die Gedankenwelt des Konsuls nun vollends durcheinander.
Fradd rang mit sich, focht gegen den inneren Drang niederzuknien und unter Entschuldigungsbekundungen darauf hinzuweisen, dass er diese Aussage absolut nicht verstand, und er den höchsten ekklesiarchischen Vertreter dieses Systems, einen Mann, der ihn so unglaublich schnell aus dem imperialen Kult zu exkommunizieren in der Lage war, dass er nie wieder einen Fuß in ein bewohntes System setzen konnte, dafür ergebenst um Verzeihung bat.
Nein. Diese Blöße würde er sich nicht geben.
Wie er es drehte und wendete – egal wie er reagierte – am Ende würde es sich auf die eine oder andere Weise als falsch herausstellen.
»Exzellenz«, begann er daher vorsichtig. »Das Munitorium ist immer bestrebt, seine Pflichten und Aufgaben wahrzunehmen und wir sehen es als unsere Aufgabe, die Ekklesiarchie in allen Belangen des imperialen Dienstes zu unterstützen«, erklärte er feierlich. »Aber mir ist noch nicht ganz klar, worauf Ihr hinauswollt. Es würde mir helfen, wenn Ihr mir Euer Anliegen schildern würdet.«
Das endlich schien zu helfen, auch wenn Fradd spürte, dass ihm die Worte die Kehle zusammenschnürten und all seine Lebensenergie zu entfliehen schien.
Cobis wandte sich um. »Hatten wir nicht …?«, überlegte er, dann schüttelte er den Kopf. »Wie dumm von uns.« Er lächelte wölfisch. »Es ist uns ein persönliches Anliegen, dass diese Einheit Teil der Prozession zum Saatfest ist«, erklärte er.
Fradd fiel vor Erstaunen in den Stuhl hinter sich. Altehrwürdiges Leder knirschte. »Das ist …!«, rief er aus, erinnerte sich aber im letzten Moment daran, dass er nicht klug wäre, die Worte des Konfessors in Zweifel zu ziehen und damit vermutlich den Eindruck zu erwecken, er zweifle an dessen Verstand. »… eine höchst unorthodoxe Anfrage Eurerseits, Exzellenz«, rettete er sich.
Cobis bedachte ihn eine Weile lang mit durchdringenden Blicken. Dabei schwieg er, das erneut aufgeschlagene Buch in den Händen haltend.
Dennoch dauerte es erstaunlich lange, bis Fradd sein schrecklicher Faux Pas aufging: Im Beisein eines Konfessors war es nie klug, sich ohne dessen Erlaubnis einfach zu setzen. Im besten Falle konnte man dies als Affront gegen den kirchlichen Vertreter sehen. Im schlimmsten Fall … Der Konsul wollte darüber gar nicht erst nachdenken. Eilig erhob er sich wieder.
Der Konfessor ließ noch ein wenig mehr Zeit verstreichen, bevor seine volltönende Stimme das Büro abermals ausfüllte.
»Wir erwarten es«, präzisierte er, bevor er wieder in seiner Lektüre versank und ohne aufzusehen fortfuhr: »Es sind die Männer und Frauen dieser Welt, die im Namen des Imperators – und seiner Abgesandten, der Heiligen Bastet – gekämpft haben und gestorben sind. Ihnen oblag die Pflicht, Agos Virgil, eine wichtige Welt des Imperiums« – das Wort ‚wichtige‘ stellte er hierbei besonders heraus – »zu halten und zu verteidigen. Sie haben diese Aufgabe unerschütterlicher Hingabe und flammendem Eifer erfüllt«, erklärte der Konfessor beiläufig, während er durch die abgenutzten Seiten blätterte. »Die Ekklesiarchie ist der Ansicht, dass man derlei Heldenmut öffentlich anerkennen und ehren sollte, findet ihr nicht auch?«
Fradd musste unwillkürlich an sein Gespräch mit Ekko zurückdenken und bezweifelte, dass der Colonel mit den Aussagen des Konfessors einverstanden gewesen wäre.
Aber da ging es ihm vermutlich ähnlich wie Bradd selbst. Er befand sich in einer Situation, an der er nichts ändern konnte und jeder Versuch dies zu tun, würde ihn nur noch tiefer in den Sumpf seines eigenen Unglücks stoßen.
Wenigstens das verschaffte dem Konsul eine gewisse Genugtuung und ließ seine Laune sich ein bisschen heben – wenn auch nur ein ganz kleines bisschen.
Außerdem war es erstaunlich, wie viel Cobis doch über die Tätigkeiten der Imperialen Armee zu wissen schien. Und eine Einheit des Astra Militarums für eine kirchliche Prozession verwenden? Normalerweise war es doch anders herum. Die Ekklesiarchie stellte Priester und Personal, um die Einheiten des Militärs in ihre Einsätze und Aufträge zu verabschieden oder sie sogar zu begleiten. Was mochte das alles nur bedeuten? Doch es war zu spät. Sein Unterbewusstsein hatte die Entscheidung bereits getroffen.
»Ja …«, stimmte er schließlich zu, wenn auch nicht allzu glücklich. »Ja. Natürlich.«
Der Konfessor schlug das Buch zu und verstaute es wieder im Regal. »Gut«, stellte er fest. »Gut. Die Ekklesiarchie dankt für eure Kooperation, Konsul.«
»Es … es ist aber nicht so einfach«, wandte Fradd ein, während eine Stimme in seinem Innersten häretische Verwünschungen in Richtung seiner bürokratischen Ader schleuderte. »Eine derartige Anfrage bedarf einiger Vorbereitungszeit.«
Cobis hob die Augenbrauen, sagte aber nichts, was die ganze Angelegenheit für Fradd nur noch schlimmer machte.
»Es muss geprüft werden, ob das Dekret Submitterum einer Gegenüberstellung des Dekret Passivum standhält. Dann muss ein offizieller Auftrag mit einer Listung sämtlicher zu erbringender Leistungen erstellt und daraus eine Munitoriums-kompatible Order generiert werden. Diese würde dann in unserem Haus geprüft und als entsprechender Befehl an die jeweilige untergeordnete Kommandobehörde weitergeleitet werden, welche daraus einen Marschbefehl für die jeweilige Abteilung verfasst.« Er ruderte hilflos mit den Armen, versuchte sein Dilemma verbal wie auch gestenreich zu unterstreichen.
Der Konfessor nickte verstehend, überlegte kurz und befand dann, dass dies nicht unbedingt sein Problem sei. »Wir sind uns sicher, dass ihr die Angelegenheit in unserem Sinne regeln werdet.«
Fradd stockte, konnte sich aber nicht mehr zu einer Antwort durchringen. Er war schlichtweg sprachlos. Stattdessen verneigte er sich ehrfürchtig und ließ es sich nicht nehmen, den ihm vom ekklesiarchischen Oberhaupt des Sektors hingehaltenen Siegelring erneut zu küssen.
Dann ging Cobis. Verschwand einfach so, als wäre dies nichts weiter als eine flüchtige Begegnung gewesen, die er in ein paar Minuten würde vergessen haben.
Seine Aura hingegen blieb noch ein wenig im Raum, beäugte den Konsul kritisch und verfolgte jeden seiner von Unruhe getrieben Schritte.
Es mochte kein Geheimnis sein, dass die Überreste des 512. Regiments nach Bastet zurückgekehrt waren. Beim Thron, vermutlich wusste es bereits die ganze Welt. Doch das machte die Tatsache auch nicht ungeschehen, dass sich die Ekklesarchie für diese Einheit zu interessieren schien. In welchem Maße, das ließ sich bei weitem nicht abschätzen, aber niemand konnte Bragg Fradd weißmachen, dass der oberste religiöse Führer des Bastet-Systems ihm einen Besuch abstattete, um eine Einheit für ein religiöses Fest freistellen zu lassen, das unter der Obhut einer Organisation ablief, die über diese Einheit anderweitig nicht verfügen konnte, geschweige denn durfte. Eine, gelinde gesagt, besorgniserregende Angelegenheit.
Was nur hatte das alles zu bedeuten, überlegte der Administrat und wusste im selben Moment, dass er auf diese Frage wohl nie eine Antwort erhalten würde.
Es war vermutlich auch nicht weiter wichtig – vor allem nicht für ihn. Ihm oblag es lediglich dafür zu sorgen, dass das Adeptus Munitorium die Kontrolle über die ihm zugehörigen Streitkräfte behielt. Und zwar ohne, dass es zu einem Bruch mit dem Oberhaupt der Ekklesiarchie auf dieser Welt kam.
In seinem Schädel rumorte es, begannen Millionen anthromorpher Munitoriumsangestellter damit, das zur Bearbeitung freigegebene Problem in seine Bestandteile zu zerlegen. Wenig später stand das Konstrukt für eine mögliche Lösung aus Fradds Dilemma. »Nator!«, rief er.
Der Lexicat erschien mit derselben eifrigen Dienstbeflissenheit, mit der normalerweise ein Roboter aufwartete, wenn man von ihm verlangte, ein bestimmtes Arbeitsprogramm abzuspulen. »Mein Herr?«
»Mach dich aufnahmebereit.«
Der Lexicat verneigte sich ansatzweise, bevor er einen Schalter an seinem Kopf betätigte. Eine kleine, rote Lampe neben seinem Ohr begann zu leuchten.
»Ihr könnt sprechen, mein Herr.«
Fradd räusperte sich: »Ich habe eine Order für Colonel Ekko und sein Regiment.«
Nachdem er seine Befehle gegeben und Nator den Raum verlassen hatte, erhob sich endlich auch Cobis‘ Aura, nickte dem imperialen Administraten zu und ging.
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
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08



»Das ist eine … interessante Nachricht«, bemerkte Colonel Ekko und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Das altehrwürdige Leder knirschte. »Und es ist niemand mehr übrig?«
»So hat sie es mir berichtet. Sämtliche Schwestern des Militaria-Ordens wurden abberufen und haben Bastet vor ungefähr zwei Jahren verlassen«, stellte die ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung fest. Das dazu gehörige Gesicht auf dem Bildschirm nickte bestätigend.
»Vor zwei Jahren schon?« Der Regimentskommandeur runzelte die Stirn. »Die hatten es offensichtlich sehr eilig.«
In den letzten paar Minuten hatte ihm der stellvertretende Regimentskommandeur über seine Erlebnisse mit Schwester Evette berichtet und ihm mitgeteilt, dass es offensichtlich keine einzige Adepta Militaris mehr auf der sonnenverbrannten Oberfläche Bastets mehr gab. Eine Erkenntnis, bei der sich Ekkos Augenbrauen weit genug hoben, dass sie sich mit dem Ansatz seines wirren Haares unterhalten konnten, ohne laut schreien zu müssen.
»Das klingt alles ungeheuer seltsam«, stellte er ehrlich verwirrt fest.
»Das dachte ich mir auch, Sir«, bemerkte sein Gegenüber. »Deswegen habe ich Sie informiert.«
»Gut mitgedacht«, nickte der Regimentskommandeur. »Danke, Carrick.«
Das Antlitz auf dem Bildschirm neigte den Kopf.
Eine seltsame Stimmung lag in der Luft. Es schien, als würde das Band, das die beiden Offiziere nach ihrem ersten Kennenlernen geschmiedet hatten und das eigentlich als zerrissen gelten konnte, erneut zusammengeknüpft und das lediglich, weil sich beide über eine Tatsache wunderten, die sie sich nicht erklären konnten.
Die Wege des Imperators waren unergründlich.
»Was denken Sie darüber, Sir?«, wollte der Major wissen.
Ekko zuckte die Schultern. »Es ist ja nicht so, als wenn sich die Imperiale Armee in die Angelegenheiten des Adeptus Sororitas einmischen würde«, sinnierte er. »Aber irgendwie …« Er brach ab und versank in Gedanken.
Es gab da eine Geschichte aus seiner Vergangenheit. Die ganze Angelegenheit war so ungefähr zwanzig Jahre alt, aber noch immer so präsent wie an jenem Tag, an dem sie geschehen war.
Ein erst kürzlich zum Lieutenant beförderter und dank seines Hintergrunds zur Imperialen Armee versetzter Galard Ekko hatte damals in einer Schlacht um irgendeine abgerissene Agrarwelt einen der größten Fehler gemacht, die man in der Hitze des Gefechts vollbringen konnte: Er hatte jemandem das Leben gerettet. Und das auch noch auf heroische Weise.
Und dabei war das gar nicht einmal seine Absicht gewesen. Nein. Betrogen und beschissen vom großen Imperator und dem Universum, belogen und um seine Frau, seine große und einzige Liebe, gebracht, hatte er sich auf einer selbstmörderischen Aktion befunden mit dem Ziel, bei dieser ein möglichst unspektakuläres und bitteres Dahinscheiden zu erreichen.
Leider war ihm dabei ein noch jüngerer, schwer verletzter Soldat in die Quere gekommen und nach einem kurzen, aber heftigen inneren Diskurs, der ihn einige Haare, Tränen und vor allem Zeit kostete, entschied er, diesen vor dessen unspektakulären und bitteren Dahinscheiden zu bewahren und ihn aus der Hauptkampflinie zurück in den eigenen, rückwärtigen Raum zu schaffen.
Es mag wohl ein Wink des Schicksals gewesen sein – oder es Imperators – dass er dort nicht auf einen grobschlächtigen Feldarzt des Adeptus Munitorium traf, sondern auf eine bereits etwas gereifte, aber dennoch ansehnliche Schwester des Ordo Hospitalis. Diese Frau – jener Institution zugehörig, die er am Meisten hasste und für die er nichts weiter erübrigen konnte als blanke Verachtung – hatte ihm den Jungen aus den Armen genommen und ihn, anders als er es von den Schwestern auf Bastet kannte, mit der hingebungsvollen Liebe einer Mutter an ihre Schwestern übergeben, die ihn mit der hingebungsvollen Liebe großer Schwestern pflegten (zumindest, wenn man unter hingebungsvoller Liebe versteht, dass sich besagte Schwestern nicht gerade in der Pubertät befinden und in diesem Zusammenhang einen Shota-Komplex entwickelt haben).
Im Anschluss hatte ihn die Schwester gefragt, ob er sich selbst verletzt habe, worauf ihm in seiner Wut und Ablehnung über die geheuchelte Freundlichkeit nur eine sarkastische Antwort eingefallen war: »Ich habe mir den Fingernagel eingerissen. Das blutet und tut weh.«
»Vielleicht wird es besser, wenn ich dran lutsche?«, hatte sie ihn betont neutral gefragt und so dafür gesorgt, dass die von ihm eingesogene Luft in seinen Lungen verdichtet und durch einen, ihm selbst nicht bekannten Zugang im Innern seines Körpers an ein bestimmtes, sehr wichtiges Körperteil weitergeleitet wurde, das sich daraufhin eine Erkältung zuzog und ebenfalls gerne von einer Hospitalis gesundgelutscht werden wollte.
Er würde sich wohl den Rest seines Lebens vorwerfen, dass er ihr damals nicht einfach den Finger hingehalten hatte.
»Nicht so wichtig.«, schloss er das Thema ab und begann ein neues. »Aber genug davon. Wie geht es Ihrer Frau und Ihnen?«
Für einen kurzen Augenblick herrschte düsteres Schweigen zwischen den beiden Männern. Trotz der brüllenden Hitze, die die beiden über den Himmel tanzenden Zwillingsschwestern wie zwei böswillige Glücksfeen über Bastet III ausschütteten, fühlte Ekko Kälte seinen Rücken herabstolzieren. Ein Wanderer, der den Ausblick vom Gipfel des Unglücks genossen hatte und sich nun aufmachte nach dem Eingang in die Höhle des Vergessens zu suchen. Vielleicht war es auch nur der Schweiß, der sich als seidig glänzender Film unter seiner Uniform ausbreitete und diese gleich salzigen Tränen eines strapazierten Körpers tränkte.
»Nicht gut, Sir«, berichtete der Major und seine Miene trübte sich sichtlich. »Sie verfällt zusehends. Niemand weiß, wie lange sie noch aushalten wird.«
Nachdenklich nickte der Colonel. »Und es gibt immer noch keinen Anhaltspunkt darauf, was mit ihr geschehen ist?«
»Nein, Sir.« Der Major hob hilflos die Schultern. »Niemand kann es mir sagen. Selbst die Hospitalinnen-Schwester ist ratlos.«
»Wie geht es der Familie? Weiß sie vielleicht etwas?«
»Auch nicht.« Carricks Augen lösten sich vom Aufzeichner, blickten auf einen Fleck, der auf dem Tisch vor dem Aufzeichner um seine Aufmerksamkeit gebuhlt zu haben schien, aber dessen Ursprung wohl in einer vollkommen anderen Galaxis lag. Zumindest wollte es einem so vorkommen, wenn man die gedankenverlorene Starre im Gesicht des imperialen Offiziers beobachtete. »Dieses Haus ist zu einer Totenhalle geworden«, sagte er nach einer Weile langsam. »Und diese Totenhalle verbannt alle Fragen nach dem Wie oder Warum, Colonel. So als hätte der Schmerz alles fortgewischt, was es noch zu ergründen gegeben hätte.«
Sie schwiegen wieder, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
»Wissen Sie, was mich wundert?«, stellte der Colonel plötzlich fest und lenkte das Gespräch damit in eine vollkommen neue Richtung.
Diese überraschende Wende ließ seinen Gesprächspartner aufhorchen. »Was denn?«
»Sie sagten mir, all das sei vor etwa zwei Jahren geschehen, richtig? Das Verschwinden der Schwestern, die Krankheit Ihrer Frau, die Überflutung und so weiter.«
Der Major dachte kurz nach. »Das stimmt, Sir.« Er stockte kurz. »Hat das etwas zu bedeuten?«, hakte er nach.
»Ich weiß nicht«, überlegte Ekko laut. »Aber … unabhängig von Ihrer Geschichte bin ich auch ein paar Mal auf den Zeitraum vor zwei Jahren gestoßen. Irgendetwas muss da geschehen sein. Etwas, das weitreichende Veränderungen auf Bastet herbeiführte.«
Carricks Abbild runzelte die Stirn. »Weitreichende Veränderungen?«
»Es wurde viel zerstört und nicht wieder aufgebaut. Menschen erkrankten an seltsamen Krankheiten. Die Sororitas wurden abberufen«, zählte Ekko die ihm bekannten Punkte auf. »Und alles läuft offensichtlich weiter, als sei nichts geschehen.«
Die Aussagen seines Vorgesetzten ließen den Major stutzig werden. »Menschen? Sie meinen, es gab noch mehr solche Fälle?«
»Keine Ahnung. Ich weiß bisher nur von Ihrer Frau.«
Sein Gegenüber verzog das Gesicht. »Und da machen Sie eine Verschwörung draus? Nur weil alles zur mehr oder weniger gleichen Zeit passierte? Es könnte sich doch auch um bloße Zufälle handeln!«
»Ja«, musste der Regimentskommandeur zugeben. »Natürlich könnte es sich um Zufälle handeln. Aber glauben Sie wirklich, dass der Imperator solche Zufälle geschehen lassen würde?« Diese Frage war natürlich rein rhetorisch gestellt.
»Das kann ich nicht beantworten, Sir.«
»Es ist ja auch nicht so, als hätte ich von Ihnen wirklich eine Antwort erwartet.« Ekko machte eine wegwerfende Handbewegung. »Egal. Ich werde der ganzen Sache mal nachgehen und mich ein wenig umhören. Vielleicht finde ich was Interessantes heraus. Zumindest besser, als mich mit diesem Pergamentkram rumzuschlagen, den mir das Munitorium auf den Tisch gelegt hat.« Er deutete auf seinem mit Papieren und Pads überladenen Schreibtisch. »Sollte es notwendig werden – und Ihre Erlaubnis vorausgesetzt – würde ich vorbeikommen und mich ein wenig mit Ihrer Hospitalis unterhalten.«
Der Major schürzte die Lippen und dachte nach, zuckte dann die Achseln und nickte schicksalsergeben. »Wenn Sie meinen, Sir, dann tun Sie das. Sonst noch etwas?«
Ekko deutete ein Kopfschütteln an, dann besann er sich eines Besseren und hob die Hand. »Ja. Eine Sache wäre da noch: wissen Sie zufällig, welches Rezept sie gegen eingerissene Fingernägel vorschlägt?«
»Wer?«
»Die Hospitalis.«
»Nein.«
»Verstehe.« Ekko legte die Fingerspitzen aneinander. »Dann habe ich nichts mehr für Sie. Danke für die Informationen. Melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen.«
Der Major neigte den Kopf. Das Bild wurde dunkel.
Einige Zeit lang saß der Colonel in seinem Sessel, blickte auf das leere Wiedergabegerät und rekapitulierte das Gehörte. Dann ließ er sich ein wenig tiefer in den Sessel sinken und folgte seinen wild umherrasenden Gedanken in eine Welt jenseits der Realität. Einen Ort, an dem sich aus möglichen Zufällen die Theorie einer Verschwörung auszugestalten begann und abstrakte Gedankengänge und Fakten das Garn der Erkenntnis zu spinnen versuchten.
Zwei Jahre. Das war kurz nach seiner Übernahme des 512. Regiments Sera gewesen. Neu zusammengeführt und geschmiedet aus den Überresten eines vorherigen 512. Regiments und Anteilen diverser Reserveregimenter, hatte sich das mit Schützenpanzern und leichten Fahrzeugen motorisierte Regiment in einer Bereitschaftsstellung auf dem Planeten Girev Goza befunden und war von ihm in die Schlacht um Agos Virgil geführt worden.
Also nicht einmal wirklich daheim oder auch nur in der unmittelbaren Nähe von Bastet.
Dennoch: Ekko konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass … Er konnte nicht einmal wirklich beschreiben, was ihn für ein Gedanke malträtierte, aber irgendetwas nagte an ihm.
Etwas, das ihm warnende Worte in Ohr flüsterte. Etwas Seltsames geschah hier. Etwas, das er sich nicht erklären konnte.
Er stand auf, umrundete den Tisch, überlegte es sich anders, ging zurück und starrte den Sessel an.
Interessant.
Ihm war nie zuvor aufgefallen, dass das abgenutzte Leder des Sessels – vor ihm vermutlich von hunderten anderer Regimentskommandeure designierter Zehntregimenter besessen – einen im Kern schwarzen Farbton besaß. Er hatte es stets für ein dunkles Braun gehalten. Fragte sich nur, ob das nicht auch Teil der Verschwörung war. Ein kleiner, aber feiner Hinweis auf die Tatsache, dass niemand hier das zu sein schien, was er vorgab zu sein.
Von dieser Erkenntnis aufgeschreckt, begab er sich mit schnellen Schritten zum Ausgang. Es gab da eine Sache, die er dringend prüfen musste. Eine vermeintliche Wahrheit, die er verstehen wollte. Er musste es mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.
»Man will mir doch wohl nicht weißmachen, dass die Militarier-Schwestern wirklich von Bastet verschwunden sind«, grummelte er, während seine Hand nach der aufgeheizten Schutzplane griff, die das Innere des Zelts vor ungebetenen Blicken – und Besuchern – abschirmte (wozu Colonel Ekko auch die beiden heißen Zwillingsschwestern zählte, deren Leiber sich tagtäglich über Bastets blauem Himmel räkelten).
Mitten in der Bewegung hielt er inne, drehte sich ein letztes Mal um und deutete drohend auf den sich keiner Schuld bewussten Sitz. »Ich habe dich im Auge.« Dann verließ er das Zelt.
Die improvisierte Tür schwang hinter ihm zu.
»Sir, haben Sie kurz Zeit?«, sprach ihn jemand von der Seite an. Ekko blickte ertappt auf und erkannte zwei seiner Captains, die zwischen den Zelten hervorkamen, so als hätten sie nur darauf gewartet, dass er das Zelt verließ.
Auch das war sicherlich Teil der Verschwörung. Vermutlich wussten die Verschwörer, dass Ekko ihnen auf die Schliche gekommen war – ohne Frage hatten sie das Televid-Gespräch mit Carrick abgehört – und nun versuchten sie mit allen erdenklichen Mitteln, ihren neuen Feind von weiteren Nachforschungen abzuhalten. Was wohl passieren mochte, wenn er nicht kurz Zeit hatte?
Ob Balgor und Solmaar ihre Waffen zogen? Zuzutrauen gewesen wäre es ihnen – wenn auch aus anderen Gründen.
»Aber nur kurz. Ich bin auf dem Weg zu einem wichtigen Geschäft«, wehrte er eine längere Unterhaltung ab und überließ es den beiden Offizieren, seinen Schritt aufzunehmen und ihm durch die dicht gesetzten Zeltreihen zu folgen. »Was gibt‘s denn?«
»Wir wollten uns mit Ihnen über unsere neuen Verstärkungstruppen unterhalten«, erklärte Solmaar.
So energisch, wie er aus dem Zelt gekommen war, hielt der Colonel in seiner Bewegung inne, was ihn wie eine schlecht modellierte Wachsfigur aussehen ließ. »Was denn für Verstärkungstruppen?«, wollte er wissen.
»Wir erwarten noch immer Freiwillige von Bastet, das Imperiale Lufttransportgeschwader und die Elysianer?«, erwiderte Balgor mit demselben erstaunten und fragenden Gesichtsausdruck, den nur kurz zuvor der Colonel aufgesetzt hatte. Es konnte sein, dass er es ehrlich meinte, aber eigentlich war ihm durchaus bewusst, dass Ekko vollkommen klar war, worüber die beiden redeten.
»Oh?« Ekko dachte einen Moment lang an seine Begegnung mit der einigermaßen gut aussehenden Pilotin, die vor einer schieren Ewigkeit sein Zelt betreten hatte, kurz nachdem er durch eine ebenso junge, deutlich besser aussehende Inquisitorin besucht worden war.
Das wiederrum erinnerte sein Unterbewusstsein daran, eine gewisse Anzahl an mentalen Dias hervorzuholen und sie auf einem in seinem Kopf installierten Projekt abzuspielen. Nur der guten Erinnerungen wegen.
Leise ratterten Synapsen, bemüht das Licht zu dimmen und den Fokus auf das zu setzen, was sich ihm überdeutlich zeigte. Es waren Brüste. Zwei große, runde Brüste, von einem eleganten, aber doch engen Kleid zu einem Dekolletee gepresst, auf das man mit einem Bolter hätte schießen können um zu beobachten, wie die Geschosse an den Rundungen abprallten und in alle Richtungen davonstoben, nur um irgendwo anders einzuschlagen und dort schwerste Schäden zu verursachen.
Schnell scheute er die Vorstellung fort, wobei ihm die aus ihrer äußerst wichtigen Aufgabe gerissenen Bolterbesatzungen häretische Verwünschungen zuriefen, und bemühte sich, seine Überlegungen wieder auf wesentlichere Themen zu konzentrieren. Es gelang ihm nur kurz.
Ob Lieutenant Amen dazu wohl auch in der Lage wäre? Sie trug eine Fliegerkombi, die etwas weiter geschnitten war, thronverdammt! Vor allem: Wen interessiert das? Das kann mir total egal sein! Aber ich kann einfach nicht aufhören, daran zu denken! Vielleicht sollte ich einfach hingehen und sie fragen …
Es würde sicherlich kein Problem sein, diesem Kapitel seines Lebens im Notfall eine Fan-Service-Episode beizufügen, in der er die Pilotin an den Strand einlud.
‚Aber, Colonel! Hier gibt es weit und breit kein Meer!‘
‚Egal! Ziehen Sie sich aus, legen Sie sich hin – und ich hole Ihnen gleich eine Flasche Wasser, damit Sie sich nass machen können.‘
‚Ach, Sie sind aber zuvorkommend!‘
Die Antwort klang ein wenig sarkastisch und Ekko musste zugeben, dass sein Unterbewusstsein ausgezeichnete Arbeit dabei leistete, ihm einen Vogel zu zeigen.
Natürlich hatte es Recht. Solche Gedanken gehörten ins Land der verbotenen Früchte. Wie Äpfel … oder Birnen, die von Bäumen hingen und dabei schaukelten wie … nein. NEIN!
Und dann begriff er: Konnte es sein, dass es sich dabei um einen neuerlichen Trick des Imperators handelte? Eine seiner Eigenarten, sich mit dem Universum gegen sein Lieblingsopfer zu verschwören und ihm mit beinahe diebischer Freude eine neuerliche Ladung Felsbrocken in den Weg zu legen, die in ihrer Form erstaunlich an gewisse weibliche Attribute erinnerten?
Das war durchaus möglich, denn nachdem Ekko den beiden Verschwörern bei der Schlacht um Agos Virgil, selbst bis übers Haupt in Orkblut versunken, den Mittelfinger entgegengestreckt hatte, besannen sie sich nun auf ein Angebot, das er einfach nicht ablehnen konnte.
Natürlich konnte es sein, dass er einfach viel zu viel in die ganze Angelegenheit hineininterpretierte. Aber irgendwie … glaubte er das einfach nicht. Dafür war einfach viel zu viel Oberweite im Spiel.
»Ich fasse es nicht«, murmelte er. »Es passiert schon wieder.«
Balgor, der gerade über Dinge referiert hatte, die Ekko selbst im Ansatz nicht hätte wiedergeben können, stockte. »Colonel … woran denken Sie gerade?«
»An nichts, Balgor«, antwortete er ertappt. Vielleicht ein wenig zu schnell. »Fahren Sie fort!«
Sie nahmen den Schritt wieder auf.
»Wie ich gerade sagte: Wir müssten uns dringend Gedanken darüber machen, wie wir dieses Luftkavalleriekonzept umsetzen wollen. Unsere Leute sind dafür nicht trainiert«, erklärte der temporär stellvertretende Regimentskommandeur, bevor er mit Nachdruck anfügte. »Es ist wichtig, dass wir das ändern.«
»Ja«, bestätigte Ekko, dessen Gedankenwelt mit sich entblätternden Pilotinnen, Inquisitorinnen und in Stellung gehenden Bolterteams kämpfte, »das verstehe ich, aber gerade im Augenblick ist wirklich ein sehr ungünstiger Zeitpunkt dafür.«
»Wann wäre der Zeitpunkt denn dann günstig?«, wollte die riesenhafte Gestalt Solmaars wissen.
»Wenn Sie beide ein Konzept erarbeitet haben, wie wir dieses Training durchführen können«, schlug er vor.
»Aber, Colonel!«, protestierte Balgor, »Wir haben keine Flieger. Wir haben kein ausgebildetes Personal. Wir können nicht einmal die Theorie abbilden.«
Ekko schnippte mit den Fingern und deutete auf seinen Untergebenen, mehr noch die Worte, die dessen Mund gerade verlassen hatten. »Genau«, stellte er fest.
Seine beiden Begleiter blieben verblüfft stehen. »Sie wussten es von Anfang an?«
»Na ja, ich bin immerhin der Colonel«, gab der Regimentskommandeur zu verstehen. »Denken Sie nicht, dass ich zumindest darüber informiert bin, was meine Einheit benötigt?« »Aber wenn Sie es gewusst haben«, hakte Solmaar ein, »warum haben Sie nichts gesagt.« »Ich warte auf die Elysianer. Die werden uns sicherlich zeigen, wo die Reise hingeht.« Die Verblüffung der beiden Captains erreichte ihren Höhepunkt. »Sir, so etwas können wir nicht machen«, gab Solmaar zu bedenken. Das stimmte. Zwar gab es einen Spruch, der besagte: »Die meiste Zeit des Lebens wartet der Soldat vergebens«, doch das bedeutete nicht, dass man diese Wartezeit nicht mit sinnvollen Aufgaben füllen konnte, um so im Falle eines plötzlichen Einsatzbefehls ausgebildet und im Handeln selbstsicher in die Schlacht zu ziehen. Ekkos Antwort darauf war kurz, dennoch nicht weniger richtig. »Doch« Er zuckte die Achseln. »Wir sind keine Luftlandesoldaten. Wenn uns das Munitorium aber zu solchen machen will, dann werden nicht wir dafür sorgen, dass wir unsere Ausbildung erhalten, sondern sie.« Er meinte das Departmento. Der Colonel vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Ausgerechnet ein Luftkavallerieregiment …« »Was stört Sie an einem Luftkavallerieregiment?«, wollte Captain Solmaar wissen, der bereits oft genug in einer Walküre geflogen war, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie er sich eine Luftlandeeinheit vorzustellen hatte.
Ekko hingegen erging es vollkommen anders. »Höhenangst«, bemerkte er trocken. »Ich habe Höhenangst.«
Balgor runzelte die Stirn seines eleganten Gesichts. »Seit wann das denn?«
»Seit Agos Virgil.« Er ließ den Rest ungesagt, denn die Erklärung hätte die Pointe der Geschichte ruiniert. Nur so viel: Auch er war in einigen Walküren geflogen. »Solange wir die infanteristischen Fähigkeiten erhalten, wird sich der Rest ergeben. Ist wie mit dem Autofahren. Zumindest hoffe ich das.«
Und dann kam ihm eine Idee. Nein. Es war nicht irgendeine Idee. Es war die Idee.
Er fuhr herum. »Ich habe gerade nachgedacht: Denken Sie, der Quartiermeister würde ‚ja‘ sagen, wenn ich mir mal eines von diesen Tauros-Sturmfahrzeugen ausleihen möchte?«

***​
Wind zog in Böen über die ausgetrocknete Landschaft, griff nach verwelkten Pflanzen und Sträuchern, zerrte an dürren Ästen und versuchte, die wenigen verbliebenen Zeugnisse des Lebens in dieser unwirtlichen Landschaft abzuknicken, um sie dann unter Unmengen von Sand zu begraben.
Kleine Wirbel aus Staub stiegen in die flimmernde Luft empor, tanzten gleich Derwischen in wilder Trance durch die flimmernde Luft.
Dahinter erstreckten sich weite Dünenfelder. Große, sanft geschwungene Wellen aus Milliarden von Sedimentpartikeln, in denen kein Leben lange zur Existenz fähig gewesen wäre. Selbst Käfer und anderes Kleingetier mieden die glühend heißen Hänge der stets rastlos umherwandernden Berge während des Tages und blieben lieber verborgen, bis die kühlende Nacht ihnen zumindest ein Stück des Weges erleichterte.
Erst weit jenseits davon erhoben sich die riesigen Spindeln Serarehs gleich Fata Morganen aus dem Dünenmeer, Zeugnisse einer Zivilisation, die dem Betrachter in jenem Moment nicht ferner hätte sein können.
Und dennoch: Ein Ort trotzte der unaufhaltsam vorrückenden Wüste gleich einem Felsen in der Brandung.
Ein mächtiges Bauwerk der Ekklesiarchie, in seinen Formen einer Mischung aus Schildkrötenpanzer und Makropolspindel gleich, entstieg dem sandigen Niemandsland wie der Kegel eines neugeborenen Vulkans.
Eine Insel inmitten der Unwirtlichkeit mit ehernen Spitzen des Trotzes, die im Licht von Bastets Zwillingssonnen glitzerten und funkelten.
Lange war dieser Ort zugleich Fluch und Segen des Planeten gewesen. Ein Platz, an dem verirrte Pilger und Wanderer Zuflucht und Zuwendung erfuhren, umsorgt von den Schwestern des Adeptus Sororitas und wo man sich auch ihres Schutzes sicher sein konnte.
Doch die Bastion besaß auch eine andere, deutlich dunklere Seite, die man auf Bastet zu fürchten und zu hassen gelernt hatte.
Nun allerdings schien es, als sei all das nur noch ein Schatten der Vergangenheit. Eine Tatsache, die ungeschehen zu machen man nicht mehr in der Lage war, aber die einen in Zukunft auch nicht weiter zu kümmern brauchte. Eine gesunde Lebenserfahrung, die man gemacht hatte, weil sie da war und nicht, weil man sie sich gewünscht hatte, aber die auch keinen Einfluss auf das weitere Leben haben würde.
In Colonel Ekko hingegen ließen sowohl seine Erfahrung mit den Besitzern des ekklesiarchischen Baus als auch das Wissen um die jüngsten Vorgänge hinter dessen Mauern eine schier unzähmbare innere Unruhe aufsteigen. Ein wenig Neugierde vermochte es auch, sich unter dem Mantel des besorgten Offiziers zu verbergen, aber im Gegensatz zu seinen restlichen Empfindungen hätte er sie nicht so offensichtlich an die Oberfläche treten lassen.
Irgendetwas stimmte an diesem Ort ganz und gar nicht. Und umso mehr er über die Frage nachgrübelte, desto mehr spürte er, wie sich seine Befürchtungen verpuppten, um als Lebende Heilige ihrer inneren Anspannung, einer Opernsängerin gleich, in mächtigen Balladen Luft zu machen.
Vielleicht waren es aber auch die ledrigen Würstchen, die es heute in der Kantine als Beilage zu einer etwas verkochten Erbsensuppe gegeben hatte, die ihn zum Aufstoßen zwangen.
Wer konnte schon wissen, welcher Tätigkeit diese vor ihrem Einsatz als Lebensmittel nachgegangen waren.
Der Punkt aber war – und diese Tatsache ließ sich einfach nicht verleugnen (Würstchen hin oder her): Die Sororitas waren fort. Sie hatten Bastet verlassen. Einfach so. Wie jemand, der seine Koffer packte und außer einer ungespülten Toilette keine Hinweise auf seine Existenz in einem Hotelzimmer hinterließ.
Die Hintergründe dafür waren Regimentskommandeur schleierhaft, aber Galardin Alberic Ekko wäre nicht er gewesen, wenn er sich nicht um die Lösung dieser Frage bemüht hätte.
Nicht, dass es ihn besonders kümmerte. Er fühlte sogar Erleichterung in dem Wissen, dass sich die Schwestern entschieden hatten, Bastet den Rücken zu kehren.
Die damit verbundenen Veränderungen und die leise Warnung in seinem Kopf, dass vermutlich mehr hinter der Angelegenheit steckte als ihm und der Bevölkerung seiner Heimatwelt lieb war, hatten ihn allerdings regelrecht dazu gezwungen, eines der Tauros-Sturmfahrzeuge zu nehmen und sich auf den Weg in Richtung des Konvents zu machen.
Außerdem wäre er nicht in der Lage gewesen die Strecke zu laufen. Nicht nach dem Mittagessen.
Als er das Vehikel auf den vollkommen von Sand bedeckten Vorplatz des riesigen Hauptgebäudes abstellte und das ohnehin leise Summen des galvanischen Motors erstarb, wurde ihm mit einem Mal die Tragweite der Tatsache bewusst, dass die Adeptus Sororitas fortgegangen war.
Abgesehen von dem Wind, der in Stößen über die mächtigen Dünen atmete und ab und an kleine Wirbelwinde aus feinkörnigem Sediment in die Luft warf, bewegte sich in der Einöde rein gar nichts.
Galardin Alberic Ekko war allein.
Und auch, wenn er sich das niemals eingestanden hätte, so spürte er tief in seinem Innersten, dass es Bastet und seinen Bewohnern womöglich genauso ging.
Es schien beinahe, als habe sie der Imperator verlassen. Dieses Gefühl wiederrum war ihm nicht wirklich fremd.
Nein. Es kannte es zur Genüge und unterschied sich damit vermutlich nicht einmal allzu sehr von denjenen Familien, die das Leid einer Prüfung durch den Imperator oder die Heilige Bastet hatten erleiden müssen.
Doch das machte die Sache für ihn auch nicht besser.
Nachdenklich wuchtete er seinen Körper aus dem Wagen, sah sich kurz um.
Wüste. Hier lebte nichts, das es auch nur gewagt hätte, seinen Körper dem fortwährend umherziehenden Sand auszusetzen.
Lediglich die hohen Festungsmauern des ekklesiarchischen Gebäudes ragten wie Felsen aus der körnigen Brandung, stemmten sich in die riesigen Wellen des unendlich weit erscheinenden Meeres aus glutheißem Sediment.
Mächtige Figuren der imperialen und ekklesiarchischen Geschichte blickten von ihren Podesten herab, musterten die Umgebung mit finsteren Blicken. Die meisten dieser – Ekko zum größten Teil unbekannten – in Stein gehauenen Individuen schien für das bisweilen doch recht eigenwillige Klima Bastets vielleicht ein wenig fehlgekleidet, und tatsächlich hatte die Witterung der vergangenen Jahrzehnte bereits an den ewigen Dienern des Imperators zu nagen begonnen.
Man konnte Stellen erkennen, an denen der Sandstein glatt geschliffen worden war. Ein Zeugnis der beeindruckenden Sandstürme, die in diesen Breiten über die Ebene zu fegen beliebten.
Lediglich die über dem Haupttor prangenden, reich verzierten Lettern schienen vom Klima Bastets zwar gelesen, danach aber nicht weiter berührt worden zu sein und kündeten so, gleichsam erhaben und bedrohlich, von einer unzweifelhaften Hingabe an die einzige Wahrheit, die es für die Diener des Imperators zu verstehen gab.
Glaube bringt Erlösung
Ketzerei bringt Vergeltung
Ekko zweifelte nicht an den Worten. Sie waren Teil des Imperiums wie der Aquila, der Doppeladler, der sich wiederholende Ablauf bestimmter Rituale und – schlussendlich – der ewige Krieg im Namen des Imperators.
Allerdings wusste er auch, was das Imperium, besonders die Schwesternschaft, unter der Aussage verstanden. Er hatte es am eigenen Leib erfahren.
Langsam ging der Colonel auf die gewaltigen Flügeltüren zu, aus denen ihn die fein gehauenen Antlitze von höchstwahrscheinlich tausend Totenschädeln entgegenblickten, während das im Zentrum des Eingangs prangende Abbild des imperialen Doppeladlers lediglich ein Auge in seine Richtung öffnete.
Es verging einige Zeit, während der sich Ekko umblickte, mehr nach irgendwelchen Fallen denn einer anderen Person suchend, und eingehend auf den vergoldeten Türring starrte, bevor er sich zu einer Aktion durchringen konnte.
Er packte den Türring und ließ ihn gegen das schwere Material des Eingangstores prallen. Ein scharfer, durchdringender Klang ertönte.
»Kann Ich Ihnen helfen?«, fragte eine müde, jedoch erstaunlich feste Stimme hinter ihm.
Er fuhr herum.
Ein älterer Mann, gehüllt in schlichte Gewänder eines einfachen ekklesiarchischen Dieners, stand ihm gegenüber.
Die Kapuze seiner Kutte gegen den beißenden Sand tief ins Gesicht gezogen, stützte er sich auf eine simple Harke. Es war erstaunlich, denn Ekko hatte ihn nicht bemerkt, als er auf das Gebäude zugefahren, ausgestiegen und zum Tor gelaufen war. Wie konnte der Mann plötzlich hinter ihm auftauchen?
»Es kommt nicht oft vor, dass wir hier draußen noch hohen Besuch erhalten. Oder zumindest … Besuch.« Die Stimme des Mannes klang neugierig, doch auch ein wenig belustig. Fast so, als bedauere er den armen Tor, der sich die Mühe gemacht und unglaublich weit von der Stadt entfernt hatte, nur um festzustellen, dass es an diesem Ort nichts gab, wofür sich die angetretene Reise gelohnt hätte.
Ekko runzelte die Stirn. »Sie sind?«, fragte er.
»Demetrius«, stellte sich sein Gegenüber vor.
»Natürlich. Ein Demetrius.«
Demetrius war der Name des Protagonisten einer in Reihen der Imperialen Armee sehr bekannten, wenn auch von höheren Stäben durchweg verurteilten und folglich absolut nicht verbreiteten Serie von fraglos äußerst häretischen Bilderheftchen, die unter dem Titel »Demetrius und die Schwestern vom Orden der nymphomanen Libido« firmierten.
Im Grunde ging es um einen imperialen Soldaten, der sich nach einigen sehr ungeschickten Taten in Bezug auf die ihm vorgesetzte Kommissarin von seiner Einheit trennte und in einem Orden des Adeptus Sororitas unterkam, wo er mit Einfallsreichtum und Standfestigkeit zur Steigerung der Moral beitrug. Soweit die Kurzfassung.
Die Geschichten des unbekannten Verfassers zeichneten sich durch eine gründlich ausgearbeitete Geschichte, hohe Promiskuität, erstaunlichen Detailreichtum und überraschende anatomische Kenntnisse aus, bei denen selbst Ekko nicht umhin konnte zuzugeben, dass ihm solche Informationen unbekannt waren.
Natürlich hatte er die Geschichten nie gelesen, nur davon gehört.
Dennoch: der Name blieb hängen – so wie der Hauptcharakter der Reihe an der Rüstung einer Lebenden Heiligen, die ihn nach ihrem ersten gemeinsamen Gebet gar nicht mehr hatte gehen lassen wollen.
Nun erweckte dieser Demetrius nicht gerade den Anschein, als gehöre er zu jener Riege von Dienern des Ministorums, bei denen die Sororitas reihenweise in Ohnmacht fielen und von ihm in ihre Zellen getragen werden mussten, wo sie dann unter massiven Einsatz von Mund-zu-Mund-Beatmungen und körperlicher Stimulation ganz allmählich wieder erwachten.
Aber man konnte nie wissen. Vielleicht war er ja reich und in der Lage, sich das eine oder andere zu leisten oder als guter Apotheker sehr versiert in der Zubereitung von Hypnotika … oder die Schwestern einfach nur verzweifelt.
Vielleicht war das auch ein Grund dafür, dass sie schließlich allesamt das Weite gesucht hatten …
Wobei … wenn alles im Leben so einfach gewesen wäre …
»Dann verraten Sie mir doch sicherlich auch, wer Sie sind, oder?«, fragte Bruder Demetrius, von den Gedanken des imperialen Offiziers vollkommen unberührt. Wie hätte er auch wissen sollen, was sich sein Gesprächsgegner im finstersten Hinterstübchen einer nicht ganz jugendfreien Fantasie gerade ausmalte.
»Ekko, Colonel«, erhielt er zur Antwort, worauf ihm das Einzige einfiel, das es in diesem Augenblick zu sagen gegeben hätte.
»Natürlich. Ein Colonel.«
Vermutlich existierten auch Heftchen mit derlei Thematiken. Aber wenn dem so war, dann konnte zumindest Ekko nicht behaupten, jemals ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.
Der Regimentskommandeur seufzte. »Touché.«
Sein Gegenüber murmelte etwas Unverständliches, dann kam er näher, die Harke als eine Art Gehstock nutzend.
Erst jetzt ging Ekko auf, dass seine Bewegungen viel zu flüssig für die eines alten Mannes waren, zumindest so alt, wie er ihn sich unter seiner Kapuze vorgestellt hatte.
»Und was wollen Sie damit?«, erkundigte er sich, indem er auf das Gärtnerwerkzeug wies. »Die Wüste durchkämmen?«
»Seien Sie nicht albern«, erhielt er zur Antwort. »Ich war dabei, den Abteigarten zu jäten, als Sie mich störten.«
Ekko ging nicht auf die ganz offen zur Schau gestellte Schelte ein. Stattdessen schürzte er anerkennend die Lippen. »Einen Garten? Hier draußen? Da haben Sie bestimmt den ganzen Tag zu tun.«
»Es gibt auch nicht viel mehr, das man hier noch machen könnte«, meinte Demetrius und nickte traurig. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«, wiederholte er.
Ekko deutete über seine Schulter. »Haben Sie einen Schlüssel für das Teil?«
Der Diener der Ekklesarchie sah auf. Zumindest hatte es den Anschein, denn die Kapuze bewegte sich. Für einen Augenblick fragte sich der Colonel, ob er vielleicht kleine Gucklöcher in den Stoff geschnitten hatte, damit er überhaupt irgendwas erkennen konnte, doch noch während er mit den Nachwirkungen dieser Vorstellung kämpfte, erhielt er eine Antwort, die er tatsächlich so nicht erwartet hatte. »Haben Sie denn einen Grund, hier zu sein?«
Das war eine berechtigte Frage. Und eine Frage, die Colonel Ekko so direkt ins Herz traf wie ein gut platzierter Schuss mit einem Lasergewehr. Eine unbestimmte Müdigkeit wallte in ihm auf, gepaart mit einem Anflug von Melancholie.
Warum ein Mensch in seiner Situation gerade an einem solchen Ort sentimental wurde, würde ihm wohl für den Rest seines Lebens ein Rätsel bleiben. Dennoch: er konnte nicht anders, als dem Gefühl Raum zu geben und zuzulassen, dass es sich in seinem Innern ausbreitete.
»Mich verbinden viele Erinnerungen mit diesem Ort«, erklärte der imperiale Offizier und lächelte matt. »Ich hatte öfter mit der …«, hier unterbrach er sich kurz und suchte nach einem passenden Wort, »… ‚Belegschaft‘ zu tun.«
»Ihr Einfluss dürfte nicht der beste gewesen sein.«, meinte der ekklesiarchische Diener sarkastisch.
»Sicher, dass Sie immer im Dienste der imperialen Kirche standen?«, gab Ekko zurück, indem er eine Augenbraue hob.
»Touché«, musste sich nun sein Gegenüber geschlagen geben. »Man hört so einiges, wenn die Schwestern vom Schlachtfeld zurückkommen. Aber nein. Ich habe nie in den Diensten einer kämpfenden Organisation gestanden, falls Sie das meinen.«
»Sein Sie froh«, bemerkte der Colonel. »Bisweilen denke ich mir auch, mein Karriereberater hätte mir ruhig ein paar mehr Alternativen aufzählen können.«
»Wo waren Sie überall, Colonel?«, erkundigte sich Demetrius, während er an Ekko vorbeischlurfte.
»Ich gehörte zur PVS, oben in Batareh, bin dann später in die Imperiale Armee übernommen worden und als Lieutenant in den Krieg für den Imperator gezogen. Meine letzten Schlacht war das Kommando über ein Basteter Regiment auf der Schreinwelt Agos Virgil.«
Das stimmte sogar. Im doppelten Sinne. Sein Kampf auf Agos Virgil war ein Kampf an zwei Fronten gewesen. Zum einen gegen die Orks, die Feinde der Menschheit, zum anderen um das Leben und den Verstand seiner Untergebenen, die teilweise doch eine deutlich andere Sichtweise auf das Universum besaßen als Ekko selbst.
»Ich habe davon gehört«, stellte der Mann fest. »Eine unserer großen Pilgerstätten in diesem Subsektor.«
»Ja, das war sie. Ich glaube nicht, dass davon noch allzu viel übrig ist.«
»Wie ist es denn ausgegangen?«, wollte Demetrius wissen, indem er in einer der Taschen seiner Kutte kramte. Nach einer Weile tauchte ein alter, bronzener Schlüssel auf, den der Lauf der Zeit mit grünlichen Verfärbungen überzogen hatte.
Ekko zuckte die Schultern. »Als wir abkommandiert wurden, haben sie gerade eine neue Offensive gestartet. Von der Himmelskathedrale aus. Der Heiligen Janina geweiht oder so.«
»Janaïs«, verbesserte der Ordensbruder, als er gerade den Schlüssel ins Schloss steckte und sich anschickte, ihn umzudrehen.
»Genau. Das war ihr Name. Tolle Frau. Sie hat ihre Aufgabe sicherlich ausgefüllt – und den Statuen nach zu urteilen ihre Rüstung auch. Zumindest eine Person hätte seine helle Freude an ihr gefunden.«
Sein Gegenüber hielt inne, fuhr herum und bedachte den Colonel mit finsteren Blicken – zumindest, soweit es dessen Empfindungen betraf. Was er wirklich unter der Kapuze anstellte, ließ sich nicht wirklich erkennen.
Ekko hob abwehrend die Hand. »Tut mir leid. Das war blasphemisch.«
»Ja. In der Tat. Das war es«, schalt ihn der Abt, bevor er schließlich aufschloss.
Mit einem knirschenden, auf seine Weise melancholisch klingenden Geräusch rastete der Riegel aus, dann schob sich eine kleine Tür im großen Torflügel seufzend und keuchend unter dem gegen sie gedrückten Gewicht von Demetrius auf.
Ein ähnliches Konzept hatte Ekko bereits während der Schlacht um die Himmelskathedrale beobachten können. Man konnte es als Glück bezeichnen, dass Balgor ihn nicht begleitete. So wie er seinen Captain kannte, hätte dieser gerade jetzt angemerkt, dass der Colonel ein wenig länger hatte suchen müssen, um die Tür im Tor zu finden. Eine peinliche Angelegenheit, über die Ekko im Augenblick nicht nachdenken wollte.
Sie traten ein.
Zu Ekkos Überraschung öffnete sich jenseits der prächtigen Torflügel kein ausladender Bau, so wie er es von Kathedralen imperialer Baukunst gewöhnt war, sondern eine große, offene Halle, von der aus zwei Quergänge entlang der umgebenden Mauer abgingen. Dahinter bildete sich das, bereits von feinen Schichten Sand bedeckte Rechteck eines Musterungsplatzes aus, an den sich eine hohe Mauer anschloss, die man lediglich durch zwei gegenüberliegende, leicht gekrümmte Treppenaufgänge überwinden konnte.
Wahrscheinlich diente dies im Falle eines Angriffs auf den Konvent als erste Linie der Verteidigung.
»Gibt es einen bestimmten Ort, den Sie sehen möchten, Colonel?«, fragte Demetrius.
»Nein. Ich wollte mich eigentlich nur etwas umsehen.«
»Der Konvent ist nicht dafür gedacht, dass sich Leute hier nur umsehen«, ermahnte ihn sein Begleiter. »Ich dachte, Sie hätten mit der Ekklesarchie zu tun.«
»Oh, ich hatte mit der Ekklesiarchie zu tun. Mehr als nur ein Mal.« Ekko rümpfte die Nase. Nur eine leichte Änderung der Mimik, aber der Colonel begriff sofort, dass er damit mehr sagte als mit jedem Wort, das er über seine Beziehung zur Schwesternschaft hätte verlieren können. Blieb nur zu hoffen, dass Demetrius ihn nicht beobachtet hatte.
Vielleicht war es besser, die ganze Angelegenheit anders aufzuziehen. »Um die Wahrheit zu sagen: Die Imperiale Armee möchte wissen, ob man die Bastion in irgendeiner Weise nutzen könnte. Von unserer Seite geht man davon aus, dass die Schwesternschaft nicht zurückkommen wird. Und so ein schönes Gebäude ungenutzt zu lassen, wäre doch Verschwendung.«
Allerdings schien es, als würden die Worte sein Gegenüber umso mehr alarmieren. »Colonel, Sie können nicht einfach …«
»Doch. Natürlich. Sehen Sie? Einen Musterungsplatz haben wir schon Mal.« Er nickte zufrieden. »Sehr schön. Oh! Und was ist das?«
Einen Schritt zulegend, marschierte er in Richtung der Treppen. Ein hölzernes Poltern hinter ihm bezeugte, dass Demetrius gerade seine Harke fallen gelassen hatte, vermutlich bei dem Versuch, sein Gewand zusammenzuraffen, damit er mit dem uniformierten Offizier schritthalten konnte.
Ein wenig Leid tat er Ekko ja schon, vor allem weil dieser ihn so dreist überfallen hatte. Allerdings hielt sich sein Mitleid dann doch in gewissen Grenzen.
»Ein großartiges Haus«, schwärmte der Colonel, während er interessiert die abgewetzten Steinstufen zur nächsten Ebene emporstieg. »Wie kann man einen solchen Ort nur aufgeben wollen?«
»Colonel …«, keuchte sein Begleiter, der ihm nacheilte. »Warten Sie …«
Ekko ging nicht darauf ein. »Es erstaunt mich ein wenig zu hören, dass man den Orden aufgelöst hat«, bemerkte er stattdessen.
»Aufgelöst?« Demetrius Keuchen setzte für einen Moment lang aus. »Wer erzählt denn so etwas?«, fragte er, um dann weiter zu schnaufen.
»Die Leute in Serareh«, log sein Besucher, weiterhin mit schnellem Schritt in Richtung des heiligen Zentrums der ekklesiarchischen Einrichtung unterwegs.
Demetrius‘ Robe raschelte. »Nein. Der Orden wurde abberufen«, erklärte er.
»Abberufen?« Diese Tatsache endlich brachte den Colonel zum Stehen. »Wer tut denn so etwas?«, amte er die Stimme des anderen nach.
»Seine Exzellenz, Konfessor Cobis«, erklärte Demetrius und legte dabei genügend Nachdruck in die Stimme, dass deutlich wurde, wie sehr der Konfessor über jeden Zweifel erhaben war.
»Ein richtiger Menschenfreund«, bemerkte Ekko mit verschränkten Armen, so als erwartete er weitere Erklärungen. Um ehrlich zu sein tat er das auch, obwohl er wusste, dass er vermutlich keine bekommen würde.
Er sollte Recht behalten.
»Gehen Sie jetzt bitte!«, forderte ihn der Diener der Ekklesiarchie auf. Es klang beinahe verzweifelt.
Ekko reagierte nicht sofort. Stattdessen blickte er sich um, sah die aufragenden Mauern empor und riskierte es, seine Augen über die steinerne Gasse wandern zu lassen, die sich, gleich einer Dorfstraße, zwischen zweistöckigen Gebäuden zum eigentlichen Konvent emporwand. Davon ausgehend, dass es eine gespiegelte Treppe gab, gab es höchstwahrscheinlich auch noch eine zweite Gasse, die ihn in tiefer in die Eingeweide des ekklesiarchischen Baus vordringen ließ.
Es stellte sich nun die Frage, welcher Weg der Richtige war und welchen er zu nehmen hatte, um das zu finden, was er suchte?
Oh, sicherlich: eine seiner Fragen – die, wegen der er ursprünglich hergekommen war – wurde bereits beantwortet. Ja. Die Schwestern waren fort.
Allerdings gab es da noch eine Sache, die in den letzten Minuten akut an Brisanz gewonnen hatte. Und die war bisher nicht geklärt worden.
Doch um die Antwort auf diese Frage zu finden, würde er vermutlich einige Zeit benötigen. Aber im Augenblick zumindest sah es nicht danach aus, als wenn man es ihm gestattete, sich die dafür benötigte Zeit zu nehmen.
»Ja«, sagte er schließlich und nickte träge. »Ja, vermutlich ist das besser.«
Demetrius sandte ein seufzendes Stoßgebet gen Himmel.
So leicht wollte es ihm Ekko dann aber doch nicht machen. »Wenn Sie den Schwestern bereits so lange gedient haben« – bei diesen Worten musste der Colonel ein Kräuseln seiner Lippen unterdrücken – »kannten Sie zufällig auch eine Schwester Ayle?«
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
432
1
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Guten Morgen,

Hier kommt er – der neue Ekko … mit einem Knick in der Ecke …

Viel Spaß beim Lesen.




09

Die Stimmung im Besprechungs- und Kommandozelt des 512. Regiments hätte man nicht unbedingt mit »Panik« beschreiben müssen. »Aufregung« wäre vollkommen ausreichend gewesen.
Außerdem wurde nicht das ganze Regiment, sondern nur eine kleine, elitäre Gruppe imperialer Offiziere, deren Aufgaben sich zufälligerweise mit der des Führungsstabs überschnitten, von Fassungslosigkeit, Erstaunen und Erregung ergriffen.
Namentlich waren dies Captain Solmaar, Captain Fendel, Captain Balgor und – leider – auch Captain Retexer. Also jene Personen, die während einer Abwesenheit von Major Carrick und Colonel Ekko über die absolute Befehlsgewalt im 512. Regiment verfügten, sowie einige wenige glücklose Infanteristen, denen die zweifelhafte Ehre zuteil war, von ihnen als Melder oder Informanten ausgewählt worden zu sein.
Als besonders fassungslos, erstaunt und ergriffen stellte sich Achad Alit heraus.
Der Jung-Kommissar zeigte Bemühungen, seine Rolle als Moraloffizier des Regiments im Führungs- und Entscheidungsprozess nicht untergehen zu lassen, wusste aber nicht so recht, was er sagen sollte, schwieg daher und beschränkte sich schließlich darauf, dem Chaos mit offenem Mund lediglich zuzusehen.
Diese sehr aufschlussreiche Tätigkeit verband ihn mit Doktor Calgrow, welche die sich ihr bietende Szene mit einem Hauch amüsierter Abscheu beobachtete.
»Haben Sie Colonel Ekko erreicht?«, richtete Balgor seine Aufmerksamkeit auf Gireth, Ekkos persönlichen Funker und Adjutanten, als dieser die Schutzplane über dem Eingang zur Seite schob und keuchend eintrat. In Balgors für sein Alter noch sehr eleganten Gesicht zeichnete sich die diebische Freude vollkommener Ratlosigkeit ab.
»Nein, Sir«, erwiderte der junge Funker unglücklich.
»Ja«, seufzte der Captain und ließ die Arme ratlos gegen die Hosennaht fallen, wobei ein Laut erklang, der an ein totes Schwein erinnerte, das mit einer harten Eisenplatte Bekanntschaft macht. »Das hat man davon, wenn man ihn alleine losziehen lässt.«
Er blickte zu den drei anderen Offizieren. Doch auch in ihren Mienen konnte er keinen Hinweis auf die nun zu unternehmenden Schritte erkennen.
Solmaar und Fendel bedachten ihr Gegenüber mit nachdenklichen Blicken, dann sahen sie einander an, kamen darüber überein, dass sie nicht unbedingt zur Lösung des Problems beitragen konnten und fanden interessante Punkte auf dem Plottisch, der zwischen ihnen und Balgor drapiert stand.
Retexer hingegen starrte betont missvergnügt ins Nichts, das irgendwo zwischen seinem Standort und dem anderen Ende des Zelts residierte. Die Aussage seines Blicks war unzweifelhaft deutlich: Mit mir als Kommandeursvertreter wäre es nicht soweit gekommen.
»Irgendeiner von den beiden muss es übernehmen«, stellte Solmaar schließlich fest. »Es steht ganz klar in dem Befehl.«
»Vermutlich«, bestätigte Balgor zögernd. Er warf einen neuerlichen Blick auf das Schriftstück in der Hoffnung, es könnte sich entschieden haben, ihm dieses Mal eine andere Information zu präsentieren als die, die er nun bereits zum wiederholten Male gelesen hatte: Das Munitorium forderte Personal des 512. Regiments zur Teilnahme, Begleitung und Absicherung der Saatfest-Prozession an.
»Sie können es nicht delegieren«, fuhr der andere Captain fort und meinte damit Ekko und Carrick. »Oder hat man Sie offiziell zum stellvertretenden Regimentskommandeur ernannt?«
»Nein«, musste der Angesprochene zugeben. Was hätte er auch anderes sagen sollen? Es stimmte nun einmal. Ekko hatte ihn mit der Aufsicht über sein Kommando betraut, solange er und Carrick anderweitig verhindert waren. Die Senioritätsregelung der imperialen Armee regelte den Rest. Zumindest in der Tradition. Papier hingegen war eine andere Sache. Dort konnte man die Tatsache, dass man nach dem Regimentskommandeur und seinem Stellvertreter der nächste, ranghöchste und dienstälteste Offizier war, leider nicht geltend machen.
Alles, was von offizieller Seite – sprich also vom Departmento Munitorium in Vertretung des Departmento Administratum – an Einheiten der imperialen Armee verteilt wurde, gestaltete sich in dem Punkt leider bisweilen als hinderlich für einen reibungslosen Dienstablauf.
Dort hieß es dann zumeist: »Zu Händen von …« oder »an … oder Vertreter im Amt« und jeder, der nicht in der Liste der in solchen Schreiben angesprochenen Personen auftauchte, ließ besser die Finger vom Inhalt. Andernfalls fand er – oder sie – sich sehr schnell in einer sehr langen, sehr unangenehmen Befragung wieder. Diese wurde zumeist durch den Regimentskommissar und, beziehungsweise oder, entsprechende Vertreter anderer imperialer Organisationen durchgeführt, verfolgte das Ziel der Feststellung eines Sicherheitsrisikos und enthielt eine oder mehrere der folgenden Fragen: Sind Sie berechtigt? Befugt? Hat man Sie ermächtigt? Haben Sie Zugang? Umgang? Wurden Sie beauftragt? Waren Sie sicherheitsüberprüft? Gibt es dafür Zeugnisse? Beurteilungen? Bescheinigungen? Bestätigungen? Vielleicht Zeugen?
Konnte man eine oder mehrere davon mit »Ja« beantworten, so folgte meist eine Verwarnung, vielleicht auch eine Eintragung in die ohnehin nur unvollständige und eher schlampig geführte Dienstakte.
Gelang es dem augenscheinlichen Delinquenten, keine zufriedenstellende Antwort zu geben, so schloss sich im Grunde nur noch eine Erkundigung an, vorgetragen mit bedeutungsschwangerer Stimme und bösartig verengten Augenbrauen: »Was, beim Thron, hatten Sie dann damit vor?«
Man kann darüber nun nachdenken und wird recht schnell feststellen, dass jegliche Erwiderung darauf immer negativ ausgelegt werden wird. Immerhin ist die Imperiale Armee nicht der menschenverachtende Moloch, der sie heute ist, weil ihre Diener überzeugt davon sind, dass man im besten Gewissen für das große Reich der Menschheit gedient hat. Oh, nein. Beileibe nicht.
Sie wird einen für einen widerwärtigen Verräter halten, für vom schmierigen Makel des Chaos korrumpierten Abschaum, der nichts weiter im Sinn hatte, als die ihm eigentlich nicht zugänglichen Anweisungen zu entwenden und der Kriegsmaschinerie des Imperiums einen irreparablen Schaden zuzufügen.
Der Rest klärt sich dann (fast) sang- und klanglos von ganz allein.
Schon aus diesem Grund vermieden es die Offiziere des 512. Regiments, sich auf die vor ihnen liegende Aufgabe zu stürzen. Immerhin war es möglich, dass sich dabei ein Abgrund auftat, der ihren Sturz in eine bisher nicht abschätzbare Tiefe lenkte. Wann und wo sie dann aufschlugen, lag einzig und allein in den Händen des Imperators.
Balgor seufzte schicksalsergeben und hob ahnungsvoll eine Hand. »Dann haben wir keine Wahl. Wir müssen Major Carrick informieren.« Zustimmendes Brummen der anderen Offiziere antwortete ihm.
Er wandte sich um, dem Kommissar und der Ärztin zu, adressierte allerdings nur letzte direkt. »Ich denke, Doktor, das hier wird noch eine ganze Weile dauern«, erklärte er entschuldigend. »Wenn Sie möchten, können Sie gehen und ich lasse Sie rufen, wenn der Colonel wieder da ist.«
»Nein. Vielen Dank«, gab Marith Calgrow, die Regimentsärztin des 512. Regiments, in der ihr eigenen, typischen Ausdrucksweise perfektionierten Hochgotischs zurück, mit der sie ihrem Gesprächsgegner normalerweise einen verbalen Handschuh ins Gesicht schleuderte. »Ich habe noch eine Unterhaltung mit Colonel Ekko zu führen. Und so wie ich ihn kenne, wird er jede Möglichkeit nutzen, ihr aus dem Weg zu gehen. Also werde ich hier auf ihn warten.«
»Tja«, meinte der Captain und zuckte ahnungsvoll die Schultern. »Vermutlich können Sie da warten, bis das Tor von Cadia implodiert.«
»Das macht nichts«, erwiderte sie. »Ich habe Zeit.«
»Ja«, meinte eine Stimme von draußen, als wollte sie den Beweis für das Sprichwort erbringen wollen, dass das Chaos immer dann erschien, wenn man davon sprach. »Das glaube ich Ihnen.«
Der improvisierte Zugang zum Zelt flatterte zur Seite. Ekko trat ein. Er wirkte müde und abgespannt. Fast so, als hätte er gerade an einer Kundgebung teilgenommen. Natürlich nicht irgendeiner Kundgebung. Nein. Bei dieser Informationsveranstaltung hatte es sich offensichtlich um eine Traumdeutung gehandelt, bei der man ihm berichtete, dass er sich aktuell in einer Traumphase befand und nur nicht aufwachte, weil die vor seinen Augenlidern residierende Realität ein ganzes Deut schrecklicher war als die Katastrophe, die er gerade als sein Leben zu betrachten glaubte.
Er blickte auf und ließ seinen Blick durchs Zelt schweifen. Für einen Moment prangte eine unsichtbare, aber deutlich zu erkennende ‚Was machen Sie alle in meinem Zeit?‘-Plakette auf seiner Brust.
Die Anwesenden konnten beobachten, wie sich der Mund des Colonels zu einer sarkastischen Bemerkung öffnete, kurz zuckte und sich dann wieder schloss.
Stattdessen seufzte der Regimentskommandeur leise und winkte ab.
»Egal, was es ist«, setzte er neu an und bedeutete dem Captain zu seiner Linken, ihm den Quell seiner Sorgen zu überreichen, »geben Sie her.«
Wortlos reichte ihm Balgor das Pergament, während sich um die beiden Männer herum Schweigen ausbreitete.
Ekko überflog das Schreiben, kniff die Augen zusammen und blickte Balgor scharf an. Dann las er noch einmal, dieses Mal jedoch etwas gründlicher.
Das nutzte der temporär stellvertretende Regimentskommandeur, um ihm eine Frage zu stellen, die sich so plötzlich in seinen Gedanken breitgemacht hatte wie ein akuter, marternder Kopfschmerz. »Haben Sie draußen gestanden und gelauscht?«
»Hm«, erklang die nachdenkliche Stimme seines Vorgesetzten, während er die Lektüre beendete und das Pergament an Balgor zurückreichte, der aus Reflex – mehr noch aus Prinzip – einen neuerlichen Blick darauf warf, bevor ihm aufging, dass dies eigentlich vollkommener Unsinn war.
Eine wirkliche Antwort auf seine Frage sollte er nicht mehr erhalten – oder hatte Ekko sie ihm längst gegeben?
Die Hände in den Taschen versenkt, wanderte der Regimentskommandeur nachdenklich an den Anwesenden vorbei bis zum anderen Ende des Zelts, blieb eine Weile dort stehen und erging sich in einer Vielzahl von Überlegungen, von denen sich vermutlich nur ein gewisser Teil mit der Problemstellung beschäftigte. Der Rest weilte in ganz anderen Sphären.
Und so dauerte es noch ein wenig länger, bis der Colonel entschied, dem Thema mehr Gewicht zu verleihen und sich wieder umdrehte.
»Meine Herren … und Ärztin«, adressierte er die vor ihm Stehenden, »ich denke, Captain Balgor und ich haben einiges zu besprechen. Ich würde Sie daher jetzt bitten zu gehen.« Ein kurzer Handwink unterstrich die Aufforderung.
Die Captains warfen einander vielsagende Blicke zu, lösten sich vom Besprechungstisch und verließen nacheinander das Zelt. Lediglich Calgrow und der Kommissar verharrten an ihren Plätzen, beobachteten die Szenerie wie zwei unbeteiligte Zuschauer.
Es war Ekko der ihnen bewies, dass sie Teil des Geschehens waren und ihm nicht nur beiwohnten.
»Das … war doch deutlich, oder?«, hakte er betont neutral nach. Aus seinem Mund klang es wie eine Drohung. »Doktor?«
Die Ärztin schürzte die Lippen, zögerte und runzelte die Stirn. Nur widerwillig straffte sie ihre trotz des relativ fortgeschrittenen Alters noch immer attraktive Figur, um sich in Richtung Ausgang zu begeben.
Der Kommissar hingegen rührte sich nicht. »Vielleicht«, startete er den zögerlichen Versuch, seiner Präsenz mehr Nachdruck zu verleihen, »sollte ich ebenfalls an der Besprechung teilnehmen?«
»Nein«, gab Ekko zurück.
»Aber …«
»Nein!«, wiederholte der Regimentskommandeur, dieses Mal deutlich energischer. »Raus!«
Langsam, wie von einer zähen Masse festgehalten, setzte sich sein Gesprächsgegner in Richtung Ausgang in Bewegung.
»Danke. Zu freundlich«, kommentierte Ekko das Geschehen.
»Denken Sie daran, Colonel«, erinnerte ihn Calgrow, ehe auch sie an der Seite des Jung-Kommissars durch den Zelteingang verschwand, »wir beide haben noch ein Gespräch zu führen.«
Er nickte abwesend. »Raus.«
Die Plane schwang hinter den beiden zu.
Balgor glaubte zu erkennen, wie Ekko den Kopf schüttelte. Vielleicht war es auch nur ein unwillkürliches Zucken gewesen.
Zumindest ließ der Colonel keinen Zweifel daran, was er über das Thema dachte. »Das ist ja doof«, merkte er an. »Das passt mir gerade irgendwie gar nicht.« Damit hatte er natürlich Recht – leider half ihnen das bei der Lösung des Problems auch nicht weiter.
»Es wird dadurch nicht weniger wahr«, bestätigte Balgor diese Tatsache.
Ekko seufzte leise. »Ja, leider. Das Universum ist eben nicht gerecht.« Eine ungewisse Anzahl von viel zu langen Sekunden paradierte an den beiden Offizieren vorbei, präsentierte die schicken Uniformen und marschierte durch den Haupteingang aus dem Zelt, bevor sich der Colonel entschied, sein Leid nicht länger hinzunehmen: »Können Sie das nicht wegmachen?«
»Ich habe das nicht geschrieben, Colonel.«
»Dann ändern Sie es, Balgor.« Nichtssagend wedelte der Regimentskommandeur mit den Armen. »Schreiben Sie was Nettes drauf. Einen schönen Kommentar.«
»Soll ich mich vielleicht auch noch verschreiben, damit Sie was zum Lachen haben?«, lautete die bissige Antwort, veranlasste den Adressaten, seinen Sarkasmus zur Seite zu schieben und sich dem unausweichlichen Problem zu stellen.
»Geben Sie her«, brummte der Colonel missgestimmt, während er am Pergament zog. Das Schreiben wechselte erneut den Besitzer. »Wer ist denn auf die total dämliche Idee gekommen, eine Einheit der Imperialen Armee in die Prozession zum Saatfest zu integrieren?«
Während er die Befehle des Munitoriums zum wiederholten Male las, tippte Ekko diese ganz bestimmte Passage abwertend mit dem Rücken seiner Finger an, so als wollte er dafür sorgen, dass sie sich mit einem »Aua, das hat wehgetan, Mann« zur Wehr setzte, um dann fortzufahren: »Weiß ich doch auch nicht! Ich bin nur der Bote!«
Leider tat sie ihm diesen Gefallen nicht. Vermutlich war das Schreiben auf Qo’nos erschaffen worden. Oder auf Narn. Zumindest stand außer Frage, dass es unheimlich stolz war und es daher vorzog, stumm zu leiden.
Vielmehr hätte es ohnehin nicht zur Lösung des Problems beitragen können.
Einige Momente später entspannten sich die Züge des Colonels merklich. »Da steht nicht, wie groß die Abteilung sein muss«, stellte er ein wenig beruhigter fest. »Zumindest eine gute Nachricht.«
Dann setzte der Regimentskommandeur an, die auf diese ganz spezielle Form der Auftragstaktik folgenden Gedankengänge in seinem Kopf zu skizzieren.
»Nehmen wir …«, begann er, bevor er abbrach um zu überlegen. »Es sollte nicht zu klein sein, aber auch nicht zu groß, damit es nicht allzu wichtig erscheint.« Er nickte, bestätigte seine eigenen Gedanken. »Nehmen wir Retexers Kompanie.«
Balgor stöhnte auf. »Ausgerechnet Retexer.«
Sein Gegenüber begann erneut zu wandern, versuchte die aus seinem Kopf heraussprudelnden Gedanken zu treiben, in eine Ecke des Zelts zu zwingen und dort wieder einzufangen. »Sie können das auch machen, Balgor«, meinte er nach einiger Zeit.
Der Kompaniechef wusste natürlich, was das für ihn bedeutet hätte.
Ihnen blieb nicht einmal mal mehr zehn Tage bis zum Saatfest und die Aufstellung einer militärischen Formation in einer eigentlich zivilen Parade bedurfte einiger Organisation. Immerhin ging es dabei um die Koordination eines wirren, wuselnden Haufens halbnackter Männer und Frauen, die sich in ekstatischen Tänzen Kleider vom Leib rissen, Blümchen in die Luft warfen und bisweilen sogar auf den Gedanken kamen, die ganze Angelegenheit um die Sache mit den Bienen zu erweitern, und einer professionellen Armeeeinheit. Zumindest einer Armeeeinheit, verbesserte er sich in Gedanken.
Gleichsam mussten die eigenen Truppen instruiert, vorbereitet und aufgestellt, eine Wegstrecke definiert und ein Zeitansatz geplant werden. Es galt, auf die Besonderheiten zu achten, wenn man nicht die eigene Heilige, sondern den Imperator repräsentierte, die eingesetzten Einheiten waren noch einmal einer Stell- und Marschprobe zusammenzufassen und die formaldienstlichen Defizite galt es auszumerzen.
Dazu kamen die persönlichen Vorbereitungen. Immerhin besaß man als Führer einer Abordnung eine ganz bestimmte Wirkung, die es voll zu entfalten galt.
Im Endeffekt blamierte man mit einem Fehlverhalten nicht nur sich selbst und die Abordnung, sondern das Regiment, den Colonel als Vertreter der nächsthöheren Kommandoebene, in deren Vertretung das Sektoroberkommando des Sub-Sektors, dessen vorgesetzte Dienststelle und das Munitorium. Dies wiederrum führte dazu, dass sich auch das Adeptus Administratum mit der Angelegenheit beschäftigte und seinen Namen an die Hohen Lords von Terra telepathierte, die dann über das Vergehen debattierten und sich in ihrer Ratlosigkeit an den Imperator wandten, der auf seinem Goldenen Thron vor Wut rot anlief.
Das wiederrum führte schlussendlich dazu, dass das Unglück gleich einem Tsunami zwischen zwei Wellenbrechern hin- und herschwappte, bis es sich am Ende über den unseligen Delinquenten ergoss, der dann auch etwas vergoss. Zumeist noch ein paar letzte, bittere Tränen und dann ein wenig Blut. Oder viel. Je nachdem, welche Hinrichtungsmethode gewählt wurde.
Zusammengefasst: Führer einer zeremoniellen Abordnung zu sein war eine anspruchsvolle Aufgabe, die viel Wissen, viel Erfahrung und viel Vorbereitung benötigte. Eine ehrenvolle Tätigkeit, die man aber keinem vernünftigen Offizier jemals zugemutet hätte.
Nachdem sich ihm diese Tatsache präsentierte wie ein Vorschlaghammer, der auf einen Gong trifft, entschied Balgor, lediglich die Achseln zu zucken. »Nehmen wir Retexers Kompanie«, ließ er dem anderen Offizier den Vortritt.
»Und dann …« Ekko überlegte erneut. »Denken Sie, diese PVS-Einheit kriegt eine Kompanie zusammen?«
»Keine Ahnung.«
»Wer kann uns das beantworten? Gibt es da einen Einheitsführer?«
Balgor verschränkte nachdenklich die Arme, während er versuchte, sich an den Namen des Kommandanten der ‚Überläufer‘ zu erinnern, wie man freiwillig Dienende in der Imperialen Armee auf Bastet zu bezeichnen pflegte. »Ein Lieutenant Sennen«, fiel es ihm kurz darauf wieder ein.
Ekko zeigte sich überrascht. »Ein Lieutenant?«
»Ja, Sir. Er ist nur kommissarischer Führer der Einheiten. Die werden nämlich unter den ganzen Kompanien aufgeteilt.«
»Ach – dann ist das also schon Retexers Kompanie?«, dachte der Colonel laut nach. »Dann hat sich meine Idee bereits erübrigt.« Er überlegte etwas länger, dieses Mal jedoch stumm. »Hatten Sie schon mit dem zu tun?«, wollte er wissen.
»Nur wenig, Sir«, konnte Balgor berichten. »Er stellte sich kurz vor, als Sie bereits unterwegs waren. Ich sagte ihm, er müsse warten bis Sie wieder da sind.«
Ekko nickte. »Verstehe. Und was war das für ein Mann?«
»Warum lernen Sie ihn nicht selbst kennen, Colonel? Sie sind der Regimentskommandeur.« Ein vernünftiger Vorschlag, dem Ekko allerdings nicht ganz so viel abgewinnen konnte.
»Mussten Sie mich daran erinnern? Ich hatte es gerade ganz erfolgreich verdrängt«, brummte er missmutig, bevor er sich an etwas anderes erinnerte, das es unbedingt noch zu klären galt. »Und bevor ich es vergessen«, wedelte er mit dem Schriftstück, »wir müssen auch noch dieser komischen Schutzgeschichte Rechnung tragen.«
»Schutzgeschichte?«, hakte Balgor stirnrunzelnd nach.
»Ja«, fuhr der Colonel gelangweilt fort. »Wir sollen die Tribüne an der großen Maatbrücke bewachen. Da, wo all die wichtigen Leute sitzen. Sie wissen schon: Ich. Sie. Carrick. Calgrow vielleicht auch.« Die Aufzählung verebbte. »Egal«, schloss der Colonel den Einwurf ab. »Ich will zehn Mann in voller Ausrüstung als Absicherung.«
Wieder konnte Balgor nicht anders als erneut die Stirn zu runzeln. »Halten Sie das nicht für etwas wenig?«, fragte er rhetorisch.
»Halten Sie das nicht für meine Entscheidung?«, gab der Regimentskommandeur zurück.
Stille breitete sich aus.
Sie war so tief, dass sie selbst Form annahm und begann im Zelt umherzuwandern, laut über die Bösartigkeit des Lebens lamentierend, bevor sie sich umwandte und den Colonel klagend anschrie.
Es war seltsam, dass sie sich gar nicht um Balgor zu kümmern schien, aber im Grunde war das auch nicht weiter wichtig.
Ekko und die Stille hatten sich genug zu sagen.
Während die Wortlosigkeit damit fortfuhr, den Colonel bösartige Verwünschungen an den Kopf zu schleudern, um dessen existenzleeres Dasein noch weiter in die Bedeutungslosigkeit abgleiten zu lassen, wanderte dieser – rein zufällig scheinend – aus seinem kleinen Refugium in der Ecke des Zelts zurück zu dessen Ausgang.
Er schien so mit seinen eigenen Gedanken zu kämpfen, dass Balgor nicht anders konnte als sich zu fragen, was den Colonel wohl beschäftigte.
Schließlich trat Ekko an die provisorische Zutrittssperre und verharrte.
Der lautlose, fein getaktete Schlag endloser Sekunden verging, während der Colonel regungslos auf die zugezogene Plane blickte.
Dann, vollkommen unerwartet, riss er sie zur Seite und starrte hinaus in die brüllende Hitze, die sich ihrerseits anschickte, einen Blick ins Zelt zu werfen. Selbst in den Abendstunden wollte sich die Luft einfach nicht abkühlen.
Taous und Tages hatten sich in rote Abendkleider geworfen und zogen zum ewig summenden Chor des leise rauschenden Windes feiernd dem Horizont entgegen. Ab und an schien es, als hickste eine von ihnen in der flimmernden Luft. Unter diesen Umständen war keine klare Sternennacht zu erwarten. Erste Wolken trübten das von Sternen gesprenkelte Sternenzelt ein und in der Ferne zuckten stumme Blitze wie die stroposkopartigen Lichter jener Party, von der Taous und Tages gerade nach Hause taumelten.
»Ich bin überrascht«, bemerkte der imperiale Stabsoffizier und zog die Plane vor der geräuschlos protestierenden Hitzewand zu. »Ich hätte wirklich gedacht, dass irgendeiner stehenbleiben und lauschen würde«, verlieh er seiner Enttäuschung Luft.
Der Captain beobachtete ihn dabei.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Colonel – was machen Sie da?«
Ekko wandte sich um. Er sah sich suchend um, so als erwartete er, dass sich jede Sekunde ein von ihm längst antizipierter Gegner manifestieren und ihre Konversation durch einen plötzlichen Sprungangriff auf einen von ihnen beiden beenden würde.
Dabei war es natürlich vollkommen unerheblich, dass das Zelt lediglich einen Zugang besaß.
Wer konnte schon wissen, welche Gemeinheiten sich ein Gegner einfallen ließ, wenn er einen Meuchelmord an einer Persönlichkeit des imperialen Lebens plante.
Die Stille zumindest hatte es geschafft, vollkommen ungesehen und unbehelligt aus dem Besprechungszelt zu entkommen. Wie sie das vollbrachte, würde wohl auf ewig ein Rätsel bleiben.
In diesem Moment war es auch nicht weiter wichtig. Zumindest für Ekko nicht – auch wenn er nicht vergessen konnte, was ihm die finstere kleine Stimme in seinem Kopf in den letzten Minuten zugeflüstert hatte.
»Ich muss da kurz mal was anderes klären«, lenkte er das Gespräch in neue Bahnen. »Balgor, ich habe heute einige Dinge erfahren, denen ich nachgehen muss. Es ist unerlässlich, dass ich mehr darüber hinausfinde, was auf diesem Planeten los ist.«
»Wollen Sie es mir mitteilen?«, erkundigte sich Ekkos Gesprächspartner.
»Nein«, erwiderte dieser postwendend. Vielleicht sogar ein bisschen zu schnell. »Nein. Auf jeden Fall nicht sofort. Erst muss ich wissen, ob das alles wirklich wahr ist oder ich einfach nur verrückt werde.«
Balgor zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Was hätte er auch sagen sollen?
»Auf jeden Fall«, kehrte das Gespräch zum Thema zurück, »werde ich dadurch nur wenig Zeit haben, mich so um das Regiment zu kümmern, wie ich es gerne möchte. Besonders betrifft das die Sache mit den Elysianern.«
Ja, die Sache mit dem Elysianern. Balgor kannte nicht alle Einzelheiten, aber er wusste, dass das 512. Regiment durch eine Abteilung Elysianer verstärkt werden sollte, Verbände, die nach blutigen Schlachten irgendwo im Segmentum einer neuen Bestimmung zugeführt werden sollten.
Natürlich gab es Stimmen, die sich gegen eine solche Zusammenführung verwahrten. Verwahrloste, einst motorisierte Infanterie und Sprungtruppen – das passte einfach nicht zusammen. Wie nur konnte das Departmento Munitorium eine derartige Vermischung zweier grundverschiedener Doktrinen zulassen?
Hier – und das konnte Balgor nicht wissen – hatte eine größere Macht eingegriffen als das, was Feder und Schwert zu leisten in der Lage gewesen wären.
Die Wege des Imperators waren unergründlich. Und gerade waren die Schicksale zweier zerschundener Armeen auf eine gemeinsame Straße geführt worden.
Natürlich hatte sich der Autor dieser Verbindung etwas dabei gedacht. Eine Bündelung der Kräfte. Ein Gewinn an Masse, an Energie und an Stärke. Aber vor allem … vor allem würde dies der Beginn einer neuen Geschichte sein, eines neuen Abenteuers, das beide Kampfgruppen als eine große Armee erleben würden. Sofern der hohe Herr der Menschheit sich nicht plötzlich doch noch anders entschied. Da konnte das Munitorium protestieren wie es wollte.
In den göttlichen Augen des Imperators waren die menschlichen Narren einfach nur Unwissende, die das größere Wohl einer gut erzählten Geschichte einfach nicht akzeptieren konnten.
Allerdings – und das muss man ihnen zugutehalten – beschäftigte sich der Imperator auch nicht wirklich mit logistischer Aktenführung und dem Chaos, das aus einer ungeplanten Aktion wie dieser entstand.
Balgor für seinen Teil verstand von beidem nicht viel. Für ihn gab es nur eine wichtige, um nicht zu sagen essentielle, Tatsache.
»Ich kann Carrick damit nicht belasten«, erklärte Ekko matt. »Er ist mit seinen Gedanken vermutlich schon gar nicht mehr in diesem Regiment, sondern verbirgt sie hinter einer Totenmaske.«
Ein Seufzen folgte. Es war nicht wirklich ein Seufzen, mehr ein raues Ausatmen, aber es reichte, damit Balgor das Ziel der Einleitung offenbar wurde, noch bevor sein Vorgesetzter Gelegenheit erhielt, es wirklich auszusprechen.
»Und damit bleibe nur ich?«, kürzte er eine weitere Ausführung ab, noch bevor sie begann.
Ekko nickte. »Ja.« Er räusperte sich. »Balgor, ich möchte Sie zum stellvertretenden Interims-Regimentskommandeur machen. Mit allen dazugehörigen Befugnissen.«
Natürlich hatte sich der Colonel in Vorbereitung auf dieses – in seinen Augen sehr unangenehme – Gespräch bereits länger vorbereitet. Während seiner Rückfahrt durch die leblose Wüste von Bastet waren ihm ganze Romane an Gedanken, Überlegungen und Vermutungen durch den Kopf geschossen, abwechselnd die vor ihm liegende und die längst vergangene Zeit betrachtend.
Irgendwo während dieser Zeit reifte in ihm die Überlegung, das Kommando über sein Regiment in temporärer Ermangelung eines Stellvertreters an den dienstältesten Kompaniechef abzugeben: Balgor.
Ja, er ging sogar soweit, sich jede für Balgor und ihn typische Gesprächsführung zu überlegen und eine entsprechende, für ihre Wortgefechte immer notwendige, Verteidigungs- und Gegenschlagsstrategie zurechtzulegen.
Allerdings – und das erkannte er erst im Nachhinein – vergaß er dabei einen essentiellen Punkt: Auch Captain Balgor konnte ehrlich überrascht sein.
»Wollen Sie Carrick ersetzen?«, brach es aus dem rangniederen Offizier hervor. Er klang dabei derart vorwurfsvoll, dass Ekkos vorbereitete, von Ironie und Sarkasmus gewürzte Vorgehensweise ihre Koffer packte und von dannen schlich.
Außerdem kam die Frage so unerwartet, dass der Regimentskommandeur über die Worte erst einmal nachdenken musste.
»Nein«, verkündete er das Ergebnis seiner Überlegungen nach einiger Zeit mit betont kraftloser, aber dennoch bedeutsamer Stimme. »Nein … zumindest nicht sofort.«
Was eigentlich als ernste Nachdenklichkeit geplant war, hörte sich im Endeffekt eher an wie ein Schuldeingeständnis.
»Hm.« Der Captain überlegte eine Zeitlang. Dann versenkte er, eine im Grunde eher für Ekko typische Geste, die Hände in den Taschen seines Drillichs. »Und was würden Sie machen, wenn ich Nein sage?«
Sein Gegenüber zögerte. An seiner Miene ließ sich ablesen, dass er eine solche Antwort bereits erwartet, wenn nicht sogar gefürchtet hatte.
Er seufzte schicksalsergeben. »Dann würde ich einen Fünfziger draufpacken und einfach noch einmal fragen.«
»Colonel, ich will Ihr Geld nicht«, erklärte sein Untergeber entschieden, was dem Regimentskommandeur ein erleichtertes Reaktion entlockte.
»Danke, Balgor. Das macht es für mich einfacher. Nicht auszudenken, wenn ich deswegen noch zur Imperial Reserve Bank von Bastet gemusst hätte.«
»Das mag sein – aber das ist nicht das Problem.«
»Ich verstehe«, gab der Colonel zurück. Er vollführte eine nichtssagende Geste. »Wollen Sie mir denn sagen, was das Problem ist?«
Sein Captain schüttelte den Kopf. »Nein«, erklärte er mit gemessener Stimme. »Auf jeden Fall nicht sofort. Erst muss ich wissen, ob das alles wirklich wahr ist oder ich einfach nur verrückt werde.«
Ekko hob die Augenbrauen. »Ich habe mich wirklich lange zurückgehalten, Balgor«, meinte er, »aber es wird immer offensichtlicher … ich kann es nicht länger leugnen …« Er holte tief Luft. »Punkt für Sie.«
Ekko und Balgor hatten lange Zeit eine Tradition gepflegt, die sich ‚Punkte-Sammeln‘ nannte. Dabei vergab derjenige, der sich vom anderen in einem Wortduell geschlagen oder durch eine sehr schlagfertige Antwort aus dem Konzept gebracht sah, an diesen Punkte. Am Ende eines Jahres – oder vielmehr einer Schlacht – wurden alle Punkte zusammengezählt und der Verlierer gab dem Gewinner ein Getränk, Lho-Stäbchen oder andere Verbrauchsgüter aus, bevor man dann erneut zu zählen begann.
Nach der Schlacht von Agos Virgil hatten die beiden diese Tradition aufgegeben, und das eigentlich auch nur, weil sie sich lange Zeit wirklich nicht viel zu sagen gehabt hatten.
Balgor nahm das Zugeständnis wortlos hin, freute sich aber insgeheim ein wenig und fügte den Punkt seiner aktuellen Liste hinzu. Sie war bereits deutlich länger.
Eigentlich wollte der Colonel seinen Worten noch etwas hinzufügen, aber ein herzhaftes Gähnen kam jeder Aussage zuvor. »Herr auf dem Thron«, brummte er im Anschluss, »was für ein Tag.«
»Sie sehen müde aus«, präsentierte ihm sein Gegenüber die Tatsache des Offensichtlichen.
»Ich war schon immer gut darin, meine wahren Gefühle zu verstecken.«
»Und was ist mit Doktor Calgrow?«, erinnerte Balgor ihn.
Ekko winkte ab. »Die war auch immer gut darin, ihre wahren Gefühle zu verstecken.«
Balgor legte den Kopf schief und deutete mit den Augen so deutlich auf den Zeltausgang, dass es einem überdeutlichen Zeigen mit dem Finger gleichkam.
Der so Angesprochene zuckte die Achseln. »Sie soll mich einfach irgendwann anders ansprechen.«
»Was … nie sein wird?«, wollte der Captain wissen.
»Doch. Irgendwann. Nur nicht jetzt.« Ekko hob die Hand und winkte müde. »Gute Nacht, Balgor. Denken Sie über mein Angebot nach.« Dann ging er.
Er ließ dem anderen Offizier nicht einmal Zeit, sich eine entsprechende Antwort zurechtzulegen.

***

Es liegt in der Natur der Sache, dass Feldbetten unbequem sind. Was soll man auch von einem kreuzförmig angelegten Gestell aus Holspanten erwarten, das mit einem reißfesten Stoff bezogen ist und nicht viel mehr bietet als eine etwas höher gelegene Raststätte für die von Unruhe geplagte Nacht im Kriegseinsatz?
Zumindest erlaubte es das Bett, dass Galard Ekko nicht, wie so oft, über seinen Schlafsack einen direkten Bodenkontakt herstellte und dabei allerlei Insekten lästern hörte. Auch konnte er beruhigt in dem Wissen schlafen, dass besagte Insekten nicht gerade mit einem Kartenspiel beschäftigt waren, dessen Hauptgewinn eine geführte Reise durch sein Ohr darstellte.
Tatsächlich befand sich so viel Luft zwischen Ekko und dem Boden, dass er selbst in der nächtlichen Hitze glaubte, einen kühlenden Luftzug zu spüren. Auf einer heißen Welt wie Bastet kam dies einem erfrischenden Regen gleich.
Allerdings half ihm das auch nicht bei seiner Reise in die Bewusstlosigkeit.
Überlegungen hielten ihn wach. Gedanken und Erinnerungen, die durch seine Hirnwindungen krochen und dabei ähnlich viel Lärm veranstalteten wie eine Marschkapelle.
Seltsame Dinge gingen hier vor.
Er dachte an Carrick und seine Frau, dachte an die Sororitas und das, was ihm Bruder Demetrius offenbarte und konnte auch nicht anders, als sich an die Inquisitorin zu erinnern, die ihm vor einigen Tagen einen Besuch abgestattet hatte.
All diese Dinge fühlten sich nicht richtig an. Sie waren seltsam, passten einfach nicht zusammen und ergaben dennoch Sinn.
Auf der einen Seite verschwanden sämtliche Truppen der Ekklesiarchie von Bastet, auf der anderen Seite kam eine Inquisitorin auf den Planeten, um dort … Dinge zu untersuchen.
Er rollte sich auf die Seite.
Ja. Dinge. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Was mochte Galia Sinwell wohl auf Bastet suchen? Und warum sollte sie ihm einen Besuch abstatten? Ihm, einem einfachen Colonel? Ob sie seine Unterstützung benötigte? Wollte sie sich seiner versichern?
Die Position wurde unbequem, also rollte er sich auf die andere Seite.
Aber gegen was oder für was? Eigentlich kam ein Inquisitor doch nur in dringenden Notfällen mit irgendwelchen ganz wichtigen Inquisitions-Dekreten zum Kommandeur einer verfügbaren Einheit und requirierte diese für eine Operation.
Normalerweise stand dazwischen immer noch das Departmento Munitorium als Truppenverwalter. Aber Fradds Erstaunen – vielmehr sein Entsetzen – als er erfuhr, dass Sinwell mit Ekko direkt Kontakt aufnahm, ließ darauf schließen, dass er keine Ahnung davon hatte, was die Inquisition auf Bastet suchte, oder …?
Wieder wechselte er die Position, dieses Mal in Rückenlage.
Nein, verbesserte sich der Colonel in Gedanken. Das war falsch. Fradd schien zu wissen, zumindest glaubte er das, weswegen Sinwell auf dem Planeten herumschnüffelte. Das hatte seine Bemerkung über die geheime Mission ausgesagt.
Dank Ekkos Offenbarung allerdings brach der Schein des Wissens in sich zusammen und enthüllte einen Kokon aus Entsetzen.
Es stellte sich nun die Frage, was Fradd so dermaßen erschütterte.
Ekko schwor sich, eine Antwort darauf zu finden. Er musste einfach. Dringend! Andernfalls würde er nie zur Ruhe finden.
Ohne, dass er es merkte, sank sein Geist dabei in einen tiefen Schlaf, dessen regenerative Wirkung sein Körper dringend brauchte.
Es hätte in diesem Moment keine Sorge, keine Angst und keine Trauer gegeben, die stark genug gewesen wäre, diesen Vorgang noch aufzuhalten.
Dahinter allerdings erwartete ihn keine Erholung.
Schwere Ketten rasselten in stockfinsterer Dunkelheit, klirrten mit der Inbrunst erfrorener Bäume, die unter der Last eines harten Winters zusammenbrachen.
Ekko sah sich um. Irgendwo in der Ferne konnte er schwache Lichter erkennen, hilfloses, in Gitter gezwängtes Leuchten, das verzweifelt versuchte, irgendeine Form von Helligkeit in die Welt zu bringen. Vermutlich verausgabte es sich bei dem Versuch derart, dass es am Ende seiner Bemühungen an einem Herzanfall sterben würde.
Für den Moment allerdings gelang es ihm, zumindest die harten Kanten eines vom Imperator verlassenen Ortes zu akzentuieren.
Die schwachen Konturen eines dunklen, kalten Verlieses zeichneten sich vor dem Hintergrund pechschwarzer Nacht ab, ließen der Fantasie des Colonels viel Spielraum sich das vorzustellen, was man bei Flutlicht erkannt hätte.
Vorsichtig machte er einen Schritt vorwärts, prüfte den Boden auf seine Festigkeit. Wer konnte schon wissen, ob sich in der Dunkelheit nicht ein besonders hinterhältiges Stückchen Boden verbarg, das ihn mit vorgetäuschter Festigkeit narrte und im Moment, da er sich in Sicherheit wähnte, doch einbrach?
Die Frage war sicherlich nicht, was dann geschah. Vielmehr wollte er nicht herausfinden, wo er landete.
Der Boden knarrte bedenklich.
Vor ihm gewann eine Bewegung an Form, materialisierte aus der Schwärze und verharrte dann als vom Licht mit schwach schraffierten Konturen versehener Schatten.
Wieder klirrten die Ketten. Ihr marterndes, grausames Zittern hallte in die Ewigkeit fort.
»Hallo?«, brachte der Schatten mit schwacher, kraftloser Stimme hervor. »Wer ist da?«
Ekko verharrte.
Es war nicht der Untergrund, der ihm mit dem baldigen Tode drohte, noch die Tatsache dass sich etwas vor ihm auf dem Boden bewegte.
Nein. Der Grund, aus dem ihm der Schock in die Glieder fuhr war jene Stimme, die ihn in seinem Leben so oft elektrisiert hatte.
»Bist … bist du das?«, keuchte er, als der Schemen vor ihm in seiner Gedankenwelt zum Abbild seiner Frau zusammensetzte.
Erkennen konnte er sie selbstverständlich nicht, aber die Worte, die Intonation zu etwas größerem, von den Wänden wiederhallen zu hören, reichte bereits, ihm ein klares Bild der Person zu offenbaren, die dort auf dem Boden kauerte.
»Ich kann nichts sehen. Wer sind Sie?«, brachte sie hervor.
Kälte griff dem Colonel an die Füße. Etwas, das er nicht sehen, nicht verstehen und nicht wirklich erfassen konnte. Es fühlte sich nicht an wie eine physische Klaue, sondern eher wie die Entwicklung eines Prozesses. Vom Gedanken über die erste Zelle bis hin zum existierenden Organismus.
Etwas bemächtigte sich seiner, nahm ihn gefangen und schnürte ihm Magen, Herz und Kehle gleichzeitig zu.
Hatte seine liebliche Frau gerade kundgetan, dass sie ihn nicht erkannte?
»Ich bin es. Alb«, krächzte er.
»Und wissen Sie denn, wer ich bin?«, fragte sie, ohne auf seine Erklärung einzugehen.
»Ja«, nickte er, obwohl sie ihn ebenso wenig sehen konnte wie er sie. »Ja, natürlich. Du bist Ayle. Du bist meine Frau.«
»Wenn Sie wissen, wer ich bin, wissen Sie auch, wo ich bin?«, fragte sie in die Stille. Erst jetzt ging ihm auf, wie entrückt sie klang.
»Wo du bist?«, gab er verwirrt zurück. Eine nachdenkliche Minute schloss sich an, überlegte gemeinsam mit dem Colonel, was diese Aussage wohl bedeuten mochte.
Nein. Das war verkehrt. Es war nicht richtig. Nichts stimmte hier. Was war das für ein Ort? Und was tat sie hier?
War es wirklich Ayle, die da zu ihm sprach? Oder gaukelte ihm jemand etwas vor?
Als hätte sie alle diese Fragen gekannt oder seine Gedanken gelesen, erklang die Stimme wieder, wisperte die Antwort gleich einem feinen Schauer horizontalen Regens in die Dunkelheit.
Die Worte glitten an seinen Ohren vorbei wie ein reißender Strom, brachten seine Gehörgänge in Bedrängnis und trommelten gegen sein Gehirn.
Er verstand kein Wort.
Die Geräuschflut echote in die Unendlichkeit fort, entwand sich ihm wie ein glitschiger Fisch. Dann waren die Worte fort, hinterließen lediglich den kalten, unheimlichen Klang vollkommener Stille.
Dabei handelte es sich nicht um Stille im herkömmlichen Sinn.
Sie glänzte nicht durch die Abwesenheit von Geräuschen. Nein. Vielmehr war sie der Hort eines konzentrierten Anti-Geräuschs, vergleichbar mit den vier, fünf Millisekunden nach einem ohrenbetäubenden Knall, in dem sich die umgebenden Geräusche erst nicht trauen, irgendeinen Ton zu erzeugen und selbst das Universum vor Schreck den Atem anhält.
Es war jene Art von Lautlosigkeit, die selbst entstehende Laute mit der gleichen Inbrunst schluckt, mit der ein Schwarzes Loch das Licht verschlingt.
Allerdings dauerte es nicht lange, bis ein fast unhörbarer Wind aufkam, über ihn hinwegstrich, von seiner linken Schläfe abprallte und sich aufmachte zur rechten. Da er dort auch nicht weiterkam, eilte er wieder zurück, schaukelte sich auf und gewann an Kraft. Leise, flüsternde Worte ernteten Substanz, sprangen in seinem Schädel umher wie die Tonspur einer kaputten Schallplatte.
Als sie schließlich genügend Kraft entwickelt hatten, um bei ihrer nächsten Runde durch seine Gedankenwelt eine Resonanzkatastrophe auszulösen, platzte die Geräuschblase und zurück blieb nur eine ruhige, klare Stimme: die seiner Frau.
»Wenn wir einen Ort verlassen, geht ein Teil von dort mit uns und ein Teil von uns bleibt da. Und wenn wir eine Welt verlassen, lassen wir immer etwas zurück.«
Die warme, weiche Art, mit der sie diese Worte sprach, ließ kein Unglück erkennen, keine Selbstgeißelung und keine Vorwürfe.
»Hier bin ich gestorben. Im Glauben an dich.«
Sie hasste ihn nicht dafür. Nein. Sie bewies ihm, dass sie bis zuletzt an ihn gedacht und ihre Entscheidung ihn zu lieben nie bereut hatte.
Es hatte nicht viele Momente gegeben, in denen Galardin Alberic Ekko geweint hatte.
Nun aber spürte er, wie sich etwas in ihm aufbaute. Empfindungen drängten als Form gewordene Kraft seinen inneren Staudamm empor, fluteten die über den Damm führende Schnellstraße und spülten einige Überlegungen, die sich gerade auf dem Weg zur Arbeit befanden, fort.
Ekkos Beine, vom in ihm tobenden Sturm überanstrengt und schwach geworden, gaben zitternd nach.
Dumpf prallte der Colonel auf den Boden, ließ den Kopf in seine Hände fallen und versuchte, die in seinem Innersten aufbegehrende Wasserflut zurückzuhalten.
»Wo?«, fragte er erstickt. »Wo bist du?«
»Ich bin immer hier gewesen. Nur du … du warst sehr lange fort«, erklärte sie mit ihrer unglaublich klaren Stimme. »Und deine Reise ist noch nicht zu Ende. Es gibt noch einen Ort, an den du zurückkehren musst, Galardin Alberic Ekko. Dort wartet jemand auf dich.«
Die Worte verklangen. Ekko hob den Kopf und blinzelte einige Tränen fort.
Es war wieder dunkel geworden. Kein Kettenklirren, keine eindringliche Stimme, keine Verzweiflung. Er fühlte sich leer. Verlassen. Allein.
Der Colonel wandte sich um seine eigene Achse, suchte nach einem Fixpunkt oder einer anderen, brauchbaren Orientierungshilfe. Aber wie sich herausstellte, konnte er in der vollkommenen Düsternis nicht einmal seine Hand vor Augen sehen.
»Wo bin ich?!«, rief er aus. »Sag mir, wo ich bin!« Das Echo seiner Stimme, weit hallend und eigentlich damit beschäftigt, irgendwo ins unendliche Nichts zu verschwinden, brach so unvermittelt ab, als sei es aus vollen Lauf gegen eine Wand geprallt und hätte sich dabei selbst bewusstlos geschlagen.
Eine andere Stimme, tief und gemessen sprechend, sodass jeder Buchstabe ein Kapitälchen hätte sein können, erklang in der Ferne, überwand die Distanz per Warpsprung und re-materialisierte direkt in Ekkos Gehörgang. »SIEHE, NICHTSWÜRDIGER! ERKENNE DEN GLANZ DES HERREN DER MENSCHEIT. KNIE NIEDER UND SENKE DEIN HAUPT IN DEMUT, DENN SEIN IST DAS REICH UND DIE HERRLICHKEIT IN EWIGKEIT.«
Ein harter, durchdringender Schlag, dem Geräusch einer flachen Hand gleich, die auf eine Betonwand prallt, füllte das akustische Umfeld des imperialen Offiziers. Es kam derart plötzlich und unerwartet, dass Ekko zusammenzuckte und sich unwillkürlich duckte.
So dauerte es einen Augenblick – vielleicht auch zwei – bis er bemerkte, dass der scharfe Knall nicht die einzige plötzliche Entwicklung gewesen war.
Damit einher ging eine Veränderung in der Luft. Ein schwaches, summendes Vibrieren, so als hätte jemand eine eiskalte, schlecht verkabelte Leuchtstoffröhre eingeschaltet.
Es schwang durch die Luft, tanzte gleich akustischen Derwischen durchs Nichts und löste sich schließlich nahezu auf. Nur ein leises, unscheinbares Summen blieb zurück.
Ekko öffnete die Augen. Seltsam. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, sie geschlossen zu haben.
Die Umgebung hatte sich verändert. Sicher: Himmel und Horizont erschienen nach wie vor im nachtschwarzen Gewand – vielleicht sogar noch stärker als die im Universum existierende Durchschnittsdunkelheit – darunter jedoch erstreckte sich nun ein in die Unendlichkeit reichender Boden, gefliest mit in brillantem Weiß gehaltenen Kacheln, die seltsame Muster formten. Eigentlich konnte das gar nicht möglich sein, denn sie sahen alle gleich aus. Trotzdem bildete sich aus dem marmornen Bodenbelag ein Pfeil, hieß dem Colonel in mehr als nur deutlicher Zeichensprache, den Blick doch eilig nach Links zu richten.
Er kam der Aufforderung nach … und zuckte zusammen. Selbst sein Körper trat einen Schritt zurück, was zu einem komischen Paradoxon führte. Ekko stand nämlich noch genau da, wo er vor einigen Herzschlägen gewesen war. Interessant. So konnte er sich also beim Zurückweichen zusehen.
Doch er vergaß diese Tatsache recht schnell, denn dort – direkt vor ihm – saß er.
Erschrocken und entsetzt fiel der Colonel auf die Knie. Es war nicht einmal eine bewusste Entscheidung. Nein. Sein Körper … zumindest das, was davon übrig war, da die fleischliche Hülle gerade so etwa einen Meter hinter ihm stand … gab einfach nach, brach zusammen unter dem Gewicht einer derart ehrvollen Begegnung.
Direkt vor ihm, vielleicht zwanzig, dreißig Meter entfernt, hatte sich ein bordeauxroter Teppich entrollt, kroch in langen, gleichmäßigen Wellen eine hohe Treppe empor und endete schließlich unter einem ausladenden Podest, mehr noch einer Bühne, von der aus sich die Macht des Imperiums präsentierte. Prächtige Apparaturen, blinkende und leuchtende Geräte und von der Zeit zerfranste Banner bedachten den imperialen Offizier mit finsteren Blicken aus nicht existenten Augen.
Seltsam verdrehte und verschobene Totenschädel, mehr die Opfer eines besonders obskuren Tennisspiels denn ordnungsgemäß platzierte Reliquien, richteten sich auf und aus, zentrierten ihre Aufmerksamkeit ebenfalls auf den gerade erschienen Ankömmling.
Schläuche und Stränge umrahmten das Gebilde wie die bereits durchhängen Strahlen einer übernächtigten Sonne; und im Zentrum all dessen stand ein gewaltiger, vor allem mit einer fortgeschrittenen Patina verzierter, goldener Thron. In seinem Zentrum wiederrum saß ein in reiche Gewandung gehülltes Skelett: Der Göttliche Imperator.
Ekko senkte den Kopf und wagte es nicht aufzusehen. Eigentlich besaß er so etwas wie Gottesfurcht nicht. Er hatte sich nie dem kultischen Treiben der Ekklesiarchie ergeben und war bisher auch nie dem Drang erlegen, sich wirklich allzu viele Gedanken um das Sein und die Existenz des Imperators zu machen. Dafür verband ihn eine viel zu deutliche Feindschaft mit dem obersten Herren des von Menschen beherrschten Weltraums.
Die Geschichte war lang, traurig und bisweilen sogar ein wenig tragikomisch. Die Kurzform aber lautete: Ekko sah im Imperator eine Gestalt, der er all seine Trauer, all seine Verzweiflung und all sein Unglück aufbürden konnte, und die er dafür verantwortlichen machen konnte dass sein Leben in den Bahnen verlief, in denen es verlief.
Und der Imperator? Ihm schien es Freude zu machen, den Scheiterhaufen des Unglücks, auf dem man Die Träume und Hoffnungen von Galard Ekko irgendwann einmal platzierte hatte, immer weiter anzufachen und den Colonel langsam, bei lebendigem Leibe, zu verbrennen.
So kam es auch, dass seine Skepsis sich umgehend meldete und selbstsicher verkündete, dass da ein großes Skelett auf dem Goldenen Thron saß, nicht der Imperator.
»Galardin. Alberic. Ekko«, sprach der hohe Herr der Menschheit langsam. Seine Stimme war dunkel und nachdenklich, aber nicht so unheimlich oder gnadenlos, wie man sie in Televid-Dramen hörte, wenn der Imperator aus dem Immaterium zu seinen Dienern sprach. »Endlich also lernen wir uns kennen.«
Völlig überrumpelt runzelte Ekkos Skepsis die Stirn, dachte kurz nach, klopfte dem imperialen Offizier auf die Schulter und machte sich klammheimlich davon.
»Es … es ist mir eine unbeschreibliche Ehre«, bezeugte der Colonel seine Ehrerbietung stockend und fühlte sich dabei erstaunlich unwohl.
Das Skelett legte die Finger aneinander. Es klang wie Essstäbchen, die man achtlos gegeneinander warf.
Er ging nicht auf die Ergebenheitsbekundung seines Untertanen ein. Vermutlich wusste er, dass sie sowieso nicht ehrlich gemeint war.
»Einer meiner vielversprechendsten Diener …«, begann er ruhig, aber mit einer Spur von Enttäuschung in der gewaltigen Stimme. »Und ausgerechnet du schändest meine Tochter.« Er meinte Ekkos liebliche Frau.
»Geschändet?«, brachte der Angesprochene hervor. »Ich habe sie geliebt!«, schrie er, klopfte sich dabei in dem verzweifelten Versuch auf die Brust, sein Herz herauszuschlagen und den darauf eingravierten Namen zu präsentieren, den unauslöschlichen Beweis dafür, dass er es ihr geschenkt hatte.
Der mächtige Herrscher hob seine skelettierte Hand, deutete mit ausgestrecktem Finger auf den imperialen Offizier. »Weißt du, was mit ihr geschehen ist? Weißt du, was Ayle wiederfuhr?«
In seiner Wut fiel Ekko lediglich eine Antwort ein. Eine Antwort, die in diesem Augenblick unfair und gerecht zugleich war: »Ich weiß genug! Ich weiß, dass sie sie getötet haben!« Natürlich meinte er die Schwestern des Adeptus Sororitas, aber ihm war vollends klar, dass man die Worte auch anders verstehen konnte.
Dann senkte er den Kopf, versuchte der toten Gestalt nicht in die leeren Augenhöhlen zu blicken.
»Nein!«, rief der Imperator und seine Stimme donnerte durch die Luft wie der Überschallknall einer heranbrausenden Walküre. »Sie hat mich getötet!«
Ekkos Gedanken überschlugen sich. Der nächste Schwall Worte blieb ihm im Hals stecken, so fest, dass es ihm schwer fiel zu schlucken. Er konnte sich später nicht einmal mehr daran erinnern, was er in diesem Moment hatte sagen wollen.
»Was?!«, brachte er seine Verwirrung zum Ausdruck. Allerdings kam er nicht einmal dazu, dem Ausruf tadelnde Schärfe zu verleihen, denn als er seine Aufmerksamkeit zurück auf den Goldenen Thron richtete … war dieser verschwunden.
Ekko war wieder allein.
Stattdessen öffnete sich in der Ferne ein schwach glimmendes Portal, verhieß ihm das sprichwörtliche Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels.
Langsam erhob er sich und torkelte dem Licht entgegen.
Sein Kopf war leer. Er wusste nichts mehr, konnte nichts sagen, nichts sehen, nichts hören.
Er war am Ende.
Jenseits des pulsierenden Lichts erwartete ihn eine kleine grüne Wiese, eingerahmt von hohen, zerklüfteten Felsen. Dahinter erstreckte sich ein Tal, gleich der verdorrten Oberfläche von Agos Virgil. Eine gewaltige Makropole stand dort, brannte lichterloh. Schwarzer Rauch verdunkelte den Himmel.
Auf der Wiese selbst stand eine einsame Schaukel, der letzte Überrest eines längst zu Staub zerfallenen Spielplatzes.
Ein junges Mädchen saß darauf, den Blick auf die brennende Riesenstadt gerichtet und holte, die Beine und ihren Körper bewegend, in regelmäßigen Abständen Schwung. Dabei sang sie ein Kinderlied, das Ekko aber überhaupt nicht kindlich vorkam.
»Meine Welt, die steht in Flammen, steht in Flammen, steht in Flammen.
Meine Welt die steht in Flammen. Nichts als Asche.
Deine Kleider brennen auch, brennen auch, brennen auch.
Deine Kleider brennen auch. Nichts als Asche.
Sieh nur wie dein Haar verkohlt, Haar verkohlt, Haar verkohlt.
Sieh nur wie dein Haar verkohlt. Nichts als Asche.
Jetzt verschmort auch deine Haut, deine Haut, deine Haut
Jetzt verschmort auch deine Haut. Nichts als Asche.
Du liegst vor mir, ganz verbrannt, ganz verbrannt, ganz verbrannt.
Du liegst vor mir, ganz verbrannt. Nichts als Asche.
Meine Welt, die ist nun fort, sie ist fort und du bist fort.
Meine Welt die ist nun fort. Nur noch Asche.«
Dann fuhr das Mädchen fort, die Melodie zu summen, während die gewaltige Stadt in der Ferne von gewaltigen Explosionen zerrissen wurde.
Ekko kam näher. »Eine schöne Stimme«, stellte er wertneutral fest.
Das Mädchen wandte nicht einmal den Kopf, als sie seine Worte ignorierte und stattdessen fragte: »Möchtest du mit mir spielen?«
Ekko marschierte an ihr vorbei, nun seinerseits ihre Worte ignorierend. »Was ist passiert?«, erkundigte er sich, während er an den zerbrochenen Zaun trat, der die Kinder auf dem Spielplatz einst vor einem Sturz in die viele Kilometer unter ihnen liegende Ebene bewahrt hatte. Als er nach unten sah, wurde ihm schwindelig. Vorsichtshalber ging er wieder einige Schritte zurück.
»Sie wollten nicht spielen«, berichtete das Mädchen traurig. » Nein. Sie wurden böse.«
Der Colonel begriff. Ein kalter Schauer wanderte seine Wirbelsäule entlang.. »Hast du das getan?«
»Nein«, erklärte sie liebenswert. »Aber ich habe auch nichts dagegen unternommen.«
Ihr Blick bohrte sich in seinen Rücken, so fest, dass er sich fühlte, als hätte sie ihm eine doppelläufige Infernopistole ins Kreuz gesetzt. »Ich mag keine bösen Menschen«, stellte sie mit derart abgeklärter Stimme fest, dass Ekko herumfuhr.
Das Mädchen war von der Schaukel gesprungen und ging mit wiegenden, verspielt wirkenden Schritten von ihm weg in Richtung des bedrohlichen Mauls jener Öffnung, die er gerade eben erst verlassen hatte.
»Wer bist du?«, rief er ihr hinterher. »Und was willst du?«
Das Mädchen hielt vergnügt in ihrem Schritt inne, lehnte sich zurück und betrachtete ihn über die Schulter hinweg.
»Mein Name ist Gabriel. Ich möchte dich vernichten«, tat sie mit einer Stimme kund, die so mädchenhaft süß war, dass niemand ihr diese Bitte hätte abschlagen können. Nur war Colonel Ekko nicht wirklich niemand und seine Begeisterung für dieses Vorhaben dementsprechend gering.
»Das ist aber doof«, teilte er seiner Gesprächsgegnerin mit. »Das passt mir aktuell gar nicht.«
Sie lächelte das niedlichste Lächeln, das eine kindliche Frau lächeln konnte. »Das macht nichts. Ich habe Zeit … zudem … solltest du dich wohl eher um deinen Besuch kümmern.«
»Besuch? Ich habe keinen …« Ekko brach ab und dachte nach. Doch. Da war jemand. Er hatte Besuch. Er war nicht allein. Vor allem nicht hier. Seltsam.
Er drehte den Kopf. »Und wer sind Sie?«, fragte er.
Die Frau neben ihm sah ihn erstaunt an. »Oh«, brachte sie hervor und löste sich auf.
Er erhielt nicht einmal Zeit, sie einer näheren Musterung zu unterziehen.

***

Wie ein imperialer Schlachtkreuzer, der einen Gewalttransit aus dem Warp in den Normalraum durchführte, fiel Galardin Alberic Ekko aus der wenig friedlichen Ruhe eines in diesem Moment gar nicht erholsamen Schlafes.
Tatsächlich reichte die durch den plötzlichen Sinneswechsel hervorgerufene Verwirrung aus, damit er hochschnappte wie ein entsetztes Klappmesser und dabei nach kurzer Wegstrecke auf einen harten Gegenstand traf.
Es knallte, ein überraschtes Keuchen erklang und etwas löste sich von ihm, nahm eine schwere Last von seinem Körper und die Bettdecke gleich mit. Dumpfes Poltern dröhnte vom Boden zum Feldbett hinaus.
»Thronverdammte :..!«, fluchte eine kräftige, weibliche Stimme, bevor sie ertappt abbrach.
Noch irgendwo zwischen der benebelnden Umnachtung einer unerwartet auftretenden Schlafstörung und dem betäubten Erstaunen eines plötzlich aufplatzenden Schmerzes gefangen, rollte sich Ekko herum und tastete nach der Laserpistole, die griffbereit im Holster an seinem Alarmstuhl hing. Das Holster war da, nur die Waffe war weg. Interessant.
Er konnte sich dunkel daran erinnern, dass ihm so etwas vor gar nicht allzu langer Zeit schon einmal passiert war, aber er schaffte es nicht, irgendeinen Gedanken auf die Hintergründe dafür zu lenken.
Alarmiert und von grässlichen Kopfschmerzen um jeden klaren Gedanken gebracht, torkelte seine Wahrnehmung zurück in die Realität, während seine zitternde Hand in die Leere fühlte.
Plötzlich traf sie etwas Festes. Stoff, wie der Colonel kurz darauf erkannte. In einer schnellen Bewegung krallte er seine Finger in das Material, fragte sich im selben Moment, warum da plötzlich Stoff an seinem Bett in der Luft schwebte und zog kräftig.
»Das …«, erklärte ihm eine männliche Stimme höflich, »… wäre sehr unklug.« Dann wandte sie sich an von ihm ab. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, keuchte die andere, deutlich weiblichere, wenn auch erstaunlich kräftige Stimme. »Mir ist nur eben die Luft weggeblieben.«
»Wagen Sie es nicht, nach einer Lampe zu suchen, Colonel«, warnte ihn der Mann. »Wir sind bewaffnet, Sie nicht.«
»Hm«, brummte der Colonel. »Ich kann ja auch einfach Sie anzünden. Dann erübrigt sich die Sache mit der Beleuchtung.« Der dröhnende Schmerz in seinem Schädel begann nun auch, hinter seinen Augen zu tanzen. So wie es sich anfühlte, war es offensichtlich eine Remix-Version des Klassikers »Des Imperators Wächter tragen rote Pantoffeln«.
»Thronverdammte Scheiße«, zischte er und rollte sich auf den Bauch, um so eine stabile Lage zum Aufstehen zu finden. »Dieser Schmerz! Diese Agonie!«
»Wollen Sie sich über uns lustig machen?«, fragte die Frau giftig. Es klang, als koste es sie körperliche Überwindung, die Worte hervorzupressen.
»Sie waren in meinem Kopf. Sagen Sie es mir!«, knirschte der imperiale Offizier, bevor er sich darauf besann, besser eine Frage zu stellen. »Wofür das Ganze?«
Dann verstand er. Es war nicht die Art des Verstehens, die einem durch die Kraft des eigenen Geistes zuteilwird. Nein. Die Art des Verstehens, die Ekkos arg demolierten Kopf nun flutete, wurde durch eine externe Quelle gespeist. Wie die Stimme des Haushofmeisters, der ihm die Ankunft zweier wichtiger Gäste kundtat.
»Ja, natürlich«, winkte der Colonel jede in Vorbereitung befindliche Antwort verbal ab. »Sie sind der Dekan Benedict Defay und die mit dem roten Halsband ist Evi Biasz. Sie arbeiten beide für die Dame mit der Turmfrisur.«
Diese Aussage verschaffte ihm einige wertvolle Sekunden des Nachdenkens, in denen er feststellte, dass er aktuell absolut nichts tun konnte, um seine Lage zu verbessern. Dann holte ihn die Wirklichkeit ein.
»Woher wissen Sie das?«, brachte der Mann erstaunt hervor.
Darüber musste Ekko erst einmal eine Weile lang nachdenken.
»Ich … ich habe keine Ahnung«, entwich es ihm schließlich.
»Die Kleine hat es Ihnen verraten, oder?«, wollte die Frau wissen, während sie sich, dem Geräusch nach zu urteilen, auf wackelige Beine erhob. »Das Mädchen auf dem Spielplatz.«
»Nein«, zerdrückte der Colonel einen weiteren Fluch zwischen den Zähnen. Er hatte bereits zu viel verraten. »Ich will nur wissen: Was machen Sie in meinem Zelt?! Und noch viel wichtiger …«, fügte er an und deutete irgendwo ins tiefe Dunkel vor seinem Bett, »was machen Sie in meinem Traum?!«
»Im Schlaf offenbart sich das wahre Wesen eines Menschen«, erklärte der Mann. »Und wir möchten wissen, was Sie für ein Mensch sind.«
Ekko spürte, wie seine Kopfschmerzen hinter aufwallendes Adrenalin zurückwichen. Seine nebelumwölkte Gedankenwelt lichtete sich.
»Oh – wenn Sie das so sehr wünschen, dann kann ich Ihnen jetzt mal mein wahres Wesen zeigen«, schlug er vor.
Im nächsten Augenblick flog die Zeltplane vor dem Eingang zur Seite.
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
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Sind wirklich schon wieder zwei Monate vergangen?

Wow. Die Zeit verfliegt.


Damit kommt das neue Kapitel.


Viel Spaß beim Lesen!



10


Es mochte an der Tatsache liegen, dass Serareh einen eklatanten Anteil an den Truppenverschiebungen des Imperiums in diesem Teil des Segementus Pacificum besaß, aber wer plante Bastet zu bereisen, der lernte in der Regel die wuchtigen Landebuchten des Raumflughafens von Sera als Erstes kennen.
Waffenstarrende Festungen, schwere Flugabwehrgeschütze und Langstreckenraketenbatterien, sowie eine ganze Garnison wendiger Raumjäger waren nahe dem Zivilflughafen stationiert, um im Falle eines Angriffs feindlicher Kräfte umgehend zum Einsatz gebrachten werden zu können.
Raumflughäfen gehörten zur den wichtigsten infrastrukturellen Einrichtungen eines Planeten und wer daran dachte, Operationen gegen eine Welt im größeren Stil durchzuführen, der tat gut daran, zuerst die riesigen Umschlagplätze in seinen Besitz zu nehmen.
Zwar hieß es immer, im Krieg kam es nicht darauf an eine Welt zu erobern, sondern die Herzen deren Bewohner, allerdings brachte auch die beste Eroberung nichts, wenn sie nur von kurzer Dauer war. Und das führte einen zwangsläufig immer wieder auf den Besitz der Raumhäfen zurück.
Aber das war nur einer der Gründe, aus denen sich Tervor Fortis die Zeit nahm, die Anlagen eingehender zu betrachten.
Viel wichtiger für ihn maßen sich die Erkenntnisse aus, die er aus den Fehlern gewann, welche das Imperium bei der Konstruktion seiner Infrastrukturanlagen beging.
Funktion und effektive Verwaltung großer Immobilien zur Nutzbarmachung vorhandener Ressourcen stellte ein Kerngeschäft von Fortis dar. Er war Vertreter eines großen Manufakturkonsortiums auf dem Planeten Ghersom IV, das neben Fahrzeugen für die Imperiale Armee fortschrittliche, dampfbetriebene Triebwagen für gleisgebundene Verkehrsmittel herstellte. Offiziell zumindest.
Inoffiziell war er in einem anderen Auftrag unterwegs. Aber da das geheim war, verdrängte er dieses Wissen immer wieder gerne in die hintersten Windungen seines Gehirns zurück und zog diese Trumpfkarte nur, wenn er sie wirklich benötigte.
Den Rest der Zeit war er lediglich ein Handelsvertreter, der sich einen Eindruck von der Infrastruktur eines Planeten machte. In diesem Fall Bastet.
Noch hatte Fortis keinen Basteter getroffen, aber noch während die Fähre zur Landung ansetzte, gab er sich Überlegungen hin, wie die Basteter wohl auf ihn reagierten.
Er selbst war ein Mann um die vierzig, wobei er jünger wirkte, als es sein Pass verriet. Mit seiner sportlichen, eher jugendlichen Erscheinung besaß er eine überraschend anziehende Wirkung auf Frauen, die er zum Teil auch seinem nordischen Einschlag verdankte (selbst wenn man sich im Imperium unter dem Begriff einer nordischen Herkunft nicht wirklich etwas vorstellen konnte).
Natürlich nutzte er diese Eigenschaft gerne, um andere Leute zu manipulieren – besonders Frauen – wenn auch nicht, um diese für das eine oder andere Schäferstündchen zu gewinnen.
Natürlich war auch er nur ein Mann und durchaus gewillt, sich der einen oder anderen körperlichen Entspannung hinzugeben. Auf der anderen Seite aber wusste er genau, dass ihm das den einen oder anderen tadelnden Blick einbringen würde. Und die tadelnden Blicke eines kleinen Mädchens konnten sehr eindringlich sein.
Nachdenklich lehnte er sich in seinem Sitz zurück und dachte an die schmächtige, fast schon dürre Gestalt, das kurze, wirre blonde Haar und die durchdringenden blauen Augen seiner Herrin.
Nein, verbesserte er sich. Herrin war das falsche Wort und sie hätte sich wohl auch nie so bezeichnet.
Sie war … eine Führerin. Ein Leuchtfeuer. Ein heller Stern im ewigen Dunkel des Universums. Und obwohl sie den Körper eines Kindes besaß, warteten in ihrem Innersten unheimliche Kräfte darauf, sich der Galaxis zu offenbaren und das Imperium zurück auf jene Pfade zu lenken, die es vor Jahrtausenden verlassen hatte.
Doch dafür musste zuerst ergründet werden, wie viele Welten sich retten ließen, wie viele sich retten lassen wollten und wie viele schlussendlich nicht zu retten sein würden.
Also zogen Männer und Frauen wie Fortis aus, bereisten das galaktische Reich und stellten Nachforschungen über den Zustand der von ihnen besuchten Welten an.
Natürlich war ihnen klar, dass dies eine sehr gefährliche Aufgabe war. Diejenigen, denen die Wichtigkeit ihrer Mission nicht offenbar wurde, mochten darin den häretischen Versuch sehen, das Imperium der Menschheit zu schädigen und würden dagegen mit äußerster Brutalität vorgehen.
Fortis wusste bereits von Fällen, in denen es so geschehen war. Und jedes Mal, wenn er von einem neuen Martyrium erfuhr, versetzte ihm dieses Wissen schmerzende Stiche in der Herzgegend.
Ohne Frage ließen sich die Verluste an Personal und Wissen letztendlich irgendwann ersetzen, aber das Ziel ihrer Sache wurde durch derlei Ereignisse immer wieder zurückgeworfen.
Vor allem aber fühlte Fortis, dass ihre Herrin ungemein darunter litt. Fast schien es, als empfände sie jeden Verlust wie den Tod eines Kindes. Hinzu kam: obwohl Fortis sehr wohlbekannt war, dass es sich bei seiner Herrin eben nicht um ein junges Mädchen handelte, so sah er, wenn er sie beobachtete, immer nur ein Kind. Und das machte es doppelt schlimm, sie leiden zu sehen.
Er hoffte inständig, dass keine seiner Reisen ihr jemals einen Anlass zur Trauer geben würden.
»Entschuldigen Sie«, sprach ihn jemand von der Seite an. Fortis sah auf.
Ein junger Steward beugte sich zu ihm herab. »Wir sind bereits gelandet, mein Herr.«
Erstaunt blickte sich der Magistrat um. Die Reisenden um ihn herum hatten sich schon erhoben und strebten den Ausgängen der Fähre entgegen.
Frustriert stellte er fest, dass er den größten Teil des Anfluges verträumt und eine einmalige Chance versäumt hatte, sich einen ersten Überblick über die Infrastruktur zu verschaffen.
Das bedeutete, er würde zusätzliche Throne in die Hand nehmen müssen, um ein örtliches Shuttle für einen zusätzlichen Überflug zu chartern.
Nicht, dass ihn das Geld gestört hätte. Davon besaß er genug und konnte es nach seinem eigenen Gutdünken verwenden.
Ihn beunruhigte eher die Tatsache, dass er derart nachlässig gewesen war. Im falschen Moment konnte so etwas tödlich sein.
Aber es gab sicherlich bessere Zeiten, sich darüber Gedanken zu machen.
Fortis blickte zum Steward auf. »Oh, schade«, stellte er fest und erhob sich.
Der Mann trat erstaunt zur Seite und verfolgte den Magnaten dabei, wie dieser sein Gepäck aus der Gepäckablage zusammensammelte, seinen Mantel anzog und dann die Fähre verließ.
Seine Verabschiedung blieb unbeantwortet.
Außerhalb des Shuttles traf Fortis der Vorschlaghammer brennend heißer Wüstenluft. Die Nacht hatte sich bereits über diese Seite des Planeten gesenkt, aber die Atmosphäre schien das noch nicht realisiert zu haben.
Am Horizont glühten die letzten Reste der beiden Zwillingssonnen von Bastet nach und wenn man seinen Blick in die andere Richtung richtete, sah man die von den Geräuschen himmlischer Magenverstimmung begleiteten stroboskopartigen Lichter eines aufziehenden Gewitters.
Davor wuchsen die wuchtigen Formen der großen Landebuchten in die heiße Nachtluft, in denen an- und abfliegenden Raumfahrzeuge zumindest eine temporäre Bleibe fanden. Im harten Licht- und Schattenspiel zwischen Nacht und Landefeldbeleuchtung ließen sich nur Schemen ausmachen, aus denen tausende grell erleuchtete Augen auf Fortis hinab starrten. Der Magnat schwor sich, dass er mindestens noch einen Tag damit zubringen würde, die Anlagen des Raumhafens genauer unter die Lupe zu nehmen.
Ein Mitarbeiter der Bodenbesatzung, in eine graue Uniform gehüllt und mit einem bionischen Auge versehen, eilte auf ihn zu und verneigte sich knapp. Nach einer kurzen Vorstellung bat der Mann ihn, ihm zu folgen und schritt Fortis voran zum Eingang des Landeterminals.
Dort wartete eine Gruppe von Ordensschwestern, begrüßte die Reisenden und segnete sie.
Wie Fortis beim Nähertreten feststellte, handelte es sich bei den Frauen um Schwestern der Leere, eines Kults von Priesterinnen und Klerikerinnen, der offiziell den Rang eines Ordens führte und unter den Schwestern des Adeptus Sororitas als ein niederer Orden geführt wurde.
Das Symbol des Ordens war, soviel wusste Fortis, eine schwarze Scheibe, welche die Leere des Weltraums symbolisierte. Tatsächlich war der eigentliche Wirkbereich dieses kleinen Kults die Schwärze der ewigen Nacht zwischen den Sternen. Die meisten ihrer Angehörigen waren selbst Kinder der Leere, also Menschen, die in der unendlichen Weite des Alls geboren worden waren. Sie reisten zwischen den Sternen umher, spendeten Trost an jene, die sich dem Einfluss des Immateriums ausgesetzt sahen und begleiteten Pilger, Reisende und Schiffsbesatzungen auf ihren Wegen entlang der Lebensadern des Imperiums – manchmal sogar darüber hinaus.
Niemand wusste wirklich, wie lange der Orden bereits existierte. Allerdings hielten sich hartnäckig Behauptungen, die Schwestern der Leere seien von einer fremden, dunklen Macht entsandt worden, das Imperium zu unterminieren und sich gleich vergifteten Zellen in seinem Innern auszubreiten, um es irgendwann, in einem entscheidenden Moment, zu lähmen und zu zerschlagen.
Was davon wirklich stimmte, konnte wohl niemand sagen. Allerdings interessierten sich die Exekutiven des Imperiums bisher ganz und gar nicht für die Schwesternschaft. Von daher maßen die meisten imperialen Bürger derlei Behauptung nicht wirklich viel Bedeutung bei.
Fortis wusste es besser – er kannte ihren wahren Hintergrund – und daher fühlte er sich beim Anblick der Schwestern immer ein wenig beruhigter.
Die Frau, die die kleine Prozession führte – zumindest, wenn man Alter und Erfahrung in Relation setzen wollte, wirkte sie wie die Anführerin – bemerkte ihn und kam mit kurzen, zögernden Schritten näher. »Willkommen, Reisender«, begrüßte sie ihn. »Willkommen auf Bastet.«
»Danke«, erwiderte er und verneigte sich. Dabei maß er die Schwester mit knappen, prüfenden Blicken.
Sie war irgendwo zwischen Mitte fünfzig und Anfang sechzig, besaß ein kultiviertes Erscheinungsbild und tiefbraune Augen, die ihn durch eine große Brille anblickten. Ob es einen Grund dafür gab, dass die Brille wie ein Vergrößerungsglas wirkte, wusste Fortis nicht, aber er konnte sich dem Eindruck nicht erwehren, dass die Augen der Schwester ein Vielfaches größer erschienen als normal üblich.
Das verlieh ihr etwas eulenhaftes. Besonders in Verbindung mit ihren etwas dickeren, buschigen Augenbrauen und dem akkurat gekämmten Haar gleich sie eher einem Uhu als einer Ordensschwester.
Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie ihn im nächsten Moment um eine Spende in Form einer toten Maus gebeten hätte.
Aber dem war nicht so. Stattdessen erkundigte sie sich nach seinem Befinden.
»Die Reise war lang«, stellte er etwas ermattet fest, während sie ihm mit einer einladenden Geste bedeutete, sie zur Gepäckaufnahme zu begleiten. »Ich bin müde.«
»Von wo kommt Ihr, wenn mir diese Frage gestattet ist?«, fragte sie mit ihrer etwas kratzigen Stimme.
»Ghersom IV.«
»Oh«, bemerkte sie und warf ihm einen Blick zu. »Eine sehr schöne Welt. Ich bin bereits selbst dort gewesen.«
Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Das wirft natürlich die Frage auf, aus welchem Grund es Euch auf eine glühende Kugel wie Bastet III verschlagen hat.«
Normalerweise wäre Fortis nun hellhörig geworden. Immerhin bot eine solche Art der Fragestellung einen Grund zur Vorsicht. Was auch immer der Anlass für das Interesse der Schwester sein mochte, der Weg, den sie dabei beschritt, deutete auf einen stark investigativen Wissensdurst hin.
Allerdings spürte er in diesem Moment keine Gefahr. Etwas leitete ihn und seine Worte, bot ihm den Trost der Erkenntnis, dass er es hier nicht mit einer Feindin zu tun hatte.
»Geschäfte«, bemerkte als knapp, als eine Reihe Wartender passierten und den Terminal betraten.
Jenseits des Eingangs wuchs die nach außen eher wuchtige, gedrungene Form des Gemäuers in das für imperiale Gebäude eher typischen Seitenverhältnis der imperialen Neo-Gotik.
Hohe, reich verzierte Säulen stützten mehrere Ebenen, aufgeteilt in eine Reihe von Längs- und Querschiffen, bewacht von fein gehauenen Statuen und Fresken, die ihnen von der Decke aus beim Betreten des Ankunftsgebäudes zuschauten.
»Ich nehme an, dass es wichtige Geschäfte sind, wenn Ihr den weiten Weg von Ghersom auf Euch genommen habt«, stellte die Schwester fest.
»Ich wage zu behaupten, dass meine Geschäfte dem Wohl der Menschheit dienen«, erwiderte er. »Das ist die einzige Bedeutung, die ich ihnen beimesse.«
Urplötzlich drehte sich die Schwester um.
»Gebt mir Eure Hand«, sagte sie und lächelte ihn an, was ihr das Aussehen einer Eule verlieh, die gerade eine fette Ratte verspeist hatte.
Ohne zu zögern, streckte er den Arm aus, welcher von seiner Begleiterin sofort ergriffen wurde. Sie zeichnete die Linien seiner Handfläche nach, schien kurz in Gedanken verloren und legte ihre viel kleinere Hand schließlich in seine.
Er spürte, wie etwas seine Haut berührte.
Ohne ihm weitere Worte der Erklärung zu schenken, schloss sie seine Finger um den kleinen, festen Gegenstand und blickte ihm erneut in die Augen. »Ihr habt starke Finger, mein Herr. Achtet gut auf sie. Mit ihnen könnt Ihr erreichen, was immer Ihr zu erreichen sucht.« Dann ließ sie ihn los.
Neugierig sah er nach. Ein kurzer Blick offenbarte, was ihm die Schwester übergeben hatte: Ein winziger, unscheinbarer Datenchip ruhte in seiner Hand.
»Habt Dank, Schwester«, antwortete Fortis und lächelte ebenfalls. »Ein solches Geschenk gleich zur Ankunft gibt Mut für die kommenden Geschäfte.«
Seine Begleiterin rückte die Brille über den braunen zurecht, bevor sie die Hand hob. »Sie möge Euch begleiten«, segnete sie ihn.
»Aber, Schwester!«, brachte er hervor und merkte postwendend, dass soeben seine Deckung abhandengekommen war. Wie nur hatte er sich so von ihren Worten derart überraschen lassen können?
Noch während den Magistraten seine Miene entglitt, ergriff die Schwester die Türklinke der Situation, drückte sie herunter und öffnete so den Pfad für eine Lösung der für Fortis verfahrenen Situation. Geschickt wandelte sie sein ehrliches Erschrecken in die Unkenntnis eines Außenweltlers um.
Ihre Hand richtete sich einladend auf eine Statue der Heiligen Bastet, die über den Eingangsbereich wachte. »Wer auf Bastet wandelt, sollte stets um die Gunst der Herrin dieser Welt bemüht sein.«
Der Manufactoriums-Vertreter folgte der Geste mit seinen Augen, begriff und nickte, mehr dankbar denn von ihren Worten überzeugt. »Ich verstehe.«
Sein Gegenüber neigte ihren Kopf und wandte sich zum Gehen.
Fortis zögerte, als ihm eine letzte Sache einfiel. Er räusperte sich und erhob ein letztes Mal die Stimme. »Sagt Ihr mir noch Euren Namen, Schwester?«
»Ich dachte, den wüsstet Ihr längst«, stellte sie mit einem kleinen Anflug von Überraschung in der Stimme fest. »Beatrice.«

***

»Jetzt gehen Sie endlich«, intonierte Ekko gegenüber dem vor ihm stehenden Priester, seiner Aussage mit einem knappen Handwink mehr Gewicht verleihend, »und nehmen Sie Frau Biatch gleich mit.«
»Biasz«, verbesserte die attraktive imperiale Interogatorin neben ihm.
Eigentlich hätten alle Anwesenden nun damit gerechnet, dass ihr der Colonel noch eine sarkastische Bemerkung entgegenschleuderte – und eigentlich hatten sie damit auch Recht. Natürlich wäre er am liebsten laut lachend aufgestanden und hätte sie mit einem »Genau! Die auch« von dannen geschickt. Aber im Augenblick fehlte ihm dafür einfach der Nerv und so beschränkte er sich auf ein einfaches »Raus!« sowie eine entsprechende, kaum missverständliche Geste.
»Das wird ein Nachspiel haben!«, versicherte ihm der in schlichte Gewänder gehüllte Mann.
»Das denke ich kaum«, gab Ekko zurück. Dann legte er die Laserpistole auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Das altehrwürdige Leder knirschte.
Mit wachsamen Augen verfolgte der Colonel, wie zwei Soldaten die beiden Inquisitionsagenten aus dem Zelt des Kommandanten führten, dann wandte er sich an Balgor, der etwas außerhalb der Szenerie an eine der tragenden Stangen gelehnt stand und die Szenerie wortlos verfolgte. »Ich sollte mir wirklich ein neues Holster besorgen«, stellte er fest.
»Warum?«, erkundigte sich der Captain.
»Das ist bereits das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass mir jemand die Knarre klaut.« Ekko warf seine Hand in einer abwiegelnden Geste achtlos in Richtung der Waffe. Eine Beleidigung, die vom Maschinengeist verstanden und tief in seinen Erinnerungen abgespeichert wurde.
»Ein Glück, dass Sie gerade vorbeikamen. Sonst hätte mir eine sehr unangenehme Unterhaltung bevorgestanden.«
»Oh – das war nicht ich. Das war Krood«, merkte der rangniedere Offizier an und zuckte die Schultern.
Ekko runzelte die Stirn und sah auf. »Krood?«, hakte er ungläubig nach. »Was wollte der denn von mir?«
Stille antwortete ihm, stellte Vermutungen und Überlegungen an, wusste aber auch keine Lösung und ließ sich demotiviert in einen der Sessel vor dem Schreibtisch fallen.
Balgor hingegen zuckte lediglich die Achseln.
Eine Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort, während wertvolle Zeit verstrich und sich über die beiden seltsamen Offiziere wunderte, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten, als in Gedanken versunken zu sein.
Es war schließlich Balgor, der das Zepter der Gesprächsführung übernahm. »Also, Colonel, was wissen wir denn jetzt eigentlich?«, erkundigte er sich.
»Wenn ich das wüsste«, gab sein Gegenüber zurück und steuerte damit keinen nützlichen Beitrag zur Fragestellung bei. »Sie haben mich überfallen und belästigt«, mutmaßte er.
»Colonel – das ist nicht mehr witzig«, merkte der temporär stellvertretende Regimentskommandeur an. »Die Inquisition hat es auf Sie – und damit auf uns – abgesehen. Was wollen die von uns?«
Ekko zog Luft ein. »Ich weiß es nicht«, wiederholte er, dieses Mal mit deutlich kürzer angebunden und mit mehr Nachdruck in der Stimme als zuvor. »Dieses Vorgehen ist absolut atypisch. Kein Inquisitor würde sich einem Delinquenten gegenüber derart offen und aufdringlich verhalten. Man würde im Geheimen alle Informationen sammeln und den Betreffenden dann wegcatchen, wenn er es am wenigsten erwartet. Im Grunde wie ein Disziplinarverfahren. Denken Sie nicht, ich hätte mir da nicht schon längst selbst Gedanken drüber gemacht.«
»Doch, natürlich«, wehrte Balgor ab. »Mir war klar, dass Sie sich darüber Gedanken machen würden. Deswegen frage ich ja.«
»Es könnte alles sein«, gestand sein Gesprächspartner. »Vielleicht hat es irgendetwas mit den Sororitas zu tun, mit Ayle oder meiner Zeit in der PVS Bastet. Es ist aber auch genauso gut möglich, dass sich jemand aus dem Umfeld des Departmento Munitorium berufen fühlt, den aberwitzigen Umständen unseres Überlebens auf Agos Virgil genauere Beachtung zu schenken.« Er hob ahnungslos die Hände. »Oder es hat gar nichts mit uns zu tun und wir hatten nur das Pech, dass ich so verteufelt gut aussehe.«
Balgor schoss seinem Vorgesetzten einen finsteren Blick zu, den dieser zum Anlass nahm weiter auszuholen: »Sagen Sie nichts – Sie müssen zugeben, dass selbst Doktor Calgrow auffällig oft meine Nähe sucht. Mein Umfeld liebt mich einfach.«
Die Zeltplane flog zur Seite. »Colonel Ekko!«, brach die aufgeregte Stimme von Achad Alit in das Schweigen, füllte den Raum mit derart viel Leben, dass es in seiner Intensität kaltem, grellem Neonlicht ähnelte.
»Sehen Sie?«, schloss Ekko das Thema ab, bevor er, an Alit gewandt, neu ansetzte: »Herr Jung-Kommissar. Was verschafft uns die Ehre, Beobachter Ihrer Erregung zu werden?«
Der Angesprochene reagierte gar nicht auf die Worte, sondern begann sogleich, den Grund seines plötzlichen Auftretens zu umreißen: »Ich wurde gerade Zeuge davon, wie Soldaten zwei Zivilisten aus dem Lager eskortierten!«, informierte er die Anwesenden. »Hat es einen unerlaubten Zutritt gegeben?«
Ekko und Balgor wechselten einen kurzen Blick. Der Regimentskommandeur schüttelte den Kopf. Es würde wohl kaum Schaden anrichten, wenn er dem Kommissar die Wahrheit erzählte. Zumindest hoffte er das. »Oh – das waren keine Zivilisten. Das waren Beamte der Inquisition.«
»Der In-quisition?«, brach es aus Alit hervor. Er straffte seine Uniform, mehr aus Reflex denn tatsächlicher Notwendigkeit. Immerhin waren die beiden Abgesandten bereits auf dem Rückweg an jenen Ort, von dem aus sie ihr finsteres Treiben begonnen hatten. »Warum hat mich niemand darüber informiert, dass zwei Angehörige der Imperialen Inquisition hier ihren hoheitlichen Aufgaben nachgehen?«
»Nachgehen …«, brummte Ekko in Gedanken versunken. Er stockte, schreckte auf und fuhr herum. »Nachgehen!«, rief er so plötzlich aus, dass ihn die damit einhergehende Überraschung selbst aus dem Sessel katapultierte. »Balgor! Schicken Sie zwei Männer, die den beiden in einem Tauros folgen und herausfinden, wo sie jetzt hinfahren.«
»Was?«
»Balgor, sofort!«
Der Angesprochene wandte sich um. Die Schallwelle seiner Stimme schnitt scharf in das von schwachem Licht erfüllte Zelt, lief durch den Raum und gelangte, nach einem kurzen Sprint an der Zeltplane vor dem Eingang vorbei, an die kalte Nachtluft: »Lenhim!«
Das Echo ließ nicht lange auf sich warten, pflanzte sich in die Ferne fort und gewann dabei an Wortschatz.
»Rebis!«
»Gorak!«
»Melbin!«
»Was ist denn los?!«
»Solch eine Situation zeigt es wieder einmal«, brummte der Colonel ein wenig missmutig.
Balgor und Alit wandten sich ihm zu.
»Was denn?«, wollte der temporär stellvertretende Regimentskommandeur wissen.
»Wenn gar nichts mehr funktioniert, so funktioniert dennoch unsere Befehlskette.«
Die Zeltplane flog erneut zur Seite. Lenhim trat ein.
Ekko blickte zu Balgor, forderte ihn stumm auf, sich der Angelegenheit anzunehmen. Der verneigte sich ansatzweise, machte kehrt, und führte den Lieutenant aus dem Zelt.
Der Regimentskommandeur und sein Kommissar blieben zurück.
»Colonel«, machte Alit auf sich aufmerksam – ein Fehler, wie er kurz darauf feststellte. Dennoch sprach er mit fester Stimme weiter. »Es ist nicht klug, Vertretern der Ekklesiarchie gegenüber derart aufzutreten.«
»Klug?«, ertönte die ironische Antwort. »Der Priester hat zugeguckt, wie die Dame mich bestiegen hat«, fasste er die Situation treffend zusammen. »Und ich war nicht einmal wach!«
»Bestiegen?«, wiederholte Alit und dachte nach. Nach einer Weile malte das Genius der Fantasie zur Beschreibung passende Aquarellbilder in seinem Kopf. Achad Alit war nie künstlerisch begabt gewesen, daher erinnerten die Darstellungen in Form und Farbe eher an Strichmännchen und Kinderzeichnungen. Der Sinn dahinter wurde dem Jung-Kommissar aber dennoch offenbar.
Er erbleichte, fühlte eine plötzliche Schwäche in sich aufwallen und schaffte es gerade noch zu einem der Sitze vor Ekkos Schreibtisch, bevor ihn die Wucht der Erkenntnis in das Leder trieb. »Heißt das … heißt das, Sie hatten Sex?!«
Der Colonel, der eigentlich mit einer ganz anderen Antwort gerechnet und sich bereits eine sarkastische Bemerkung zu Recht gelegt hatte, stellte fest, dass er darauf keine Erwiderung fand, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Das wäre schön gewesen«, gab er zu. »Aber leider hat sie nur in meinem Kopf rumgewühlt.« Denn umriss er die Geschehnisse in einer etwas humaneren Form. Es machte die Situation auch nicht einfacher.
»Aber … das würde ja heißen, dass es die Inquisition auf Sie abgesehen hat«, stellte der Jung-Kommissar fest. Er lehnte sich weiter in seinem Sitz zurück. Wäre es ihm möglich gewesen, er wäre wohl mitsamt der Sitzgelegenheit von seinem Kommandeur abgerückt. »Was haben Sie getan, dass Ihnen eine solche Aufmerksamkeit zuteilwird?« Die Worte waren wohl gewählt, neutral gehalten und zugleich auffordernd. Allerdings hätte es auch keiner geübten Verschleierung bedurft, denn die Reaktion des Kommissars entwertete jede noch so freundliche Rede.
Der Colonel schürzte nachdenklich die Lippen, warf seine Füße auf den Tisch, wobei die Stiefel eine Reihe von zerfledderten Manuskripten von der Arbeitsfläche räumten, und legt die Hände aneinander. »Tja, sehen Sie …«, begann er, »… das gehört zu jenen Wegen des Imperators, die Sie bestimmt auch noch ergründen werden, wenn Sie lange genug an der Front dienen.«
»Wie meinen Sie das?«, verlangte Alit zu wissen.
»Manchmal reicht es der Inquisition schon, dass Sie leben, wenn jeder Sie eigentlich für tot hält«, erklärte der Colonel nachsichtig. »Meine Männer und ich haben eine Schlacht überlebt, bei der so gut wie jeder andere gestorben ist. Und wir sind heim gekommen.«
Diese Worte schienen den Kommissar nicht zu überzeugen. »Warum sollte das die Inquisition auf den Plan rufen?«, verlangte er zu wissen.
Ekko lächelte düster. »Wenn ich das wüsste, dann wäre ich einen großen Schritt weiter.«

***

Rabenschwarze Nacht umhüllte die mächtigen Mauern der alten Zitadelle, verbarg das unförmige Gebäude vor den Blicken allzu neugieriger imperialer Bürger.
Schwer gepanzerte Inquisitionsgardisten, gehüllt in ihre weinroten Kampfuniformen und durch schwere Plattenpanzerung vor plötzlichen Feuerüberfällen geschützt, patrouillierten auf den Laufgängen hinter den massiven Dachzinnen. Das schwache Glimmen der in ihre Helme integrierten Restlichtverstärker verlor sich in der Düsternis, doch ihre Aufmerksamkeit war so präsent wie die umherpirschender Raubtiere. So entging ihnen auch nicht, dass sich die Formen eines Fahrzeugs aus dem Dunkel schälten.
Ein großer Stabswagen der Inquisition, ebenso eindrucksvoll und reich verziert wie jedes offiziell im Dienst der imperialen Verwaltung stehende Objekt, näherte sich der breiten Eingangspforte.
Mehrere Gardisten verharrten an ihren Positionen, richteten sich ungefähr auf die von dem Vehikel ausgehende Geräuschkulisse aus, und beobachteten dessen Näherkommen. Nur für den Fall, dass sich das Ziel doch nicht als Fahrzeug der Inquisition, sondern eine täuschend echte Nachahmung, deren Sinn sich erst erschloss, wenn sie im Innern der Bastion laut krachend explodierte.
Und obwohl sie ihre von Jahren unermüdlichen Dienstes geschärften Sinne einsetzten, entging den Soldaten das weit hinter der Limousine haltende Gefährt der imperialen Armee.
Für einen kurzen Moment erschien es noch, als würde einer der Männer aus den Augenwinkeln auf das kurze Aufglimmen am äußeren Rand seines Sichtfelds aufmerksam, aber die nächtliche Hitze der Wüste ließ Vorder- und Hintergrund miteinander verschmelzen, sodass sich selbst bei einem genauen Hinsehen nicht mehr als ein flüchtiger Schatten vor seinen Sensoren bewegt hätte.
Galia Sinwell hingegen konnte nicht einmal den Schatten des entfernt haltenden Gefährts ausmachen, als sie über die mit feinem Wüstensand bedeckten Steine ging, um die in den Innenhof der Bastion einfahrende Limousine in Empfang zu nehmen. Ihr Assistent trottete hinter ihr her, ein Notizpergament in den Händen.
Wenig geduldig blieb die hohe Herrin der Inquisition am Rand der Zufahrt stehen, stemmte die Hände in die Hüften und verfolgte, wie die Reifen unter betont leisem Knirschen zum Halten kamen.
»Wo seid ihr gewesen?«, herrschte sie den Priester und die Interogatorin an, als beide den Passagierraum des Stabsfahrzeugs verließen. Nicht, dass es sie wirklich interessiert hätte. Beide waren viel zu erwachsen, um sich unzüchtigem Verhalten hinzugeben, und normalerweise nur unterwegs, um einem der vielfältigen Aufträge ihrer Vorgesetzten nachzugehen.
In diesem Fall allerdings lag die Sache anders. »Ich möchte hoffen, ihr habt nichts zu unternehmen versucht, das unserem Auftrag zum Schaden gereichen könnte?«, fügte sie an, runzelte die Stirn und verlagerte die Haltung ihrer Arme aus den Hüften unter die Brüste. »Also?«, verlangte sie zu wissen.
Die Angesprochenen tauschten kurze Blicke. Selbstbewusstsein und Eleganz machten sich eilig aus dem Staub.
»Wir haben den Basteter observiert«, begann Biasz ein wenig zähneknirschend. »Wir haben versucht, mehr über seine Beweggründe herauszufinden.«
»Oh, wirklich?« Ironie, Sarkasmus und blanker Hohn mischten sich in den Worten der Inquisitorin zu einem unheimlichen Potpourri. »Wer hat euch denn dazu ermächtigt?«
»Wir …«, wollte der Priester einspringen, aber Sinwell schnitt ihm sofort das Wort ab.
»Ihr?«, brach es ihr hervor. »Na, da bin ich aber froh! Was hätte ich nur getan, wenn ich euch ermächtigt hätte?! Wie gut, dass ihr euch in der Lage gesehen habt, euch selbst die Genehmigung zu einer derart heiklen Observation zu geben!«
Biasz wollte etwas zu ihrer Verteidigung einwenden, doch in dem Moment, da sie den Mund aufmachte, konzentrierte sich der Zorn ihrer Herrin vollkommen auf die Interogatorin.
»Halt den Mund, du dumme Göre!«, fuhr Sinwell sie an. »Ich habe Jahre deines – und meines – Lebens damit verbracht, dir die Feinheiten inquisitorischen Denkens beizubringen! Und wie dankst du es mir?! Indem du in ein Feldlager der Imperialen Armee einbrichst und den Regimentsführer attackierst!«
»Ich habe ihn nicht attackiert!«, wehrte sich Biasz.
»Du hast dich auf ihn gesetzt und bist in seinen Geist eingebrochen!«, bellte Sinwell weiter. Hätte sie aufgesehen, so wäre ihr vermutlich aufgefallen, dass kaum noch einer der Inquisitionsgardisten den vorgeschriebenen Patrouillenwegen folgte. Die Gefahr aus dem Innern der Zitadelle schien in diesem Moment weitaus größer als jeder Angriff, der von außen hätte erfolgen können. »Und währenddessen hat dein Begleiter ihn mit seiner Waffe bedroht! Wie konntet ihr nur?!« Die Inquisitorin schnaubte. »Ihr habt euch benommen wie dilettantische Anfänger!«
»Es war unsere Absicht, in Eurem Interesse …«, begann der Ministrant einen weiteren Versuch der Verteidigung, scheiterte aber bereits nach kurzer Strecke.
»Mein Interesse?«, wehte Sinwell seinen Einwand zur Seite. »Er hätte euch erschießen lassen können. Und damit wäre er in dem Moment sogar im Recht gewesen! Wie kann es in meinem Interesse sein, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen?!«
Biasz senkte den Kopf. »Aber ich verstehe nicht: woher …«
»Er hat mich angerufen und sich für dein Vorbeikommen bedankt«, erklärte Sinwell bissig. »Außerdem hat er darum gebeten, dass der Typ …« – bei diesen Worten blickte sie zum Priester – »… beim nächsten Mal nicht mitkommt, damit die Atmosphäre nicht zerstört wird« Sie hielt inne, griff einen der sie passierenden Herzschläge und zerquetschte ihn in ihrer Faust. »Wisst ihr eigentlich, was ihr beide da angerichtet habt?!«
»Verzeiht, Mylady«, wandte Defay ein, stellte sich ein wenig schützend vor Biasz. »Mir war nicht bewusst, dass wir Euch damit derartigen Schaden zufügen.«
»Oh! Also ganz plötzlich war es eure Idee, Dekan?!« Sinwell hob eine Hand, ließ sie dann wieder sinken. »Ich hätte mehr von euch erwartet. Von euch beiden«; ebbte ihr Wutanfall auf eine Weise ab, die auf ein späteres, noch mächtigeres Unwetter hindeutete. Sie fuhr herum. »Und nun kommt. Es gibt eine neue Entwicklung.«
Biasz und Defay verfolgten, wie sie von Dannen schritt, den Weg in Richtung der unterirdischen Kommandozentrale nehmend. Tavlov schlurfte hinter ihr her wie ein fußkranker Schoßhund.
»Danke«, murmelte die Inquisitionsadeptin, als sie sich selbst in Bewegung setzte.
»Nehmen Sie es nicht tragisch. Ich bin genauso schuldig wie Sie«, antwortete der Mann neben ihr. »Ich werde dem Imperator später meine Verfehlung beichten und seine Strafe ebenso akzeptieren wie die der Inquisitorin.«
Eine Weile lang schritten sie stumm nebeneinander her, bevor der ekklesiarchische Diener erneut die Stimme erhob. »Manchmal bemitleide ich ihn ein wenig«, meinte der Priester finster und deutete knapp auf Tavlov. »Man könnte auf den Gedanken kommen, er sei ihr Eigentum.«
»Er ist ihr Eigentum«, präzisierte die Interogatorin, um einschränkend anzufügen: »Aber nicht mehr lange. Sie hat einen viel interessanteren Besitz gefunden.«
Die Reaktion ließ ein wenig auf sich warten. »Und wer soll das sein? Sie meinen doch nicht etwa diesen Colonel, oder?«, brach es aus ihrem Begleiter hervor. In einer Reflexbewegung deutete er über die Schulter.
Die junge Frau hob ahnungsvoll die Schultern. »Er hat etwas primitives an sich«, erklärte sie. Ein partiell erregtes Seufzen schloss sich an. »Etwas … animalisches.«
»Finden Sie?«, fragte der Priester, ohne sie eigentlich direkt anzusprechen. Er hätte genauso gut feststellen können: ‚findet sie!‘, fügte aber stattdessen an: »Für mich besitzt er eher etwas Dümmliches. Die Sache mit dem primitiv würde ich aber definitiv unterschreiben.«
Biasz warf ihm einen düsteren Blick zu. »Sie haben nicht viel Erfahrung im Umgang mit Frauenherzen, oder?«, erkundigte sie sich wie beiläufig.
»So wie Sie reden, könnte man meinen, Sie verstünden nicht viel von Inquisitionsverfahren«, stichelte er zurück.
Sie stoppte abrupt und wandte sich ihm zu.
Evi Biasz war deutlich kleiner als der hochgeschossene Priester, doch in diesem Moment schienen die Rollen vertauscht: Urplötzlich strahlte ihre Aura überlebensgroß, drängte das Selbstbewusstsein ihres Gegenübers in eine nahezu winzige Ecke eines nur um sie herum existierenden Bannkreises zurück.
Dort kauerte es, befand sich zwischen den zusammengedrückten Fingern ihrer Gunst und lebte eigentlich nur noch, weil sich Biasz einfach nicht entscheiden konnte, ob sie seinen Stolz wie ein lästiges Insekt zerquetschen wollte.
Wie ihm aufging, besaß sie gerade jetzt mehr Ähnlichkeit mit Galia Sinwell denn jemals zuvor.
»Eine wichtige Regel beim Umgang mit Frauen ist, dass man sie niemals wütend machen sollte«, erklärte sie ihm, die Stimme zu einem verbalen Warnschild erhoben. »Besonders nicht, wenn sie Macht besitzen.«
»Ich habe es gerade gemerkt«, stellte der Dekan fest. »Sonst noch einen Ratschlag, an den ich mich unbedingt halten sollte?«
»Nur einen«, schloss Biasz, und dabei nahm ihre Ausstrahlung erstaunliche Ähnlichkeit mit der Aura ihrer Herrin an: »Verwechseln Sie Interesse niemals mit Schwäche.«

***

Sein Name lautete Cassius.
Ohne Frage hätte die meisten Menschen dies für einen Spitz- oder Decknamen gehalten, denn dessen Herkunft ließ sich bis auf die Begriffe Cassis und Cassus zurückverfolgen, Urahnen zweier vollkommen unterschiedlicher Wortstämme, deren Bedeutung »Helm«, beziehungsweise »eitel« lautete.
Tatsächlich aber war Cassius der tatsächliche Name des Mannes, eines Veteranen der Planetaren Verteidigungsstreitkräfte von Bastet.
Mehr als fünfzehn Jahre hatte er treu und tapfer in den Diensten des Imperators und der Heiligen Bastet verbracht, für sie gekämpft, getötet und bisweilen sogar gemordet.
Fünfzehn Jahre, in denen das Leben an ihm vorbeizog wie ein düsteres Trauerspiel, dessen Hauptdarsteller und Zuschauer er gleichermaßen spielte.
Fünfzehn Jahre, die er sich mit den Feinden der Menschheit herumgeschlagen hatte. Wofür?
Niemand dankte ihm.
In mehr als fünfzehn Jahren war aus ihm nicht viel mehr als ein einfacher Sergeant geworden.
Wenn ihn doch nur einmal eine dieser knackigen, gut gebauten Schwestern besucht hätte, von denen die Ekklesiarchie tausende auf Bastet stationierte. Wenn sie ihm einfach zu Willen gewesen wäre und ihn entschädigt, ihn mit den Worten empfangen hätte: »Wir danken dir, Cassius, für deine Dienste. Ich danke dir für deine Dienste.«
Er hätte sie gefickt. Sie durchgenommen wie eine ekklesiarchische Hure. Hätte all den Frust und seine aufgestaute Wut in sie entladen wie ein Schlachtschiff seine Lanzenbatterien auf ein Weltenschiff der Eldar.
Ihre Schreie wären noch über Meilen zu hören gewesen.
Aber nein. Er hatte sich mit einer Pilgerin begnügen müssen.
Ja. Sie war jung gewesen. Zu jung. Noch ein Mädchen. Aber das machte nichts. Er wollte sie ja nicht heiraten.
Sie hatte sich gewehrt. Ihn gekratzt, geschlagen und getreten. Aber das machte nichts. Er wollte sie ja nicht wiederverwenden.
Die Arme eines Mädchens waren dünn. Es brauchte nicht viel Gewalt, um sie zu brechen. Aber er hatte sich nicht zurückgehalten. Warum auch? Gewalt war eines der Dinge, die man ihn gelehrt hatte. Gewalt war die Sprache des Universums. Und Sex und Gewalt gehörten zusammen wie zwei Zwillingsschwestern, die ihn zwischen sich zur Ruhe betteten, ihn wärmten und dafür sorgten, dass er sich wohlfühlte.
Als die Arbites den Raum stürmten, war nicht mehr genug von ihr übrig, dass man es später hätte wiedererkennen können.
Vermutlich hatte die kleine Fotze nicht einmal mehr geatmet. Aber das machte nichts. Es gab sowieso keinen Platz im Universum, den sie noch hätte besuchen können.
Er war gefoltert worden, Stunden über Stunden, wurde vor ein Militärgericht geführt, abgeurteilt und dem Henker übereignet.
Das machte ihn hart. Hart und böse. Gebrochen aber hatte es ihn nicht.
Dann griffen die Orks an. Das Imperium zog alle seine Kräfte zusammen, um Bastet zu verteidigen und Cassius gelang es, zu entkommen.
Im Anschluss trieb er eine Weile in den Schatten von Bastet III umher, bis er schließlich mit der organisierten Unterwelt in Kontakt kam.
Wer die Unterwelt von Bastet kennenlernen wollte, ohne sie wirklich zu erleben – denn das Erleben eines bösen Ortes währte üblicherweise nicht lange, bevor man in eine Situation geriet, die einen entweder selbst in die Finsternis absorbierte oder irgendwann tot in die Fluten der Maat ausspuckte – der tat wohl am besten daran, sich die finstere Seite der Gesellschaft als genaues Gegenstück zum grellen Schein der beiden Zwillingsschwestern vorzustellen.
Am Rande des Zwielichts trieben die Unerfahrenen, die Neulinge und Angeber. Hier siedelten Taschendiebe, halbstarke Schlitzer und Gelegenheitsvergewaltiger.
Dahinter residierten die Banden und Gangs, Punker und Galaxie-Anarchisten, Auftragskiller und Schwerverbrecher. All jene Individuen, die von Natur aus bereits böse waren, aber noch immer irgendwo im Orbit der Gesellschaft vor sich hin dümpelten.
Dann folgte eine dicke, rote Linie, die man im Hochgotisch als ‚Consistere‘ bezeichnete. Dabei handelte es sich mehr um eine Warnung denn eine wirkliche Grenze. »Halte ein, solange du es noch kannst!«
Wer diese Linie überschritt, sei es nun aus Dummheit, Unwissenheit oder vollstem Willen, der geriet unweigerlich ins Netz der Triaden.
Die Triaden stellten das Gros des organisierten Verbrechens im Bastet-System. Ähnlich wie die mit tausenden Ablegern im gesamten Imperium operierende Verbrecherorganisation »Casa Nostrum«, ins Niedergotisch übersetzt etwa »Unser Heim«, dominierten die dicht strukturierten Familienclans Teile von Wirtschaft, Sozialwesen und Politik des Planeten.
Wer in ihre Fänge geriet, der schaffte es meist nur auf eine Weise wieder hinaus: in Scheiben.
Noch hatte Cassius die rote Linie nicht überschritten, sondern kratzte sie lediglich bisweilen an.
Dort machte er sich einen Namen. Einer der Härtesten der Harten. Böse genug, damit ihn niemand anzufassen gedachte, aber noch nicht so tief gesunken, dass er für sein weiteres Fortbestehen einem renommierten Club beitreten musste.
Wer Cassius engagierte, der konnte sich auf erstklassige Arbeit verlassen. Wer ihm in die Quere kam, der teilte das Schicksal der namenlosen Pilgergöre.
Vermutlich würde er irgendwann einmal gezwungen werden, sich für eine Seite der Schatten zu entscheiden. Allerdings hieß es ja bekanntlich auch, dass die Nacht monochrom war, nur aus verschiedenen Abstufungen von Grau bestand. Und Cassius war entschieden, sein Dasein so sehr zu schattieren, dass sich später selbst die Triaden nicht mehr an ihn heranwagten.
Dafür aber wurde es notwendig, weiter voranzuschreiten; das tiefe Fass der Reputation mit Taten zu füllen, die ihn unvergessen machten.
Und das führte ihn zurück ins Hier und Jetzt.
Er wandte sich der berobten Gestalt zu, die vor ihm am Tisch im Seth saß. Das Seth war einer der Edelsteine unter den heruntergekommenen Bars in der Unterstadt von Serareh. Trotz seiner eindeutigen Zuordnung, zu den eng verwobenen Netzen der kriminellen Seite Bastets, genoss es einen überraschenden guten Ruf und konnte nicht behaupten, dass es gemieden wurde. Teilweise kamen sogar Touristen von überall aus dem Planetensystem ins Seth – und sei es nur, weil sie einmal erleben wollten, wie es sich anfühlte, in eine richtige Bandenschießerei zu geraten.
Daher wunderte es nur wenig, dass sich die erstaunlich gut situierte Gestalt gerade diesen Ort für ein Treffen ausgesucht hatte.
Eine Kellnerin brachte ihnen Getränke. Als sie sich bei der Verteilung der Gläser vorbeugte und ihnen dabei das gut ausgestattete Dekolleté präsentierte, ergriff der Besucher das Wort: »Sie haben uns nicht gesehen«, erklärte er wie selbstverständlich und hielt ihr ein paar Throne hin.
Die Frau starrte erst ihn, dann Cassius an. Kurz entschlossen nahm dieser seinem Gegenüber die Throne aus der Hand, schob sie der Kellnerin in den Ausschnitt und klatschte ihr dabei auf die nackte Haut.
Er spürte wieder dieses Verlangen. Diesen Wunsch, sich auf die erneute Suche nach einer blutjungen und jungfräulichen Pilgerin zu begeben und diese einfach zu zerreißen.
Er unterdrückte den Drang. Vielleicht würde er sich irgendwann einmal der Kellnerin annehmen. Aber nicht jetzt.
»Wenn Sie einen Ort wie diesen hier besuchen, dann sollten sie dessen Sprache sprechen«, knurrte er und griff nach seinem Ale.
»Ich verstehe«, sagte der andere, dessen eine Gesichtshälfte immer wirkte, als würde sie dem gesprochenen Wort ein wenig hinterherhinken. »Ich werde versuchen, daran zu denken.«
»Also, warum haben Sie mich herbestellt?«, fuhr Cassius fort. »Hier, in dieses … Etablissement?« Er meinte das Seth.
»Mein Meister wünscht, Eure Dienste in Anspruch zu nehmen«, begann sein Gegenüber mit gemessener Stimme.
Der ehemalige Soldat starrte in sein Glas, blickte durch die trübe Flüssigkeit auf den Boden und ließ die Worte des anderen noch einmal Revue passieren. Dann rümpfte er die Nase. »Und weiter?«
»Das Imperium ist alt. Seine Bonzen sind fett, selbstverliebt und dekadent. Sie lassen sich von den Triaden umherstoßen und vergessen dabei, wer der wahre Herr der Menschheit ist. Wir sind der Meinung, dass die Zeit der Triaden abgelaufen ist. Bastets Unterwelt braucht einen neuen König.«
»Und dieser König soll Ihr Meister sein?«, hakte Cassius nach.
»Nein«, wehrte der andere entspannt ab. »Beileibe nicht. Mein Meister hat kein Interesse an einer Welt wie der Ihren. Das werden die Beteiligten unter sich ausmachen müssen, wenn die Macht der Triaden gebrochen ist.«
»Hm«, brummte Cassius. »Ich verstehe.« Tatsächlich verstand er nicht ganz, aber das war egal. Die Vorstellung, die Kraft der Triaden könne gebrochen werden, ließ sein Herz einen kleinen Sprung machen. Vor allem, wenn er daran dachte, welche Möglichkeiten sich ihm dabei erschlossen.
Ganz so einfach war die Sache dann aber doch nicht. »Was springt für Sie dabei heraus?«, bohrte er weiter.
»Es ist unser Ziel, dass die Verwaltung endlich wieder an Ordnung gewinnt«, erklärte der Besucher. Dabei strich er sich über die reich bestickte Robe. »Wir dienen alle dem Imperator. Und der Imperator soll uns führen – bei allem, was wir tun.«
Cassius rümpfte die Nase. Ja, er kannte solches Gerede. Es klang wie jene Worte, die man ihm, Jahre über Jahre hinweg, eingeredet hatte, bis er sie selbst glaubte und für sie alles hingab. Verschroben, einfältig und geblendet.
Den Imperator kümmerte es einen Scheiß, was man tat oder wozu. Er war selbst viel zu sehr damit beschäftigt, seine Gegner irgendwo jenseits der Grenze zwischen materieller und immaterieller Welt zu bekämpfen.
Aber gut. Das sollte nicht sein Problem sein. »Was würde denn für mich dabei herausspringen?«
»Ihr könntet in Ruhe Euren Aktivitäten nachgehen – solange diese nicht mit unseren Vorhaben im Konflikt stehen.«
Cassius dachte nach. Das Angebot klang verlockend. Ohne die Sorge, die regulierende und kontrollierende Hand der Triaden könnte bei jedem Zucken seinerseits nach ihm greifen, boten sich ihm viele neue Möglichkeiten.
Allerdings ließ sich nicht ersehen, welche Folgen der Wegfall des Puffers haben würde, den die Triaden zwischen den Kleinkriminellen und der Staatsmacht bildeten.
»Und wie würde das ablaufen?«, fragte er zögernd weiter.
Der Besucher hob die Hand. »Unser erstes Ziel wird sein, dem Imperium die eigene Machtlosigkeit vor Augen zu führen. Es bedarf dazu nur eines kleinen Hebels«, erklärte er.
Als Cassius‘ Reaktion ausblieb, fügte er an: »Wir töten den Gouverneur.«
Der Knall, mit dem der ehemalige Sergeant sein Ale-Glas abstellte, hallte schwer durch den Schankraum. Dass sich trotzdem niemand umdrehte, lag einzig und allein an der Tatsache, dass das um sie herum aufschäumende Meer an Geräuschen den Laut wie eine kleine Spitze des Hintergrundlärms erscheinen ließ.
Cassius suchte in den trüben Augen seines Gegenübers nach einem mühsam zurückgehaltenen Lächeln, das die Bedeutung der Worte entwertete und sie durch eine realistischere Forderung ersetzte. Er fand keines.
»Warten Sie – Sie meinen das ernst?!«, brach es aus ihm heraus.
»Natürlich«, bekräftigte der andere. »Wir belieben nicht zu scherzen.«
»Aber … wie?!«
Das verschwörerische Lächeln des Mannes, ein wenig schief dank der etwas hinterherhinkenden Gesichtshälfte, ließ keinen Zweifel daran, dass Cassius im Begriff war, sich auf ein gefährliches Spiel mit dem Feuer einzulassen. »Ich denke, Ihr kennt das Saatfest, oder?«
 

Sistermarynapalm

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14 Juni 2011
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Eigentlich hatte Galardin Alberic Ekko gehofft, dass die folgenden Tage ruhig verlaufen würden. Im Grunde stimmte das auch – sah man einmal von einem schweren, mehrstündigen Gewitter ab, welches das Feldlager unter Wasser setzte.
Zumindest blieb es ruhig, bis Doktor Calgrows für ihr Alter immer noch attraktive Gestalt auf den Plan, und in diesem Zuge in sein Zelt, trat.
Ohne die Erlaubnis oder eine Frage abzuwarten, begab sie sich zu den Sitzen vor seinem Schreibtisch, nahm demonstrativ Platz, lehnte sich zurück und blickte ihn herausfordernd an.
Die Ärztin des fünfhundertzwölften Regiments war eine Meisterin darin, anderen Leuten Stunden über Stunden dabei zuzusehen, wie sie Dinge taten oder eben auch nicht taten.
Der Colonel begriff, dass sie nun das bereits angedrohte Gespräch führen würden. Er kam nicht dran vorbei – allein schon aus dem Grund, weil sie mit ihrer Sitzhaltung den einzigen Ausweg blockierte. Und es lag durchaus im Bereich des Möglichen, dass sich die Regimentsärztin bei einem Fluchtversuch wie ein tollwütiger Hund in seiner Wade verbeißen würde, bis er ihr Anliegen schließlich wahrnahm. Zumindest stand außer Frage: wenn es soweit war, konnte sie nur noch eine tiefgreifende Operation voneinander trennen.
Er hingegen hatte längst, das nicht so einfach geschehen zu lassen. Nicht, solange sein Sitzfleisch ausreichte, um ihn an seinem Platz zu halten. Immerhin bestand eine sehr geringe Chance, dass Marith Calgrow irgendwann den Drang verspürte zu gehen.
Einige Zeit verstrich. Ekko bearbeitete seine Akten. Calgrow sah ihm dabei zu.
Schließlich jedoch erkannte er, dass es wohl kein Ausweichen gab. Nicht, wenn er später auf seinem Weg zur Kantine angesprochen werden wollte: »Colonel – Sie haben da etwas am Stiefel.«
Die Haltung der Ärztin ließ keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass sie ihn bald verlassen würde. Offensichtlich hatte sie ausgiebig gefrühstückt und war daher auch zur Mittagsstunde nicht hungrig.
Insgeheim vermutete der Colonel, dass der eigentliche Grund für ihre Hartnäckigkeit in ihrer Vergangenheit lag. Marith Calgrow war nicht immer Ärztin gewesen.
Stellte man sich das Leben eines Menschen als Pendel vor, dann konnte man durchaus behaupten, dass der Anstoß ebendieses Pendels sie zu allererst in die vollkommen andere Richtung hatte schwingen lassen. In jene Tätigkeitsbereiche in den Reihen der Imperialen Armee, in denen auch Leute wie Achad Alit dienten. Oder Ekkos ehemaliger Gegner Kolwa Ligrev, der auf (gar nicht ganz so) tragische Weise auf der Schreinwelt Agos Virgil verschieden war – genau wie etwa neunzig Prozent des gesamten Regiments.
Woran genau es lag, dass die ‚ich-war-mal-Kommissarin-aber-bin-nun-Ärztin‘-Ärztin ihr unheimliches Handwerk an den Nagel gehängt und sich für den Kittel entschieden hatte, wusste Ekko nicht. Im Grunde war es auch egal.
Was immer Marith Calgrow tat, wie immer sie sich gebärdete oder versuchte zu verhalten, sie würde stets eine Kommissarin bleiben. Man merkte es an ihrer Haltung, an jeder ihrer Bewegungen, wie sie sich benahm, wie sie sprach und mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Rolle als Regimentsärztin über die des Kommandeurs stellte.
Ekko hatte sich längst damit arrangiert. Calgrow benötigte ihn genauso wie er sie – zumindest nahm er das an.
Nun allerdings gewann die Dynamik zwischen den beiden eine neue Form. Zumindest, wenn man den Worten Achad Alits Glauben schenken wollte. Demnach war sie nämliche eine ‚ich-war-mal-Kommissarin-aber-bin-nun-Ärztin-aber-eigentlich-immer-noch-Kommissarin«-Ärztin.
Das wiederrum warf die Frage auf, was Calgrow wirklich im Regiment wollte, was sie selbst im Schilde führte oder für jemanden auszuführen gedachte. Er würde sie ein wenig provozieren müssen, um das zu erfahren. Der erste Schritt dazu war bereits getan. Es konnte keinen anderen Grund geben, aus dem sie mit ihm sprechen wollte und dabei derart beharrlich blieb..
Zudem fand er, dass sie sich genug mit der Erforschung seiner physischen Präsenz beschäftigt hatte.
Und so lehnte er sich ebenfalls zurück, wobei das altehrwürdige Leder des Sessels hingebungsvoll knirschte, und betrachtete sie mit jener falschen Freundlichkeit, mit der er normalerweise Abgesandte des Munitoriums bedachte. »Sie haben wunderschöne blaue Augen«, stellte er fest.
Calgrow ging nicht darauf ein. »Mir ist da neulich etwas sehr Interessantes passiert«, wusste sie zu berichten.
»Ja. Ich weiß was Sie meinen. Glücklicherweise ist die Schlacht von Agos Virgil ja jetzt vorbei.«
»Davon spreche ich gar nicht«, erklärte sie und verhinderte damit, dass sich ihr Colonel in weiteren Kriegsfantasien einer für sie vollkommen unerheblichen Vergangenheitsbewältigung erging.
Der Regimentskommandeur hob die Augenbrauen. »Oh. Wie wunderlich. Berichten Sie.«
»Vor einigen Tagen kam ein Jung-Kommissar in den Sanitätsstab, offensichtlich auf der Suche nach mir.«
»Hat er Sie denn gefunden?«
»Ja.«
»Wie schön!«, stellte Ekko begeistert fest und klatschte fröhlich in die Hände. »Das ist ja fast wie eine Familienzusammenführung.«
Calgrow, eigentlich gerade damit beschäftigt, ihre Empfindungen über die daraus entstehenden Verwicklungen für eine in epischer Bandbreite vorgetragene Unmutsbekundung zu sammeln, schloss mit einem vernehmlichen Geräusch den Mund. Dann herrschte für eine ganze Zeit Stille zwischen den beiden.
»Im Grunde dürfte es mich ja nicht wundern«, bemerkte die Regimentsärztin schließlich und entriss der bösartig grinsenden Wortlosigkeit im Zelt so das Zepter der Gesprächsführung. »Mir war von vorneherein klar, dass nur Sie dahinterstecken konnten. Dafür musste der Mann noch nicht einmal den Mund aufmachen.«
Dann schürzte sie die Lippen. Es stand außer Frage, dass die Ärztin nicht mehr weiterwusste. Resigniert zuckte sie die Achseln. »Ich frage mich nur: warum?«
»Ich finde es ein wenig fies von Ihnen, dass Sie mich jetzt als eine finster intrigierende Persönlichkeit darstellen«, meinte der Colonel mit betroffenem Gesicht. »Wenn das jemand mitkriegt, dann wäre ja mein Ruf ruiniert.«
»Nein.« Calgrow schüttelte entschieden den Kopf. »Ihr Ruf, Colonel Ekko, würde davon nicht einmal einen Kratzer davontragen.«
Ein kurzer Moment der Stille hielt Einzug, sah sich im Zelt um, zuckte die Schultern und ging wieder.
»Scheint, als würden Sie mich inzwischen schon ziemlich gut kennen«, stellte der Regimentskommandeur fest und ergab sich in sein Schicksal. »Der Jung-Kommissar meldete sich bei mir und erzählte mir lang und ausladend von Pflichten und Dienst und Bla«, fasste er das zu Calgrows kleiner Odyssee führenden Vorgeplänkel zusammen. »Sie haben da sicherlich mehr Erfahrung als ich.«
Calgrow wollte gerade protestieren, hob bereits Stimme und Erscheinungsbild zu einem leidenschaftlich vorgetragenen Protest, doch er brachte die Mauer ihres Widerstands mit einem kurzen Heben der Hand zum Einsturz. »Halt! Stopp! Jetzt rede ich!«
Für einen Moment geschah gar nichts. Beide verharrten in ihren jeweiligen Posen.
Als Ekko schließlich spürte, wie Falten der Verwunderung ein anatomisches Gebirge auf seiner Stirn bildeten, fühlte er sich veranlasst, das Wort zu ergreifen. »Doktor, Ihnen geht es doch gut, oder?«, erkundigte er sich. »Ich frage nur, weil Sie mit einem Mal so fügsam sind. Do kenne ich Sie gar nicht.«
»Welchen Sinn hat es, mit Ihnen zu streiten, Colonel?«, gab sie müde zurück. »Sie sind wie ein Mückenstich. Je stärker man kratzt, umso mehr juckt es.«
»Ich könnte jetzt einen Witz mit Rüssel und Stechen machen«, überlegte der Regimentskommandeur laut.
»Davon würde Ihr Ruf auch keinen Schaden nahmen«, schoss die Ärztin zurück.
Dem konnte er leider nicht widersprechen. »Ja, da haben Sie wohl recht.« Ein Wink folgte, scheuchte die Gedankengelänge zurück in die ursprünglichen Bahnen. »Aber zurück zum Thema. Als sich der Jung-Kommissar bei mir meldete, fiel mir eine Sache auf, die mich doch verwunderte: seit wann schickt das Kommissariat angehende Moraloffiziere« – er betonte das Wort ganz besonders – »in eine größere Militäreinheit, ohne dass ihnen ein entsprechender Vormund zugeteilt wird?« Daraufhin brach der Colonel ab und ließ die Ärztin den Gedankengang beenden.
»Das stimmt«, gab sie schließlich zu. »Das ist ungewöhnlich. Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Ja, sehen Sie: das ist das Problem. Kommissar Ligrev ist tot. Schon ein wenig länger, richtig?«
Calgrow runzelte die Stirn. »Ja, und?«
»Mein Besucher sagte mir, er wäre dem Regimentskommissar zugeteilt worden.«
Die Stille, die auf diese Aussage hin entstand, hätte ein geräuschschluckendes Material vor Neid erblassen lassen.
So war es auch nicht schwierig, das leise Grummeln zu vernehmen, das aus dem Innern der Regimentsärztin gleich schlecht gelauntem Magma zu brodeln begann. Erst unterschwellig, gewann es in den nächsten Sekunden an Substanz, zeichnete mehr als überdeutlich den Weg nach, den die Wut in Marith Calgrow zurücklegte, um sich aus dem Innersten ihres Stolzes an die Oberfläche zu arbeiten. Noch wusste der Colonel nicht so recht, wie er sich die folgende Auseinandersetzung vorzustellen hatte. Aber er hätte es keinesfalls leugnen können: er freute sich bereits darauf zu erfahren, welche Art von aggressiven Tendenzen in der Ärztin schlummerten.
Gleich einer elektrischen Spannung, einem energetischen Flüstern, das durch sein Fleisch und seine Knochen pulsierte, wuchs die persönliche Ausstrahlung der Regimentsärztin, schwang in der Luft mit und ließ den Boden vibrierte.
Dumpfes Wummern kochte durchs Zelt, brachte seine Haut zum Kribbeln und sandte kräftige Schauer über seinen Rücken.
Calgrow holte tief Luft, sog das lauter werdende Geräusch ein und setzte an, die dadurch aufgenommene Energie in einen verbalen Gegenschlag münden zu lassen, der den Regimentskommandeur vermutlich durch die hinter ihm befindliche Zeltwand geschossen hätte. »Ich fasse es nicht …!«
Mit einem Schlag explodierte die Welt um sie herum, trieb den Kopf des Colonels in die Höhe und sorgte dafür, dass die Ärztin vor Schreck von ihrem Stuhl aufsprang.
»Was ist das denn?«, schrie sie – zumindest glaubte Ekko das. Der infernalische Lärm machte die Verständigung unmöglich, sodass seiner Gesprächsgegnerin nicht viel mehr blieb, als wild mit den Händen zu gestikulieren, sich die Ohren zuzuhalten und aus vollem Halse lautlos zu schreien.
Wie ein kräftiges Gewitter, das genau über dem Feldlager kreiste, rotierte das dröhnende Kreischen über ihnen, schwoll ein wenig ab, dann wieder an und wanderte weiter; ein tobendes Himmelswesen, das seine Wut direkt ihre Diskussion entlud.
»Das ist eine Walküre!«, bellte Ekko, konnte jedoch nur sehen, wie Calgrow ihn verständnislos anblickte, selbst irgendetwas schrie und auf ihre Ohren deutete.
»Eine Walküre!«, wiederholte er und zeigte in Richtung Dach. Die Ärztin schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie mit!« Mit energischen Schritten umrundete er den Schreibtisch, marschierte durchs Zelt und folgte dem unirdischen Geräusch, das sich in der Zwischenzeit in Richtung der Außenbezirke der Zeltstadt verlagert hatte.
Aus dem Augenwinkel sah er noch, dass die Ärztin ihm folgte, die Hände weiter auf die Ohren gepresst, dann trat er durch die Zeltplane vor dem Eingang an die flimmernde Luft.
Ein Schatten huschte über sie hinweg, verschwand zwischen den Zelten.
Andere Soldaten und Offiziere traten aus ihren Windschutzbauten, suchten im Himmel nach der Quelle für den ohrenbetäubenden Lärm.
»Solmaar!«, rief der Colonel, als er den Riesen unter den Anwesenden erkannte. »Was, beim Barte des Propheten, war das?«
»Das war eine von den Vultures, die man uns zugeteilt hat«, erklärte der Captain.
»Vultures?!« Ekko merkte, dass seine Stimme ungewöhnlich schrill klang, aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Erst jetzt erkannte er nämlich, dass man sich unter einem Luftkavallerieregiment offensichtlich deutlich mehr vorzustellen hatte als er bisher. Er entschied, sich doch noch einmal eingehender mit der Thematik auseinanderzusetzen.
»Wo ist die gelandet?«, wollte er wissen.
Solmaars Kinn zuckte vor. »Hinten, beim zentralen Musterungsplatz. Da gibt’s eine Landestelle für Luftfahrzeuge.«
»Danke!« Seinen Schritt wieder aufnehmend, begab sich der Colonel in die vom Captain angegebene Richtung, Calgrow im Schlepptrau.
»Colonel!«, keuchte sie, mehr von seinem plötzlichen Aufmerksamkeitswechsel als von der Geschwindigkeit außer Atem gebracht. »Wir sind noch nicht fertig …!«
»Jetzt nicht«, schoss der Colonel zurück, während er sich zum angegebenen Ort durchkämpfte.
Dutzende Soldaten befanden sich auf dem Weg zum Landeplatz des Senkrechtstarters, aufgeregt über den Lärm und die große Kampfmaschine diskutierend. Man hätte annehmen können, ihnen wäre zuvor noch nie Erdkampfunterstützungsflugzeug begegnet.
Der Landeplatz selbst war eine große Sandfläche gleich außerhalb der Zeltstadt, in ihrem Grundriss an eine imperiale Kathedrale erinnernd. Das lag nicht an der für das Flugfeld zur Verfügung stehenden Fläche, sondern stellte einen Kompromiss zwischen Platzbedarf und militärischen Absicherungserfordernissen dar.
Immerhin waren die dort geparkten Kampfmaschinen und Sturmtransporter Teil des taktischen Ausrüstungssolls und somit sabotagegefährdete Objekte. Das bedeutete allerdings auch, dass eine genaue Balance bestehen musste zwischen der Größe des zu bewachenden Platzes und der Verfügbarkeit von Wachposten und Streifengängern. Daher wurde bei kleineren militärischen Liegenschaften besonders darauf geachtet, dass man Abstellflächen und Lagerbereiche relativ überschaubar hielt.
Insgesamt konnte der Landplatz etwa zweiundzwanzig Senkrechtstarter aufnehmen. Aktuell allerdings stand dort nur eine Maschine, relativ nahe am umzäunten Feldlagerbereich geparkt.
Ekko trat durch das Zugangstor, an dem zwei Wachposten Aufstellung genommen hatten und dem Regimentskommandeur salutierten.
Nur kurze Zeit später traf Captain Balgor ein, drängt sich an Calgrow vorbei und legte den Kopf schief. »Was haben Sie sich denn da besorgt?«
Ekko wandte sich um. »War’n Geschenk«, erklärte er wie selbstverständlich.
»Hätte nicht gedacht, dass jemand so viel Geld für Sie ausgeben würde.«
Der Colonel warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts. Der Captain würde sich den Siegpunkt ohnehin sofort notieren.
Die Vulture war ein Abkömmling des Standard-Technologie-Konstrukts Walküre. Bei der Walküre handelte es sich um einen Truppentransporter der Imperialen Armee, zugleich unförmig und von unüblicher Eleganz. Es gab wohl keinen Soldaten, der sich bei der Maschine nicht an einen fliegenden Sarg erinnert fühlte – und daran war nicht nur die Form Schuld.
Die Vulture hingegen hatte den Transportraum, der die Walküre auszeichnete, gegen ein leistungsfähiges Vektor-Turbjet-Triebwerk getauscht, was es der Maschine ermöglichte, eine Vielzahl an Waffen aufs Gefechtsfeld zu tragen, wo sie zu einem unschätzbaren Unterstützer für die eingesetzten imperialen Verbände wurde. Ekkos Regiment hatte die eindrucksvolle Feuerkraft der Erdkampfflugzeuge in ihren letzten Schlachten erleben dürfen, und nicht nur der Colonel spürte sein Herz schneller schlagen, als er einen der riesigen Raubvögel endlich einmal von nahem betrachten durfte.
Im Augenblick aber machte das VTOL keinen wirklich erhebenden Eindruck. Wie ein flügellahmer Adler, der es gerade noch zurück zu seinem Nest geschafft hatte, lag es auf der brütend heißen Oberfläche Bastets, die von seitlichen Schubdüsen gesäumten, vertikal angewinkelten Flügel ausgestreckt und geräuschlos nach einem Schluck Wasser für die heiß gelaufene Turbine lechzend. Die Cockpitscheiben funkelten misstrauisch im grellen Licht von Taous und Tages.
Gerade löste sich eine schlanke Gestalt von dem riesigen Luftfahrzeug.
Ekko trat näher.
»Lieutenant Amen«, begrüßte er die Pilotin. »Wie schön, dass Sie uns wieder einmal besuchen kommen.« Balgor neben ihm verschränkte die Arme vor der Brust.
Ally Amen, die ein wenig wirkte, als sei sie in ihrer Fliegermontur eingelaufen, blickte die beiden Offiziere an, zögerte und verbarg dann ganz allmählich ihren Pilotenhelm hinter dem Rücken. »Ist … ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie unsicher.
»Als Sie sich mir vorstellten, sagten Sie da nicht, dass Sie vom Zweiundvierzigsten Imperialen Transportgeschwader sein?«, hakte Ekko nach.
»Das ist korrekt«, bestätigte sie. Ein wenig Unruhe schwang in ihrer Stimme mit. »Begleit- und Erdkampfstaffel.«
»Oh ... und kündigen Sie sich immer auf diese Weise an?«, wollte der Colonel weiter wissen, das Kinn deutend auf den müden Raubvogel hinter ihr gerichtet.
Die Pilotin runzelte die Stirn. »Ich … wie bitte?«
»Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«
»Es müsste so um die Mittagszeit sein«, gab die Angesprochene zögerlich zurück.
Ekko nickte. »Richtig.«
»Ich habe geschlafen«, brummte Balgor.
»Genau«, fügte der Regimentskommandeur an. »Ich auch.«
Das erstaunte seinen aktuellen Stellvertreter. »Sie auch?«
»Sie auch?«, wiederholte Amen und erbleichte.
»Was?!«, rief Calgrow aus, die sich ihnen gerade von hinten näherte. »Was soll das heißen?«
Ekko ignorierte sie. »Dafür schulden Sie mir was«, verlangte er Wiedergutmachung von der Pilotin. »Ich will mit dem Ding fliegen.«
Ekko konnte sich rühmen, bereits den einen oder anderen Höllenritt in einer Walküre hinter sich gebracht zu haben und innerhalb des fünfhundertzwölften Regiments gab es sogar Gerüchte, dass er, während der Schlacht um Agos Virgil auf einer Todesstoßrakete sitzend, die orkischen Linien zwei Mal überflogen hatte, um die genaue Position des feindlichen Waaagh-Bosses festzustellen. Dabei hatte er laut Augenzeugenberichten ekstatisch geschrien und seine Offiziersmütze auf die bockende Massenvernichtungswaffe niedergehen lassen.
Ob das stimmte, würde wohl auf immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben. Fest stand aber zumindest, dass er nie zuvor in einer Vulture mitgeflogen war. Zeit, das zu ändern. Und außerdem konnte er so die Unterhaltung mit Doktor Calgrow ganz unauffällig beenden. Er hatte sowieso bereits erfahren, was er wissen wollte. Zumindest … glaubte er das.
»Ähm … was?«, brach es aus Amen hervor.
»Ich bin noch nie in einer Vulture geflogen«, erklärte der Colonel und zuckte die Schultern. »Ich möchte dieses Gefühl endlich einmal kennenlernen.«
Wie die meisten Atmosphärenflugzeuge der Imperialen Armee war auch die Vulture ein Zweisitzer. Die Besatzung bestand aus einem Piloten und einem Waffensystemoffizier, dem WSO.
Während der Pilot die Maschine steuerte und feindlichem Flugabwehrfeuer so gut es ging auswich, galt die Verantwortung des WSO dem Einsatz der vielen verschiedenen Waffensysteme, die der Vulture ihre Feuerkraft und ihren formidablen Ruf verliehen.
Allerdings ermöglichte das im Bedarfsfall auch die Mitnahme eines Passagiers.
Ekko wusste das. Dasselbe Prinzip wurde bei den STK Walküre und Vendetta angewandt – wenn auch weniger häufig. Da er keinen WSO aus Amens Maschine hatte steigen sehen, nahm er also ganz richtig an, dass es diesen noch nicht gab. Damit war der Sitz für einen Rundflug prädestiniert.
Die Pilotin blickte sich hilfesuchend um. »Ich weiß nicht …«, begann sie und erste Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn. »Es gibt Vorgaben des Munitoriums, die den genauen Ablauf eines solchen VIP-Fluges regeln. Sie müssten erst in die Sicherheits-, Verhaltens- und Umgangsregeln eingewiesen werden, eine Ausbildung am Schleudersitz erhalten und mit den Sicherheitseinrichtungen und den allgemeinen Vorgängen an Bord vertraut gemacht werden.« Während sie sprach, vertieften sich die Sorgenfalten. Ihre Stimme wurde immer leiser und schwächer. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, schloss sie schließlich und seufzte unglücklich.
Eine kurze Pause gongte lautlos zum nächsten Akt.
»Großartig!«, rief Ekko aus und klatschte in die Hände. »Ich wusste, dass Sie mir so etwas ermöglichen würden. Ich hole nur kurz eine Fliegermontur. Bin gleich zurück.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Colonel«, keuchte Balgor, den die Aussage seines Vorgesetzten völlig unvorbereitet traf. Er war nicht der einzige.
»Colonel!«, rief Calgrow entrüstet aus. »Wir sind noch längst nicht fertig.«
Jetzt endlich drehte sich der Regimentskommandeur zu ihr um. Allerdings spiegelte sich in seiner Reaktion nicht die von ihr erwartete Anerkennung des Gesprächsbedarfs wieder. Vielmehr ließ er in seiner ihm typischen Art durchblicken, dass er sich absolut nicht für die Sorgen der Ärztin zu interessieren schien. »Doktor – gehen Sie einfach – nehmen Sie sich den Tag frei. Machen Sie einen Ausflug. Sie werden schon etwas finden, um sich zu beschäftigen. Es gibt da einen wunderbaren FKK-Strand auf der anderen Flussseite. Genau das Richtige für eine Frau wie Sie. Haben Sie viel Spaß.« Er klopfte ihr auf die Schulter und verschwand so schnell zwischen den Umstehenden, dass es der Regimentsärztin nicht einmal mehr möglich war, eine passende Antwort von sich zu geben.
Calgrows ergrautes Haar begann zu glühen. »Argh!«, fauchte sie die sie umgebende heiße Luft an: »Dieser Mistkerl!« Ihre Stimme hallte in die Ebene fort, verlor sich und starb schon bald darauf irgendwo in der mittäglichen Hitze an Erschöpfung.
»Tut mir leid, Doktor«, sagte Balgor. Er meinte es ehrlich.
»Darauf kann ich verzichten«, giftete die Ärztin zurück, drehte sich um und marschierte davon.
Dass ihr die vor Ort befindlichen Soldaten wortlos den Weg freimachten, lag in diesem Moment nicht an ihrem Rang.

***​
Gren Krood stand am Rand des Musterungsplatzes und verfolgte ungerührt, wie sich der große Senkrechtstarter unter Schnauben, Heulen und Kreischen vom Erdboden löste; ein Raubvogel, dem seine Mahlzeit schwer im Magen lag. Vielleicht war es auch schlechtes Gewissen.
Schon kurze Zeit später ging die Maschine in den Horizontalflug über, fauchte und schrie wie eine Lebende Heilige, die aus der Duschkabine kam und feststellte, dass man ihr in der Zwischenzeit die Rüstung geklaut hatte.
Einige Zeit lang verfolgten die am Flugfeld Versammelten das Erdkampfflugzeug bei seinem Aufstieg in den blauen Himmel, wo es allmählich zu einem schwarzen Punkt schrumpfte. Weit dahinter ließen sich schwere, dunkle Wolken erkennen, die Vorboten eines nachmittäglichen oder abendlichen Gewitters.
Dann trennten sich die Männer, gingen wieder ihren jeweiligen Tagesdiensten nach.
Die aufgeheizte Wüstenluft flimmerte.
»Tja«, meinte einer der beiden Männer neben ihm. »Da geht sie hin.« Er meinte die Vulture.
»Wir sollten einen Raketenwerfer holen«, schlug der andere vor. »Nur für den Fall, dass sie ihn zurückbringt.« Er meinte Colonel Ekko.
Krood warf den Sprechern einen kurzen, finsteren Blick zu.
Cedd und Tall waren ‚seine‘ Grenadiere. Die beiden letzten Männer des fünften Trupps der dreiunddreißigsten Kasrkin.
Die Kasrkin stellten die Eliteverbände der Stoßtruppen von Cadia. Sie bestanden aus jenen, die schon in jungen Jahren besondere Fähigkeiten im Einsatz mit der Waffe zeigten und wurden einem rigorosen Ausbildungsregime unterworfen, das nicht viele angehende Grenadiere das Leben kostete.
Die verblieben Rekruten des Jugendkorps, aufgrund ihrer Helmkennzeichnung als ‚Weißbleche‘ bezeichnet, konnten am Ende ihrer langen Ausbildung zum Elitesoldaten von sich behaupten, zum Besten zu gehören, was das Imperium an kriegswilligem Fleisch in die Schlacht um das Überleben der Menschheit warf.
Aufgrund ihrer überwältigenden Moral, unabdingbaren Hingabe an die Sache des Imperators und ihrer unvergleichliche Kampfstärke verglich man sie gerne mit den fanatischen Tempestus Scions, den Spezialtruppen des Imperiums. Diese fanatischen Gardisten, eigentlich nur für die schwersten und bedeutungsvollsten Aufgaben von namhaften Kommandeuren und Inquisitoren herangezogen, bildeten die Spitze der Hierarchiepyramide Astra Militarum. Selbst Offiziere hatten die Kommandosoldaten zu grüßen, Kommissare ihnen bei der Erledigung ihrer Aufgabe jederzeit behilflich zu sein.
Die Kasrkin rangierten in derselben Liga. Offiziell bezeichnete man als Grenadiere, also Elitesoldaten, deren Ausrüstung, Kampffähigkeit und disziplinärer Status über dem normaler Infanteristen lag. Daher wurde ihnen auch nicht unbedingt derselbe Respekt wie den Kommandos der Scions zuteil.
In Wahrheit aber konnten sich Ausrüstung, Ausbildung und Personal der cadianischen Elite mit den Besten der Scions messen.
Inquisitoren und hochgestellte Offiziere nahmen zur Verfügung stehende Einheiten der Kasrkin mit Kusshand, um ihre Macht zu demonstrieren oder sie schwerpunktmäßig für Kommandoaktionen einzusetzen.
Ein gewöhnlicher Kommandeur verstand das in der Regel nicht. Immerhin war er nur ein »Normaler«, wie man in den Reihen der Kasrkin zu sagen pflegte. Er verheizte die ihm zugeteilten Kräfte zumeist als Frontfeuerwehr, die immer dort zum Einsatz kam, wo normalen Soldaten der sprichwörtliche ‚Arsch auf Grundeis‘ ging.
Colonel Ekko war das beste Beispiel dafür. Um einen seiner Infanterietrupps zu retten, hatte er Kroods Einheit in einer halsbrecherischen Aktion inmitten der feindlichen Angriffszone abgesetzt und war mit seinen Überlebenden zurück zu den eigenen Linien geflogen.
Im Anschluss hatte er Kroods Leute einfach vergessen.
Doch damit nicht genug: reduziert auf nur noch drei Mann war der fünfte Trupp der dreiunddreißigsten Kasrkin aus dem Gros der imperialen Streitmacht herausgelöst und der Verteidigung der Himmelskathedrale zugeteilt worden – einem Rest verschiedener Einheiten, deren Kommandeur … Ekko wurde.
Er nutzte sie abermals als Frontfeuerwehr, ließ sie als Speerspitze seiner Verteidigung mehrere Aktionen durchführen lassen, bei denen selbst der Imperator den Kopf geschüttelt hätte. Beispielsweise eine Lazarettevakuierung inmitten eines feindlichen Angriffs, schwerpunktmäßige Überfallangriffe auf orkoide Fahrzeuge und Bereinigung kleinerer Fronteinbrüche und, der Wassertropfen, der das Fass des Wahnsinns zum Überlaufen brachte, schließlich eine waghalsige Such- und Vernichtungsmission nach dem feindlichen Waaaghboss.
Und als sei das nicht genug, hatte er nach der erfolgreichen Vernichtung des Orkbosses eine Reihe von gut verborgenen Nuklearsprengköpfen gezündet, welche die Wüste um die Himmelskathedrale herum in eine Gluthölle verwandelten und den Einsatz für Krood und seine Männer beinahe zum letzten ihrer Laufbahn machten.
Aber nun kam diese überraschende, beinahe unwirkliche Wendung des Schicksals. Ein neuer Kommandotrupp sollte in die gelichteten Reihen des zerschlagenen Regiments integriert werden; eine Grenadiereinheit, deren Mitglieder sich aus den Überresten der bastetischen Einheit rekrutierten.
Noch suchten die drei Cadianer nach geeigneten Kandidaten. Immerhin kam es beim Dienst in einer Eliteeinheit nicht nur auf die Ausbildung und die Ausrüstung an, sondern vor allem auf eine körperliche und geistige Balance, die einen die Härten der Ausbildung und des Dienstes durchstehen ließ.
Leider waren die Basteter wie die meisten imperialen Truppen »Normale«, sprich einfache Infanteristen und keine vom Kampf gestählten Elitekrieger.
In ihren Reihen taugliches Personal auszumachen, gestaltete sich äußerst schwierig. Immerhin galt es, die Defizite einer fehlenden Erziehung wettzumachen, die man auf Cadia bereits von Kindesbeinen an genoss. Krieg war kein Erlebnis. Krieg war eine Urgewalt. Und wer das Handwerk des Krieges im Namen des Imperators zu erlernen gedachte, der musste den damit einhergehenden Erfordernissen genügen.
»Was habt ihr bisher erreicht?«, erkundigte sich der Sergeant, während er in seiner Drillichtasche nach einem Lho-Stäbchen kramte.
»Nicht wirklich viel«, erklärte Cedd und zuckte die Achseln. »Vielleicht fünf, sechs Kandidaten, die ich für geeignet halte.«
»Ich hätte da einen Sprengstoffexperten, der aktuell bei Captain Fendel in der Einheit ist«, fügte Tall an. Der großgewachsene Kasrkin hatte sich als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen und kam deutlich besser mit den Bastetern zurecht als Krood oder Cedd. »Ich denke, dass er unseren Anforderungen genügen würde und auch die Ausbildung durchstehen könnte.«
Krood nickte, förderte eines der in Papier eingerollten Rauschmittel zu Tage und führte den zerknickten Sargnagel an seine Lippen. Cedd beeilte sich, seinem Vorgesetzten ein Sturmfeuerzeug zu reichen.
»Hast du bereits mit ihm gesprochen?«, brummte Krood aus dem Mundwinkel, während die helle Flamme vor seinen Augen das Papier versengte. Genüsslich sog er den hellgrauen Rauch ein und ließ die ersten Züge der nach geklärter Asche schmeckenden Empfindung seinen Geist fluten. Bald schon stellte sich die leicht raue, benebelnde Wirkung ein, die einem zuerst den Rachenraum betäubte, bevor sie fortfuhr, auch den Rest des Kopfes in Besitz zu nehmen.
Tall schüttelte den Kopf. »Nein. Nur mit seinem Lieutenant und ein paar Leuten aus seiner Einheit. Ich wollte mir erst einmal ein Bild von dem Mann machen.«
»Hm«, brummte Krood erneut. »Du denkst also, er sei es wert?«
»Ja.«
»Dann sprich ihn an und wenn er Interesse hat, nehmen wir ihn in die Liste unserer Kandidaten auf.«
»Verstanden.«
Sie ließen den Landeplatz hinter sich und tauchten wieder in die Hitze zwischen den Zelten ein.
Weit kamen sie nicht. Eine verschwitzte, von tagelangen Übungen bereits müde Formation basteter Infanteristen marschierte durch den breiten Hauptweg, der sich wie eine zentrale Schlagader durch die Zeltstadt schlängelte.
Leitender des Spektakels war Captain Retexer, der nicht minder verschwitzt, aber denn deutlich motivierter schien als die neben ihm laufende Marschordnung.
»Linksschwenk!«, kündigte der Captain mit lauter Stimme das nächste Kommando an. »Marsch!«
Ein Ruck ging durch die Kolonne, als die erste Reihe aus drei Männern herumschwang, der ihr gegebenen Order folgend. Wie die Glieder einer Panzerkette, durch die Energie eines Antriebsrads bewegt, folgte der Rest der Einheit.
»Gerade!«, befahl Retexer. Reihe für Reihe richteten sich die Soldaten auf den neuen Kurs aus, folgte der Körper der vielköpfigen Schlange den formaldienstlichen Anweisungen, als wären es die Bewegungen eines Pungi
Krood und die Grenadiere beobachteten, wie fast zweihundert Mann im heißen Wüstensand die Drehung einer ganzen Kompanie exerzierten, bevor der Formationsführer sie endlich mit einem »Aus!« in den Gleichschritt entließ.
Da geschah es – einer der Soldaten kam aus dem Tritt, stockte, ein neuerlicher Ruck ging durch die Marschordnung und plötzlich wirkte die homogene Formation überhaupt nicht mehr homogen. Fluchen und Schimpfen schlossen sich an, als die Männer bei dem Versuch, einen einheitlichen Schritt aufzunehmen, einander in die Hacken traten.
Retexer ließ halten und begann, seine Unzufriedenheit auf die Männer zu entladen. Er erfand dabei einige sehr innovative Beleidigungen.
Krood schüttelte den Kopf. Das waren eben die ‚Normalen‘.
Das Imperium war die wohl größte und stärkste Macht im Universum. Es hatte die Menschheit geeint, einen Großteil der bekannten Galaxis erobert und verteidigte dieses Gebiet gegen Horden feindlicher Angreifer.
Den Großteil dieser Aufgabe hatten normale Menschen übernommen. Abenteurer und Krieger, die dem Ruf des Imperators gefolgt waren, nach Ehre, Ruhm und dem Unbekannten suchten und bereit waren, für ihren Glauben und das Wohl der Menschheit in den Kampf und in den Tod zu gehen. Milliarden über Milliarden von Soldaten von einer schier unendlichen Anzahl an Welten warfen ihre schützenden Leiber in die Schlacht um das Überleben der menschlichen Rasse, standen Seite an Seite mit den mächtigen Space Marines und todbringenden Kampfmaschinen, erdrückten jeden Gegner unter der Masse ihrer Körper oder ertränkten ihn in ihrem Blut.
Ja, das Militär des Imperiums war ein Fleischwolf, ein Ungetüm gigantischen Ausmaßes.
Wer hier überleben wollte, der brauchte Disziplin und Organisation.
Die Basis dieser grundsätzlichen Eigenschaften eines Militärs bildete der Formaldienst.
Dieser auch als Exerzieren gebräuchliche Begriff bezeichnete das Beüben von Verhaltensweisen von Soldaten und Gruppen innerhalb der geschlossenen Abteilung eines Zugs, einer Kompanie oder eines Bataillons.
Das diente dem Gewinn und Erhalt der äußeren – und somit auch inneren – Disziplin, die der einzelne Soldat benötigte, um seinen militärischen Dienst leisten zu können.
Im Grunde stimmte das auch. Formalausbildung schuf das Fundament, auf der die Gefechtsausbildung der Soldaten fußte. Es prägte jene Abläufe ein, über die man in einer Kampfsituation nicht mehr nachdenken durfte.
An einem Punkt allerdings sollte – oder besser musste – das Exerzieren so in Fleisch und Blut übergehen, dass man einen Infanteristen wecken und herumkommandieren konnte, ohne diesen auch nur ins Straucheln oder in Stress zu bringen.
Soweit Krood wusste, bestand ein gewisser Personalsatz von Retexers Einheit aber aus neu eingegliederten Rekruten, PVS-Männern und Überresten der Imperialen Armee, was ihnen einen unterschiedlichen Bildungs- und vor allem Ausbildungsstand bescheinigte.
Diese Defizite zu beseitigen hätte die Hauptaufgabe des Formationsführers sein müssen. Der aber schien viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Willen über sämtliche physikalische Gesetze hinweg zu erzwingen.
Kein Wunder, dass er dabei ein solches Ergebnis erhielt.
Aber wie hieß es so schön? »Wer sonst nichts kann, der kann zumindest Formaldienst.«
»Haben Sie was gesagt, Sergeant?«, wandte sich Tall an seinen Vorgesetzten.
Der sah auf. »Nein« wollte er gerade sagen, wurde jedoch von einer Bewegung in den Augenwinkeln abgelenkt, noch bevor er weitere Worte verlieren konnte.
Ein junger Soldat näherte sich ihnen.
»Entschuldigen Sie, Sergeant Krood?«, sprach ihn der Infanterist an, dessen Namensstreifen auf der Feldbluse ihn als ‚Rahael‘ auswies.
Der Kasrkin musterte ihn.
Er kannte Rahael nicht gut. Nur flüchtig vom Sehen während der Schlacht um die Himmelskathedrale. Wie Krood war auch der ‚Normale‘ ein Cadianer, und wenn sich der Kasrkin richtig erinnerte, dann stand er in einer besonderen Beziehung zu dieser Sororita, die ihnen während ihres Kampfes auf Agos Virgil zur Seite gestanden hatte. »Was gibt es, Soldat?«
»Ich habe gehört, dass Sie Männer für Ihre Grenadiereinheit suchen.«
»Ja, und?«
Der Mann zögerte, aber nur für einen Augenblick. »Ich würde mich gerne bewerben«, erklärte er schließlich.
»Bewerben?«, fragte Krood, hob die Augenbrauen und sah zu seinen Begleitern.
Die bedachten den Ankömmling mit belustigten Blicken.
»Ja, Sir«, bekräftigte der sein Vorhaben.
»Soldat, bei den Kasrkin bewirbt man sich nicht. Man wird erwählt, ein Kasrkin zu sein.«
»Oh«, verlieh sein Gesprächspartner seiner Überraschung Luft. Ein wenig Enttäuschung schwang auch mit. »Das bedeutet also, Sie suchen gar keine Leute?«
Krood nahm das Lho-Stäbchen aus dem Mund, blies den Rauch aus und atmete durch. »Wenn du dich im Kampf bewährst, dann kannst du wiederkommen.«
Er klopfte Rahael auf die Schulter und ließ den anderen Cadianer stehen. Seine Männer folgten ihm.
Irgendwo zwischen den Zelten tönte Retexers bereits leicht heisere Stimme: »Abordnung hört auf mein Kommando! Rechtsum! Im Gleichschritt – marsch!«

***​
Lieutenant General Jabari Ammon nahm hinter dem großen Schreibtisch Platz, der das Büro des Kommandeurs der dritten Armee des Kommandos Nord dominierte.
Noch hatte er sich nicht ganz an das Factum gewöhnt, dass dieses Stück aus seltenem Palmenholz nun ihm gehörte. Nein. Das war nicht ganz richtig. Es gehörte ihm nicht wirklich. Stattdessen war ihm die Ehre zuteil geworden, von diesem edlen Möbelstück aus PVS-Einheiten des Kommandos Nord zu führen.
Er war erwählt worden, der nächste einer langen Reihe aus Offizieren der Planetaren Verteidigungsstreitkräfte zu werden, denen es oblag, die Verbindung zwischen der Politik und der Armee zu sein.
Dabei war er nicht einmal Armeeführer.
Grundsätzlich oblag die Verwaltung einer Armee einem Offizier oder Kommissar, der die Rangleiter bereits weit vor Ammon erklommen hatte und folglich auch weiter fortgeschritten war.
In Wahrheit aber gingen dem Kommando Nord ganz allmählich die hochrangigen Offiziere aus. Eine Reihe von Unfällen, Zufällen und erstaunlichen Ereignissen hatten in den letzten zwei Jahren ein ganzes Oberkommando dezimiert: insgesamt vier Generäle, zwei Kommissar-Oberste und einen Magistraten des Munitoriums.
Innerhalb der PVS hielten sich Gerüchte, dass es sich bei den Toden – die übrigens keinerlei Muster aufwiesen – um eine Verschwörung handelte, die das Vertrauen der Untergebenen in ihre Kommandoebene untergraben sollte.
Ob das stimmte, wusste Ammon nicht. Für ihn war die Häufigkeit der Ereignisse ohne Zweifel unheimlich, aber bisher durch die jeweiligen Situationen durchaus erklärbar.
Das allerdings sollte ihn nicht weiter interessieren. Der Dienstposten des Kommandeurs der Dritten Armee NK gehörte nun ihm, die Beförderung zum Captain General war sicherlich auch nur noch eine Formsache.
Nachdenklich strich er über das polierte Holz. Fast sechzig aktive Regimenter und Sondertruppen gehörten zum nördlichen Kommando, insgesamt etwa Fünfhunderttausend Mann. Weitere zweihundert- bis dreihunderttausend konnten bei Bedarf umgehend aus der Bevölkerung nachrekrutiert werden. Mit ihrer Mischung aus schnellen Eliteeinheiten der Gebirgsgrenadiere, schweren Panzern, sowie mechanisierten und motorisierten Bataillonen stellte das Kommando Nord die wohl kampfstärkste Komponente der PVS Bastet III.
Ihr oblag die Aufstandsbekämpfung in den nördlichen Gebirgsmassiven, die Abwehr von Angriffen auf die Raumhäfen von Serareh und die Bereitstellung von Personal für die Feldzüge der Imperialen Armee. Außerdem halfen sie im Katastrophenfall, bei Ernten und Saat und teilweise sogar bei der Verbrechensbekämpfung.
Zu diesem Zweck gliederte sich das NK in ein Oberkommando unter Führung eines Sektor-Kommandeurs, drei Untersektoren, die jeweils durch einen stellvertretenden Kommandeur geführt wurden, denen eigene Stäbe unterstanden, die direkt mit den jeweiligen Armeen kommunizierten.
Der Oberkommandierende des Nördlichen Kommandos war ein General, seine Vertreter Marschälle, dann folgten die Generaloberste, Generalhauptmänner und so weiter und sofort. Eigentlich war Ammon ein einfacher Korps-Kommandeur gewesen, der Führer einer mechanisierten Abteilung der PVS mit Kommandogewalt über gut dreißigtausend Soldaten. Nun hatte sich die Zahl verfünffacht, und Ammon wusste noch nicht so recht, wie er damit umgehen sollte.
Glücklicherweise stellte sich der Korpsstab als recht erfahren heraus, was ihm die Einführung in seinen neuen Posten ungemein erleichterte.
Dennoch: ein mulmiges Gefühl blieb. Die Verantwortung über eine derart große Verteidigungskraft lastete schwer auf ihm. Wenn er versagte, wäre sein Leben umso eher verwirkt.
Das kleine Intercom auf seinem Tisch machte auf sich aufmerksam. Ein heller Glockenton, der Ammon aus seinen Grübeleien riss.
Als er die Annahmetaste drückte, erschien ein kleines, holografisches Fenster über der in dunklem Grau gehaltenen Schaltfläche. Es war sein Adjutant.
»Mein Herr«, begann der Mann. Noch eine Eigenheit, an die sich Ammon erst noch würde gewöhnen müssen: mit dem Aufstieg vom Korps- zum Armeekommandeur ging ein unsichtbarer sozialer Aufstieg einher. Plötzlich bezeichneten die Untergebenen ihren Vorgesetzten als »Mein Herr«. Eine etwas seltsame Bezeichnung, die dem Generalleutnant einen Eindruck davon vermittelte, wie sehr er sich von der Truppe entfernte, je weiter er die Rangleiter emporkletterte. Ganz wohl war ihm dabei nicht. Er hätte die Bezeichnung »Sir« oder »General« vorgezogen.
»Hm?«, murmelte er.
»Das Munitorium wünscht ein Gespräch mit Ihnen.«
»Das Munitorium?«, sprach Ammon seine Überraschung aus.
»Ja, Sir«, bestätigte die zweidimensionale Büste auf dem holografischen Schirm. »Man versicherte mir, dass es um eine Angelegenheit höchster Dringlichkeit geht.« Der Mann senkte verschwörerisch die Stimme. »Es hat mit Ihrer Beförderung zu tun.«
»Oh«, stellte der Generalleutnant fest. Ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. »Stellen Sie durch.«
Sein Gegenüber nickte, dann verblasste das Bild, fiel in sich zusammen und baute sich neu auf. Die Gestalt, die nun die Projektionsfläche in Beschlag nahm, wirkte vornehm, sehr elegant und dennoch schlicht. Ammon wusste, dass er das Gesicht schon einmal gesehen hatte, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wo.
»Captain General Ammon«, begrüßte ihn der Anrufer und betonte dabei jede Silbe. »Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie zu Ihrer Beförderung zu beglückwünschen.«
»Ich bin noch nicht Generalhauptmann«, widersprach der Generalleutnant.
»Oh, sicherlich. Sie sind bereits Captain General. Sie wissen es nur noch nicht«, versicherte ihm der mysteriöse Anrufer und lächelte dünn.
»Sie sind nicht vom Munitorium!«; ging es dem PVS-Offizier auf. »Sie sind …«
»General Ammon«, beruhigte ihn sein Gesprächspartner in einem Ton, der ihn gegen seinen Willen verstummen ließ, »ich denke, wir können uns weitere Ausführungen in diese Richtung sparen. Wer ich bin und woher ich komme, ist nicht von Belang. Zumindest für Sie nicht. Sie müssen lediglich wissen, was ich Ihnen zu sagen habe.«
»Was haben Sie denn zu sagen?«
»Ihnen sind sicherlich schon Geschichten über die Unglücke zu Ohren gekommen, die ihre ehemaligen Vorgesetzten ereilten«, erkundigte sich die Büste rhetorisch. »Eine erstaunliche Anzahl an Zufällen, finden Sie nicht?«
»Was wollen Sie damit sagen?«, gab Ammon zurück und runzelte die Stirn.
»Lassen Sie mich eine Prophezeiung treffen«, schlug der andere vor. »Ihrem Amtskollegen aus dem Zentralkommando wird bald ein Unglück ereilen, das ihn Namen, Rang und vielleicht sogar das Leben kosten wird. Was denken Sie? Wahrheit oder nicht?«
Ammon verengte die Augen. »Wer sind Sie?«, zischte er.
»Wir möchten, dass Ihnen so etwas nicht passiert«, fuhr sein Gegenüber mit betont neutraler Stimme fort. »Bastet ist in großer Gefahr. Es haben sich Kräfte auf dieser Welt versammelt, deren Ziel es ist, den Planeten und das System der Kontrolle durch den Goldenen Thron zu entziehen. Sie wollen Anarchie und Chaos erzeugen, und diese nutzen, um selbst die Herrschaft zu erlangen. Die Regierung hat sich bisher wenig gewillt gezeigt, der drohenden Katastrophe entgegenzutreten, und die Vertreter des Imperiums erscheinen seltsam machtlos, denken Sie nicht? Wir hingegen wollen etwas unternehmen. Wir lassen uns nicht bestehlen, nicht erpressen und auch nicht bedrohen. Daher würden wir Sie gerne überzeugen, für uns zu arbeiten. Natürlich würden wir Sie gütlich belohnen. Es liegt uns nicht daran, unsere Ziele mit denselben Mittel zu erreichen, die unsere Feinde nutzen. Vielmehr möchten wir … Sie überzeugen, dass Sie an unserer Seite besser aufgehoben sind als an der der aktuellen Regierung.« Er lehnte sich zurück. »Aber das liegt selbstverständlich in Ihrer Hand.«
»Das ist … Häresie!«, rief der Lieutenant General erzürnt aus.
Damit entlockte er dem anderen eine Reaktion, die ihn selbst überraschte. »Wir dienen alle dem Imperator, General! Niemand erwartet etwas anderes von Ihnen und jede Abkehr vom rechten Weg würden wir selbst als Häresie auffassen! Also wagen Sie es nicht, uns als Häretiker zu bezeichnen!«
Die klaren Augen des Mannes verdunkelten sich. »Es liegt in Ihrer Hand, General Ammon. Aber denken Sie daran: Unser Angebot gilt nicht ewig. Ach so«, fügte er so glatt an seine Worte an, als habe er just in diesem Moment die Gedanken des Basteters gelesen, »falls Sie versuchen sollten, diese Verbindung zurückzuverfolgen oder Ihren Kameraden eine Information zukommen zu lassen, um Ihr erlangtes Wissen zu teilen, so seien Sie sich sicher: niemand wird Ihren Worten Glauben schenken. Wir hingegen werden uns Ihrer sehr bald darauf annehmen, denn wir können es nicht zulassen, dass unser Vorhaben den Mächten des Feindes bekannt wird. Ich werde Sie wieder kontaktieren, nachdem Sie ein wenig Zeit hatten, über unser Angebot nachzudenken. Einen schönen Tag wünsche ich.«
Das Bild verblasste und fiel in sich zusammen.
Ammon blieb reglos sitzen, starrte auf das leere Rechteck aus Luft, das gerade eben noch Ausgangspunkt einer sehr unangenehmen Unterhaltung gewesen war. Was hatte er da gerade erlebt? Eine Verschwörung? Es hatte so geklungen. Aber auf eine seltsame, für ihn nicht nachzuvollziehende Art.
Was bedeutete das? Hatte man ihm gedroht? Ja, schon, aber nicht so, wie er sich eine Drohung vorstellte. Im Grunde war es eher eine Warnung gewesen, sich nicht den Feinden des Imperiums hinzugeben.
Es klopfte an der großen Flügeltür.
»Ja?«, rief Ammon abwesend.
Die Tür schwang auf, und ein Offizier im unauffälligen Steppentarnmuster der Streitkräfte vom Bastet trat ein, einen Stapel Dokumente in der Hand. »Guten Tag, Sir. Ich habe hier eine Reihe von anstehenden Beförderungen«, begann er, stockte aber, als er Ammons ratlosen Blick bemerkte. »Sir? Ist alles in Ordnung?«
Für einen Augenblick dachte der Lieutenant General daran, dem vor ihm stehenden Captain die Geschehnisse von eben gerade zu skizzieren, doch dann erinnerte er sich an die Worte des Anrufers.
Wenn es stimmte, was er gesagt hatte, dann würde jedes Wort Ammons die Pläne dieser ominösen Gruppierung torpedieren. Wenn es gelogen war, dann hatte sich Ammon eines schweren Vergehens schuldig gemacht.
Er hatte gehört, dass sich eine Inquisitorin auf Bastet befand. Vielleicht war dies ein Versuch gewesen, ihn zu einer unüberlegten Aktion zu verleiten, die man ihm später negativ auslegen konnte.
Welche Strafe stand noch einmal auf Unterstützung einer Verschwörung gegen den Imperator?
Zudem: Würde sich eine Inquisitorin auf das simple Wort eines Korpskommandeurs – Armeekommandeurs, verbesserte er sich in Gedanken – verlassen? Würde sie daraufhin wirklich tätig werden? Er hatte nichts in der Hand. Keinerlei Beweise dafür, dass das Gespräch stattgefunden hatte.
Alles, was sein Adjutant wusste, war die Tatsache, dass er mit dem Munitorium geredet hatte. Allerdings bezweifelte Ammon, dass es beim Munitorium irgendjemanden gab, der das Gespräch bezeugen konnte, zumal er auch nicht glaubte, wirklich mit dem Munitorium gesprochen zu haben.
Wer auch immer der mysteriöse Anrufer gewesen war, er hatte den General zu einer Entscheidung gezwungen. Er hatte ihn gezwungen, vorerst untätig zu bleiben.
Und dann war da das Gesicht, an das er sich zu erinnern glaubte, es aber nicht genau zuordnen konnte.
Wer war dieser Mann? Und was bedeutete die Aussage, seinen Amtskollegen aus dem ZK würde nun bald ein schreckliches Unglück ereilen?
Was auch immer auf ihn zukam, Ammon begriff allmählich, dass es definitiv mit seinem Dienstposten zu tun hatte.
Plötzlich fühlte er sich müde. Unendlich müde. »Denken Sie, wir könnten den Schreibtisch austauschen?«, fragte er mit matter Stimme.
Der andere Offizier runzelte die Stirn. »Was? Warum?«
»Ich weiß nicht«, sagte der General betrübt. »Ich habe das Gefühl, dieser hier ist zu groß für mich.«
 

Damaskus213

Erwählter
22 Januar 2016
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Juhu es geht weiter! Wenn ich doch nur genauso langen zum lesen brauchen würde, wie du zum schreiben :/

Eine Sache ist mir allerdings im Ammon Kapitel aufgefallen, du schreibst:

"Fast sechzig aktive Regimenter und Sondertruppen gehörten zum nördlichen Kommando, insgesamt etwa Fünfhunderttausend Mann. Weitere zweihundert- bis dreihunderttausend"

Und kurz danach:

"Ammon war der Führer einer mechanisierten Abteilung der PVS mit Kommandogewalt über gut dreißigtausend Soldaten. Nun hatte sich die Zahl verfünffacht"


Von dreißigtausend Soldaten auf fünfhundert - achthundertausend, ist etwas mehr als nur vefünffacht. Oder versteh ich gerade etwas falsch? :)
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
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www.fanfiktion.de
Juhu es geht weiter! Wenn ich doch nur genauso langen zum lesen brauchen würde, wie du zum schreiben :/

Eine Sache ist mir allerdings im Ammon Kapitel aufgefallen, du schreibst:

"Fast sechzig aktive Regimenter und Sondertruppen gehörten zum nördlichen Kommando, insgesamt etwa Fünfhunderttausend Mann. Weitere zweihundert- bis dreihunderttausend"

Und kurz danach:

"Ammon war der Führer einer mechanisierten Abteilung der PVS mit Kommandogewalt über gut dreißigtausend Soldaten. Nun hatte sich die Zahl verfünffacht"


Von dreißigtausend Soldaten auf fünfhundert - achthundertausend, ist etwas mehr als nur vefünffacht. Oder versteh ich gerade etwas falsch? :)


Hallo Damaskus213,

Tja - ich glaube, andersherum würde ein Schuh draus werden - ich müsste endlich wieder einmal die Zeit und Fähigkeiten haben, so schnell und sinnig zu schreiben wie in den ersten 4 Jahren von Stargazer. Die habe ich leider nicht mehr. Sonst wären 10 Seiten in einer Woche geschrieben ...

Was aber definitiv stimmt ist, dass du etwas falsch verstanden hast. :happy: Was Ammon führt, ist nämlich nicht das Nördliche Kommando. Er führt die Dritte Armee des nördlichen Kommandos, obwohl er zuvor nur ein Korpskommandeur war (also noch eine bis zwei Stufen niedriger). Das heißt also - insgesamt von 30.000 Mann auf zwischen 150.000 bis 180.000 Mann. Das heißt, er rangiert im Vergleich mit Ekkos Haufen irgendwo auf der Rangstufe, die Captain Balgor im 512. innehat.
´
Das Kommando Nord zu beschreiben war einfach nur ein Einwurf, um die Dimension dieses Anteils der PVS von Bastet zu beleuchten. Daher hatte ich ja auch die Rangleiter beschrieben - vom General bis runter zum Generalhauptmann, der ja in den mittleren Ebenen des Generalstabs angeordnet ist. War vielleicht technisch ein wenig blöd von mir, das so zu verwursten. Nakago ist es aber auch nicht aufgefallen. Gib ihm also die Schuld. :p
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
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Und weiter geht’s!


Wie immer vielen Dank an den Fluffinator.


Viel Spaß beim Lesen.



12



Das leise Piepen des elektronischen Datenpads durchbrach die von mittäglicher Hitze erfüllte Stille im Kommandozelt des 512. Regiments.
»Und? War es das jetzt?«, folgte die ebenso entnervte wie verwirrte Stimme Captain Balgors dem Laut, verstärkte den Riss im lautlosen Gefüge zwischen den Sekunden.
»Nein, Sir«, entschuldigte sich Achad Alit. Vielleicht tätigte er auch nur eine Aussage. »Sie müssen noch zwei Exemplare der Vertretungsregelung für das Kriegstagebuch und Ihre Personalakte unterschreiben.«
Noch zwei Exemplare – nur noch zwei. In der letzten halben Stunde hatte Balgor bereits vier Exemplare der Verpflichtungserklärung zur Wahrung der militärischen Disziplin abgezeichnet, eine Erstbelehrung nach Kommandoübernahme erhalten, war über die grundsätzlichen Pflichten bei Ausübung eines temporären Dienstgeschäfts informiert worden, gelangte dann in den ehrenvollen Kreis der zur Regimentsführung berechtigten Personen, wurde zum Umgang mit den entsprechenden Geheimhaltungsstufen ermächtigt und gleichzeitig als Geheimnisträger verpflichtet, hatte dieses bestätigen müssen (wie alle vorherigen Dokumente in vierfacher Ausführung) und hoffte eigentlich, dass die bürokratische Odyssee nun bald ihr Ende fand.
»Unterschreiben auch noch?«, brach purer Sarkasmus aus dem Captain hervor. »Soll ich das Ganze dann auch noch einmal singen?«
Alit bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. »Ihr Verhalten ist unangemessen, Captain.«
»Unangemessen? Seit einer halben Stunde bereue ich meine Bereitschaft, das Kommando über dieses Regiment temporär zu übernehmen.«
»Dieser Akt ist ein heiliges Ritual, Captain«, belehrte ihn der Jung-Kommissar mit erhobenem Zeigefinger, bevor er fortfuhr, Vergleiche zwischen der Salbung einer gesegneten Maschine und der Übernahme eines militärischen Kommandos zu ziehen.
Das Funkeln in seinen Augen hatte nichts mehr von einem unsicheren, jungen Mann, der sich nicht so recht mit seiner plötzlich erworbenen Macht zu identifizieren vermochte.
Man konnte fast dem Gedanken anheimfallen, er fühle sich durch Balgors Umgang mit den dienstlichen Verwaltungspflichten regelrecht beleidigt. So war es auch. »Seit Jahrtausenden werden die Männer und Frauen, die mit dem Kommando über eine Armee des Astra Militarum betraut werden, auf diese Weise initiiert. Sie sind doch selbst ein Captain!«, fügte der Jung-Kommissar an. »Sie müssten den Ritus doch kennen!«
Das stimmte. Zwar war Balgor bereits mehrfach die Übernahme einer Befehlshaberposition innegeworden – seine Beförderungen zum Lieutenant und zum Captain unterstrichen dies (Sergeant zählt hier nicht, da es sich um eine Feldbeförderung handelte) – allerdings stets unter Ekko und seinem Kommando, was die eine oder andere Besonderheit mit sich brachte.
»Um ganz ehrlich zu sein«, musste er zugeben und empfand dabei ein gewisses Maß an persönlicher Scham, »ging es bei mir ganz schnell. Colonel Ekko sagte zu mir: ‚You have it‘ und das war’s.«
»You have it?«, wiederholte Alit und hob fragend die Augenbraue.
»Na ja, nicht ganz«, präzisierte der imperiale Offizier. »Tatsächlich sagte er: ‚Tuum!‘«
Der hochgotische Begriff ‚Tuum‘ war eigentlich kein richtiges Wort. Es war eine Kunstform, die sich irgendwann aus dem Satz ‚Tuis Dictum‘, entwickelte, was so viel wie »dein Befehl« bedeutete. Wenn man das Ganze nun wortgetreu übersetzte, hieß ‚Tuum‘ also so viel wie »Deins«. Die sinnhafte Bedeutung dahinter stellte aber eine vollkommrn andere Schlagkraft in den Raum. Hier bedeutete das »Deins« nämlich tatsächlich eher eine Form des ‚Mach’s einfach«, beziehungsweise. »Quatsch nicht und tu’s«.
»Oh«, begriff der Jung-Kommissar, bevor ihn sein Unterbewusstsein zwang, über diese Aussage ein wenig länger nachzudenken. »Weshalb haben Sie sich dann entschieden, doch noch zu unterschreiben?«
Balgor zuckte die Achseln. »Weil ich genau weiß, wer es sonst machen würde. Und das möchte ich nicht riskieren.«
Er ließ die Aussage im Zelt stehen und war ein wenig überrascht, dass Alit die Worte nicht weiter kommentierte.
Allerdings gab die Natur der Antwort dem deutlich jüngeren Offizier ebenso wenig Gelegenheit zu einer passenden Erwiderung wie die Brisanz der kurz darauf in Gang gesetzten Ereignisse.
Eine weitere Person stürmte das Zelt, wehte durch den Eingang wie der windige Vorbote eines nahenden Sommergewitters.
Das Zelt kannte ein derartiges Verhalten seiner menschlichen Verwender bereits und daher leistete der Stoff wenig Widerstand gegen den Eindringversuch.
Panzerbesatzungen waren immer etwas kleiner geraten als normal gewachsene Infanteristen. Es gehörte zum Wesen ihrer Aufgabe wie eine Gesetzmäßigkeit der Natur. Vermutlich war diese Tatsache sogar in den genetischen Code ganzen Panzerfahrer-Generationen eingraviert worden wie ein von feinen Werkzeugen gehauenes Gütesiegel.
Der Grund dafür lag in den beengten Verhältnissen ihres Arbeitsplatzes. Für den normalen imperialen Bürger mochte dies unverständlich erscheinen. Imperiale Panzerfahrzeuge waren immerhin große, Keramid-bewehrte Ungetüme, die hoch aufragend in die Schlacht rollten, wo sie aus Geschützen, Kanonen, Flammenwerfern, Plasmawaffen, schweren Boltern oder Maschinengewehren Munition auf den Feind entluden und dem einen oder anderen Waaaghboss mit eherner Selbstverständlichkeit über den Fuß marschierten (was Letzteren dann eine Symphonie des Schmerzes anstimmen ließ).
Wie also konnte es sein, dass die Besatzungen von gepanzerten Fahrzeugen kleiner sein mussten als die an ihrer Seite in den Kampf gehenden Infanteristen?
Der größte und somit wichtigste Unterschied lag in der Tatsache, dass der Infanterist für sich allein stand. Er war Schild und Schwert in einem. Er musste seine Waffe, seine Ausrüstung und seinen Willen in den Kampf führen, um dort die schrecklichsten Ereignisse zu durchleben, die sich ein Mensch nur vorstellen kann. Ein kleiner, schwächlicher Mensch kann das nur schwerlich aushalten. Wer wirklich in den Krieg um das Imperium ziehen, mit Space Marines marschieren und Feinde unter seinen Stiefelsohlen zertreten will, der braucht Stärke. Er benötigt Energie, Kraft und Erscheinung, die in dieser Form nur ein von Grund auf trainierter Körper bereitzustellen in der Lage ist.
Der Panzer hingegen braucht Platz. Er ist eine Plattform, deren Waffen die im Vergleich nur schwachen menschlichen Körper auf ihrem Weg ans Ende der Galaxie begleiten.
Dafür benötigt er Treibstoff, Munition und Ersatzteile. Er muss ausreichend gepanzert und geländegängig genug sein, damit er auch in unwegsamstem Territorium stets seinen Weg in Richtung Schlachtfeld findet. Er muss in der Lage sein, sich in alle Richtungen zu verteidigen und den Erzfeind mit schierer Gewalt zu zerschmettern. Die Besatzung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.
Theoretisch könnte ein Panzer auch ohne die Menschen existieren. Er müsste lediglich einen entsprechend mehraufgabenbefähigten Maschinengeist besitzen. Nun gab es in der Geschichte der Menschheit eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen zwischen den Erdenbürgern und dem von ihnen geschaffenen, künstlichen Leben. Die meisten dieser Auseinandersetzungen wuchsen sich zu uneingeschränkten Kriegen aus, die nicht nur ganze Planeten zerstörten, sondern auch die Menschheit an den Rand der Vernichtung trieben. Seit dieser, in der vom Imperium beherrschten Region des Weltraums als »Dunkles Zeitalter der Technologie« bekannten Verirrung, die man ironischerweise als ‚Fortschritt‘ bezeichnet hatte, war die Nutzung solcher künstlicher, verabscheuungswürdiger, Intelligenzen bei Kapitalstrafe untersagt.
Da die übriggeblieben Entitäten, die man Maschinengeister nennt, zu schwach sind, eine ganze Maschine zu betreiben, müssen die Menschen die unliebsame Aufgabe der Führung für den Panzer übernehmen.
Und wie bei einem Barbaren, einem muskelbepackten, mit Testosteron gefluteten Körper, erhält das für das Denken und Lenken notwendige, organische Bauteil in den Fahrzeugen lediglich einen kleinen, sehr beschränkten Raum.
In Jaorah Nurins Genpool zumindest schien die notwendige Mutation innerhalb der Symbiose Menschen und Panzer schon vor langer Zeit zur Perfektion gelangt zu sein.
Mit einer Körpergröße von irgendwo bei einhundertfünfundsechzig Zentimetern und eher trainierter, wenn auch nicht muskulöser Statur gehörte der in eine schwarze Panzerfahreruniform gehüllte Captain zu jenen Soldaten, die Balgor als Beispiel für das typische Bild einer imperialen Fahrzeugbesatzung angeführt hätte.
Ein kantiges, nachdenkliches und bisweilen finster dreinblickendes Gesicht, dessen Effekt von dem Schiffchen auf seinem Kopf noch verstärkt wurde, verlieh ihm eine heroische Erscheinung, wie man sie normalerweise auf Rekrutierungsplakaten seiner Heimatwelt Desposia für den Dienst in der Panzertruppe vermutet hätte.
Normalerweise.
Im Augenblick nämlich erweckte der Offizier nämlich eher den Eindruck eines gehetzten und verfolgten Wildtieres. »Wo ist Colonel Ekko?«
»Unterwegs«, gab Balgor zurück.
Nurin ließ nicht locker. »Wo ist Major Carrick?«
»Unterwegs.«
»Wer hat dann das Kommando?«
»Ich.«
»Sie?«
»Und er.«
»Was denn?«, entwich es dem Desposianer. Sein Finger hob sich von ganz allein und zeigte auf den Jung-Kommissar. Selbst wenn er es gewollt hätte, es wäre ihm nicht gelungen, diese Reaktion zu verhindern. »Er auch?«
Balgor nickte. »Er auch.«
»Sie auch?«
Alit schien ebenso wenig überzeugt. »Ich auch?«
»Sie sind der Kommissar«, erklärte Balgor nachsichtig.
Das überzeugte den jungen Moraloffizier aber nicht wirklich. »Ich bin der Kommissar?«
Nurin übersprang Alits Verwirrung einfach, erweitere seine bereits eingeleitete Unmutsbekundung um eine zusätzliche, bittere Note. »Captain – das ist ein Skandal!«
»Warum? Was ist denn los?«
»Ihre Männer haben sich an unseren Fahrzeugen zu schaffen gemacht!«
»Was?«, sprengte die Überraschung Balgors Ruhe. »Sie meinen, unsere Leute haben Ihre Panzer sabotiert?« Er wirbelte so schnell herum, dass Alit einen unwillkürlichen Schritt rückwärts machte.
Nurin hingegen blieb unbeeindruckt. »Warum sehen Sie es sich nicht selbst an?«, schlug er vor.
Balgor nickte abgehackt. »Ich bin sofort bei Ihnen.« Er wandte sich an Alit. »Sind wir fertig?«, fragte er.
»Ja«, bestätigte der Jung-Kommissar, von derselben Überraschung wie Balgor in einen Zustand gelinder Panik getrieben, die er selbst nicht genau verstand, die aber sein Denken in die Spurrinnen kopfloser Aufregung lenkte.
»Gut«, schloss der temporär stellvertretende Regimentskommandeur das heilige Ritual der Kommandoübernahme ab. Er wandte sich Nurin zu. »Lassen Sie uns gehen.«


***

Einforcer 1 und Enforcer 2 waren ‚die‘ Jagdpanzer des 512. Regiments Sera.
Beide Fahrzeuge gehörten zu einer Vielzahl von Derivaten des Standard-Technologie-Konstrukts Leman Russ, des Standard-Kampfpanzers der Imperialen Armee.
Anders als das hochaufragende, mit einem schwer gepanzerten Turmgeschütz und einer Vielzahl von Sekundärwaffen ausgerüstete Kettenfahrzeug zählte man die Destroyer eher zu den Scharfschützen der imperialen Panzerwaffe.
Ausgerüstet mit einem als ‚Schnitter‘ bezeichneten Destroyer-Lasergeschütz in Form einer in den Rumpf eingelassenen Bewaffnung, stellte der auch als »Kasematt-Panzer« bezeichnete Destroyer ein Kuriosum im Fuhrpark der Imperialen Armee dar. Seine eigentlich eher als defensiv verstandene Aufgabe widersprach nämlich in Teilen der Doktrin des Astra Militarum, und seine verhältnismäßig archaische Erscheinung machte ihn zu einem besonderen Blickfang auf dem Schlachtfeld.
Ekkos Regiment war während ihrer letzten Schlacht mit den Jagdpanzern des 35. Desposia-Panzerregiments in Berührung gekommen und hatte die Fahrzeuge während einer tagelangen Belagerungsschlacht schätzen gelernt.
Bei der Panzer hatten die Schlacht mehr oder wenig stark beschädigt überstanden, und während Enforcer 2 noch einen recht soliden Eindruck machte, konnte Enforcer 1 sich rühmen, der wohl am schwersten getroffene und dennoch einsatzbereite Teilnehmer der Schlacht um Agos Virgil geworden zu sein. Mit Schäden, die einem vergleichbar verwunderten Menschen wohl zu einem organischen Wrack mit maschinellen Anbauteilen gemacht hätten, war der Panzerjäger nach wie vor ein formidabler Gefechtsgegner, auch wenn er aktuell auf seinen zerschlagenen Gleisketten eher umherkroch denn fuhr.
Aber ein Heer aus Maschinensehern, halb-humanoiden Maschinenmischwesen, hatte dem stark zerstörten Gefechtsfahrzeug bereits einen Teil seiner alten Macht – und damit seiner Würde – zurückgegeben. Technisch gesehen fehlte nur noch eine gewisse Anzahl an kleineren Ritualen der Wiederherstellung, um den Panzer gefechtsbereit machen, und damit zur Eingliederung in die Reihen des 512. Regiments, freigeben zu können. Eine Entscheidung, die im Angesicht der Umwandlung in eine luftgestützte Infanterieeinheit im Nachhinein als fragwürdig erscheint.
Das aber wirklich Erstaunliche an den beiden Jagdpanzern, so stellte Balgor nach kurzer Betrachtung fest, war die Tatsache, dass die mehrfarbige Hinterhalt-Tarnung der Fahrzeuge nicht mehr die einzige künstlerische Darstellungsform auf den Fahrzeugrümpfen bildete.
»Herr auf dem Thron!«, keuchte der Jung-Kommissar und lief rot an. »Das ist … das ist …«
Irgendwer war auf die glorreiche Idee gekommen, die beiden Jagdpanzer mit einem neuen Namen und Abzeichen auszustatten: Bruder Janus und Schwester Demeure, auf deren Heck jeweils einen Space Marine und eine Adeptus Sororitas von hinten gezeichnet worden waren. Die Servorüstungen der Figuren verdeckten die nackte Haut dabei nur spärlich. Die Idee hätte von Ekko persönlich sein können. Balgor aber ahnte: Hier erwachte gerade Konfliktpotenzial, und dass er einen heißen Schauer auf der Haut spürte, lag nicht am knackigen Hintern der halbnackten Ordensschwester. Die einzige Möglichkeit, diese schmachvollen Bilder ein wenig zu verdecken, bestand in der Zuhilfenahme eines Tarnnetzes, das gleich einer Schürze über die heckwärts gelegenen Partien des Fahrzeugs gespannt wurde. Dies erweckte den Eindruck, die beiden Figuren würden Röcke tragen. Schwester Demeure erschien damit wenigstens noch ein wenig elegant. Bruder Janus hingegen … »Ich finde, das haben Sie ausgezeichnet gelöst«, stellte der Captain diplomatisch fest, während er den Kopf schieflegte. »Was hat es mit dem langen, schwarzen Balken auf sich?«
»Den haben wir als Notlösung draufgemalt. Sie wollen nicht wissen, was man da vorher sehen konnte«, gab Nurin verdrießlich zurück und rümpfte die Nase.
»Oh«, war alles, was der Jung-Kommissar zu der Situation beitragen konnte, während sich der temporär stellvertretende Regimentskommandeur am Kopf kratzte.
»Und woher wissen Sie, dass das unsere Leute waren?«, fragte er in dem fast verzweifelten Versuch, das Offensichtliche zu ignorieren.
»Außer Ihnen gibt es hier nicht viel anderes«, erklang die Antwort. Damit hatte Nurin leider Recht, was sie der Lösung des Falles aber auch nicht näher brachte.
»Ja«, musste der imperiale Captain dennoch zugeben. »Das leuchtet ein.« Dann schwieg er, suchte nach einer Möglichkeit, die ganze Angelegenheit vielleicht noch ein wenig herunterzuspielen. Er fand keine.
Balgor hatte schon bemerkt, dass mit dem Wegfall der steten Bedrohung des bevorstehenden Todes eine seltsame Wandlung bei den Männern des 512. Regiments Sera einsetzte.
Ihre Energie staute sich, entlud sich in andere Richtungen, in denen die Aufregung und Wärme des heimatlichen Schlachtfelds gegenüber der Rolle eines Bettes mit williger Gefährtin in den Hintergrund trat.
Kurzum: Sie waren heiß. Und die Hitze in ihnen suchte nach einem Ventil, um den steigenden Druck irgendwie abzulassen.
Auch an sich hatte Balgor diese Änderung bereits festgestellt und mit wachsender Sorge zur Kenntnis genommen, dass seine Gedankengänge ihre gewohnten Bahnen verließen und mit steigender Intensität um die niedliche Frau Corporal zu kreisen begannen, die im Stab der neuen Quartiermeisterin des 512. Regiments diente.
Nur Colonel Ekko schien nichts zu merken, was allerdings nicht unbedingt etwas bedeutete. Immerhin stellte man sich die durchaus berechtigte Frage, ob Colonel Ekko überhaupt noch etwas merkte.
Das allerdings brachte sie auch nicht weiter.
Balgor wusste: die Gefahr, der sie sich gegenübersahen, war die ganz allmähliche Einbuße der Moral.
Die Männer hatten einfach nichts zu tun. Der eintönige Gefechtsdrill, abgeschottet von ihrer früheren Heimat, und die Eingliederung der PVS-Männer fügte vor ihren Augen ein Bild einer Welt zusammen, die ihnen so vertraut war wie das eigene Heim. Sie wollten zurückkehren. Sie wollten ihren Abdruck hinterlassen und sich mit Gewalt im Herzen Bastets verewigen. Wir waren hier! Und wir haben gelebt!
Solche Überlegungen führten meist zu geistigen Kurzschlüssen und sehr dummen Handlungen.
Ein nacktes Weib war eine Obszönität. Ein nackter Space Marine war … seltsam, aber ebenso anstößig und bisweilen sogar ketzerisch. Was kam danach? Huren? Diebstahl? Raub? Mord? Häresie?
Soldaten waren geboren, um zu kämpfen. Ihnen oblag die Verteidigung des menschlichen Reiches, und diese Energie nicht auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, würde katastrophale Folgen haben. Für sie, für ihre Familien und schlussendlich alles, für das sie kämpften.
Das hier war nicht zu tolerieren.
»Das ist nicht zu tolerieren!«, verlangte Nurin und wies auf die Fahrzeuge, was Balgors Überlegungen in Unordnung brachte und seine Aufmerksamkeit zurück auf das Hier und Jetzt richtete.
»Nein«, musste er zugeben, auch wenn er dem unbekannten Künstler für seine anatomisch korrekten Darstellungen insgeheim beglückwünschte. »Ich muss mit Colonel Ekko darüber sprechen. Aktuell kann ich Ihnen nur anbieten, Wachtposten zur Sicherung der Fahrzeuge abzustellen. Können Sie die …« – er suchte nach dem richtigen Wort – »… Bilder irgendwie kaschieren?«
Man sah Nurin an, dass er mit der Lösung nicht zufrieden war, aber im Augenblick auch keine andere Möglichkeit sah, als auf die Rückkehr des ausgeflogenen Regimentskommandeurs zu warten. »Was bleibt uns anderes übrig?«, erkundigte er sich rhetorisch. Seine Stimme klang dabei derart müde und enttäuscht, dass sich Balgor vornahm, das Problem wirklich anzugehen.
»Nichts«, stellte er dennoch fest und zuckte entschuldigend die Schultern.
»Ja«, brummte Nurin und wandte sich ab, um seinen Besatzungen die entsprechenden Befehle zu geben.
Balgor und Alit blieben zurück.
Es dauerte nicht lange, sich der temporär stellvertretende Regimentskommandeur ebenfalls abwandte und sich nachdenklich am Kopf kratzte. »Wir müssen herausfinden, wer das war.«
»Ich stimme zu«, versetzte Alit mit einer für sein Alter überraschend berechnender Stimme. »Eine angemessene Bestrafung …«
»… wäre eine Versetzung.«
Das brachte den Jung-Kommissar aus dem Konzept. »Eine Versetzung?«
»Ja. Das künstlerische Talent war nicht ohne. Und ich möchte nicht, dass Colonel Ekko das herausfindet.«
Die Falten in der Stirn des Moraloffiziers vertieften sich. »Warum nicht?«, verlangte er zu wissen.
Balgor seufzte. »Wer was, auf was für Ideen er kommt, wenn er merkt, dass ihm so ein Medium zur Verfügung steht.«
Er sagte diese Worte einfach frei heraus, dachte im Grunde gar nicht wirklich darüber nach, doch sobald er sie ausgesprochen hatte, ging ihm auf, wie prophetisch sie waren.
Ja, er würde darüber mit Ekko sprechen müssen. Und in seiner typischen Art würde der Colonel die Angelegenheit angehen – im Grund so, wie er alles anging: mit einer fatalistischen Grundeinstellung, die dem Imperator eine gewisse Schuld an der Situation einräumte. Aber ob er das Problem wirklich verstand? Ob er sich darauf einlassen und seine Untergebenen zu Räson bringen, sie zwingen würde, einfach wieder ihren Platz im Universum einzunehmen?
Balgor zumindest glaubte das nicht. Er fürchtete, dass ihnen die Situation entgleiten würde. Ohne Carricks führende Hand, die den Schaden abzuwenden wusste, den Ekkos sehr unorthodoxer Führungsstil bei der Disziplin seiner Männer anrichtete, würde das 512. Regiment sehr bald eine Reihe von sehr unangenehmen Situation erleben.
Stille beeilte sich ihm zuzustimmen. Alit hingegen sagte nichts.
Er kam auch nicht wirklich dazu, irgendein weiteres Wort zu äußern.
»Captain Balgor!«, hallte eine aufgeregte Stimme durchs Lager. Es war die von Gireth.
Noch während sie den Funker beim eiligen Nähertraben beobachteten, hörte Alit ein entnervtes Seufzen von dem ranghöheren Offizier an seiner Seite. »Hat man denn hier gar keine Ruhe?«
Atemlos kam der Mannschaftssoldat vor ihnen zum Halten. Schweiß hatte seine Haut in eine glänzende, klebrige Oberfläche verwandelt, auf der der Sand der Wüste besonders gut zu haften schien. »Captain Balgor, wir haben soeben ein Schreiben vom Munitorium erhalten.«
Der Angesprochene strich sich übers Gesicht, und verdrehte dann Körper und Augen erstaunlich synchron. »Was ist denn jetzt schon wieder?«
Ganz allmählich verstand er, wie sich Ekko fühlen musste, wenn er immer und immer wieder durch verschiedenste Kleinigkeiten aus den Reihen des Regiments auf Trab gehalten wurden – auch wenn Balgor annahm, dass dem Colonel seine Tätigkeit besonders in solchen Moment immer am meisten zu gefallen schien.
Kein Wunder. Immerhin besaß Ekko eine ganz eigene Art, seine Probleme zu lösen.
Glücklicherweise befand sich Balgor noch ganz am Anfang dieser Entwicklung, und die Möglichkeit dem Ganzen zu entfliehen und lediglich wieder in die Fußstapfen eines einfachen Kompanieführers zu treten, bot eine verführerische Alternative.
Dennoch nahm er dem atemlosen Funker das kleine Datenpad aus der Hand und überflog es, bevor der japsende Mann Gelegenheit erhielt, dem Vorgesetzten seine Sicht der Dinge zu präsentieren.
Je weiter er kam, umso weniger begriff er. Er musste noch einmal von vorn anfangen, bis sich das Puzzle aus Informationen ganz allmählich in seinem Kopf zusammensetzte.
Tatsächlich trug die resultierende Schlussfolgerung nicht zur Besserung seiner Laune bei.
»Das kann nicht deren Ernst sein …«, brach es aus ihm heraus.
Alit beugte sich vor. »Was ist denn?«, wollte er wissen.
Balgor reichte ihm das reichverzierte Datendarstellungsmittel, bevor er sich fluchend in Bewegung setzte.
Der Jung-Kommissar warf einen Blick auf den Bildschirm, sah die hochgotischen Lettern, machte sich nicht einmal die Mühe sie zu lesen und blickte auf. »Was heißt das?«
»Was da steht«, erklärte ihm der Captain kurz angebunden und drehte sich um. »‚Rechnen Sie mit dem Eintreffen der zugewiesenen Kräfte bei Beginn des Festus Sementis‘.«
Der Kommissar schien immer noch nicht zu verstehen. »Und das bedeutet?«, verlieh er seiner Verwirrung Form.
»Einigen Leuten stehen bald sehr spannende Zeiten ins Haus«, grummelte der Captain, seinen Schritt wieder aufnehmend. »Ich werde einer davon sein. Colonel Ekko muss uns ja beim Saatfest vertreten.«
Er konnte später nicht einmal mehr sagen, ob die Worte ehrlich oder sarkastisch gemeint waren.


***

Brag Fradd war in Aufruhr – zum wiederholten Male in den letzten paar Wochen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor derart viel Aufregung in so kurzer Zeit erlebt zu haben. Zumindest nicht, wenn keine unmittelbare Todesgefahr drohte, eine Möglichkeit, die auf Bastet von Zeit zu Zeit tatsächlich bestand.
Zumeist allerdings ging einer derartigen Bedrohung ein Generalalarm an alle verfügbaren Streitkräfte der PVS und des Sektors zuvor, gekoppelt mit einer Angriffswarnung vor Orks, Kultisten oder anderen, ähnlich schrecklichen Mächten des Bösen.
Dieses Mal war nicht so. Und dennoch: Sein Herz krampfte, schien mit aller Macht aus seiner Brust brechen, sich von ihm lösen und aus dem Raum laufen zu wollen. Vermutlich hätte es sich dabei sogar geschickter angestellt als er selbst jemals zuvor in seinem Leben.
Der Konsul keuchte, als er an die kommende Begegnung dachte, griff in eine der überbordenden Schubladen an seinem Schreibtisch und kramte fieberhaft nach einem zerknitterten Stofftaschentuch, das er dort für den Fall hinterlegt hatte, dass ihm der Schweiß aus allen Poren rann. Nicht, dass so eine Maßnahme auf einem Planeten wie Bastet wirklich sinnig gewesen wäre.
Zumindest aber beruhigte es den Administraten und erlaubte es ihm, sich für eine kleine Weile wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Er zupfte das Tuch zwischen Papieren und Pergamenten hervor, wischte sich eilig über die Stirn und atmete tief durch.
Taous und Tages hatten sich angekündigt, sandten ihre glühenden Strahlen gegen die großen, gotischen Fenster von Fradds Büro und klopften schon seit geraumer Zeit geräuschlos hinter den zugezogenen Gardinen.
Fradd aber interessierte sich nicht für sie. Ein anderer, wieder einmal erst kurz zuvor bekanntgegebener Gast befand sich auf dem Weg zu ihm.
Der Konsul grübelte, was ihm die Ehre dieses – gerade eigentlich eher unerwarteten Besuchs – verschaffte. Tatsächlich hatte sich die Besucherin schon vor einigen Tagen mit ihm treffen wollen, den Besuch aber kurzerhand abgesagt. Eine Angabe von Gründen erhielt er nicht.
Nun aber, wie aus dem Nichts, meldete sich ihr Stabschef und arrangierte ein kurzfristiges Treffen, auch wieder ohne Angabe von Gründen.
Die ganze Angelegenheit kam ihm höchst seltsam vor.
Er war Administrat der größten militärischen Organisation der Galaxis, beim Thron von Terra – und trotz seiner Abneigung gegen diese Welt konnte man ihn getrost als einen der großen Männer Bastets bezeichnen. Er verwaltete die Kräfte der Imperialen Armeen, welche von diesem Planeten aus in den heiligen Krieg um die Menschheit zogen.
Dennoch fühlte er sich gerade seltsam. So, als sei er gar nicht der große Mann, für den er sich immer gehalten hatte.
Ganz allmählich merkte der Konsul, dass sich die Welt um ihn herum immer schneller zu drehen schien, während er sich dem Gefühl nicht erwehren konnte, sein persönliches Fortkommen würde immer langsamer vonstattengehen.
Das wirklich Erschreckende daran war, dass dies nicht nur auf seinen Dienst im Imperium bezogen werden konnte, sondern inzwischen auch seinen Alltag auf Bastet III wiederspiegelte. Brag Fradd war auf ein Abstellgleis geraten und stand nun direkt vor dem Prellbock.
Diese Erkenntnis erschütterte und frustrierte ihn. Er, der er ein Leben im Namen des Imperators geführt hatte – oder sich das zumindest ab und an erfolgreich einredete – gerade er erlebte nun das Ende seiner Ambitionen. Den steten Niedergang seiner von Streben und stetem Fortschritt geleiteten Karriere.
Und er fragte sich, woran das wohl liegen mochte. Vermutlich hatte er seinem Standpunkt und seiner Aufgabe nicht genügend Gewicht verliehen. Sich von der Sorge um die Tatsache leiten und verunsichern lassen, dass er auf einer Welt wie Bastet gelandet war.
Aber damit würde in Zukunft Schluss sein. Es war Zeit, dass Brag Fradd endlich wieder daran arbeitete, sich Gehör zu verschaffen.
Es pochte dumpf an der reich verzierten Flügeltür des Büros.
»Ja?«, rief er mit energischer Stimme.
Mühevoll schob Nator die schwere, missbilligend knarrende Zutrittssperre auf.
»Sie ist hier«, sagte er knapp.
»Bitte …!«, manifestierte sich der Beginn einer Anweisung in Fradds Kehle. Es handelte sich dabei um jene Art von Laut, der entsteht, wenn ein Gedanke zu lange vom Denk- zum Sprachzentrum benötigt, sich unterwegs verläuft und verloren in den Windungen des eigenen Gehirns umherirrt, während er von den Geschehnissen außerhalb der Schädeldecke überholt wird.
Der Konsul erhob sich eilig, als die elegante Gestalt Gallia Sinwells durch die breiten Flügeltüren schritt, mehrere ihrer Akolythen und Schergen im Schlepptau. Die Aura, die sie dabei ausstrahlte, schob Nator einfach aus dem Weg.
Dass die mächtige Dienerin des Imperiums dem Lexicaten dabei, ganz beiläufig, in einer fast liebevollen Geste mit der linken Hand unterm Kinn entlang strich, was wohl in etwa einem »Danke, Schätzchen« entsprach, verwirrte und beunruhigte Fradd umso mehr. Nator übrigens auch.
Der stöhnte, keuchte eher, und musste sich gegen den Türflügel lehnen, damit seine plötzlich wacklig gewordenen Beine nicht vollends zusammenbrachen und ihm somit unnötige und ungewollte Aufmerksamkeit bescherten.
Dann zog er sich zurück, so schnell, dass einer der die Inquisitorin begleitenden Gardisten einen Ausfallschritt machen musste, damit er nicht mit der zufallenden Tür kollidierte.
Der Konsul konnte für einen Augenblick nicht anders als angewurzelt stehen zu bleiben, die sich ihm bietende Szenerie zu beobachten und dabei darüber zu sinnieren, wie er der Besucherin am besten begegnen sollte. Sein vorgefasster Plan hatte sich nämlich gerade verabschiedet und war in die hinterste Ecke des Büros geflüchtet, wo er sich die Gardine über den Kopf zog und hemmungslos wimmerte.
Selbst Cobis‘ herrschsüchtiges Wesen hätte sich willfährig vor der körperlosen Königin verneigt, die der Inquisitorin stolz vorausmarschierte und dabei alle anderen Präsenzen mit einem Wink ihrer nichtexistenten Hand im Vorübergehen zu einem Kotau zwang.
Schließlich aber fasste sich Fradd. Tatsächlich fand er sogar einen Teil seiner Zuversicht wieder.
»Hochverehrte Inquisitorin Sinwell«, glitt der imperiale Administrat auf einer Schleimspur epischen Ausmaßes an sie heran.
Die Gründe dafür waren vielfältiger Natur. Zum einen lag es daran, dass nicht nur eine schöne Frau sein Büro betreten hatte, sondern sie auch noch eine kleinere Version ihrer selbst mitbrachte, und überdies die Dekolletés der beiden Frauen um die Vorherrschaft in seinem Blickfeld rangen.
Ebenso wichtig, wenn auch für seine normalerweise eher unaufgeregte Libido nur von geringerer Bedeutung, war die Tatsache, dass es sich bei Sinwell um eine der wohl mächtigsten Vertreterinnen des imperialen Willens handelte, die Fradd jemals zu Gesicht bekommen würde.
Er hatte bereits von ihr gehört, war ihr jedoch nie begegnet, und stellte somit erst jetzt fest, wie anziehend sie war. Sie strahlte eine schwer zu definierende Sexualität aus, die ihr den Mittelpunkt einer jeden Begegnung sicherte und vermutlich ausschlaggebend dafür war, dass man ihr eine hohe Erfolgsrate bei den von ihr bearbeiteten Fällen nachsagte.
Fradd konnte das gut nachvollziehen.
Wer in ihrem Angesicht nicht Mann genug gewesen wäre, willig zu Kreuze zu kriechen, seinen eigenen Stolz und seine Macht imperialen Insignien, makelloser Haut und üppigen Dekolletés unterzuordnen, den konnte man nur als armen Tor bezeichnen – oder als mächtig genug, dass er sich ein solches Verhalten leisten konnte.
»Mein lieber Konsul Fradd«, begann sie mit jener Art von höflich distanzierter Freundschaft, die man sich als überlegene Lebensform aneignete, wenn man mit einer niederen Person interagiert, deren Loyalität man zu gewinnen sucht.
Sie hielt ihm gutheißend die behandschuhten Finger hin, wartete geduldig, bis er sie ergriffen und geküsst hatte, bevor sie fortfuhr: »Ich bin erfreut, endlich einmal Eure Bekanntschaft zu machen.«
Ihre Stimme war angenehm, sinnlich und überraschend warm. Sie floss aus dem Mund der hochgewachsenen Frau wie ein Teppich aus Samt, der ihn einlud, seine nächsten Worte in den Glanz und die Glorie ihrer Aufmerksamkeit zu tauchen.
»Es ist mir eine Ehre, Euch in meinem bescheidenen Dienstzimmer willkommen heißen zu dürfen!«, spulte er seinen Text ab. »Leider wurde mir erst gerade eben mitgeteilt, dass Ihr …«
»Vergessen wir das einfach«, schlug sie fröhlich vor. »Es ist viel eher meine Schuld gewesen. Wir hatten bereits den einen oder anderen Schriftwechsel, aber bisher war es mir nie möglich, Euch persönlich zu treffen. Wichtige Termine und Aufgaben, Ihr versteht das sicher.«
»Oh, natürlich«, nickte der Konsul.
»Da ich gerade in der Nähe war, entschied ich kurzfristig, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und meinen längst überfälligen Antrittsbesuch bei Euch nachzuholen.«
»Es ist mir eine Ehre«, wiederholte er. Ihm fiel einfach nichts Besseres ein.
Sinwell wanderte scheinbar ziellos in dem teuer eingerichteten Büro umher, betrachtete die opulenten Wandgemälde ebenso wie die reich bestickten Gardinen und die umfangreiche Bibliothek.
»Ein wirkliches schönes Büro«, merkte sie an und sah sich um. »Es passt zu einem Mann wie Euch.«
Fradd lächelte demütig. »Ihr beschämt mich, Inquisitorin.«
Sie ging nicht darauf ein. »Und diese Möbel«, fuhr sie stattdessen fort und strich über die bequemen Sessel vor dem Schreibtisch des Konsuls. »Sie sind aus einem exquisiten Material. Ist es Palmenholz?«
»Ja, richtig«, bestätigte der Vertreter des Munitoriums. »Gewonnen von Palmen direkt an den Ufern der Maat.«
»Darf ich?«, erkundigte sie sich, indem sie auf einen der breiten Sessel wies.
»Bitte!«, stimmte er eilig zu und rückte die Sitzgelegenheit zurecht, damit sie mit einer eleganten Bewegung hineinfließen konnte. »Bitte, nehmt doch Platz!«
»Vielen Dank«, lächelte sie höflich. »Ihr seid viel zu vorkommend.«
Gemäß der imperialen Etikette wartete der Konsul, bis die Inquisitorin sich platziert hatte, bevor er zu seinem Schreibtisch zurückkehrte und sich auf seinen eigenen Sessel niederließ. Dabei lüftete er unauffällig seinen Kragen. Die Bewegung bot seine Haut nur einen kurzen Moment der Erholung – aber es reichte, damit die unter seiner Kleidung gesammelte, aufgeheizte Luft mit einem fast vernehmlichen Zischen entwich. Diese thronverfluchte Hitze.
Dann schoss der Konsul schoss einen Blick zu der jungen Begleiterin Sinwells, die aufgerichtet hinter dem Platz ihrer Herrin stand und ihn mit relativ finsterer Miene betrachtete.
Er fragte sich, welchen Auftrag die gutaussehende, blonde Dame wohl hatte, denn unter den finsteren Gestalten, die sich derzeit in seinem Arbeitszimmer verteilten, stach sie hervor wie eine Nobeldame in einem Obdachlosenheim.
Sinwell bemerkt Fradds Verhalten und wandte den Kopf, bevor sie ihre Aufmerksamkeit mit einem Laut der Erkenntnis zurück auf den Vertreter des Munitoriums fokussierte.
»Ach, ich bin ein Dummerchen«, kicherte sie mädchenhaft und wies hinter sich. »Das ist Miss Biasz, eine meiner vertrauenswürdigsten Mitarbeiterinnen. Ich bilde sie zur Inquisitorin aus, damit sie irgendwann selbst im Namen des Imperators tätig wird.
»Oh«, stellte Fradd fest. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. »Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Die Freude ist auf meiner Seite«, erwiderte die Angesprochene ausdruckslos.
Die überraschend dunkle, elektrisierende Stimme der angehenden Inquisitorin peitschte durch seinen Kopf wie ein vorbeirauschendes Tremorgeschoss, sandte eiskalte Tausendfüßler über seinen Rücken und befahl seine Nackenhaare in Habachtstellung.
»Ich … ich hoffe doch, Eure Mission auf Bastet verläuft erfolgreich?«, bemühte er sich von seinem Unwohlsein abzulenken, bevor die schiere Anwesenheit der jungen Blonden hinter Sinwells Sitzplatz Gelegenheit dazu erhielt, den Schweiß auf seiner Haut gefrieren zu lassen.
»Oh, in der Tat«, bestätigte die Inquisitorin, »Ich bin äußerst zufrieden bisher.«
»Das freut mich«, quälte sich der Administrat zu sagen.
»Diese Welt ist … interessant. Sie ist … anders«, beschrieb Sinwell ihre Empfindungen. Die Worte waren vage gehalten, aber besaßen dennoch eine gewisse Aussagekraft. Tatsächlich glaube Fradd zu verstehen, was die Inquisitorin meinte, während diese genüsslich ein Bein überschlug. Ganz sicher war er sich dabei aber auch nicht wirklich.
»Und die Menschen«, fuhr die attraktive imperiale Richterin fort, eine Hand in einer eleganten Geste in die Höhe reichend. »Einfach, aber dennoch erstaunlich, findet Ihr nicht?«
Fradd merkte, wie er ganz allmählich den Faden verlor. Aus irgendeinem verweigerte sein Geist die Anstrengung, derer es bedurft hätte, um auf eine geistige Stufe mit der Frau vor ihm gehoben zu werden.
Woran genau es lag, hätte er nicht sagen können. Wahrscheinlich war es auch egal.
Aber allein die Tatsache, dass es etwas gab, das Sinwell auffiel, während es ihm verborgen zu sein schien, ließ in Fradd ein Gefühl der Unterlegenheit erwachen.
Natürlich hätte er das nie zugegeben, also antwortete er schlicht: »Oh, ja. Doch.«
»Ich frage mich, wie sich die Menschen wohl mit dem Universum außerhalb ihrer kleinen Welt arrangieren. Beispielsweise«, tippte sie sich nachdenklich mit dem Finger an die Lippe, »im Dienste der Imperialen Armee.«
Diesen Gedanken hingegen konnte der Konsul sehr wohl nachvollziehen, und ohne groß darüber nachzudenken, bemerkte er: »Vielleicht sollten Sie da Colonel Ekko fragen.«
Das zündete Sinwells Interesse. »Colonel … Ekko?«, hakte sie nach.
»Ja. Er und sein bastetisches Regiment wurden erst vor kurzem von einem Schlachtfeld auf einer nahegelegenen Schreinwelt zur Auffrischung zurück nach Bastet verlegt.«
»Wie ist Colonel Ekko so?«, wandte Biasz ein, scharf genug, damit Fradd aufsah und die Stirn runzelte.
Die plötzliche, und in diesem Fall vollkommen aus dem Kontext der Unterhaltung fallende Frage hatte einen Warnmechanismus in seinem Innersten aktiviert, der nun laute Alarmsignale in Fradds Hirn emittierte. »Hat er etwas verbrochen?«, fragte er skeptisch, von der in diesem Moment naheliegenden Frage ergriffen, ob sich die Untersuchung der Inquisitorin wohl auf den bastetischen Colonel konzentrierte.
Sinwells Begleiterin schwieg, den Blick nach wie vor starr auf Fradd gerichtet, doch ein kleines Funkeln in ihren Augen verriet, dass sie sich der Tragweite der soeben getätigten Aussage bewusst wurde.
Zumindest ein geübter Beobachter hätte diese Erkenntnis gewonnen. Fradd hingegen notierte es nur kurz, bevor seine Aufmerksamkeit all ihre Konzentration bei dem Versuch verwandte, eine Reaktion in der Miene der Inquisitorin festzustellen. Wirklich erfolgreich war er damit aber nicht.
Anders als der Konsul schaffte es Sinwell nämlich, ihre Überraschung über den plötzlichen Einwurf weitestgehend zu verschleiern. »Nein«, meinte sie ehrlich betroffen und warf einen strafenden Blick zu ihrer Begleiterin. »Miss Biaz besitzt eine ausgeprägte Vorliebe für starke Männer. Und wann immer sie von namhaften Offizieren oder Kommissaren hört, möchte sie möglichst viel über sie erfahren. Eine Eigenart, die ich ihr bisher noch nicht austreiben konnte.«
Ein weiterer, dieses Mal mäßigender, Blick in Richtung der Interrogatin folgte, bevor die imperiale Richterin ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Administraten lenkte. »Was ist mit Colonel Ekko?«, fuhr sie fort. »Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?«
»Nein. Nicht wirklich«, winkte Fradd eilig ab. »Er ist wie alle Basteter. Ein Unruhestifter. Ein Knallfrosch.«
»Na ja«, meinte sie schulterzuckend. »Es liegt es in der Natur der Sache, dass Knallfrösche den meisten Lärm machen.« Eine kurze, wohldosierte Pause folgte. »Und damit schrecken sie meiner Erfahrung nach immer genau die richtigen Leute auf.«
Der Konsul runzelte die Stirn in Vorbereitung einer Gegenbemerkung, die vermutlich deutlich mehr über ihn als über Colonel Ekko ausgesagt hätte, aber erhielt keine Gelegenheit mehr, dem Gedanken Form zu verleihen. Glücklicherweise.
Die breite Flügeltür schwang auf, entließ einen verzweifelten Schwall Worte in den Raum.
»Nein, Sie, können jetzt nicht mit dem Konsul sprechen!«, ereiferte sich Nator, der abermals lediglich zur Seite geschoben wurde, dieses Mal allerdings von einer ihm altbekannten Präsenz.
Die Aura von Konfessor Cobis stürmte in den Raum, so als wollte sie den dort residierenden Konsul am Kragen packen und ihn sturmreif prügeln, doch als sie bemerkte, dass bereits andere, weitaus stärkere Gäste im Amtszimmer weilten, murmelte sie eine Entschuldigung, zog den Kopf ein und verschwand wortlos aus dem Büro. Eine kluge Entscheidung. Die HE-Lasergewehre der Inquisitionsgardisten hatten sich bereits zu ihr umgedreht.
Der eintretende ekklesiarchische Vertreter sah ihr verwundert nach. »Fradd«, begann er fordernd, blickte auf und hielt in der Bewegung inne. Einer von Sinwells Leibwächtern stand direkt vor ihm, die Laserpistole auf die reich verzierte Brust seines Gewands gerichtet.
Eilig wich Cobis zurück und nahm die Hände hoch. »Oh … ich wusste nicht, dass ihr bereits Besuch habt.«
»Prohibe!«, peitschte die Stimme der Inquisitorin durch den Raum, bevor sie entschuldigend lächelte und sich so elegant aus dem Sessel erhob, dass selbst eine professionelle Balletttänzerin vor Neid rot geworden wäre.
Mit langen, vornehmen Schritten marschierte sie zu den beiden Kontrahenten an der Tür, legte die Hand auf die Laserpistole des Gardisten und drückte sie sanft herunter. »Danke, das ist nicht nötig«, sagte sie bestimmt bevor sie sich dem Konfessor zuwandte. »Heute sind alle so aufgeregt. Das muss an meinem Parfüm liegen«, begrüßte sie den ekklesiarchischen Vertreter mit derselben Höflichkeit, mit der sie zuvor Fradd begegnet war. »Ehrenwerter Konfessor Cobis. Ich freue mich, Euch endlich kennenlernen zu dürfen.«
»Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden, fürchte ich«, gestand der hochgewachsene Mann, von der ihn umgebenden Szenerie schier überwältigt. Leichtes Unwohlsein rötete seine Wangen. Vielleicht war es auch der herrliche Anblick, der sich ihm bot.
»Das macht nichts«, meinte sie fröhlich und hielt ihm die Hand hin. »Sinwell. Gallia Sinwell. Ordo Hereticus.«
Für einen Augenblick erblasste Cobis‘ Contenance, fiel in Ohnmacht, fächelte sich dann selbst Luft zu, entschuldigte sich und stand wieder auf. »Ich … verstehe«, antwortete er und lächelte nervös, als er sich schließlich dazu überwand, den Gruß zu erwidern, ihre Hand zu küssen und sie zurück zu ihrem Sitzplatz zu führen. »Meinen Namen kennt Ihr ja bereits, Mylady.«
Sie kicherte. »Richtig. Bitte: setzt Euch doch zu uns.«
»Vielen Dank«, erwiderte der Gesandte der imperialen Kirche und blickte unsicher zu Fradd, dem aber auch nicht viel mehr einzufallen schien als ein ratloser Blick.
Sinwell achtete nicht darauf. »Es schien, als hättet Ihr wichtige Dinge mit dem Konsul zu besprechen?«, bemerkte sie, auf Cobis‘ Auftritt anspielend. »Ich hoffe doch, ich bringe hier keine Pläne durcheinander?«
»Oh, keineswegs!«, winkte der imperiale Oberprediger ab. »Wie könnte eine derart charmante Gesellschaft stören?«
Eine theoretische Frage, die Sinwell mit einem durchdringenden Blick beantwortete.
Ein wenig unsicher sprach Cobis weiter: »Das Saatfest steht unmittelbar bevor, und da wir vor kurzem Hinweise auf mögliche Angriffe rebellischer Gruppierungen erhalten haben, wollte ich dem Konsul über weitere Sicherheitsmaßnahmen sprechen«, erklärte er.
»Ah«, begriff die Inquisitorin und nickte. »Gibt es hier in der Gegend öfter Rebellenaktivitäten?«
»Nein«, wandte Fradd ein. »Meistens geschehen Angriffe weiter oben im Jareth-Bezirk in den Bergen. Die PVS bekämpft diese subversiven Elemente bereits seit Jahren, aber man bekommt sie nicht wirklich in den Griff.«
»Klingt nach einer ernsten Angelegenheit«, stellte Sinwell nach einigen Augenblicken des Nachdenkens fest. »Aber fällt das nicht eher in die Jurisdiktion der planetaren Verwaltung?«
»Die planetare Verwaltung ist unfähig!«, erboste sich Cobis und rümpfte die Nase. Die Geste, die er dabei machte, kam so plötzlich, dass mehrere Gardisten zu ihren Waffen griffen.
Glücklicherweise blieben diese Bewegungen weitestgehend unbeachtet. Lediglich Fradd riss erschrocken die Augen auf und konnte gerade noch ein keuchendes Ausatmen unterdrücken.
Derweil regte sich der Konfessor weiter auf: »Sie ist so von Inkompetenz durchsetzt, dass man es nicht einmal merken würde, wenn diese abartigen Häretiker aus den Bergen die Macht übernehmen würden.«
»M-hm?«, bekundete Sinwell ihr weiteres Interesse, bevor sie sich an ihre Begleiterin wandte. »Evi, lässt du uns für einen Moment allein?«
»Wie ihr wünscht«, verneigte sich die blonde Interrogatorin, bevor sie ihren Platz aufgab und sich zum Konsul gesellte.
Schon kurze Zeit später waren der Konfessor und die Inquisitorin in ein ernstes und detailliertes Gespräch vertieft, dessen Inhalt genügend ekklesiarchische Fachbegriffe beinhaltete, dass zumindest Fradd ihnen nicht mehr folgen konnte.
Biasz schien damit deutlich weniger Probleme zu haben, was allerdings, vermutlich, auch genau der Grund dafür war, dass Sinwell ihre Akolythin fortgeschickt hatte
»Verzeiht, Ehrenwerter Konsul«, wandte sich die Interrogatorin nach einigem Zögern an den Administraten des Munitoriums, was nach ihren vorherigen Ausbruch eher zaghaft anmutete, »dürfte ich Euch etwas fragen?«
»Natürlich, mein Kind«, richtete der Mann hinter dem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit auf die deutlich jüngere Frau. Wieder fiel ihm auf, wie attraktiv sie war.
»Habt Ihr schon einmal etwas von der ‚Konföderation des Lichts‘ gehört?«
Fradd schien das nichts zu sagen, aber Biasz hätte schwören können, dass Cobis‘ Ohren sich regelrecht aufstellten, und von da an – bis zum Ende des Besuchs – jede ihrer Lippenbewegungen aufmerksam verfolgten.

***

Der Motor der Inquisitionslimousine keuchte in der heißen Nachmittagsluft, als der Fahrer das Gefährt über den flirrenden Asphalt der von hohen Sanddünen flankierten Schnellstraße quälte.
Sie fuhren in einer Kolonne von fünf Fahrzeugen: Zwei begleitende Sturmfahrzeuge der Inquisitionsgarde, insgesamt besetzt mit acht Gardisten sowie zwei Stabsfahrzeuge, eines mit Sinwell und Biaz an Bord, das andere deutlich dichter bepackt mit dem Rest des mitgekommenen Gefolges.
Kein Wunder also, dass die flirrenden Trugbilder auf dem Wüstenboden einen Platz in Sinwells persönlichem Transportfahrzeug zu ergattern versuchten.
Noch hielten eine leistungsstarke Klimaanlage und geschlossene Fenster sie auf. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn es diese Barrieren nicht gegeben hätte.
Für Evi Biasz bedeuteten diese Sorgen jedoch nichts im Vergleich zu dem, was auf ihrem Herzen lastete.
Durch eine dumme, unbedachte Bemerkung, die ihr im Angesicht ihrer vorherigen Erlebnisse nur natürlich erschienen war, hatte sie um ein Haar den Auftrag ihrer Herrin – und damit auch ihren eigenen – torpediert.
»Verzeiht, Mylady«, gestand die Interrogatorin ihren Fehler ein. »Ich habe einen unverzeihlichen Fehler begangen. Das war sehr dumm von mir.«
Die Inquisitorin ließ ein leises Seufzen erklingen. »Ja, in der Tat. Das war es«, stimmte sie zu. »Aber das Schlimmste daran ist, dass Fradd es gemerkt hat. Du musst einfach lernen, dich zu beherrschen.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte die andere niedergeschlagen.
»Das ist bereits das zweite Mal, dass du in dieser Sache überreagierst«, fuhr Sinwell tadelnd fort. »Ich kenne dich so gar nicht.«
Ihr Gegenüber schwieg betreten, also schloss sie: »Wenn ich es nicht besser wüsste, dann käme ich auf den Gedanken, du wolltest unsere Sache sabotieren.«
»Keineswegs!«, warf Biasz eilig ein und erbleichte. »Mylady! Wie könnt ihr so etwas von mir denken?« Es klang fast, als wenn sie gleich darauf in Tränen ausbrechen würde.
Die dahinter stehende Sorge war durchaus nicht unbegründet.
Den Dienst im Namen des Imperators konnte man getrost als schwer und undankbar bezeichnen. Überall lauerte der omnipräsente Fleischwolf des alltäglichen Kampfes ums Dasein, die lähmende Furcht vor einem schrecklichen, menschenverachtenden Gegner, der jedem Bewohner imperialer Welten allzu bekannt war.
Dass es sich bei diesem Feind nicht einmal um die physischen Feinde des Imperiums handelte, sondern im Grunde um die eigene Schuld, die Dekadenz und den schleichenden sittlichen Verfall einst menschlicher Ideale im Angesicht des Imperators, das verstanden nur wenige.
Wie sollte man auch begreifen, was einen blind machte gegenüber der Wahrheit? Was einen verführte und so gierig verschlag wie der unersättliche Hunger der Dämonen die Seelen ihrer Anhänger?
Die Inquisition zumindest wagte zu behaupten, die Fehler der Menschheit erkannt zu haben und sich ihnen mit all ihrer Macht entgegenstellen zu können.
Dafür benötigte sie zwei Eigenschaften: einen starken, ja, fast fanatisch anmutenden Glauben an den Imperator, der den ganz allmählich zerfallenden Prinzipien des imperialen Wesens auch in dunkelster Stunde ein Leuchtfeuer sein würde und – viel wichtiger – die unerbittlichen Vollstrecker Seines Willens, eben jene Leute, die mit klarem Kopf und wachem Auge durch das Imperium wanderten und bereinigten, was Unrein geworden war.
Doch das kam zu einem hohen Preis.
Der Dienst in der Inquisition war tödlich. Wer in die Fänge der mächtigen Organisation geriet, der fand sich schon bald in einem grausamen Spiel wieder, in dem um Macht, Vorrecht und Deutungshoheit gepokert wurde.
Ein Menschenleben zählte dabei nichts, und wenn man gedachte, einen eigenen Einsatz im Spiel zu wagen, dann musste man recht schnell begreifen, dass es sich bei den Tätigkeiten der Inquisition nicht um ein Spiel, sondern grausame Realität handelte.
Nur die geistig stärksten Individuen der imperialen Administratien erwiesen sich als fit für Dienst in der imperialen Untersuchungsbehörde. Für alle anderen endete der Versuch zumeist … unerfreulich.
»Dann sprich«, befahl Sinwell ihrer Untergebenen. »Ich gebe dir eine Chance, dich zu erklären. Du solltest sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.«
In Biasz‘ Augen glitzerte noch immer feuchter Schimmer, als sie begann langsam, fast zögerlich, zu sprechen: »Ich glaubte, ich hätte es verstanden, aber dem war nicht so. Unsere Reise nach Bastet. Unser Auftrag. Es lag alles klar vor mir. Ich hatte keine Zweifel. Aber jetzt? Die Art, wie wir uns der ganzen Angelegenheit nähern … wie wir uns unserem Ziel nähern … Was ich auch tue: es ist falsch. Mir erschließt sich all das nicht.«
Sinwell lehnte sich in ihre Sitzbank zurück. Das Leder knirschte. »Und du fragst dich: warum?«, sprach sie die Frage ihrer Begleiterin aus.
Die nickte lediglich »Um der Wahrheit die Ehre zu geben: ja.«
»Nun, gut«, sagte Sinwell nach einer Weile: »Du kennst den Grund unseres Hierseins?«
»Natürlich, Mylady!«, warf Biasz ein. »Die Hinweise auf anti-imperiales Verhalten in der planetaren Regierung Bastets.«
»Richtig. Informationen der Inquisition zufolge ist die Regierung dieser Welt schwach. Sie wird von unfähigen Beratern getragen und hat so längst den Rückhalt verloren – sowohl bei ihrer Bevölkerung als auch in den oberen Schichten der Sektorverwaltung. Der Gouverneur befehligt nicht mehr als eine Welt aus heißer Luft und Wüste.« Die Inquisitorin wies aus dem Fenster. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Und obwohl Bastet seine spärlichen Zehntregimenter und sein geringes Wirtschaftswachstum dem Wohl des Imperiums zur Verfügung stellt, ist es innerhalb der Administration längst offenbar geworden, dass wir dabei sind, die Welt zu verlieren.« Die imperiale Richterin blickte aus dem Fenster des Fahrzeugs, starrte auf trostlose Dünen und dünne, transparente Wände aus bläulich flimmerndem Licht; energetische Schutzwälle, die die Schnellstraße sandfrei hielten.
»Eine schwache Regierung begünstigt die Zunahme von Kriminalität und Rebellion. Beide Erscheinungen bieten frustrierten Regierungsmitgliedern und Bewohnern dieser Welt Betätigungsfelder, in denen sie ihren Machteinfluss erweitern und ihre persönlichen Vorhaben in die Tat umsetzen können.« Sie vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Natürlich ist das dem Bestehen einer stabilen planetaren Ordnung nicht gerade zuträglich, und wird den Zerfall der Regierung nur beschleunigen.«
Wieder verging ein Moment, den Sinwell dazu nutzte, ihre Gedanken zu ordnen. »Aufgrund kürzlicher Entwicklungen im umliegenden Sektorraum gehen wir …« – damit meinte sie die Inquisition – »…davon aus, dass sich eine Sekte mit Namen »Konföderation des Lichts« dieses Chaos zunutze machen will, um einer uns bisher unbekannten Doktrin Vorschub zu leisten.«
»Ja«, gab Biasz zurück: »Das habe ich alles verstanden. Aber … welche Rolle spielt Colonel Ekko? Weshalb ist gerade er so wichtig?«
»Wir wissen, dass sich die Sekte bei ihren Tätigkeiten auf planetare Persönlichkeiten stützt, die ihr als Mitläufer einen gewissen Symbolstatus innerhalb der Bevölkerung verschaffen können. Auf Bastet gibt es derzeit nicht viele diese Menschen.«
»Aber Mylady!«, wandte die Interrogatorin zweifelnd ein. »Niemand hier weiß, dass er ein Kriegsheld ist. Selbst wir wüssten es nicht, wenn uns die Berichte nicht über die Psionik-Kanäle der Inquisition bekannt geworden wären. Zudem ist er nicht der große Mann, den man uns zu präsentieren versucht.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich habe es gesehen. Seine Gedankenwelt ist nicht mehr als eine Ansammlung zerklüfteter Wüsten.«
Die Inquisitorin lächelte düster. »Das ist es also, was du über ihn denkst?«, fragte sie rhetorisch. »Diesen Eindruck hast du gewonnen?«
Biasz senkte betreten den Kopf, beschämt von den Worten ihrer Herrin. Eine Weile lang herrschte Schweigen zwischen den beiden Frau, blickte sich nervös um, suchte nach Anzeichen für einen bevorstehenden Kampf, indem beide versuchen würden, der anderen die Luft in der Korsage abzuschnüren.
Doch nichts dergleichen geschah.
Stattdessen gab Sinwell schließlich zurück: »Zudem … ich habe nie behauptet, dass Colonel Ekko der Mann ist, den wir suchen.«
»Aber!«, begann ihre Gesprächspartnerin, wurde jedoch von einem Wink der Hand gestoppt.
»Ohne Frage: Colonel Ekko spielt eine Rolle in all dem hier. Der Grund für sein Auftauchen war sicherlich nicht zufällig. Sein Bericht über die Schlacht von Agos Virgil liest sich viel zu abenteuerlich, als dass er wirklich wahr sein könnte, und unsere bisherigen Zusammentreffen mit ihm haben in mir den Eindruck geweckt, dass er ein Idiot ist, aber kein dummer Mann. Was wir uns nun fragen müssen ist: Was weiß er? Wie viel weiß er? Auf welcher Seite steht er? Sollte er wirklich nur durch Zufall in all das geraten sein, müssen wir uns ferner fragen: für welche Seite würde er sich wohl entscheiden? Und was können wir dann von ihm erwarten? Ein kampferprobter Offizier mit einer gut gedrillten Einheit stellt je nach Lage eine wertvolle Unterstützung oder einen ernstzunehmenden Gegner dar.«
»Und das habt ihr versucht herauszufinden?«, hakte Biasz nach.
Sinwell nickte. »Ja. Deswegen habe ich damals meinen geplanten Besuch bei Fradd abgesagt. Mir war wichtiger, den Colonel zu erreichen, bevor er die Möglichkeit hatte, sich mit der Lage vor Ort vertraut zu machen.«
»Und ist es Euch gelungen?«
Die Inquisitorin hob ahnungsvoll die Schultern. »Wer weiß das schon? In dem Mann zu lesen ist schwerer als sicher durch den Warp zu navigieren.«
»Und ich habe all das ruiniert«, schalt Biasz sich selbst. »Ich bin wirklich manchmal ein dummes Kind.«
»Ja, das will ich gar nicht bestreiten«, stimmte ihre Herrin zu. »Aber vielleicht war das in dem Moment gar nicht so schlecht.«
Die Verwirrung im Antlitz der Interrogatorin gewann an Form. »Wie meint ihr das?«
»Was ich im Gespräch mit Cobis herausgefunden habe, deutet daraufhin, dass auch er ein Interesse an Ekko hat. Zumindest an seinem Regiment. Und Fradd? Fradd scheint er Kopfzerbrechen zu bereiten. Wenn er eine ähnliche Wirkung auf den Rest der Regierung entfaltet, dann kann uns das im Zweifelsfall nur dienlich sein. Erinnerst du dich an das, was er zu mir gesagt hat, nachdem du und Defay bei ihm eingefallen seid?« Sinwell lächelte finster. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir ihm seinen Wunsch erfüllen.« Dann atmete sie ein, so als gedachte sie, eine Entscheidung zu treffen, die sie nur wenig später sicherlich bereute. »Ich denke, es wird Zeit, dass du dich Colonel Ekko‘s annimmst. Fühle ihm auf den Zahn. Sei respektvoll«, schärfte sie der kleineren Frau ein. »Halte dich dicht an ihn, aber provoziere ihn nicht. Ich weiß noch nicht, ob er Feind oder Freund ist, und ich habe nicht vor, jemanden in die Arme unserer Feinde zu treiben, solange es nicht nötig ist. Morgen beginnt das Saatfest. Ich denke, das wäre der richtige Zeitpunkt, damit ich euch beide einander vorstelle.«
»Ja«, stimmte Biasz zu, von der plötzlichen Wendung des Gesprächs regelrecht betäubt. Sie fühlte sich wie ein Mädchen, das gerade ihre eigene, kleine Puppe bekommen hatte, und sich schon ausmalte, wie es wohl wäre, mit ihr zu spielen.
Daher lösten sich die folgenden Worte auch nur sehr undeutlich aus ihrem Mund: »Konsul Fradd hat mir empfohlen, mir das Fest anzusehen. Er sagte, dieses Jahr gäbe es dort etwas Besonderes zu bewundern.«
»Oh, dessen bin ich mir sicher«, sagte Sinwell dennoch.
Sie sollte Recht behalten.
 

Damaskus213

Erwählter
22 Januar 2016
508
31
8.086
Ohh es wird spannend.

Ich frage mich was auf dem Fest passiert und wie Ekko das durchsteht :)
Witzig wäre auch, wenn doch nochmal die Sile auftaucht und sich mit der Inquisitorin in die Haare bekommt.
Er gehört mir! Nein mir! Und Ekko einfach die Welt nicht mehr versteht und sich eine Vendetta zum flüchten organisiert :p
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
432
1
7.761
www.fanfiktion.de
Tötet Sinwell!

Und dein Wunsch wurde erhört!


Und das mit kommt das neue Kapitel!
Wie immer vielen Dank an Nakago für’s Beta-Lesen und euch … viel Spaß beim Lesen!

13

Cassius betrachtete die vor ihm angetretenen Männer und brummte zufrieden.
Ihre Tarnung war perfekt.
Na ja, perfekt war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Kleidung und Ausrüstung waren eine Sache. Verhalten und Disziplin eine andere. Wie sollte man zwölf Totschlägern aus der Unterwelt Bastets die Grundzüge soldatischen Benehmens beibringen? Vor allem in einem Zeitraum weniger Tage? In den Drillzentren der Imperialen Armee dauerte so etwas Monate – und dort verwendete man ganz andere Motivationsmethoden als die, mit denen er Vorlieb nehmen musste.
Aber in Anbetracht der kurzen Vorbereitungszeit war ihnen ein kleines Meisterstück geglückt.
Nun standen sie hier, einige hundert Meter von der offiziellen Route des Festumzugs entfernt zwischen den zerklüfteten Klippen am Ufer der Maat, und bereiten sich auf das baldige Ende eines friedlichen und ekstatischen Fests vor.
»Also, kommt zusammen«, rief er die zwölf täuschend echt aussehenden PVS-Männer zu sich, schwor sie noch einmal auf das Unternehmen ein. In der Ferne hörte man Leute jubeln.
»Hat es eine Änderung gegeben?«, fragte einer der Männer.
»Ja«, nickte ihr Anführer. »Der Plan bleibt grundsätzlich derselbe: Wir gehen rein, töten unser Ziel, richten so viel Schaden an wie möglich und verschwinden dann wieder.« Er blickte jeden von ihnen an.
»Und wo genau ist die Änderung?«
»Unser Ziel ist nicht mehr der Gouverneur.«
Das versetzte seine Begleiter in Erstaunen, und Cassius wusste, dass die nächsten Worte dieses Erstaunen in Entsetzen wandeln würden. »Unser neues Hauptziel ist Inquisitorin Galia Sinwell.«
Wie erwartet sogen die anderen scharf Luft ein. Einer stieß sogar einen unterdrückten Schrei aus.
»Und was ist dein Problem?«
»Das war nicht Teil der Abmachung«, gab der Mann zu verstehen, ein dunkelhäutiger, von Narben entstellter Kerl namens Zwebe. »Den Gouverneur töten ist eine Sache.« Er schüttelte den Kopf. »Aber einen Angriff auf eine Inquisitorin …« Seine Stimme verebbte.
»Es ist ein bisschen spät für Zweifel, denkst du nicht, du Idiot?«, warf ihm ein anderer entgegen. Kurz darauf waren die beiden in einen handfesten Streit verwickelt.
»Du nennst mich Idiot?«
»Ich würde dir den Hals aufschlitzen, wenn ich könnte, du scheiß Kaffer!«
»Ich bring‘ dich um!«
»Und ich stech‘ dich ab!«
Dann gingen sie aufeinander los.
Die anderen Männer wichen eilig zurück. Sie waren zwar alle harte Kerle, aber keiner von ihnen verspürte den Willen, in eine beginnende Auseinandersetzung zu geraten, die im Verlust eines Fingers, einer Hand oder dem eigenen Leben enden konnte.
»Ey!«, bellte Cassius und zog seine Pistole. Es war eine Automatikwaffe, keine der Laserpistolen, wie sie in den Reihen der imperialen Armee Verwendung fanden. Ohne Zweifel hätte er eine derartige Waffe bevorzugt. Laserwaffen waren solide und funktioniert zumeist fehlerfrei, sie hatten kaum Ladehemmungen und trafen ihr Ziel mit chirurgischer Präzision. Außerdem generierten sie keine Querschläger.
Allerdings besaßen Projektilwaffen dem Laser gegenüber in diesem Fall einen unbestreitbaren Vorteil: Sie verursachten Schäden. Wer mit einem Laser auf einen Menschen schoss, der tötete ihn direkt oder ließ den Überlebenden mit lokalen Beschädigungen zurück. Eine Automatikwaffe hingegen war in der Lage, Gliedmaßen abzureißen oder zu zerschmettern, und somit einen dauerhaften Eindruck zu hinterlassen.
Gewiss keine gute Waffe aus zivilisierteren Tagen des Imperiums, aber dennoch ausreichend für ihren Auftrag. Und da die Planetaren Verteidigungsstreitkräfte von Bastet eine große Anzahl an Automatikgewehren besaßen, fielen sie zwischen den Waffen der anderen Soldaten auch nicht auf.
Natürlich bedeutete der Einsatz einer Projektilwaffe eine gewisse Einbuße an Feuerkraft und Effektivität, aber das war ein Risiko, das er eingehen würde. Mit Geschossen kannte er sich aus. Er hatte sie mehr als oft genug eingesetzt.
Das einzige Problem würde sein, dass getroffene Körper spritzten, also die kinetische Energie eines Projektils Körperflüssigkeiten in alle Richtungen verteilte.
Nicht, dass es ihn gestört hätte. Nein. Beileibe nicht! Er interessierte sich nicht einen Deut für die Leiden eines anderen Menschen.
Aber aus bitterer Erfahrung wusste er, dass man sich durch das Abfeuern der Waffe und die Besudelung mit den Körperflüssigkeiten des Gegenübers im Zweifelsfall unter Umständen selbst verriet und überführte.
Glücklicherweise würde das vorerst nicht notwendig werden. In dem Moment, da er die Waffe durchlud, hielten die Kontrahenten inne.
»Ich könnte euch beide jetzt abknallen«, erklärte er, »aber dann würden mir zwei Leute fehlen. Und aktuell brauchen wir jeden Mann.«
Das stimmte sogar. Der Grund dafür war einfach – und wenn seine Kumpanen über nur ein wenig Grips verfügten, würden sie es selbst begreifen – die Chance, aus ihrem Vorhaben lebend herauszukommen, maß sich als sehr gering aus. Arbites, PVS, vielleicht sogar Gardisten… all das waren Faktoren, die wider dem Überleben standen. Selbst, wenn man diese Barrieren überwand, dann stand man immer noch Sinwell selbst gegenüber. Und von einer Inquisitorin hieß es, dass sie durchaus in der Lage war, sich gegen einen Angreifer zur Wehr zu setzen.
Ja. Cassius benötigte im Augenblick jeden Mann. Aber er hatte nicht vor, sie alle mit zurückzunehmen.
Die Streithähne trennten sich.
Cassius musterte sie abschätzig, dann halfterte er die Waffe und zog ein Datenpad aus der an seinem Gürtel befestigten Kartentasche. Es dauerte einen kleinen Moment, den das klobige, aus gebürstetem Stahl bestehende Gerät benötigte um zu begreifen, dass es gerade gebraucht wurde und sich unter Zuhilfenahme von Cassius‘ Daumen aktivierte.
Schon bald wechselte das mit verblichenen Reinheitssiegeln versehene Anzeigegerät den Betrachter, präsentierte den Anwesenden ein altes, körniges Bildnis von Galia Sinwell, ein Archivfoto aus den Tiefen eines Bibliothekscomputers der Inquisition.
»Kommen wir dann überhaupt an die Bühne heran?«, wollte einer der Attentäter wissen.
»Ja. Sie reist allein, nur mit einem oder zwei ihrer Leibwächter und ein paar Getreuen. So zumindest hat es mir mein Beobachter gemeldet.«
»Was ist mit den Gerüchten, dass nicht die PVS und die Arbites die Tribüne bewachen, sondern die Imperiale Armee?«, erkundigte sich einer der anderen Männer düster.
Sie nickten.
»Ich habe bisher keine Bestätigung dafür bekommen können«, musste Cassius gestehen. »Aber selbst wenn: die Imperiale Armee besteht auch nur aus Soldaten. Und da sie Bastet fremd sind, werden sie uns gegenüber im Nachteil sein.«
»Ändern wir unser Vorgehen?«
»Nein«, entschied Cassius. »Zwebe wird drei Männer nehmen und sich bei der Brücke platzieren. Sobald die Schießerei losgeht, werden sie dort zum Angriff übergehen. Ich denke, zumindest das solltest du hinkriegen, oder?«, schoss er in Richtung des dunkelhäutigen Attentäters.
»Ich will mich nicht mit der Inquisition anlegen. Aber Leute töten, das kann ich«, grunzte der Angesprochene unwillig.
»Wir anderen werden uns auf und um die Tribüne herum platzieren«, fuhr der Anführer fort. »Damit ist sichergestellt, dass wir die Inquisitorin aus allen Winkeln her unter Feuer nehmen können.« Er atmete tief durch, blickte jedem von ihnen noch einmal in die Augen. »Egal, was passiert: tötet Sinwell!«, beschwor er sie.
Die Männer nickten nervös. Keiner von Ihnen hatte mit einer derartigen Entwicklung gerechnet, aber aus wollte auch keiner mehr aussteigen – und sei es auch nur aus der Furcht, Cassius könnte ihnen doch noch in den Rücken schießen.
»Gut«, meinte der selbsternannte Sergeant. »Bestehen sonst noch Fragen?«
Er erhielt keine Antwort.
»Das ist auch besser so.«
Kurze Zeit später trennten sich die Männer und sickerten zwischen die versammelten Zuschauer, um schließlich die Absperrungen zu übertreten und ihre Positionen einzunehmen.
Dieses Saatfest würde ein besonderes Erlebnis für alle Beteiligten werden.

***

Es gibt eine Reihe von großen, jährlich abgehaltenen, Festen auf Bastet.
Die meisten dieser Feste gehen mit Weihen, Danksagungen und besonderen Jahrestagen einher.
Ein Beispiel dafür ist die Priesterschau. Dieses Feierlichkeit, die meist vor Beginn der Regenzeit abgehalten wird – und aufgrund der darauffolgenden Wettereignisse regelmäßig in das Pluvialis, das Regenfest, übergeht – erhält seinen Charme dadurch, dass die Priesterschaft der bastetischen Ekklesiarchie und umliegender Sektoren in verschiedenen Spielen gegeneinander antreten, um die Gunst der planetaren Bevölkerung, der Heiligen Bastet und des Imperators zu gewinnen, was – der Mythologie zufolge – der Grund dafür ist, dass sich der Planet auch im nächsten Zyklus noch dreht und nicht einfach beleidigt stehenbleibt.
Zumeist bilden sich während der Priesterschauen, die irgendwo zwischen lustig absurd und grausam blutig rangiert, ganze Fanblöcke um die Teams lokaler Städte, Dörfer und Gemeinden, in denen die Bevölkerung selbst aufs Feld zieht, um den von ihnen bejubelten Geistlichen zur Seite zu stehen.
Der wohl berühmteste Teilnehmer der mannigfaltigen Wettkämpfe war Konfessor Absa, der es trotz seines hohen kirchlichen Ranges – welcher ihn eigentlich von den Spielen ausnahm – nie versäumte, regelmäßig an den Wettkämpfen teilzunehmen, ebenso regelmäßig zu gewinnen und damit ein hohes Ansehen zu erhalten. Bis zu jenem Tag, an dem er, auf einem Karika reitend, von einer Klippe stürzte. Eine ärgerliche Angelegenheit, die damals zu betretenem Schweigen und einem kilometerlangen Trauermarsch führte, der aufgrund der sich ändernden Wettersituation dann in das Regenfest überging. Das wiederrum wurde in Teilen der Ekklesiarchie missverstanden und als Beleidigung aufgefasst, woraufhin man eine ganze Kampfabteilung des Adeptus Sororitas auf Bastet stationierte, die regelmäßig an die Kollektetermine erinnerte.
Wie sich der geneigte Betrachter denken kann, ist all das lang, lang her, und die Priesterschauen sind seitdem etwas friedlicher geworden, wenn auch nicht minder spannend und aufregend.
Aber all das tritt natürlich in den Hintergrund gegenüber dem magischen Erlebnis, Zeuge der großartigen, bunten Welt zu werden, in die das Saatfest den Planeten Bastet III Jahr um Jahr verwandelt.
Wie der Großteil der Festivitäten auf Bastet ist auch diese offiziell als Festus Sementis bezeichnete Zusammenkunft geselliger Art aus den Ritualen der frühen Besiedlungstage entstanden. Jenen Zeiten, als die Bevölkerung des Planeten noch etwas stärker vom Segen des Imperators abhängig war.
Ähnlich wie beim Regenfest feierte man den Beginn eines neuen Tertials und die gleichzeitige Aussaat, die das Überleben der Planetenbewohner für ein weiteres Jahr sichern würde.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich daraus eine lange Prozession, die den Weg des gefallenen Wassers aus den Bergen, entlang der Verläufe von Maat und Freon bis an die Mündungen der wenigen Meere Bastets nachzeichnete.
Während dieser Zeit ruhten die meisten Aktivitäten, und das planetare Bild wurde von riesigen Umzügen geprägt; gewaltigen Schlangen aus Musikern, Tänzern, Menschen und Kreaturen, die sich allesamt einer ekstatischen Reise hingaben.
Es war bereits Jahre her, dass Ekko das letzte Mal in den Bann des Saatfests geraten war, doch in dem Moment, da er die Bühne am Rande der Umzugsstrecke betrat, die in ihrer Nähe befindliche, reich geschmückte Brücke entdeckte und die entlang des Weges feiernden Menschen sah, spürte er erneut das seltsame Gefühl innerer Zufriedenheit in sich, das er zuvor so oft empfunden hatte.
Nun saß er, auf eigenen Wunsch etwas abseits der restlichen privilegierten Persönlichkeiten des bastetischen Lebens, am äußersten Rand der sechsten Ebene der großen Tribüne und genoß so einen großartigen Ausblick auf die Strecke, die der Festtagsumzug bald erreichen würde.
Hinter ihm, einigermaßen im Schatten des großen Sonnensegels verborgen, hatte Sergeant Krood Aufstellung genommen – wie für einen Kasrkin gehörig in voller Rüstung. Gireth, Ekkos Funker, saß neben seinem Colonel auf der Treppe, den sperrigen Funktornister auf dem Rücken.
Am anderen Ende der Tribüne, gegenüber von Krood, hatte sich ein einzelner Soldat der Planetaren Verteidigungsstreitkräfte von Bastet positioniert und starrte angestrengt auf die Strecke. Der Colonel betrachtete den Mann schon eine ganze Weile lang. Irgendetwas an dem Infanteristen kam ihm seltsam vor, aber was genau, das konnte er auch nicht wirklich sagen. Er erhielt auch keine Gelegenheit, den Mann einer noch genaueren Musterung zu unterziehen.
»Ah, Colonel Ekko!«, begrüßte ihn eine bereits sehr bekannte, aber ebenso unbeliebte Stimme.
Brag Fradd, den Leib in feinste Gewänder gehüllt, eilte auf ihn zu, nur um ihm überschwänglich die Hand zu schütteln. »Schön, dass Sie es einrichten konnten.«
»Hätte ich denn eine Wahl gehabt?«, erwiderte der Colonel mit derselben falschen Freundlichkeit, mit der er begrüßt worden war, bevor sich sein Blick auf die Begleiter des Konsuln richtete, die hochgewachsene Gestalt von Takhat Minnefer, dem planetaren Gouverneur und …
»Was machen Sie denn hier?«
Galia Sinwell und Evi Biasz, beide so überlebensgroß und herrlich anzusehen wie künstlerische Darstellungen der Zwillingsschwestern am Himmel Bastets, schwebten die Tribüne empor. Zumindest erweckten die um ihre Körper fließenden Roben diesen Eindruck.
»Colonel Ekko«, gab Sinwell mit höflich-distanzierter Miene zurück.
Evi Biasz hingegen bedachte ihn mit einem Blick, der ihn an ein paarungsbereites Eichhörnchen denken ließ und Erinnerungsfetzen an eine gewisse Schwester des Adeptus Sororitas in seinem Innersten aufwirbelte.
Fradd wandte sich um, sichtlich irritiert von der Tatsache, dass die Aufmerksamkeit des Offiziers direkt an ihm vorbeiwanderte und sich stattdessen den beiden Damen vorstellte.
»Wir freuen uns, Sie endlich wieder treffen«, fuhr die Inquisitorin zuckersüß fort. »Ich hoffe doch sehr, Sie sind uns nicht böse. Wir hatten einfach nur einen … unglücklichen Start, denken Sie nicht?«
»Nein«, meinte der Colonel ausdruckslos. Während sich die beiden Frauen vielsagend anblickten, wandte er sich um. »Gireth?«
»Hier, Colonel.«
»Irgendetwas von Sergeant Rebis?«
»Die Männer verteilen sich gerade und sollten bald in Position sein«, meldete der Funker.
Ekko schürzte die Lippen. »Wollen Sie mal nachgucken gehen?«
»Wenn Sie es wünschen, Sir«, gab der Angesprochene zurück.
»Ich bitte darum.« Gutheißend winkte der Colonel seinen Untergebenen fort. Der schlug die Hacken zusammen und eilte die Sitzreihen der Tribüne herab, um im Zuschauergedränge am Rand der markierten Umzugsstrecke zu verschwinden.
Erst jetzt konzentrierte sich Ekko wieder auf die Personen vor ihm.
Der Gouverneur war inzwischen näher gekommen. »Colonel Ekko«, begrüßte er den ihm unbekannterweise bekannten Soldaten. »Ich habe bereits viel von Ihnen gehört.«
»Das Meiste davon ist Feindpropaganda«, gab der imperiale Offizier ruhig zurück.
»Darunter war auch viel Gutes.«
»Auch das war Feindpropaganda.«
Unsicher, wie er diese Antwort verstehen sollte, blickte Minnefer erst zu Sinwell, dann zu Fradd.
Der Konsul räusperte sich. »Gibt es einen Grund, aus dem Sie sich so weit abseits hingesetzt haben? Von hier oben sehen Sie doch kaum etwas.«
»Das geht schon.«
Fradd wandte sich um, blickte über die Ebene und runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Wie denn?«
Ekko zuckte die Schultern. »Hab‘ das hier«, meinte er lakonisch und hob das um seinen Hals hängende Fernglas. »Und ihn da. Krood?!«, rief er, indem er hinter sich deutete.
Zum Erstaunen aller materialisierte ein schwer gepanzerter Elitesoldat der imperialen Armee an der Seite des imperialen Offiziers.
»Colonel?«
»Sie melden mir alles, was Sie sehen?«
»Ja, Sir.«
»Gut. Zurück auf Ihren Posten.«
Der Kasrkin schlug die Hacken zusammen und verschwand wieder unter dem Sonnensegel.
Ekko lächelte. »Sie sehen also: Ich kriege alles mit.«
»Aber ist es nicht ein wenig einsam so weit oben?«, wollte der Gouverneur wissen.
Sein Gegenüber winkte müde ab. »Das ist eine Tatsache, an die ich mich als Person im gehobenen imperialen Dienst gewöhnt habe. Wenigstens ist das Wetter schön und die Leute sind gut gelaunt.« Er lächelte nichtssagend.
»Und Ihre Soldaten haben die Situation im Griff?«, wollte Fradd wissen.
»Bis jetzt habe ich nichts Gegenteiliges gehört«, erwiderte Ekko, bevor er einladend die Hand hob. »Sollte es soweit kommen, werden Sie es vermutlich als Erste erfahren.«
»Hm«, meinte der Gouverneur und runzelte die Stirn. »Sie wirken etwas unzufrieden. Ist alles in Ordnung?«
»Meine Begeisterung könnte nicht größer sein.«
Fradd sprang eilig bei, noch bevor der Gouverneur die Chance hatte, die Worte des Gegenübers als Beleidigung aufzufassen. »Sein Regiment wird komplett neu aufgebaut. Er ist mit vielen Dingen beschäftigt«, erklärte er.
Ekko nickte. »Wie er gesagt hat.«
»Oh!«, begriff der Gouverneur. »Dann stören wir Sie besser nicht.« Er wandte sich an Fradd. »Ich nehme an, Cobis wird bald eintreffen. Vielleicht sollten wir ihn begrüßen.«
»Eine ausgezeichnete Idee, ehrenwerter Gouverneur«, stimmte der Konsul des Munitoriums zu. Dann schoss er einen bösen Blick zu Ekko.
Doch der reagierte gar nicht auf den stummen Tadel, sondern hob lediglich einladend die Hand: »Genießen Sie den schönen Tag.«
»Ja«, meinte der Gouverneur, als er sich abwandte. »Sie auch.«
Dann verließen Fradd und er den Platz des Colonels, stiegen die breiten Stufen der seitlichen Treppe in die tieferen Ebenen der Tribüne hinab.
Sinwell und Biasz blieben zurück. Nach einer Weile blickte die Inquisitorin den imperialen Offizier an. »Sie haben eine unfassbar charmante Art, Colonel Ekko«, meinte sie spöttisch. »Sorgt es Sie gar nicht, dass Sie das eines Tages den Kopf kosten könnte?«
»Diese Eigenart habe ich nach meiner zehntausendsten Nahtoderfahrung abgelegt«, gab er zurück und zuckte die Achseln. »Was soll mir noch groß passieren? Sterben? Damit macht man mir keine Angst mehr.«
»Nein, das ist wohl wahr«, überlegte Sinwell laut. »Für Sie wäre es anscheinend eine größere Strafe, wenn Sie ewig leben würden.«
»Vermutlich.«
»Dennoch«, fügte sie an, bevor er die Gelegenheit zu einer längeren Antwort erhielt, »man sollte nie auf einen bestimmten Wunsch hinarbeiten, wenn die Chance besteht, dass er früher wahr werden könnte als es genehm ist.«
Darüber dachte Ekko ein wenig nach, stellte aber fest, dass ihm auf diese Aussage keine kluge Antwort einfiel und so beschloss er, sie einfach aus seiner Erinnerung zu streichen. Sein Blick richtete sich auf Biasz. »Wo ist denn ihr Halsband?«
»Mein was?«
»Dieser rote Sprengring, der Sie bei unserer letzten Begegnung umgelegt hatten.«
»Aber …«, erklärte die Interrogatorin etwas unsicher. »So etwas besitze ich gar nicht.«
»Oh. Dann habe ich das wohl geträumt«; stellte er sinnend fest. »In letzter Zeit träume ich recht ausgiebig.«
Am anderen Ende der Tribüne hob Jubel an, hieß Konfessor Cobis, das ekklesiarchische Oberhaupt des Bastet-Systems, als Ehrengast der bevorstehenden Parade Willkommen.
Der Colonel und die Dienerinnen der Inquisition beobachteten das Treibe eine Weile, bis Sinwell sich schließlich wieder an ihn wandte. »Glauben Sie mir: damit sind Sie nicht allein.« Sie seufzte leise. »Ich gehe ihn mal begrüßen.«
»Viel Spaß«, bemerkte der Colonel und lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück.
Biasz machte Anstalten, ihrer Herrin zu folgen, doch die winkte ab. »Nein. Das ist nicht nötig. Bleib ruhig hier und genieße die Aussicht. Colonel Ekko hat recht: Sie ist wirklich fantastisch.« Dann ging sie, ließ ihre jüngere Begleiterin zurück.
Eine Weile lang stand die Interrogatorin einfach nur verloren an ihrem Platz und schien nicht so recht zu wissen, was sie nun tun sollte, bis der in unauffälligen Steppentarn gehüllte Offizier neben ihr nachlässig winkte.
»Nehmen Sie Platz.«
Dankbar ließ sich die angehende Inquisitions-Richterin elegant auf den Sitz an seiner Seite sinken, bevor sie schließlich mit leiser Stimme sagte: »Das hier ist eine seltsame Welt.«
Ihr Gesprächspartner zuckte die Achseln. »Seltsam ist gar kein Ausdruck.« Er seufzte melancholisch. »Hier hat’s nie was gegeben, hier gibt’s nichts und hier wird es nie was geben. Und trotzdem lebt hier eine Handvoll armer Irrer, die sich keinen schöneren Ort zum Leben vorstellen könnten.«
Biasz sah ihn an. »Sie klingen, als gehörten Sie gar nicht dazu.«
»Diese Welt hat ihren Platz in meiner Erinnerung schon vor langer Zeit geräumt.« Er erwiderte ihren Blick. »Und jetzt bin ich wieder hier. Verrückt, nicht wahr? Übrigens: habe ich Sie eigentlich schon zu dem tollen Dekolleté beglückwünscht?«
»Was?« Biasz blickte an sich herab, lief kurz rot an und verschränkte dann betont unauffällig die Arme vor der Brust. »Wie … wie kommen Sie denn jetzt darauf?«, verlangte sie zu wissen.
Erneut zuckte er die Achseln. »Ich fragte mich nur gerade, ob es wohl im Dunkeln leuchtet, wenn Sie sich da einen Sonnenbrand holen. Wie auch immer …« Er erhob sich. »Keine Ahnung, weshalb Gireth nicht zurückkommt, aber ich müsste mal einen Kontrollgang machen. Meine Truppen inspizieren.« Er vollführte eine einladende Geste. »Wollen Sie mich begleiten?«
»Warum nur habe ich das Gefühl, dass ich das bereuen werde?«, erkundigte sich Biasz rhetorisch.
»Keine Ahnung. Da müssten Sie vielleicht etwas tiefer in meinem Kopf wühlen.«

***

Sie trafen Gireth am Fuß der Treppe. Inmitten der Menschenmassen hätten sie ihn beinahe übersehen.
Der junge Funker wirkte ausgesprochen unglücklich, sodass Ekko den Kopf schieflegte. »Scheint, als hätten Sie Rebis’ Leute bisher nicht gefunden.«
»Das ist es nicht, Sir«, erwiderte der Angesprochene missgelaunt.
»Ach, Gireth!«; meinte der Colonel gutheißend und legte den Corporal den Arm so betont lässig um die Schultern, dass man den Eindruck gewinnen konnte, die beiden befänden sich gerade auf einer Sauftour. »Erzählen Sie’s mir doch.«
»Nein, Sir!«, gab der Soldat zurück und versuchte, sich von seinem Vorgesetzten zu lösen.
Ekko hielt ihn fest. »Ich will’s aber wissen …«, nörgelte er.
Jetzt endlich schaffte es Gireth, den Arm des Regimentskommandeurs abzuschütteln und einen Schritt zur Seite zu treten. In Anbetracht der Masse an Personen um sie herum war das gar nicht so einfach.
»Gireth, das beleidigt mich«, sagte der Abgewiesene und rümpfte gespielt betrübt die Nase. »Dafür schulden Sie mir eine Erklärung.«
»Nein, Sir. Ich möchte nicht.« Jetzt erst schien dem Regimentsfunker aufzugehen, dass Ekko nicht allein war. »Wer sind Sie denn?«, entwich es ihm.
Biasz setzte zu einer Antwort an, doch Ekko kam ihr zuvor.
»Oh, das ist meine neue Freundin. Evi.« Verschwörerisch lehnte sich der Colonel vor. »Sie ist vom Ordo Hereticus. Sie kann alles aus Ihnen herausquetschen, was sie wissen will.« Dann legte er wieder den Arm um die Schulter seines Untergebenen. »Sehen Sie sie sich genau an: Sie quetscht sehr gerne.«
»Sir, das ist nicht witzig!«, meinte Gireth, doch Biasz fuhr dazwischen. Ihre Stimme, knisternd wie ein geladener Elektrometeor, sandte heiß-kalte Schauer über die Rücken der beiden Männer.
»Fick dich?«, fragte sie. »Verpiss dich, du kleiner Wurm. Sonst knall‘ ich dich ab? Das hat er zu Ihnen gesagt?«
Ekko löste sich von seinem Funker, trat zurück und verschränkte die Arme. »Hat wer gesagt?«, verlangte er zu wissen.
Gireth, unglücklich zur Interrogatorin blickend, berichtete betreten von dem Vorkommnis.
Wie sich herausstellte, hatte er die von Ekko zur Sicherung der Tribüne eingesetzten Infanteristen tatsächlich gefunden und sich über den Grad ihrer Einsatzbereitschaft informieren lassen. Alles war in Ordnung. Die Männer standen auf ihren Posten und erwarteten das Eintreffen der nahenden Prozession.
Auf dem Rückweg allerdings geriet der Corporal an einen offensichtlich gar nicht dienstbeflissenen Soldaten der PVS, der Lho-Stäbchen rauchend an einer Absperrung lehnte und die Tribüne betrachtete.
Einem militärischen Instinkt folgend, hatte Gireth die Chance genutzt, den Mann auf sein Verhalten anzusprechen, war von diesem aber mit einer sehr unmilitärischen, aber dennoch zackigen Antwort abgewiesen worden. Unsicher, wie die Insubordination zu parieren gewesen wäre, nagte der junge Soldat nun ein wenig an der Tatsache, dass er sich selbst nicht zu helfen wusste.
»Oh, das klingt ja nach einem geistig besonders gefestigten Individuum«, stellte der Colonel abschließend fest. Er meinte den PVS-Soldaten »Denken Sie, Sie würden mich Ihrem neuen Freund vorstellen wollen?«
»Lieber nicht«, gab der Funker zurück.
Hinter ihnen begannen die Menschen zu jubeln. Die Prozession war angekommen.
»Ich denke nicht, dass Sie eine Wahl haben, Soldat«, stellte Biasz ganz richtig fest.
Ekko blickte sie an, hin und her gerissen zwischen Bewunderung und Skepsis gegenüber der Art, mit der sie den Soldaten vor sich hertrieb, den eigentlich für derartige Tätigkeiten verantwortlichen militärischen Vorgesetzten vollkommen außer Acht lassend.
Doch Biasz kümmerte das nicht. Vermutlich merkte sie nicht einmal, dass ihn etwas an der Art störte, mit der sie das Problem anging.
Und selbst wenn: Evi Biasz gehörte nicht zu den Frauen, die sich um das Wohlergehen anderer Leute kümmerten, wenn es dem Erreichen ihrer Ziele entgegenstand.
Gireth wollte etwas erwidern, kam allerdings nicht mehr dazu.
Der Jubel um sie herum schwoll an. Darunter mischten sich schwere, hallende Gongschläge, die Geräusche von tausenden Füßen, von Musik und das Knarren der Festwagen.
Auf seinem Weg von der Quelle der Maat bis an die Goroni-Brücke hatte der Umzug bereits eine ordentliche Strecke zurückgelegt. Gute fünfhundert Kilometer.
Während dieser Zeit hatten sich der Prozession Tänzer, Musiker, Priester, Spielleute und allerlei verlorene Seelen angeschlossen, und von den wenigen Hundert Menschen, mit denen der Umzug begann, war er inzwischen auf tausende angewachsen.
Gerade zwängten sich die ersten Gruppen aus ekstatisch wirbelnden, barfüßigen Tänzern und Musikanten zwischen den zerklüfteten Ausläufern der großen östlichen Gebirgsketten hervor und fächerten auf die Ebene aus, deren unweigerlichen Abschluss die Goroni-Brücke bilden würde.
Irgendwo dort standen Retexers Truppen bereit, um sich der Formation anzuschließen und sie über einen Weg von mehreren Kilometern hinweg zu begleiten.
»Hören Sie das?«, fragte Ekko rhetorisch und deutete in die Luft. »Da kommt der Festumzug. Den möchte ich um nichts in der Welt verpassen. Also«, zwang er den Funker, sich seinem Willen zu beugen, »sollten wir uns beeilen. Hinfort!«
Gireth, nun noch unglücklicher dreinblickend, drehte sich um und wankte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Noch bevor sich Biasz neben ihm in Bewegung setzen konnte, hielt der Colonel sie mit einem Wink der Hand auf. »Das war nicht sehr nett«, schalt er die kleinere Frau leise.
Sie warf ihm einen unbeeindruckten Blick zu, legte den Kopf schief und ließ den Anflug eines überlegenen Lächelns erkennen, wie es vermutlich nur eine Inquisitorin mit jahrelanger Erfahrung perfektioniert beherrschte.
»Aber es war effektiv«, gab sie zu verstehen, bevor sie an ihm vorbeischritt, um dem Funker zu folgen.
Ekko sah ihr nach. Was hätte er auch anderes tun können? Sie hatte Recht.

***

Gireth führte seine Begleiter durch die Menschenmassen, die sich um die Tribüne versammelt hatten. Wie Ekko musste er sich dabei anstrengen, denn die ekstatisch feiernden Leute ließen kaum Platz zum Durchkommen.
Mehr stoßend und schiebend denn wirklich gehend, bahnten sich die beiden Soldaten ihren Weg. Dass sich die Menge um sie herum bewegte wie Gewebe, das einen Fremdkörper abzustoßen versucht, machte ihnen die Aufgabe nicht wirklich leichter.
Biasz schien diese Art von Problem nicht zu haben. Sie glitt einfach zwischen den Menschen hindurch, erhaben und elegant, und die Masse machte ihr bereitwillig Platz. Gleich Wasser, das es nicht wagt, ein riesiges Schiff zu attackieren. Vermutlich hätte sie sogar über die Köpfe der Anwesenden hinwegmarschieren oder sich auf ihren Händen tragen lassen können, ohne dass ihr irgendjemand Widerstand entgegenbrachte.
»Ich frage besser nicht, wie Sie das gemacht haben«, meinte der Colonel, als sie endlich ein wenig Freiraum erreichten.
»Ich glaube auch nicht, dass Sie es verstehen würden«, gab die junge Frau zurück. Sie sagte diese Worte mit leidenschaftsloser, feststellender Stimme, aber ihre Worte trafen den Basteter wie ein gut platzierter Faustschlag.
»Nein«, musste er zugeben. »Vermutlich nicht. Ich bevorzuge die simplen Methoden. Die kann ich mir wenigstens merken. Und viertausend Mann im Rücken gibt einem dann auch ein wenig mehr Sicherheit.« Er meinte sein Regiment.
»Das unterscheidet uns von Ihnen«, erwiderte Biasz. »Wir müssen – und können – uns anders behelfen.«
Er rümpfte die Nase. »Und ich hatte mir gerade vorgenommen, Sie vielleicht doch ein wenig zu mögen. Also Gireth? Wo ist der Mann?«, fuhr er, an den Funker gewandt, fort.
»Vorhin stand er an der Tribüne«, berichtete sein Untergebener. »Da hinten.«
»Offensichtlich steht er dort nicht mehr«, stellte Ekko nach einigen Augenblick genauerer Betrachtung fest.
Das infernalische Kreischen eines nahenden Walküre-Sturmtransporters schob sich zwischen die Geräusche des Festes, brach bald aus ihnen hervor wie ein durch einen Körper schießendes Projektil und deckte sie dann mit metallenem Fauchen zu.
Aus den Augenwinkeln konnte der Colonel den Schatten der großen Militärmaschine sehen, die langsam ihre Kreise über der Tribüne zog.
Wie die zehn Soldaten des Absicherungskommandos und Gren Krood war auch die eingesetzte Walküre Teil des Absicherungskonzepts, das Ekko als Antwort auf das Schutzbedürfnis der Privilegierten auf der Tribüne entwickelt hatte. Nach seinem Gespräch mit Balgor war ihm nämlich ganz allmählich bewusst geworden, dass hinter der Präsenz seiner Männer bei der Parade wie auch an und um die Tribüne nicht nur ein repräsentativer Zweck lag. Die planetare Regierung wollte sich mit den Lorbeeren einer vor Ort befindlichen Einheit der imperialen Armee schmücken, indem sie ihr die Bewachung allein überließ.
Aber dadurch, dass man Arbites und PVS-Einheiten von der Tribüne und der Brücke abzog, damit sich die imperialen Armee um deren Absicherung kümmerte, entblößte man einen schützenswerten Körper.
Tatsächlich war Ekko das bis zum Eintreffen seiner Soldaten an der Tribüne nicht bewusst gewesen. Er hatte geglaubt, seine Männer würden die Arbites und PVS-Kämpfer unterstützen, nicht deren Aufgaben übernehmen. Diese Erkenntnis allerdings machte eine Planänderung notwendig.
Die Walküre, die beiden Bordschützen und Kroods Kasrkin waren ein Teil davon. Der Infanteriezug, den der Colonel zur Verstärkung anforderte, ein anderer.
Während die Walküre sie nun bei der Absicherung unterstützen würde, wäre der Infanteriezug, allein schon aufgrund der Verkehrssituation rund um den Festzug, vermutlich erst in einer oder zwei Stunden vor Ort. Pech.
Blieb nur zu hoffen, dass der große Imperator seine schützende Hand über sie hielt.
»Scheint, als wäre der Mann verschwunden«, bemerkte er. »Schade. Ich hätte ihn wirklich gerne kennengelernt.« Er drehte sich um. »Gehen wir zurück.«
Sie wandten sich wieder der Tribüne zu.
»Aber …« Gireth zupfte seinen Vorgesetzten am Ärmel. »Da!«, sagte er vernehmlich und deutete auf einen Infanteristen, der sich gerade zwischen die Menschen schob. »Das ist er!«
»Was?«, rief Ekko erstaunt aus. »Der da? Von diesem … Totschläger haben Sie sich beeindrucken lassen?«
Ja. Doch. Bei genauerer Betrachtung wirkte der Mann wie jemand, der einen jungen Soldaten wie Gireth durchaus aus der Fassung bringen konnte. Bärtig und zernarbt, mit breiten Schultern und von kräftiger Statur.
Auf einen unerfahrenen Vorgesetzten mochte diese Erscheinung ähnlich beeindruckend wirken wie die von Melbin oder Solmaar.
»Gut. Dann wollen wir mal«, meinte der Colonel und steuerte auf das ihm gegebene Ziel zu. Gireth und Biasz mussten sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten.
»Hey, Soldat!«, sprach der Regimentskommandeur den Unbekannten an. Der reagierte nicht einmal, sondern schob sich einfach weiter durch die Reihen der Anwesenden. »Hey!«
Erst, als Ekko ihm auf die Schulter klopfte, drehte sich der Infanterist um. »Name und Rang?«, fragte der Regimentskommandeur.
Der Soldat, dessen Uniform kein Namensschild trug, starrte den Colonel an. Hinter seinen Pupillen funkelte das schwache Glimmen eines intelligenzgehemmten Geistes.
»Soll ich’s wiederholen?«, erkundigte sich der Sprechende und entlockte dem Mann so eine Reaktion – wenn auch nicht die, auf die er gehofft hatte.
»Nein«, sagte der Soldat betont langsam.
»Wunderbar«, meinte Ekko ungeduldig. »Wir hatten es ja schon, aber … Name? Rang?«
»Fenuku Darwishi« Der Rang blieb ungesagt.
»Fenuku Darwishi?« Der Regimentskommandeur hob eine Hand. »Das steht nicht auf Ihrem Namensschild.« Er deutete auf die Brust des Mannes. Der blickte verständnislos an sich herab.
»Wo ist Ihr Namensschild?«, wollte der Colonel wissen.
»Ich trage keines«, erklang die Erwiderung nach einigen stummen Sekunden.
»Sie tragen keines?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Wieder zögerte der Soldat, bevor er nachdenklich die Achseln zuckte. »In letzter Zeit werden Soldaten immer öfter Ziele von Aufständischen, Verbrechern und so weiter, weil man sie anhand ihrer Namensschilder identifiziert hat.«
»Hm«, machte Ekko. »Deswegen tragen Sie keine Namensschilder und keine Rangabzeichen?«
»Genau.«
Ekko wandte den Kopf und maß Gireth mit einem kurzen Blick, bevor er seine Aufmerksamkeit zurück auf den Mann vor ihm fokussierte. »War das auch der Grund dafür, dass Sie meinen Corporal hier so höflich abgewiesen haben?«
»Ich habe diesen Mann noch nie zuvor gesehen«, beteuerte der Soldat.
»Sie haben Ihn noch nie zuvor gesehen?«, wiederholte der Colonel die Worte des Soldaten.
»Nein, Sir.«
»Oh.« Ekko blickte zurück zu Gireth, der sich gerade zu einer verzweifelten Erwiderung anschickte, aber von Biasz gestoppt wurde. Sie legte die Hand auf die Schulter und deutete ein Kopfschütteln an, wofür Ekko ihr unendlich dankbar war. »Sollte sich mein Untergebener etwa geirrt haben?«, fragte er rhetorisch und seufzte. »Das wäre natürlich sehr schade – bringt mich aber auf einen ganz anderen Gedanken: Was genau machen Sie eigentlich hier?«
»Wie bitte?«
»Was machen Sie hier? Was ist Ihr Auftrag?«
Der Soldat starrte ihn an, als sei er vollkommen wahnsinnig geworden. Dass er damit in Teilen gar nicht so falsch lag, wusste der Mann natürlich nicht. »Ich bin als Wachsoldat eingeteilt.«
»Hier? An der Tribüne?« Der Colonel deutete nach oben, wo sich die riesige Konstruktion erhob. Er stockte kurz, wartete die bejahende Antwort seines Gegenübers ab, dann nickte er verstehend. »Kommen Sie mal mit«, ordnete er an.
»Was? Wohin?«
»Ich möchte, dass Sie mich begleiten«, wiederholte der Colonel. »Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten.«
Das schien dem Soldaten überhaupt nicht recht zu sein. »Aber, Sir. Ich habe meinen Auftrag!«
»Ja – und mein Corporal hat Sie nicht nur beim Vernachlässigen Ihres Dienstes beobachtet, sondern fühlte sich darüber hinaus von Ihnen auch noch beleidigt.« Ekko drehte sich um und bedeutete dem Mann über die Schulter, ihm zu folgen. »Das würde ich gerne klären. Wer ist Ihr kommandierender Offizier?«
Noch während er das sagte, bemerkte er, wie Evi Biasz in seinem Blickwinkel die Augen aufriss. Fast zeitgleich folgte Gireth ihrem Beispiel. Dann erklang das metallische Knurren einer Waffe, die gerade durchgeladen wurde. »Du nervst! Geh sterben!«
Das Universum hielt den Atem an.
Einer eintrainierten Reflexbewegung folgend ließ sich der Colonel nach hinten fallen, den Ellenbogen des rechten Arms nach oben reißend. Der Lauf einer eigentlich gerade in seinem Rücken in Schussposition wandernden Waffe passierte seinen Körper dadurch knapp unterhalb der Brust, sodass er sie unter Zuhilfenahme der linken Hand von sich weglenken konnte. Mit einem Scheppern – zumindest konnte man den Schmerz, der durch seinen Arm zuckte, durchaus damit vergleichen – machte sein Ellenbogen Bekanntschaft mit der Nase des Gegenübers, die den unerwartet heftigen Gruß mit höflichem Knacken erwiderte. Der Infanterist stöhnte auf und ließ sein Gewehr los.
Den eigenen Leib als Sperre nutzend und sich gegen den Uhrzeigersinn in den Körper seines Gegners drehend, entriss ihm Ekko die Waffe, nutzte das dadurch entstandene Bewegungsmoment und setzte den Gewehrkolben in einem gezielten Stoß auf das Gesicht seines Gegners.
Der taumelte zurück und ging zu Boden.
Einige Umstehende wichen zur Seite.
»Gut«, meinte Ekko und atmete tief durch. »Das wäre geklärt.« Er pausierte, blickte auf seine Hand und seufzte. »Thronverdammt. Ich habe mich geschnitten.«
Weiter vorne wanderte eine der riesenhaften Statuen gerade an der Tribüne vorbei, begleitet von Musik und dem Jubel von Hunderten.
»Na, toll. Und den Festumzug verpasse ich auch.« Der Regimentskommandeur seufzte und beugte sich zu dem Soldaten, der zwar ohne Bewusstsein, aber immer noch mit seiner Ausrüstung, einem Messer und einer Pistole bewaffnet war.
Ein paar kurze Handgriffe befreiten den erschlafften Leib von seinem Koppeltragegestell und somit von den potenziell tödlichen Werkzeugen.
Biasz schürzte die Lippen. »Ich frage besser nicht, wie Sie das gemacht haben.«
Ekko bedachte sie mit einem herausfordernden Blick aus seinen braunen Augen. Sie ging nicht darauf ein. »Und was machen wir jetzt mit ihm?«
Eine gute Frage, auf der der imperiale Offizier erst eine Weile herumdenken musste. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Situation dermaßen schnell eskalieren würde.
Ekko kratzte sich am Kopf, dann zuckte er die Achseln. »Eigentlich müssten wir ihn zur Wache oder zur Militärpolizei bringen. Aber ich wüsste nicht, wo sich hier im Bereich Militärpolizei befindet. Und die Wache …«
»Haben Sie gerade niedergeschlagen«, meinte Biasz trocken.
»Ja.«, musste der Colonel zugeben. »Vielen Dank, dass Sie mich daran erinnert haben. Ich hätte es sonst noch erfolgreich verdrängt.« Er weiterer, kurzer Moment der Überlegung folgte. »Wir bringen ihn erst einmal zu den Arbites. Die sind zwar nicht zuständig, aber können ihn vorerst einsperren und dann an die MP weiterleiten. Gireth, Sie tragen seine Ausrüstung.« Dann bückte er sich und hob den Körper auf seine Schultern.
»Und was soll ich tun?«, erkundigte sich Biasz.
»Sie gehen voran. Ansonsten sind Gireth und ich morgen noch unterwegs.«

***

Anders als Colonel Ekko – und mit ihm wohl die meisten Basteter – konnte sich Tervor Fortis nicht wirklich etwas unter dem Saatfest vorstellen. Er hatte zwar das eine oder andere Gerücht in Bezug auf diese seltsame, wenn auch überwältigende Prozession gehört, die Bastet Jahr für Jahr erneut mit ihrer wilden, farbenfrohen Gegenwart beglückte.
Aber abgesehen davon wusste er nicht so richtig, was er von dem seltsamen Festumzug halten sollte, der zwischen den Sanddünen auftauchte, angeführt von rassigen, dunkelhäutigen Schönheiten, deren nur von dünnen Gewänder umwirbelte, in ekstatischer Trance befindliche Körper über den heißen Wüstensand zu fliegen schienen.
Spielleute und beeindruckende Festwagen folgten ihnen, umschwärmten mächtige Statuen, deren erhabene Präsenz dem Fest eine besondere Note verlieh.
»Und?«, fragte ihn Gouverneur Minnefer, der neben ihm Platz genommen hatte, »was halten Sie davon?«
»Ungewöhnlich«, gestand der Manufaktorumsvertreter nach kurzer Überlegung. »Derartige Festivitäten gibt es auf Ghersom nicht.«
»Nicht wahr?« Minnefer nickte stolz. »Die ganze Welt ist auf den Beinen. Das ist in der Galaxis wohl einmalig.«
Fortis‘ Blick zwang ihn zu einer kleinlauteren Ergänzung: »Oder zumindest in diesem Sub-Sektor.«
Er räusperte sich und blickte konzentriert auf die näherkommenden Tänzerinnen.
Zeit für Fortis, seine Augen über die Tribüne schweifen zu lassen. Sie war voll. Viele der Leute kannte der Abgesandte der imperialen Industriewelt nicht wirklich, denn sie waren für ihn und seine Arbeit bei weitem nicht wichtig genug, aber zumindest die den Gouverneur und den Vertreter des Munitoriums konnte er zuordnen. Und Konfessor Cobis, das geistliche Oberhaupt des Ekklesiarchie in diesem System.
Aber den Konfessor nicht erkennen zu können, wäre in diesem Moment wohl nur bei völliger Dunkelheit möglich gewesen.
Auf einem Podest im Zentrum der ersten Tribünenreihen thronend, und von mehreren Dienern begleitet, stach der in opulente Gewänder gehüllte Mann aus der Masse der Anwesenden heraus wie eine Gestalt gewordene Explosion: beeindruckend, aber selbst für den Betrachter aus der Ferne gefährlich anzusehen.
Schon bevor er zu seiner Reise nach Bastet aufgebrochen war, hatte sich Fortis über Cobis informiert. Noch rätselte seine Erfahrung darüber, in welche Kategorie von Mensch man ihn wohl am besten einordnete, schätzte aber, dass er besser daran tat, wenn er sich vor Cobis in Acht nahm.
Fortis war entschieden, dieser Überlegung Folge zu leisten.
»Und wo ist Euer stellvertretender Gouverneur?«, nahm er den so abrupt unterbrochenen Gesprächsfaden wieder auf.
Dieses Mal war es der Gouverneur, der ein wenig Zeit verstreichen ließ. »Es gibt eine ähnliche Prozession, die dem Verlauf des Freon folgt«, sagte er schließlich. »Er begleitet die Feierlichkeiten dort. Zusammen mit dem Rest der Regierung.«
»Ah, verstehe.« Fortis lehnte sich zurück und ließ seinen Blick über die Festwagen schweifen. Eine riesige Menschenmasse umschwärmte sie. Unfassbar, wie viele Leute dem Spektakel beiwohnten. Bei einer Parade zu Ehren des Imperators hätte er diese Art von Begeisterung noch verstanden, aber für einen einfachen Aberglauben?
Er schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf. Die Menschen von Bastet schienen – zumindest in diesem Sektor – wirklich etwas Besonderes darzustellen.
Er fokussierte seine Aufmerksamkeit zurück auf die scheinbar unendlich lange Schlange aus Menschen, die sich durch die Wüste wand, verfolgte die riesigen Statuen auf ihren Podesten und die von Karikas gezogenen Festwagen.
Ein eindrucksvolles Schauspiel, fürwahr.
Dann entdeckte Fortis eine Marschkolonne, die einem Spielmannszug und einer Reihe barfüßiger Tänzerinnen folgte. Er verengte die Augen. »Oh? Sind das Einheiten der imperialen Armee?«
»Ja, richtig«, erklärte der Gouverneur. »In Serareh befindet sich ein Verschiebungszentrum des Adeptus Munitorium. Dort werden Zehntregimenter und Nachschub für in diesem Subsektor kämpfende Verbände zusammengefasst und auf ihre Verschiffung vorbereitet.«
Diese Information machte den Abgesandten von Ghersom IV hellhörig. Zwar war ihm bereits zu Ohren gekommen, dass Bastet einen Umschlagplatz für Menschen und Material im Dienste des großen Imperators darstellte, aber diese Informationen nun sowohl visuell wie auch verbal bestätigt zu bekommen, gab ihm die Möglichkeit, seinen Bericht weiter zu detaillieren. »Aha?«, fragte er deshalb. »Und diese Einheiten hier sind …?«
»Fünfhundertzwölftes Regiment Sera«, gab Brag Fradd, der neben ihm saß, zu Protokoll, noch bevor der Gouverneur den Mund aufmachen konnte. »Eine ehemals vollständig bastetische Einheit, die durch cadianische Truppen aufgefüllt wurde, bevor sie in eine schwere Schlacht um eine Schreinwelt ging. Aufgrund der dort erlittenen Verluste hat die Einheit nach Bastet zur Neuaufstellung und Auffrischung mit Reserveeinheiten und Gravschirmjägern verlegt.«
»Gravschirmjäger? Sie meinen …?«, überlegte Fortis halblaut, aber dennoch gut vernehmbar.
Fradd nickte. »Ganz richtig. Elysianer.« Er vollführte eine ausladende Geste. »Die Sturmfahrzeuge, die Ihr Manufactorum herstellt, werden direkt in das neue Regiment integriert und einen Teil dessen Fuhrparks stellen.«
»Ich verstehe.«
»Aber«, lenkte der Gouverneur die Aufmerksamkeit zurück auf das Fest, »das soll heute keine unserer Sorgen sein. Heute feiern wir!« Er lächelte. »Meine Tochter ist übrigens Teil der Prozession.«
»Aha?«, sagte Fortis automatisch, obwohl sein Geist noch immer um die Aussagen bezüglich der imperialen Armee rotierte. Ein antrainierter, scharfer Blick maß die marschierenden Soldaten, nahm jede ihrer Bewegungen auf und inspizierte auch die von ihnen getragene Ausrüstung.
Minnefer hatte ihn nicht belogen. Die Männer wirkten kampferfahren. Ihr Auftreten, die Art, mit der sie an der Tribüne vorbeiexerzierten, besaß nichts von den unerfahrenen, stocksteifen Rekruten, die man auf anderen Welten erlebte, wenn sie vor ihrem ersten Kampfeinsatz durch die Armeeführung abgenommen wurden.
Nein. Hier paradierten erfahrene, vom Kampf gestählte und geformte Männer, deren Bewegungen geschmeidig und fließend wirkten, statt den stocksteifen Schritt reiner Formaldienstroutine zu präsentieren.
Er beschloss, die Einheit beizeiten einer genaueren Musterung zu unterziehen. Vielleicht konnte sie sich für Ihre Pläne als nützlich erweisen.
Noch während der Abgesandte von Ghersom IV diesen Gedanken nachhing, fuhr sein Sitznachbar fort: »In der Tat. Sie ist dieses Jahr Herrin der Saat.«
»Herrin der Saat?«, wiederholte Fortis, der just in diesem Moment aus seinen Gedanken fiel.
»Ja«, bestätigte Minnefer. »Jedes Jahr wird ein Mädchen oder eine junge Frau gewählt, die auf einem Karika die Strecke abreitet und so den Weg nachvollzieht, den die Heilige Bastet auf ihrer Reise genommen hat.«
Als Fortis lediglich die Stirn runzelte, fuhr der andere Mann fort: »Der Legende nach zähmte Bastet nach ihrer Ankunft auf dem Planeten ein Karika, indem sie sich auf dessen Rücken schwang und es so lange ritt, bis es müde und erschöpft aufgab und sich von ihr zur ersten menschlichen Siedlung auf dieser Welt führen ließ.«
»Und warum das?«
»Hilfe bei der Aussaat«, erklärte der Gouverneur, als sei dies selbstverständlich. »Wir haben nicht immer so viel Ausrüstung besessen wie heutzutage. In der Anfangszeit musste das Volk Bastets sich größtenteils auf die eigene Kraft und die der Tiere verlassen.«
»Ich verstehe«, gab Fortis zurück und nickte. Dann bemerkte er etwas in den Augenwinkeln. Ein Mann, ebenfalls in Kampfuniform gehüllt, trug einen anderen Soldaten über der Schulter. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge vor der Tribüne, offensichtlich auf der Suche nach etwas – oder jemandem.
»Und wer ist das?«
»Das ist …« Minnefer zögerte kurz. Er erhielt keine Möglichkeit, die Gestalt oder die seltsamen Vorgänge nahe der Tribüne aufzuklären. Das war auch gar nicht notwendig. Brag Fradd erledigte das kurzerhand für ihn.
»Aber das ist ja Colonel Ekko!«, rief der Konsul aus. »Was macht der denn da?«
Wie aus einem Reflex wandte sich der Gouverneur um, blickte auf einen nun leeren Platz am oberen Rand der Tribüne. Fortis folgte der Bewegung betont beiläufig.
Eine Reihe leerer Plätze am Rand der obersten Tribünenreihe erregte seine Aufmerksamkeit, auch wenn sich die Sitze peinlich berührt zwischen den Köpfen der Anwesenden zu verstecken versuchten.
»Ist dort oben etwas?«, erkundigte sich der Abgesandte des Manufactorums.
»Nein«, erwiderte Minnefer. »Nein. Niemand.« Damit hatte er Recht.
Ein wenig verwundert richtete Fortis den Blick zurück auf den angesprochenen Offizier mit dem bewusstlosen Mann auf der Schulter. Erst jetzt erkannte er, dass ihn zwei weitere Personen begleiteten: eine gut aussehende, elegante junge Frau mit kurzem, blondem Haar und ein fast noch jüngerer, in unauffälligen Steppentarn gekleideter Soldat.
»Da kommt meine Tochter!«, rief der Gouverneur, stand auf und begann zu klatschen.
Andere Gäste taten es ihm gleich.
Fortis allerdings konnte seine Augen nicht vom Geschehen am unteren Rand der Tribüne lösen.
Während um ihn herum die Leute aufstanden und der Herrin der Saat zujubelten, verfolgte der Abgesandte, wie Colonel Ekko mit seinen Begleitern aus der Menge der Anwesenden hervorkam, die Absperrung zur Prozessionsstrecke überwand und einen Arbitrator heranwinkte.
Der Gesetzeshüter kam zu dem imperialen Offizier, besah sich den Bewusstlosen, wechselte kurze Worte mit dem Colonel und seiner attraktiv scheinenden Begleiterin, dann übernahm er die Last und trug sie davon.
Fasziniert beobachtete der Manufactorums-Abgesandte, wie die verbliebenen drei Imperialen nun selbst ein kurzes Gespräch führten, um dann unter der Abgrenzung hindurch in der Menge zu verschwinden.
Das erinnerte ihn daran, wie der Gouverneur zuvor auf die leeren Plätze am oberen Ende der Tribüne geblickt hatte und er drehte sich um.
Dabei fiel ihm eine weitere Sache auf: ein einzelner Soldat der Planetaren Verteidigungsstreitkräfte stand, gut sichtbar, ungefähr auf der mittleren Höhe der Tribüne und schien die Vorgänge ebenfalls interessiert zu beobachten.
Nachdem er eine Weile lang stumm dagestanden und einfach nur auf den Festumzug geblickt hatte, hob er die Hand und winkte quer über die Straße. Fortis versuchte, die Gegenstelle der stummen Kommunikation auszumachen, fand innerhalb der Menschenmassen aber niemanden, der eine Antwort hätte geben können.
Also blickte er zurück zu dem Soldaten.
Der hatte offensichtlich seine Antwort bekommen, denn er schulterte seine Waffe, öffnete eine seiner Munitionstaschen, zog eine Handgranate hervor und warf sie auf die Tribüne.
Fortis öffnete den Mund, musste aber feststellen, dass ihm die Worte fehlten. Sein Gehirn starrte ebenso entsetzt wie er auf die Szenerie, unfähig, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen.
»Ah!«, brachte er noch hervor, dann detonierte die Granate. Sie sollte nicht die letzte sein.
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
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So, endlich ist ein neuer Part fertig.
Es wird von jetzt an deutlich langsamer vorangehen.
Ich habe leider kaum noch Zeit und kann aktuell auch nicht wirklich gedankenfrei schreiben.
Die Story ist aber nicht vergessen, und selbst wenn es nur langsam vorangeht, geht es solange weiter, bis ich etwas anderes sage.

Und jetzt viel Spaß beim Lesen

Wie immer natürlich auch Danke an Nakago für’s Beta-Lesen

14


In dem Moment, als Ekko seinen Fuß auf die Tribüne setzte, explodierte die Welt. Ein kurzer, orangener Blitz flackerte auf, gefolgt vom grässlichen, trockenen Krachen eines von Menschen geschaffenen Sprengkörpers.
Der Colonel ging zu Boden. Er hatte es nicht einmal beabsichtigt.
Ein heftiger Stoß traf den imperialen Offizier, schnitt ihm scharf in die Beine und riss ihm die Füße unter dem Körper weg.
Blut spritzte ihm ins Gesicht, ein Sud aus von der Detonationsdruckwelle klein gerissenen Fleischfetzen und Körperflüssigkeiten.
»Thronverdammte …!«, schoss es ihm durch den Kopf, dann schlug er mit dem Geräusch eines umfallenden Armeesacks auf die Treppe, die den Rand der Tribüne bildete.
Für einen Augenblick war er zurück, der Schock von Agos Virgil, öffnete die Flutventile des Adrenalins in seinem Körper und schickte sich an, dem Colonel all die Energien zur Verfügung zu stellen, die er in einer unübersichtlichen Situation wie dieser benötigen würde.
Im nächsten Augenblick kollidierte sein Kopf mit dem verwitterten Stein. Die Lichter gingen aus.
»Colonel!«, rief Gireth entsetzt, während eine zweite Explosion ertönte, überleitete in das Knallen von automatischen Waffen.
Evi Biasz neben ihm ging fast zeitgleich in Deckung. Etwas scharfes, unglaublich schnelles, hatte einen Menschen vor ihr durchschlagen und war dann, hohl pfeifend, nur eine Fingernagelbreite entfernt an ihrem Kopf vorbeigerauscht.
Besucher schrien, als Körper in ihrer Mitte von Projektilen und Geschossen getroffen und durchstoßen wurden. Gliedmaßen und Leiber gaben dem Druck schnell expandierender Luft nach und fetzten in alle Richtungen davon.
Mit ihnen breitete sich Panik aus. Anwesende sprangen von ihren Plätzen, wie Vieh durch die entstehende Lärmkulisse erschreckt. Gleich Wellen, die vom Aufschlag eines Steins auf der Wasseroberfläche aufgebracht wurden, suchten sie ihr Heil in der Flucht, kletterten über Sitze, Tote und Verletzte hinweg.
»Colonel!«; widerholte der Funker und machte einige Schritte auf seinen Vorgesetzten zu.
»Nein!«, rief Biasz, als sie erkannte, was er vorhatte, und sprang auf. »Nicht!«
Aber es war zu spät.
Die sie Umgebenden befanden sich in kopfloser Flucht, schoben, drückten und pressten sich aneinander vorbei, um dem Ort des Schreckens möglichst schnell zu entkommen. Schreie, Stöhnen und Jammern verdichteten sich zu einer akustischen Kuppel über dem Geschehen, die nur vom harten Tackern schnell feuernder Maschinenwaffen durchstoßen wurde.
Gireth erhielt nicht einmal mehr die Gelegenheit aufzusehen. Ein kräftiger Stoß traf ihn und ließ ihn zurücktaumeln. Im nächsten Moment lag er am Boden, spürte das Gewicht von Füßen und Körpern, die sich auf ihn und über ihn wälzten.
Aus den Augenwinkeln konnte er noch erkennen, wie eine Welle aus Leibern Evi Biasz verschluckte und sie die steil aufsteigenden Ränge herabspülte, dann verschwand sie aus seinem Blickfeld.
Ein Stiefel erwischte ihn am Helm.
Mit einem dumpf aus seinen Innereien aufbegehrenden Seufzen der Furcht und des Schmerzes versuchte er, zurück zu seinem Vorgesetzten zu robben, den die Tritte der fliehenden Masse bereits zwischen die Sitzreihen geschoben hatten, doch der Versuch erwies sich als fruchtlos. Irgendjemand verhakte sich in seinem Funktornister, stolperte und stürzte. Andere folgten nach. Unversehens befand sich der junge Soldat inmitten einer Lawine aus Körpern, die aufeinander fielen, verzweifelt umherkrochen, schrien und unter dem Gewicht der über sie Klettenden zerdrückt wurden.
Ein grässliches Knirschen erklang, begleitete den Tod eines kleinen Mädchens, das, den Händen ihrer Mutter entrissen, in Gireths Blickfeld getrieben und dort von den Fliehenden zertreten wurde.
Eine Mischung aus Entsetzen, Ekel und Adrenalin trieb einen Schwall trockenen Würgens die Kehle des Regimentsfunkers empor, versuchte den ohnehin inhaltslosen Magen auf die sich langsam mit Blut tränkenden Stufen zu entleeren.
Ein neuerlicher Tritt erwischte den Funker am Kopf, trieb seinen Schädel auf den aufgeheizten Stein. Der Schmerz schallte mit der Energie eines kräftigen Gongschlags durch seinen Körper, ließ den beruhigenden Nebel der Bewusstlosigkeit in ihm aufbegehren.
Glockenhelles Pfeifen erkämpfte sich die Kontrolle über sein Gehör, narkotisierte seine Sinne und deutete mit akustisch erhobenem Zeigefinger auf die plötzliche Reduktion der temporalen Geschwindigkeit.
Gireth fand sich mit dem höchst faszinierenden, wenn auch ängstigenden Phänomen der Kampfzeit konfrontiert: einer schlagartigen Zeitlupe, die einem Soldaten das Gefühl gab, die Welt um ihn herum halte den Atem an, um auf seine nächste Reaktion zu warten. Als gäbe sie ihm die Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen, bevor sie ihn wieder in den Tumult der Schlacht warf.
Gireth konnte sich erinnern, ein ähnliches Gefühl bereits erlebt zu haben, wenn auch weniger intensiv. Dennoch: Die von dumpfen Tönen und leicht verschwommenen Bildern dominierte Wahrnehmung, mit der er sich hier, inmitten der schrecklichen Szenerie auseinander setzen musste, war in seiner Lage nicht unbedingt hilfreich. Sie verlängerte sein Leiden lediglich.
Er sah wieder auf, gerade rechtzeitig, damit ein von Projektilen getroffener Junge zwischen die Sitze vor ihm fiel. Sein Rücken war durch eine Geschossgarbe zerfetzt worden.
Tote und Verletzte lagen auf dem Boden, umgeben von abgerissenen Körperteilen, und Blut floss in dünnen Bächen über die Treppenstufen. Ein Feuer brannte, irgendwo weiter im Zentrum der Tribüne und selbst oberhalb seiner Position konnte Gireth Rauchschwaden erkennen, auch wenn diese dicker und öliger waren und ein wenig fehlfarben wirkten.
Luft roch verbrannt.
Noch immer war er umgeben von Leuten, die zu den weiter unten gelegenen Ausgängen drängten, aber dort schien es ebenso wenig weiterzugehen.
Das dumpfe Krachen von Gewehrfeuer erklang, beantwortet vom Fauchen entfernt abgefeuerter Laserwaffen.
»Lauf!«, schrie ihm eine Stimme in seinem Kopf zu. »Geh in Deckung! Du wirst sonst sterben!«
Langsam, fast schildkrötenartig, kroch der Funker von dem Massaker weg, stieß mit den Fingern gegen ein Geländer und zog sich mit aller Kraft daran hoch. Um ihn herum kletterten Leute auf die Balustrade und sprangen in die Tiefe, versuchten sich aus dem Gefahrenbereich zu bringen
Irgendjemand packte ihn und schob ihn auf den erhitzten Stahl. Dann gab die Balustrade nach.
In einem Moment wurde Gireth noch gegen das Geländer gedrückt, im nächsten Augenblick spürte er, wie die Leere nach ihm griff und ihn mit sich in die Tiefe zog.
***

Das trockene Krachen einer Sprengstoffexplosion echote über die Tribüne hinweg, schloss den von Tervor Fortis beobachteten Vorgang mit einer für seine Größe eindrucksvollen Staubwolke ab.
Menschen, gerade noch deutlich sichtbar und ausgelassen feiernd, verschwanden im sandigen Nebel, erstaunt, erschrocken und entsetzt.
Um den Manufactorums-Abgesandten wirbelten Köpfe herum, richteten ihre Aufmerksamkeit auf den gerade erfolgten Knall.
Ein weiterer Schlag ertönte, begleitete einen durch das aufgewirbelte Sediment flammenden Blitz, bevor er überging in heftiges, rhythmisches Krachen.
»Gorak!«, hörte Fortis die Stimme eines Soldaten einen Befehl vorbereiten, während sich nicht weit entfernt ein ekklesiarchischer Diener zu der Nobeldame neben ihm umwandte.
»Milady!«, wollte er noch ausrufen, schaffte aber nur die ersten zwei Silben, dann platzte sein Körper wie von einer mächtigen Faust durchschlagen nach hinten auf, verspritzte Blut und Innereien auf die hinter ihm befindlichen Zuschauer.
Das Rattern einer automatischen Gewehrsalve hallte an Fortis vorbei, beantwortete die zuvor erfolgte Detonationen.
Um sie herum geriet die Welt in Bewegung, als Menschen aufsprangen und in alle Richtungen flohen.
Die Frau – Inquisitorin Gallia Sinwell, wie Fortis zuvor auf Nachfrage erfahren hatte – starrte nur kurz auf den direkt neben ihr gefällten Leib, während ihr Körper in den Gefechtsmodus hochfuhr.
Fortis hatte bereits mit Inquisitoren zu tun gehabt, daher wusste er, dass diese Form der Selbstalarmierung nur Herzschläge in Anspruch nehmen würde, und anstatt in Deckung zu gehen und sein eigenes Leben zu schützen, konnte er nicht anders, als die wenigen Augenblicke zu warten, bis die Frau herumfuhr und sich an die neben ihr Sitzenden und ihre Entourage wandte.
»In Deckung!«, schrie sie aus vollem Leib, sodass ihr Busen im Kleid erbebte. Zeitgleich glitt sie aus ihrem Sessel in Richtung Boden.
Sie hatte den Platz kaum verlassen, da löste sich ihr Sitz in einer Wolke aus Splittern auf.
Weiter oben auf der Tribüne wanden sich Menschen wie von Stromstößen gemartert, zuckten und zappelten, währende ihre Körper von Projektilen getroffen und durchlöchert wurden.
Das Krachen von Maschinenwaffen ertönte erneut, ging von einzelnen Feuerstößen über in ein ohrenzerfetzendes Crescendo.
Ein Schrei erklang rechts von Fortis, als einer der sie begleitenden Soldaten getroffen und getötet wurde.
Dahinter fielen Leute auf- und übereinander, durch die Ereignisse sämtlicher Sinne beraubt und nur von dem Wunsch beseelt, so schnell wie möglich aus dem Gefahrenbereich zu entkommen.
Zu seinem eigenen Erstaunen sah sich der Abgesandte von Ghersom IV trotz dieser Ereignisse unfähig, der Aufforderung nach Deckung nachzukommen. Sein Geist drängte ihn, sofort hinter die Mauer vor ihm abzutauchen, welche die Tribüne von der Straße trennte, und die vermutlich schon so manchem Würdenträger das Leben gerettet hatte. Seine Beine allerdings schienen nicht Willens zu sein, dem Befehl Folge zu leisten. Tatsächlich fühlten sie sich so schlaff an, dass es ihm in jeder anderen Situation vermutlich so vorgekommen wäre, als gehörten sie nicht ihm.
In diesem Augenblick allerdings wusste er nur eins: wenn er sich nicht bald bewegen konnte, dürfte ihm nicht mehr viel Zeit bleiben, das erstaunliche Verhalten seiner Beine zu Bedauern.
Eine Hand packte ihn im Genick. »Runter!«, bellte ihn der Besitzer an, drückte ihn aus dem Sitz und warf ihn regelrecht zu Boden.
Noch im Fallen sah er, wie einer der Infanteristen aus der Deckung hochschnellte, über die Balustrade zielte und aufs Geratewohl eine Lasersalve in Richtung der Straße abgab.
Die Antwort erfolgte prompt. Der Kopf des Mannes flog nach hinten wie bei einem mächtigen Kinnhaken, platzte auf und erbrach eine fleischfarbene Wolke aus Knochensplittern, Hirnmasse und Blut, dann prallte der Glücklose mit dem Gesicht auf den Stein, kippte zur Seite weg und rutschte an der Mauer herunter. Eine rote Blutspur zeichnete seinen Weg nach.
Sofort robbte einer seiner Kameraden an die Seite des Getroffenen und drehte ihn um.
»Nek!«, fluchte er unterdrückt. Verdammte Scheiße. »Er ist tot!«, meldete der Soldat in die von Schreien, Schüssen und dem hohlen Pfeifen der vorbeizischenden Geschosse erfüllte Luft. Es schien, als nehme niemand Notiz von den Worten.
»Sicherungspositionen einnehmen!«, ertönte die Stimme des Truppführers. »Aber haltet die Köpfe unten!«
Ein Großteil der sie begleitenden Infanteristen lehnte gedeckt an der Mauer, bereit in einer sich bietenden Sekunde das Feuer ihrer Angreifer zu erwidern. Zwei von ihnen hoben sogar ihre Lasergewehre über die Brüstung und gaben ungezielte Feuerstöße in die Richtung ab, aus der sie den Angriff vermuteten.
Fortis wandte den Kopf. Nicht weit entfernt von ihm lagen der Gouverneur, der Konsul des Munitorium und Konfessor Cobis auf dem Boden, umringt von ihren Begleitern.
Zwei seiner Diener hatten sich schützend auf den Konfessor geworfenen. Fortis fragte sich, ob sie ihr Leben freiwillig für ekklesiarischen Führer in die Waagschale warfen.
Weitere Männer saßen tot in ihren Sesseln, von Geschossgarben zersiebt. Blut durchtränkte ihre Kleidung und tropfte auf den Boden.
Sinwell kniete nicht weit entfernt bei den Soldaten, beschützt von zwei leicht gepanzerten Inquisitionsgardisten.
Einer von ihnen hatte gerade einen Mann abgewehrt, der sich mit von instinktiv gesteuerter Gewalt in den Sicherungsperimeter zu drängen versuchte. Mit einer schnellen Hebelbewegung brachte der Elitesoldat den Unbekannten zu Fall, setzte seine Laserpistole auf dessen Schädel und drückte ab.
Kompromisslos in jeder Situation. Fortis erschauderte.
»Guard 0512 Command, Guard 0512 Command, hier 05120101, over! Ich löse Abschlag aus. Wiederhole: Abschlag!”, brüllte der Führer des imperialen Armeetrupps gerade ins Funkgerät, wartete einen Augenblick und wiederholte die Worte dann.
»Ich kriege keinen Kontakt!«, rief er aus.
Der Funker an seiner Seite schüttelte den Kopf. Aus welchem Grund, wurde dem Abgesandten von Ghersom IV erst nicht bewusst.
Der Vorgesetzte sah auf, blickte sich auf der von Chaos und Verwüstung beherrschten Tribüne um.
Ein Feuer war über ihnen ausgebrochen, hatte einige Sitze in Brand gesteckt und sandte schwarzen Rauch in die von Geschossen und Querschlägern beherrschte Luft. Tote und Sterbende lagen auf dem Boden, von Geschossen verletzt oder durch die entstehende Panik niedergetrampelt.
»Beim Thron«, brachte er hervor. Eilig wandte sich der Soldat um, dachte kurz nach, und nahm das Sprechfunkgerät dann wieder in die Hand. »An alle Rufzeichen im Gebiet Goroni-Brücke: Sicherungstrupp Tribüne unter Beschuss. Feindkräfte in unbekannter Stärke aus vermutlich allen Richtungen. Wir benötigen sofort Kräfte zur Unterstützung! Bitte bestätigen! Kann mich irgendjemand hören?!«
Keine Antwort.
»Ist das Ding kaputt?«, wollte der Funkende wissen. »Oder werden wir gestört?«
Wieder schüttelte sein Begleiter den Kopf. »Negativ, Sir. Keine Störgeräusche«, meldete er. »Es antwortet lediglich niemand.«
Das hinterließ sichtlich Eindruck auf den Vorgesetzten. »Wir sind von unseren Leuten umgeben – und niemand meldet sich?«, fragte er, um dann urplötzlich abzubrechen. Vermutlich hatte er sich die Frage gerade selbst beantwortet.
»Was machen wir jetzt, Sir?«, kroch ein anderer Untergebener an die Seite des Sergeants. »Feuerüberlegenheit zurückerlagen?«
Der Truppführer überlegte kurz. »Wir müssen die Leute von der Tribüne schaffen.« Er meinte den Gouverneur, Cobis, Sinwell, Fradd und die wenigen ihnen verbliebenen Gefolgsleute.
»Was ist das Problem?«, mischte sich Sinwell ein, während um sie herum Geschosse über die nun leeren Sitzreihen hinwegzischten.
»Ich habe das Evakuierungsstichwort ausgelöst, aber erhalte keine Antwort!«, meldete der Truppführer und sah die Inquisitorin hilfesuchend an. »Ich habe nicht genügend Leute, um eine Feuerbasis aufzubauen, bis eine Reaktion seitens unserer Kräfte erfolgt.«
»Dann müssen wir uns anders behelfen«, meinte die imperiale Untersuchungsrichterin. Sie sah sich um. »Die rechte Seite der Tribüne scheint deutlich weniger stark unter Druck zu stehen. Können wir uns in diese Richtung absetzen?«
Der Truppführer folgte ihrem Blick, dann stieß er seinen Untergebenen an: »Wir werden einen Stoßtrupp unter Nebel zu bilden und die rechte Seite der Tribüne frei zu räumen. Das wird unser Rückzugsweg. Drei Mann voraus – der Rest sichert die Privilegierten.«
»Verstanden!«, bestätigte der Befehlsempfänger und robbte zu seinen Kameraden, die hinter der Mauer in Deckung kauerten.
»Können Ihre Leute die Nachhut übernehmen?«, wandte sich der Unteroffizier derweil an Sinwell und deutete auf ihre Leibwächter.
Sie nickte, eine Nadelpistole schussbereit in der Hand. Woher sie diese gezaubert hatte, würde Fortis vermutlich nie erfahren.
Der Infanterieführer hingegen schien beruhigt. »Nebelgranaten klarmachen!«, rief er den anderen Soldaten zu.
Noch während er den imperialen Infanteristen dies sagen hörte, bemerkte Fortis einen kleinen, Ei-förmigen Körper, der fast schleichend über die steinerne Balustrade segelte, an einer Sitzlehne der ersten Reihe abprallte und mit diebischer Freude in seiner Nähe auf den Boden rollte.
Eine Menge Gedanken schossen dem Abgesandten von Ghersom IV durch den Kopf, doch keiner davon maß sich als wirklich hilfreich aus.
»Beschütze mich auf all meinen …«, begann er.
»Handgranate!«, übertönte ihn der Ruf eines Infanteristen.
Das stimmte – in seinen letzten Augenblicken sollte ihm diese Tatsache aber kein Trost mehr sein.
***

Evi Biasz war derweil vom Chaos auf der Tribüne auf das Chaos vor der Tribüne getragen worden. Unfähig, sich der Masse an Menschen zu erwehren, die sie gleich einer Reihe Stromschnellen mit sich zogen, gelang es ihr erst, aus der einschnürenden Umklammerung zu entkommen, als die Traube Menschen vor der Plattform auf die Straße platzte.
Auch dort herrschten Panik und Entsetzen. Staub, aufgewirbelt von Füßen, Hufen und Rädern, hüllte die Szenerie gleich trocknem Nebel in fahles Licht. Ein von Menschen gemachter Sandsturm, der Formen und Schicksale gleichermaßen verschwimmen ließ.
Um sie herum schoben, drückten und schlugen sich Menschen, schrien, brüllten und jammerten. Sie wurde umhergestoßen, von der sich zäh bewegenden Ziehharmonika aus Leibern wie in einer Schraubzwinge eingeklemmt und gleich einem nassen Handtuch ausgewrungen. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg, wurde die Kraft so groß, dass sie glaubte, sie würde nicht mehr selbst laufen, sondern allein von der Bewegung um sie herum getragen werden.
Dann ließ der auf ihr lastende starke Druck plötzlich nach. Ohne es zu wollen, zwang man sie aus der Vorwärtsbewegung (zumindest glaubte sie, dass es eine Vorwärtsbewegung gewesen war) in den Krebsgang. Die Interrogatorin, von dieser Entwicklung völlig überrascht, stolperte und wäre beinahe gefallen, hätte nicht ein gegen sie taumelnder Körper eine Barriere gebildet, an der sie sich blind hochziehen konnte. Eine Person hinter ihr trat auf den Saum ihres Kleids, verfing sich und stürzte.
Mit dem heiseren Schmerzensschrei zerriss das unbezahlbar teure Textil.
Die Worte des unglücklichen Kollisionsgegners hingegen gingen im Umgebungslärm unter.
Biasz wäre auch nicht genügend Zeit geblieben, sich nach ihm umzusehen.
Der Kurs des Tumults trug sie bereits in eine neue Richtung.
Jemand rempelte sie an, griff nach ihrem Arm und schob sie einfach aus dem Weg. Wie ein Blatt, das von einer besonders starken Strömung erfasst und gegen einen großen Stein gedrückt wird, geriet die Interrogatorin an die straßenseitige Mauerseite der Tribüne und wurde von den hinter ihr drängenden Menschen an dieser entlanggeschleift.
Luft wich aus ihren Lungen wie aus einem Blasebalg, den man mit aller gebotenen Härte zusammenpresste.
Der Staub nahm ihr die Sicht und erschwerte das Atmen. Biasz keuchte, hustete und würgte.
Und dann war die Mauer plötzlich zu Ende. Sie hörte einfach auf.
Die Umgebungsluft seufzte, als die Menschentraube in den frei werdenden Raum platzte wie eine überreife Melone in ein Vakuum.
Biasz schob sich weiter an der Mauer entlang, fühlte tastende Hände, die nach ihr griffen und Schreie, die in die Unendlichkeit forthallten. All das nahm sie wie durch einen fernen Schleier war, der sich zu verdichten schien, je weiter sie sich von der Empfindung löste, von Menschen eingezwängt zu werden.
Noch immer pumpte Adrenalin in kräftigen Schüben durch ihren Körper, hielt ihre Sinne und ihren Leib bis zum Zerreißen gespannt.
Fast wollte es ihr vorkommen, als versuche ihr Herz das beengte Gefäß ihres Körpers zu verlassen, auf den heißen Wüstensand zu emigrieren und selbst einige befreiende Atemzüge zu tun, auch wenn das natürlich unmöglich war.
Es dauerte eine Weile, bis ihr aufging, dass der Gedanke an sich absolut absurd war – und daraufhin war es auch nur noch ein kurzer Schritt bis zu der Erkenntnis, dass die Gefahr zwar immer noch vorherrschte, aber keine immanente Bedrohung mehr für sie darstellte.
Das Adrenalin verflüchtigte sich, verengte die Gefäße in ihrem Körper und ließ einen sichtlich verwunderten Hohlmuskel zurück, der plötzlich nichts mehr mit seiner Kraft anzufangen wusste und dementsprechend ins Stocken geriet.
Ein Schmerz zuckte durch die Brust der Interrogatorin, ließ sie erneut nach Luft schnappen. Ein Würgen kämpfte sich ihre Kehle empor, als ihre Innereien versuchten, die Erinnerungen an das Erlebte von sich zu stoßen.
Im Zeitraffer jagten die letzten Minuten an ihrem inneren Auge vorbei, skizzierten ein mehr oder weniger scharfes Bild der Katastrophe, deren Zeugin sie geworden war.
Und dabei schien es schon ein ganzes Leben her zu sein, dass Ekko durch die Kraft der ersten Explosion gefällt worden war.
Ekko, schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste zurück zum Colonel. Zurück in das Herz der Finsternis. Zurück in das Grauen. Sie musste herausfinden, was beim Thron geschehen war.
Irgendwo jenseits der Tribüne erklangen nach wie vor Schüsse und Rufen, erinnerten sie daran, dass dort ein Kampf ums Überleben tobte.
Die Ermittlerin in ihr klopfte an das Hohe Haus ihrer Gedankenführung, räusperte sich und begann mit warnender Stimme zu sprechen. Evi hörte zu.
Ja. Es stimmte. Die Detonationen, die Schüsse, der Soldat der PVS. All das verdichtete sich zu der schrecklichen Vermutung, dass es sich hierbei vielleicht nicht nur um einen Angriff gegen das Saatfest handelte, sondern – und das war deutlich schlimmer: gegen bestimmte Institutionen der imperialen Administration.
Sie ahnte auch schon, gegen wen der Angriff gerichtet gewesen sein konnte. Und die unselige Kombination ließ lediglich einen Schluss zu: der Angreifer waren die Planetaren Verteidigungsstreitkräfte. Oder jemand, der sich für sie ausgab.
An Verdächtigen mangelte es definitiv nicht. Sei es nun der Imperiale Todeskult, verschiedenste Kulte des Erzfeindes, korrumpierte Elemente des örtlichen Adeptus, interne Querelen von Adelshäusern oder sogar eine psionische Beeinflussung durch den Erzfeind oder andere Xenos – die Liste ließ sich beliebig erweitern.
Das allerdings warf neue Fragen auf. Fragen, die sie im Augenblick nicht beantworten konnte. Sie würde länger darüber nachdenken müssen.
Nun aber musste sie sich beeilen, Colonel Ekko finden und sich dann auf die Suche nach ihrer Herrin begeben. Wenn es stimmte, was sie vermutete, dann blieb ihr nicht viel Zeit. Und mit etwas Pech würde sie bald einem neuen Inquisitor zugeteilt werden.
Eilig, aber ohne Hast, stemmte sie den Fuß gegen die eherne Mauer, welche die Seite der Tribüne abdeckte, hob die zerfetzten Überreste ihres Kleids an und griff an das Stiefelholster, indem eine für den Notfall bereitgehaltene Nadelpistole auf ihren Einsatz wartete.
Das Holster war leer.
Ein Schreck durchfuhr die Interrogatorin, ein alarmiertes Aufschreien aller geistigen Selbstverteidigungsmechanismen, die sie auf das Offensichtliche hinwiesen: Sie hatte ihre Waffe verloren.
Sofort raffte Biasz den Saum ihres Kleids, blickte ihr zerschrammtes Bein entlang und musste zu ihrem Verdruss feststellen, dass das lederne Band, das die kleine Waffe an ihren Fuß schmiegte, während des ganzen Tumults gerissen war.
Thronverdammt, dachte sie und sah auf.
Die Tribüne zeichnete sich neben ihr ab, eine verwitterte, trostlose Wand, die viele Meter in die Höhe reichte und in der längst ausgefranste Einschusslöcher davon zeugten, dass der Bau bereits den einen oder anderen Angriff überstanden hatte.
Davor jedoch herrschten Tod und Verderben. Menschen lagen auf dem Boden; Tote, Verletzte. Individuen, die von der entstehenden Panik überrollt und zerquetscht worden waren. Männer, Frauen und Kinder fanden sich, teilweise in absurden Positionen verkrümmt, über den heißen Sand verstreut wie abartige Muster des Schreckens. Opfer, die man einem der unsäglichen Warpgötzen geopfert hatte.
Biasz erschauderte.
Dann bemerkte sie etwas anderes. Etwas bewegte sich über ihr. Mit dem Geräusch einer stark erkälteten Peitsche schwang ein dünnes Seil die Mauer herab. Sekunden später erschien ein Schemen am oberen Rand der Tribüne.
Erst jetzt begriff die Interrogatorin, was diese seltsamen Menschenmuster auf dem Boden bedeuteten. Irgendwann im Verlauf der Katastrophe musste das Geländer nachgegeben haben und die Unglücklichen waren aus mehreren Metern Höhe in die Tiefe gestürzt.
Der Unbekannte, ebenfalls in die Uniform der PVS gehüllt, ließ sich die aus ultrahochfestem Beton bestehende Mauer herunter.
Am unteren Ende löste er sein Seil, entledigte sich der Koppel, fuhr herum und bemerkte Biasz.
Für einen kurzen Moment wechselten die beiden Blicke, und die Interrogatorin wusste, dass sie nun wehrlos war.
An der Hüfte des Mannes ruhte ein Waffenholster, ein Teil seiner Uniform. Sie hingegen war unbewaffnet.
Wäre es anders gewesen, hätte sie keine Sekunde gezögert und das Feuer auf den Angreifer eröffnet.
Der Imperator allerdings hielt sein gütiges Auge auf sie gerichtet, denn der Unbekannte sah zur Tribüne auf, dann wandte er sich ab und lief in Richtung Brücke davon.
Nur Augenblicke später erschien ein neuer Schatten am oberen Rand der Tribüne, setzte über den Rest der zerbrochenen Absperrung hinweg und flog mehr, als dass er sich abseilte, die Mauer abwärts.
Ein dumpfer Aufschlag und eine Staubwolke begleiten die Landung des imperialen Soldaten, bevor dieser gleich einer Feder in die Höhe schnellte und dem vermeintlichen PVS-Soldaten folgte.
Der Kasrkin, stellte Biasz erstaunt fest und erinnerte sich, ihn zuvor hinter Ekkos Platz gesehen zu haben.
»Negativ, negativ! Verliert ihn nur nicht! Wir brauchen den Mistkerl lebend!«, hörte sie ihn noch sagen, dann explodierte das infernalische Kreischen einer Walküre in die Welt, manifestierte sich als das akustische Äquivalent eines flammenden Schwerts, das durch die Luft rauschte.
Der Schatten des metallenen Raubvogels strich wie die Hand einer Lebenden Heiligen über die mit Blut getränkte Erde, schloss die Augen der Toten und bedeckte sie mit dem Leichentuch einer beruhigenden Präsenz.
Doch diese Ruhephase dauerte nicht lang. Der Schatten zog vorüber und das ohrenbetäubende Kreischen wurde zu einer Konstante in Biaszs Wahrnehmung, einer Dauerpräsenz, die sich ihres Hörsinns bemächtigte und alle anderen Geräusche erstickte.
Es bedurfte keiner großen Kombinationsgabe, um die Szene zu verstehen, derer sie gerade Zeuge geworden war, und die Kämpferin in Biasz zwang sie dazu, sich darauf zu konzentrieren, das Beobachtete an ihre Leute weiterzugeben und sie zu warnen. Nur wie?
Die Interrogatorin hatte sich diese Frage gerade erst gestellt, als sie postwendend eine Antwort darauf erhielt.
Auf dem blutgetränkten Boden, zwischen den Toten und Verletzten, lag einer von Ekkos Männern. Sie erkannte ihn nicht direkt, sah ab, dass sein junger Körper seltsam verdreht schien. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie begriff, dass der Grund dafür der große Funktornister war, den er auf dem Rücken trug, und der sich teilweise in den Boden gegraben hatte.
»Gireth«, flüsterte sie und eilte an seine Seite.
Er lebte noch, wie sie nach einer kurzen Prüfung seines Pulses feststellte, aber die Lebenszeichen waren recht schwach.
So vorsichtig, wie es die Situation erlaubte, verdrehte sie seine Gestalt weiter, um an den teilweise unter ihm begrabenen Funktornister zu gelangen. Sie suchte nach dem Handsprechgerät, blicke auf die Frequenzanzeige und bestätigte dann den Mikrofonschalter. »Hier spricht Evi Biasz, Interrogatorin der Imperialen Inquisition. Kann mich irgendjemand hören?«
***

Die Zeit von Tervor Fortis war abgelaufen.
Selbst wenn er sich nun würde erheben können, blieb ihm nicht genug Zeit, um sich vor dem explodierenden Sprengkörper in Sicherheit zu bringen – zumal er nicht einmal genau wusste, was nun zu tun gewesen wäre. Der alarmierende Ruf »Handgranate!« leistete seinen eigenen Betrag zur Reduktion von Fortis‘ Bewegungsfähigkeit.
Auf andere hingegen traf das genaue Gegenteil zu. Die ausgesprochene Warnung war noch nicht ganz verhallt, als bereits der erste Schatten in Fortis Blickfeld flog.
Er reagierte damit sicherlich nicht auf den heiser ausgestoßenen Befehl, sofort in Deckung zu gehen.
Ein Körper, gehüllt in die Steppentarnuniform der Basteter, prallte dumpf auf den sandigen Boden vor dem Abgesandten von Ghersom IV. Eine Staubwolke wirbelte auf. Finger streckten sich und bekamen die Granate zu fassen.
Mit einer ungelenken, von einer vor Aufregung zitternden Hand vollführten, Bewegung schaffte es der Infanterist, den Ei-förmigen Sprengkörper vom Boden aufzuheben und über die Betonabsperrung zu schubsen.
Keine Sekunde zu früh. Ein lauter Knall ertönte. Splitter pfiffen durch die Luft und prasselten gegen den Beton.
»Thronverdammt!«, rief jemand aus. »Das war knapp.«
»Gut gemacht, Rahael«, meinte der Sergeant. Er wandte sich um. »Also – Nebelgranaten klar machen!« Seine Stimme klang mit einem Mal beunruhigend laut, wie Fortis postwendend feststellte.
Er war nicht der Einzige.
[SUP]»[/SUP]Sir!«, rief ein anderer Soldat. »Hören Sie!«
»Was denn?«, ertönte die gebellte Antwort.
»Er hat Recht«, bestätigte ein riesiger Corporal, dessen Silhouette links von Fortis zwischen den Stühlen emporwuchs. »Hören Sie doch.«
Alle lauschten.
»Ich höre nichts«, stellte der Sergeant nach einer Weile fest.
»Ja, eben«, meinte der Corporal. »Sie schießen nicht mehr.«
Das stimmte. Abgesehen von fernen Schreien, Wimmern und Stöhnen, präsentierte sich ihnen lediglich das Heulen der Walküre, das ganz allmählich in Richtung der Brücke abdriftete.
Die ohrenbetäubende Schießerei, die ihnen kurz zuvor noch Trommelfelle und Nerven zerfetzt hatte, war verstummt.
Vorsichtig kam einer der Soldaten auf die Knie, um dem Grund für diese plötzliche Lageänderung nachzugehen.
»Bleib unten, thronverdammt«, herrschte ihn der Sergeant an, bevor er weiter vorrobbte, kurz innehielt, und sich dann selbst langsam aufrichtete.
»Niemand rührt sich!«, ordnete er an, atmete noch einmal durch und federte dann mit seinem Oberkörper über den Rand der Brüstung.
Die Laserpistole im Anschlag blickte er sich suchend um. Seine Miene verriet, dass er die sich ihm bietende Szenerie nicht fassen konnte.
»Ich werd‘ wahnsinnig«, meinte der imperiale Unteroffizier und erhob sich schließlich ganz. Jegliche Spannung und Aufregung fiel von ihm ab wie ein Mantel, dessen er sich im Aufstehen entledigte.
»Nicht!«, rief der Corporal hinter ihm.
»Schon in Ordnung. Is‘ alles leer«, meinte der Sergeant. Unglaube triefte aus seiner Stimme. »Niemand mehr da.«
Ganz allmählich standen auch die restlichen Soldaten auf, während die Privilegierten und ihr Gefolge nach wie vor am Boden kauerten.
Fortis verfolgte, wie der Sergeant ein Bein über die steinerne Balustrade hob, um dann in einer fließenden Bewegung überzusetzen.
»Rahael, Ekin, mit mir!«, vollführte seine Stimme die Bewegung in Gegenrichtung.
Die Angesprochenen folgten der Anweisung, schoben ihre Körper über die Mauer und verschwanden aus Fortis‘ Sichtfeld. Augenblicke später ertönte der dumpfe Klang von auf harten Sand prallenden Stiefeln.
Es schien, als sei die Gefahr – zumindest für den Moment – gebannt.
Langsam richtete sich der Gesandte von Ghersom IV selbst auf, blickte auf die vom Tod gesäumte Tribüne. Zerschlagene und zertretene Körper lagen wie von riesigen Händen achtlos weggeworfene Puppen auf und zwischen den Sitzen, Körperteile und abgetrennte Gliedmaßen verteilten sich um sie wie die Trümmer eines explodierten Raumschiffs. Blut und andere Körperflüssigkeiten bildeten Lachen und schmale Rinnsale.
Der Sand vor der Tribüne hatte sich rot gefärbt, und die zerfetzten Körper, teils von außer Kontrolle geratenen Festwagen, Tieren und Menschen in den Boden gemahlen, erweckten den Eindruck, als würden sie sich auf einer Todeswelt befinden. Auf einem Planeten, der seine Bewohner in einem Meer aus Treibsand ertränkte und sie dann ganz langsam aussaugte.
Über all dem schwebte ein erstickender Gestank, dessen genaue Zusammensetzung Fortis nicht ausmachen konnte. Er wollte es auch gar nicht. Bei dem, was er sah und hörte, konnte er sich sehr gut vorstellen, was wesentliche Geruchsbestandteile ausmachte.
Nichts davon gehörte zu jenen Dingen, die er als appetitanregend empfand.
Übelkeit tanzte seine Speiseröhre empor wie eine der halbnackten Tänzerinnen, die noch vor kurzem das fröhliche Treiben begleitet hatten.
Hinter ihm hingegen entwickelte sich eine vollkommen andere Form von Schrecken.
Confessor Cobis, die eigentlich eleganten Gesichtszüge zu einer grässlichen Fratze verzerrt, fuhr auf.
»Das ist ein Skandal!«, beschwerte er sich. »Man hätte mich beinahe umgebracht! Wie konnten Sie das zulassen?!« Seine Worte zielten eindeutig in Richtung des Munitoriums-Konsuln und der imperialen Soldaten, hallten aber in die Ewigkeit fort und schienen den Gott-Imperator selbst anzuklagen.
Die zuckersüße Antwort darauf erklang postwendend: »Mein lieber Konfessor – wo ist Ihre Demut? Dass Sie noch leben, liegt einzig und allein an diesen Männern«, meinte Sinwell und stand ebenfalls auf.
»Wie darf ich das verstehen?«, verlangte der ekklesiarchische Vertreter zu erfahren, musste jedoch bald schon feststellen, dass er ignoriert wurde.
In diesem Moment echote eine leise, von statischen Verzerrungen begleitete Stimme aus der Hörkapsel des Handsprechapparats, der mit dem Tornister auf dem Rücken des Funkers verbunden war: »Hier spricht Evi Biasz, Interrogatorin der Imperialen Inquisition. Kann mich irgendjemand hören?«
Der Soldat wollte gerade seinen Vorgesetzten rufen, welcher sich mit seinen beiden Begleitern inzwischen etwas von der Gruppe entfernt hatte und die Gegend erkundete, als ihm die neben ihm stehende Inquisitorin das Handsprechgerät aus den Fingern nahm. »Evi!«, sagte sie ruhig, aber dennoch mit einem strengen Unterton, so als wollte sie die jüngere Frau dafür schelten, dass diese sich so lange nicht gemeldet hatte.
Die Antwort erfolgte prompt: »Milady – es ist gut, Eure Stimme zu hören«, begann die Interrogatorin, um dann ohne Umschweife fortzufahren: »Wie viel habt ihr von dem Angriff mitbekommen?«
»Mehr als genug«, meinte die Inquisitorin, als sie sich umwandte und auf zerfetzten Sitze und Toten blickte, die sich um die improvisierte Deckung herum verteilten. »Ich glaube, wir waren das Zentrum, wenn nicht sogar das Ziel«, stellte sie fest, ließ ihren Blick weiter zu Cobis, Fradd und schließlich auch zu Fortis gleiten und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit dann zurück auf die körperlose Stimme.
»Das habe ich mir gedacht«, stellte die Frau am anderen Ende der Leitung fest. »Ich kann offen nicht darüber sprechen, aber: vertrauen Sie niemandem, der wie die PVS aussieht. Ich melde mich wieder. Muss Colonel Ekko finden.« Ein Knacken ertönte und die Verbindung brach ab.
Der Corporal rutschte an die Seite des ungleichen Paars am Funkgerät. »Was war das gerade?«, erkundigte er sich.
»Sie hat gerade gesagt, dass die PVS den Angriff ausgeführt hat«, berichtete der Funker.
»Was?!«, fuhr ihn der Corporal an.
»Es war die PVS!«, wiederholte der Soldat.
»Das hat sie nicht gesagt«, berichtigte Sinwell die Worte und reichte den Sprechapparat an den Funker zurück. »Sie hat gesagt, dass wir aktuell niemandem vertrauen sollen, der wie die PVS aussieht.«
Damit jedoch konnte die Inquisitorin die wilden Gedanken im Kopf von Fortis nicht besänftigen. Und betrachtete man den massigen Körper des imperialen Unteroffiziers, erging es ihm vermutlich ähnlich. Verwirrung und Unglauben verzerrten sein Antlitz. »Die PVS?!«
»Corporal?«, erkundigte sich Sinwell. Es klang wie eine Ermahnung. Vermutlich war es das auch.
Der Mann zögerte einen Augenblick, sah über die Brüstung zu seinem Vorgesetzten, der mit seinen beiden Begleitern inzwischen ein gutes Stück von der Tribüne abgerückt war, und wandte sich dann wieder um.
»Gut«, befand er und nickte. Es war nicht seine Aufgabe, Informationen von diensthöherem Personal der imperialen Administration in Frage zu stellen. »Ihr habt sie gehört, Männer. PVS auf Abstand halten – wenn nötig, mit Gewalt.«
***

Einige hundert Meter entfernt kam Galardin Alberic Ekko inmitten einer Blutlache zu sich und war im ersten Augenblick sichtlich verwundert. Wirklich aufregend war der Traum nicht gewesen. Genau genommen konnte er sich gar nicht mehr an das erinnern, was ihm sein Unterbewusstsein vorgespielt hatte. Dennoch – aus irgendeinem Grund fühlte er eine seltsam prägnante Nässe seine Unterhose durchweichen. Ob sie sich von außen Zutritt verschafft hatte oder ihr Ursprung in seinen Innereien zu finden war, konnte er nicht sofort feststellen.
Das nächste, was er bemerkte war der Geruch. Ein seltsamer, verbrannter Geruch. Fyzelen, offenes Feuer und … Fleisch. Vielleicht auch ein paar Exkremente.
Hatte die Kantine etwa schon geöffnet?
Er hob den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen, aber seine Augen waren verklebt und in seinem Kopf tanzten Chaosdämonen zur Melodie des Schmerzes.
Erst langsam klärte sich sein Geist, machte Platz für eigenartige Gerüche und ferne Geräusche; Schüsse, Explosionen und Schreie.
All das klang seltsam unnatürlich und dennoch richtig, denn die Schlacht um die Himmelskathedrale … war längst vorbei, wie er sich nur Sekunden später selbst erinnerte.
Langsam kehrten die Gedankendias zurück. Ja, richtig. Das Saatfest. Der Umzug. Die Explosion.
Schmerz bemächtigte sich seiner Extremitäten, spritzte wie dünnflüssige Lava über die betäubende Kraft eines überraschend muskulösen Kopfschmerzes hinweg.
Die vermittelte Aussage ließ sich nur schwer missverstehen: Tja, mein Bester – das ist echt doof. Ich glaube, du hast keine Beine mehr.
»Ah-ha-haaa!«, war das Einzige, was dem Colonel einfiel, bevor ein langer Laut des Schmerzes jede weitere Äußerung verhinderte. Die Reizüberflutung war dermaßen stark, dass seine Muskeln zu zittern begannen und nach kurzer Zeit des Widerstands den Dienst quittierten. Geräuschvoll fiel der imperiale Offizier zurück auf die Erde.
Er benötigte eine Weile, bis sich seine geistige Ausdauer soweit regeneriert hatte, dass er einen zweiten Versuch wagen zu können glaubte.
Langsam, ganz vorsichtig, drehte er sich auf den Rücken und keuchte. Tränen sättigten seine Augenhöhlen, spülten Schmutz fort und öffneten die klebrigen Vorhänge aus Blut ein wenig.
Jede Bewegung wurde von einem Gefühl begleitet, das sich wohl am besten mit dem heißen Schmerz vergleichen ließ, den der Biss eines Kroothunds hinterließ – nachdem dieser im gleichen Atemzug die vorher an der Stelle befindliche Gliedmaße amputiert hatte.
»Thronverdammt«, presste Ekko zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Er benötigte eine Ewigkeit, um sich in eine relativ aufrechte Position setzen zu können und festzustellen, dass seine Beine zwar noch da, aber von Splittern und Schrapnellen perforiert und seine Hosen bis zu den Oberschenkeln zerfetzt und blutig waren.
Ein weiteres Zeitalter verstrich, das er nutzte, um sich seiner Umgebung vollends gewahr zu werden.
Der Schrecken der Szenerie traf ihn mit der Wucht einer Energiefaust und ließ ihn für eine Weile sogar die in seinen Beinen residierenden Schmerzen vergessen. »Beim Barte des Propheten …«
Es war noch nicht lange her, dass er eine ähnliche Szene beobachtet hatte. Das allerdings war ein Kriegsgebiet gewesen.
Das Blutbad, das sich ihm jetzt allerdings präsentierte – hier, auf seiner Heimatwelt – besaß eine vollkommen andere Qualität.
Ekko spürte, wie Adrenalin durch seinen Körper flutete, seine Adern und Venen öffnete und Zorn in Detonationswellen gleichen Schüben heißkalte Schauer sein Rückgrat emporschickte.
Wer auch immer das getan hatte - und dank seiner erst kürzlich erfolgten Begegnung mit dem einsamen PVS-Soldaten wusste er bereits, wen er zum Thema befragen konnte – würde Colonel Galardin Alberic Ekko bald richtig kennen lernen. Ob nun mit oder ohne Beine. Das hieß: falls er es jemals schaffen sollte, diesen Ort zu verlassen. Ohne Beine, stellte er resigniert fest, würde das eine recht mühsame Angelegenheit werden.
Schnelle Schritte näherten sich ihm vom Fuß der Tribüne. Nach einer Weile gesellte sich auch keuchendes Atmen hinzu.
Dem Reflex der Selbstverteidigung folgend, griff der Colonel an sein Oberschenkelholster, zog die dort befindliche Laserpistole heraus und richtete sie grob auf den ihm entgegenhallenden Klang aus.
Er brauchte etwas, bis ihm aufging, dass das, was die glitschigen Stufen emporeilte, die fantastisch proportionierte Figur Evi Biaszs war.
Gleichzeitig erleichtert und müde senkte er die Pistole und gewährte der Interrogatorin die Ehre, seine persönliche Selbstverteidigungssphäre zu betreten.
»Colonel!«, rief sie aus und atmete tief durch, als sie an seiner Seite auf die Knie sank. »Der Imperator beschützt! Sind Sie überhaupt noch einsatzfähig?«
»Ist halb so schlimm«, log er und winkte ab. »Richtet sich alles wieder.« Ein kurzer Handwink auf das zerrissene Kleid der angehenden Untersuchungsrichterin folgte. »Dabei fällt mir ein: habe ich Sie eigentlich schon zu dem tollen Dekolleté beglückwünscht?«
»Colonel!«, meinte sie streng. Ihre dunkle, von Hingabe durchsetzte Stimme verlieh den Worten eine ganze besondere Note. »Es gibt jetzt Wichtigeres zu tun! Ich brauche Sie!«
Erinnerungen an die Vergangenheit kämpften sich durch Schmerz, Adrenalin und ein Meer aus alarmiert umherflatternden Gedanken, überschwemmten alle Empfindungen und ertränkten sie, bis sich aus der Nulllinie ein schattenhaftes Bild formte: eine junge Frau, die sich verzweifelt an die letzten Reste einer eingestürzten Brücke klammerte, während ein kleines Mädchen in die weit unter ihr liegende Schlucht stürzte, einen lautlosen Todesschrei auf den Lippen.
»Ja«, sagte er und starrte ins Leere. »Das habe ich schon mal gehört.«
Die Bilder verblassten, und das darunter zum Vorschein kommende Leichenfeld aus zerfaserten Gedanken ermöglichte es dem Colonel, neue, deutlich strukturierte Überlegungen anzustellen als es ihm unter dem Eindruck der ersten Momente nach seinem Erwachen möglich gewesen war.
»Helfen Sie mir hoch«, ordnete er an und streckte der sichtlich zerschrammt wirkenden Interrogatorin seine blutbeschmierte Hand entgegen.
»Beim Baa-ahhh!«, brüllte er die Pein aus sich heraus, als die schlanke Frau ihm auf die Beine half. Die Schmerzen waren schier überwältigend, brannten wie lebendiges Feuer und ließen seine Knochen knirschen wie das morsche Holz einer alten, sturmumtosten Hütte. Für einen Moment glaubte der Colonel sogar, die lädierten Partien seines Leibs würden unter ihm wegbrechen wie sauber gesprengte Säulen unter einem Tonnengewölbe.
Dass ihn die Interrogatorin stützen musste, machte die Sache auch nicht besser.
Er humpelte ein paar Schritte, wandte sich um und wies auf das Massaker: »Was auch immer geschehen ist: haben wir gewonnen?«
»Ich glaube nicht, dass wir sonst noch hier wären«, erwiderte sie mit dermaßen viel entwaffnender Ehrlichkeit, dass der Colonel erst keine Antwort darauf fand.
»Ah«, nickte er schließlich verstehend und begann, die blutbeschmierte Treppe abwärts zu hinken, den Arm um seine gutaussehende Begleiterin gelegt. Der Taktiker in ihm hatte die Schmerzen bereits abgeschüttelt und räumte gerade die Trümmer vom Projektionstisch des geistigen Holoplots, während andere Synapsen noch mit der Schadenübermittlung beschäftigt waren.
Der Feind war fort, so viel stand fest. Zumindest vorläufig. Es stellte sich nun die Frage: warum? Hatten die Angreifer ihr Ziel erreicht oder waren sie rechtzeitig abgeschlagen worden? Handelte es sich nur um ein Ablenkungsmanöver? Stand ihnen der Hauptschlag vielleicht noch bevor?
Der letzte Gedanke hatte gerade das Licht der Welt erblickt, da verwarf er ihn bereits. Nein. Das Gros der planetaren Regierung hatte sich hier befunden, irgendwo beim oder im Festumzug. Wenn man von einem Hauptschlag sprechen konnte, dann hatte er hier stattgefunden.
Das allerdings warf eine neue, äußerst beunruhigende Möglichkeit auf. Ekko hob den Kopf und zuckte zusammen, als sich eines seiner Beine vertrat. »Hat sonst noch jemand überlebt?«, presste er hervor und versuchte, das Feuer zu ignorieren, das sich gerade in seinen Muskeln zu entzünden versuchte.
»Ich habe mit der Inquisitorin gesprochen«, berichtete Biasz, wurde kurzzeitig vom Colonel mit einem heiser gezischten »Nicht so schnell« unterbrochen und fuhr dann fort: »Aus ihrer Stimme konnte ich keine unmittelbare Gefahr erkennen. Daher nehme ich an, dass sie die Situation relativ unbeschadet überstanden hat.«
»Klingt, als hätten meine Leute ihren Job ordentlich gemacht«, dachte der Colonel laut nach. »Gut. Sehr gut.« Er räusperte sich. »Ich nehme aber nicht an, dass Sie wissen, wer es war, oder?«
»Jemand, der sich für die PVS ausgegeben hat«, stellte sie unumwunden fest und erntete dafür einen erstaunten Blick des imperialen Offiziers.
»Wie meinen Sie das?«
»Ihr Freund war nicht allein«, fuhr sie erklärend fort. »Ich habe noch einen gesehen. Er hat sich vom Rand der Tribüne abgeseilt und ist geflohen, verfolgt von Ihrem Kasrkin.«
»Krood?«, erwachte Ekkos Jagdinstinkt, verbannte Schmerzen und Nachdenklichkeit zumindest für eine Weile. »Wohin?«
»Zur Brücke«, erinnerte sie sich und wies auf den über der Szenerie schwebenden Senkrechtstarter. »Vermutlich dort, wo die Walküre gerade schwebt.«
Diese Information intensivierte den Adrenalinfluss in Galardin Alberic Ekko abermals. »Wir müssen sofort dorthin«, entschied er, ohne ihr weitere Details zu erläutern.
»Was ist mit Ihren Leuten?«
»Vergessen Sie meine Leute«, erwiderte er unwirsch. »Die können auf sich selbst aufpassen. Ich muss zur Brücke. Jetzt.«
Biasz schien von der plötzlichen Entscheidungsfreudigkeit des imperialen Offiziers nicht gerade begeistert. »Gut«, sagte sie dennoch. »Dann brauchen wir ein Fahrzeug.«
»Und wo finden wir das?«, wollte Ekko wissen.
»Vermutlich bei Ihren Leuten.«
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
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www.fanfiktion.de
So, Ihr Lieben – lange ging es hier nicht weiter.

Das letzte Jahr war, gelinde gesagt, chaotisch und wie auch viele andere, hatte es mich ziemlich im Griff. Daher hatte ich wirklich weder Zeit, noch große Motivation zu schreiben. Inzwischen habe ich auch einen neuen Job und muss viel erledigen, dass in der letzten Zeit liegengeblieben ist. Von daher wird es auch weiterhin nur langsam vorangehen.

Aber es geht weiter, wenn vorerst auch nur in Häppchen.

Colonel Ekko ist eben nicht totzukriegen.


Vielen Dank an Nakago für’s Drüberlesen.



15


Gut einen halben Kilometer entfernt bahnte sich Gren Krood seinen Weg über das Schlachtfeld, das der zeitgleich mit dem Massaker an der Tribüne stattgefundene Angriff auf die Goroni-Brücke zurückgelassen hatte.
Wie die Tribüne und deren Umfeld, war auch der massive Körper der Brücke mit den Leibern der Toten und Sterbenden übersät, den physischen Zeugen eines unbeschreiblichen Blutbads.
Abgerissene und zerfetzte Extremitäten lagen auf dem rot getränkten Sand verstreut, und die schwarz verbrannten Krater von Granatexplosionen akzentuierten das sie umgebende Leichenfeld wie die Oberfläche eines mit Asteroideneinschlägen gesäumten Mondes.
Zwischen den Toten und Sterbenden irrten die Überlebenden des Massenmords umher, kehrten aus dem Schockzustand zurück, der sie nur wenige Minuten zuvor in alle Winde verstreut hatte.
Wie betäubt torkelten sie durch das unter einer leichten Staubwolke liegende Gebiet; gleich Luftmolekülen, die von den Detonationen zuerst verdrängt worden waren und die nun zurückkehrten, aber ihren angestammten Platz im unsichtbaren Gefüge der Atmosphäre nicht mehr fanden.
Väter suchten ihre Familien, Mütter ihre Söhne und Töchter. Weinende Kinder riefen nach ihren Eltern.
Der Kasrkin passierte eine junge Frau, die inmitten der Tragödie saß, so als wäre all das überhaupt nicht geschehen. Der Kopf ihres Geliebten ruhte in ihrem blutverschmierten Schoß, während sie ihm sanft und mit leerem Blick durchs dunkle Haar strich. Der Rest des Mannes hatte sich unter der Einwirkung einer nahen Explosion und einer gut platzierten Sturmwaffensalve in eine Masse verwandelt, die einem grob gehackten Fleischerzeugnis glich.
Nicht weit entfernt davon lagen die Überreste einer vierköpfigen Familie. Offensichtlich hatten sich die Eltern während der Schießerei auf ihre beiden Kinder geworfen, um sie vor dem grässlichen Wüten der unbekannten Angreifer zu schützen.
Gerettet hatte sie das nicht.
Die aufgeplatzten Körper der Toten, ausgeweidet und im unmittelbaren Umkreis verstreut, erweckten eher den Eindruck, dass die Attentäter mindestens ein volles Magazin aus nächster Nähe auf die am Boden Liegenden geleert hatten.
Über all dem waberte der unerträgliche Gestank des Todes. Es war jene widerliche Mischung aus Promethium, Fyzelen, Exkrementen, Blut und verbranntem Fleisch, die dem Kasrkin allzu vertraut war, und die seine ohnehin bereits aufs äußerste gespannten Nerven noch ein gutes Stück stärker reizte.
Er beeilte sich weiterzukommen.
Über ihm heulte die Walküre ihren Todesgesang, erstickte das Jammern und Wehklagen der noch Lebenden wie eine Löschdecke, kroch einem Schatten gleich über die sandige Oberfläche des Anschlagsorts und griff mit langen, unsichtbaren Fingern nach dem Mann, den Krood in all dem Chaos zu finden versuchte.
Er hatte ihn nur kurz gesehen, und im Orchester der Eindrücke ließen sich derart flüchtige Momente selbst für den Geist eines geschulten Elitesoldaten nur schwerlich festhalten. Die Züge und das Aussehen seines Gegenübers waren eher schemenhaft in seinem Unterbewusstsein verankert.
Er wusste, wie der Mann aussah – und er hätte ihn vermutlich überall gefunden. Nur ihn bewusst beschreiben, das wäre ihm nicht gelungen.
»Habt ihr ihn?«, erkundigte er sich, indem er in das vor seinem Mund befindliche Mikrofon sprach. Kurz rauschte es, dann erklang die Antwort. »Negativ. Ziel verloren.«
Der Elitesergeant hob den Kopf und blickte in den Himmel über sich, wo der Walküre-Sturmtransporter, auf dem seine beiden Kasrkin die Lageentwicklung aus der Luft verfolgten, langsam seine Kreise zog.
Thronverdammte Scheiße. Er atmete tief durch. »Verstanden. Er darf uns nicht entkommen.«
»Roger.«
Krood passierte einen in zerfetzte Lumpen gehüllten Mann, dessen blutüberströmter Körper wie eine besonders abartig gestaltete Statue inmitten des Schreckens stand. Seine Augen starrten in weite Ferne, leer und abwesend.
Nicht weit entfernt eilte eine Gruppe Arbitratoren auf mehrere imperiale Soldaten zu, die mit einem anderen Mann am Boden rangen.
Krood folgte ihnen.
Kaum, dass sie das Knäul erreicht hatten, stürzten sie sich in den Kampf. Schockstäbe sausten nieder und trafen Körper. Schreie erklangen. Die Luft knisterte.
Als hätten sie eine besonders giftige Tierart angefasst, lösten sich die Soldaten eilig von dem am Boden Liegenden, der unter den Stromstößen der auf ihn niedergehenden Vollzugswaffen zuckte und bebte.
Krood näherte sich einem Sergeant, der in der Nähe der Szenerie Befehle an eine Gruppe Infanteristen verteilte.
»Wie sieht es aus?«, wollte er wissen, als er den Mann erreicht hatte.
Der musterte ihn kurz, dann nahm er Haltung an. Kasrkin galten als der Inbegriff des Elitesoldaten, und jeder gewöhnliche Soldat tat gut daran, dies nicht zu vergessen.
»Sir«, grüßte ihn der ranggleiche Mann, bevor er damit begann, seine Lagemeldung abzuspulen: »Vor wenigen Minuten erfolgte ein überfallartiger Angriff gegen den Umzug und die umstehenden Personen durch eine Gruppe von mehreren bewaffneten Personen. Der Angriff erfolgte multidirektional und wurde mit Schnellfeuerwaffen sowie Sprengkörpern geführt.« Dabei wies der Sergeant auf die sandigen Flächen beiderseits der Brücke. »Der Angriff wurde durch Arbitratoren und Teile der Ehrenformation beantwortet« – damit meinte er Retexers Einheit – »wobei Captain Retexer schwer verwundet wurde. Ich habe bisher keinen Überblick über weitere Verluste.«
»Feindlage?«
»Drei der Angreifer sind bereits tot. Zwei von anwesenden Arbitratoren getötet, einer durch Selbstmord.«
Kroods Blick fixierte den Mann wie der Ziellaser eines auf ihn gerichteten Geschützes, forderte ihn zum Weiterreden auf. »Er hat in der Aussichtslosigkeit seiner Lage eine Handgranate vor der Brust gezündet.«
»Irgendjemanden mitgenommen?«, hakte der Kasrkin nach.
»Nein«, erhielt er zur Antwort. »Vermutlich aber auch nur, weil in der Nähe bereits alles niedergemäht war.«
»Das stellt nicht unbedingt ein Hindernis dar«, bemerkte der Elite-Sergeant knappt, bevor er in Richtung des niedergestreckten Mannes in PVS-Kleidung wies. Es war definitiv nicht der Mann, den er suchte. Aber das musste nichts heißen. »Haben Sie den da auf Waffen durchsucht?«
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf und wies auf den am Boden fixierten. »Selbst wenn er noch Waffen am Mann hat, dann wird er sie nicht mehr einsetzen können.«
»Solange ihn niemand fernzündet«, meinte Krood lakonisch.
Darauf wusste der Basteter keine Antwort. Diese Chance nutzte der imperiale Kommandosoldat, um seinen eigenen Auftrag zu erläutern.
»Eine ähnliche Attacke wurde auf die Tribüne ausgeführt«, berichtete er. »Einer der Terroristen hat sich nach der Schießerei abgesetzt und ist in Richtung Brücke geflohen. Ich konnte ihn bis hierher verfolgen, habe ihn aber in der allgemeinen Unordnung verloren.«
»Beschreibung?«
»Groß, dunklerer Hautton, dunkle Haare. Trägt vermutlich Überreste von Militärkleidung.«
Sein Gesprächspartner blickte sich um, schürzte die Lippen und wies dann hinter sich. »Viel Erfolg«, meinte er ebenso lapidar wie der Kasrkin zuvor.
Krood folgte der Geste mit den Augen. Zu seiner eigenen Unzufriedenheit begriff er recht schnell, was ihm der basteter Infanterist mitteilen wollte: Die Brücke war gesäumt von Soldaten in Kampf- und Paradeuniformen, die den verfügbaren Medicii und Vigiles zur Hand gingen, Verletzte und Tote wegtrugen oder sich um eigene Verwundungen kümmerten.
Thronverdammt, dachte er. Natürlich – Retexers Leute, allesamt aufgerödelt und optisch ansprechend zurechtgemacht, reduzierten seine Chance, den flüchtigen Angreifer zu fassen, deutlich.
»Gut«, schloss er, um keine weitere Zeit zu verlieren. »Sie sind informiert. Jeder, der nicht zu ihnen gehört, aber in Uniform unterwegs ist, muss gestoppt werden. Egal, wie.«
»Verstanden«, bestätigte der andere, bevor er sich umwandte: »Ramin!«
Ein Soldat löste sich aus der Gruppe, die um den nun bewusstlosen, arg lädierten Attentäter herumstanden und trabte an die Seite seines Vorgesetzten. Der begann sofort mit der Befehlsausgabe.
Krood setzte seinen Weg fort. Er hatte bereits zu viel Zeit verbrannt bei dem fruchtlosen Versuch, Informationen über den Verbleib der Zielperson einzuholen oder zu teilen.
Eigentlich hätte er sich über diese Ablenkung ärgern können, doch dafür war Krood viel zu professionell. Zudem: er hatte sie ja selbst verursacht.
Noch während er daran dachte, schob sich eine neue Szene in sein Blickfeld: ein kleines Kind, das allein und verlassen auf der Brücke saß, inmitten des Tumults einer unorganisierten Rettungsaktion, und dennoch keine Beachtung fand.
Die Überreste seiner Eltern lagen, von schweren Festwagen überrollt, auf dem sandbedeckten Fahrweg der Brücke; in den Staub gemahlene Rümpfe aus Fleisch, die den umliegenden Boden mit Blut getränkt hatten.
Die kleinen, glänzenden Augen der zurückgelassenen Waise trafen den Kasrkin mit einer Intensität, die ihn überraschte. Wirklich viel konnte er aus dem Blick nicht erkennen. Es lag keine Aussage in ihnen, keine Frage oder Klage. Vielmehr blickte der imperiale Elitesoldat in das Gesicht eines jungen Menschen, dessen Welt sich gerade in Leere aufgelöst hatte.
Im Angesicht dieser unheimlichen Begegnung verpasste ihm die Erinnerung an seine Jugend auf Cadia einen wohlplatzierten Kinnhaken, der sein inneres Gleichgewicht zurücktaumeln ließ.
Er schüttelte sich und lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf seinen Auftrag.
Die Aufregung, die just am anderen Ende der Brücke wie ein Buschfeuer aufflammte, war ihm dankenswerterweise dabei behilflich.
»ZP erkannt. Eine Geisel«, erwachten seine Kopfhörer zum Leben, während sich die Schritte des Elitesoldaten bereits beschleunigten.
Er spürte, wie erneut Adrenalin in seinen Adern zu pumpen begann, fühlte den Schweiß, der urplötzlich eisig kalt auf seiner Haut prickelte und empfand eine gewisse Aufregung bei der Erkenntnis, sein anvisiertes Ziel nun doch noch erreichen zu können. »Bericht!«, rief er ins Mikrofon, während er an einer Gruppe Vigiles vorbeieinleite, die gerade abgerissene Arme einsammelten. »Ich brauche ein Lagebild.«
»Bestätige Geiselnahme«, knisterte die leidenschaftslose Stimme von Tall in seinem Ohr. »Geisel weiblich, circa 20-25 Jahre alt – Trennung – Angreifer durch mehrere Soldaten und Arbitratoren eingekreist – Trennung – Angreifer hat eine Faustfeuerwaffe gezogen und bedroht die vor Ort befindlichen Kräfte.«
»Ja, verstanden«, quittierte Krood die Meldung. »Bin gleich da.«
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er den Eingekreisten entdeckte. Ein Blick reichte, um das Erscheinungsbild des Mannes mit seiner Erinnerung an den Angreifer abzugleichen. Der Erkennungsdienst in seiner zerebralen Kommandozentrale nickte und hob den Daumen: Ja, das war er.
Krood kam näher, die Laserpistole im Anschlag.
Er trat in eine surreale Situation.
Wie ein Rudel tollwütiger Hunde kreisten mehrere Arbitratoren den vom Kampf der letzten Minuten sichtlich gezeichneten Mann ein. Völlig verstaubte Soldaten, in verdreckte Galauniformen gehüllt und mit Zeremonialwaffen ausgerüstet, mischten sich unter die Gesetzeshüter. Die Blankwaffen ihrer Lasergewehre deuteten auf den Körperbereich des Attentäters, dessen Leib hinter einem schlanken Mädchen Deckung suchte. Da er den Arm diagonal um ihre Brust geschlungen hatte, zog er sie bei jeder Bewegung mit sich. Das wallende braune Haar der hübschen, reich geschminkten jungen Frau wippte wie loses Stroh und ihre Augen tanzten Walzer der Panik. Der Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, aber schien unfähig, irgendeinen Laut von sich zu geben.
Die Augen des Entführers hinter ihr waren ebenfalls weit aufgerissen, und auch sie huschten alarmiert umher.
Im Gegensatz zu ihr, die zwischen einem Verbrecher und seinen Jägern stand und in jedem Fall Schaden erleiden würde, versuchte er, alle seine Verfolger im Blick zu behalten und so zu verhindern, dass sie ihn flankierten und aus einer ungeschützten Richtung angriffen.
Sein Waffenarm zuckte wie eine beißwütige Schlange umher, vollführte einen komplizierten Tanz mit den ihn bedrohenden Vollstreckern des imperialen Willens.
Die Anspannung peitschte umher, kontrollierte den Kalten Krieg zwischen ihnen wie ein Parasit. Eine graue Eminenz, die das laute und blutige Ende herbeiführen wollte, nachdem sie den grassierenden Schrecken in vollen Zügen ausgekostet hatte.
Inzwischen hatte der stumme Kampf die Kontrahenten an die Brüstung der großen Maat-Brücke gedrängt. Die Situation schien aussichtslos.
Krood schob sich zwischen den Arbitratoren und Soldaten hindurch, packte einen Infanteristen an der Schulter und bugsierte ihn aus dem Weg.
Augen und Köpfe wandten sich ihm zu. Für einen Augenblick schien es, als wäre sich die Aufregung seiner gewahr geworden und hätte sich mit einem klammheimlichen Sprung von der Brücke in den Tod gerettet. Suizid war immer noch eine humanere Alternative zu einem Nahkampf mit einem imperialen Grenadier.
Und auch der Attentäter bedachte ihn mit einem Blick, der endgültiges Verstehen im Angesicht der Niederlage signalisierte.
Hatte sich in ihm zuvor noch den bereits erlöschenden Funken der Hoffnung genährt, trotz der überwältigenden Anzahl von Imperialen auf irgendeine Weise heil aus der Situation entkommen zu können, so zerschlug sich dieses Vorhaben spätestens mit Kroods Ankunft.
Die Hoffnung war verloren.
Krood hob die HE-Laserpistole, entsicherte sie mit einer deutlich sichtbaren Geste und richtete die Waffe auf den Kopf seines Gegners. Dass sich das hübsche Gesicht der jungen Frau zwischen ihm und dem Angreifer befand, ignorierte er.
»Was … was soll das werden?«, zischte der in die Enge getriebene, falsche PVS-Soldat. Der Rumpf der Walküre zog in einer Entfernung hinter ihm über das sprudelnde Wasser der Maat hinweg.
Krood antwortete nicht, neigte lediglich den Kopf und senkte ihn so auf eine Linie mit seinem Waffenarm. Wenn er jetzt abdrückte, bestand eine gute Chance, dass er an der jungen Frau vorbeischoss und ihrem Entführer dennoch ein Loch ins Hirn stanzte.
Für einen kurzen Moment hielt das Universum den Atem an, beratschlagte über die Frage, ob es Krood empfehlen sollte, den Schuss zu versuchen oder besser dem Angreifer riet, die Waffe niederzulegen und schnelles, unspektakuläres Ende hinzunehmen.
Zu einer Entscheidung gelangte es allerdings nicht mehr.
Ein neues Geräusch mischte sich unter den Lärm der sie umkreisenden Walküre und das Durcheinander.
Ein sanftes Summen, fast unhörbar und dennoch präsent genug, damit Kroods Gehirn einen geringen Teil seiner Leistung auf dessen Identifizierung verwendete.
Ein Sturmfahrzeug der Imperialen Armee, dachte er. Vermutlich ein Tauros Venator, wie sie erst vor kurzem in die Reihen des 512. Regiments aufgenommen worden waren.
Vermutlich traf gerade Verstärkung ein. Noch mehr Leute, die aufgeregt mit ihren Waffen herumfuchtelten und die Gefahr eines unkontrollierten Feuergefechts erhöhten. Gerade das, was er im Augenblick nicht benötigte.
Die Stimme, die kurz darauf erklang, hob diese Möglichkeit mit der Leichtigkeit einer explodierenden Handgranate in das grausige Gewand des absolut Wahrscheinlichen: »Krood!«
Er reagierte nicht, tat so, als hätte er die Ansprache nicht gehört.
Dennoch konnte der imperiale Elitesoldat nicht verhindern, dass sich sein Finger ganz allmählich um den Abzug krümmte. Es war ein subtiler Vorgang, der vermutlich durch den steigenden Druck in seinen Adern ausgelöst wurde – und es gab nur einen Menschen, dessen Präsenz ihn so sehr in Wut versetzte, dass sich sein Körper seiner Kontrolle entwand.
Es spürte den Widerstand, als der Abzugsfinger den Druckpunkt ertastete. Nur ein kleines Stück weiter und die Waffe in Kroods Händen würde einen kohärenten Energiestrahl auf sein Ziel emittieren.
Sie besaß dabei genügend Energie, um einen menschlichen Körper sauber zu durchschlagen, die entstehende Wunde zu kauterisieren und sämtliche Blutungen zu verschließen. Sie war präzise und kraftvoll. Die Waffe eines Elitekriegers. Selbst die Armaplastwesten der imperialen Armee oder Körperpanzer der Arbites waren für sie kein Hindernis.
Er wäre ein Leichtes gewesen, den Abzug nun durchzuziehen und eine Salve abzufeuern, die alles vor ihm durchlöchert und verbrannt hätte.
Ob es dieser Gedanke war, der ihn stoppte, hätte er später nicht mehr sagen können, doch die Anspannung fiel so plötzlich von ihm wie ein Gravschirm mit Schnelllöseverschluss. Sein Zeigefinger entspannte sich, ließ den Abzug der Laserpistole langsam wieder nach vorne gleiten.
»Krood!«, ertönte die Stimme seines Vorgesetzten hinter ihm erneut, dann fuhr sie fort: »Rahael, gehen Sie hin und lösen Sie ihn ab.«
»Ja, Sir!«
Unter dem Heulen der Walküre, dem Rauschen des Windes und dem konzentrierten Atmen der Männer um ihn herum hörte der cadianische Elitegrenadier, wie eine Person zu ihm aufschloss und sich an seiner Seite positionierte.
»Colonel Ekko bittet Sie zu sich, Sir«, meldete Soldat Rahael. »Ich übernehme solange Ihre Position.«
Krood überlegte, welche Antwort er dem jungen Soldaten geben sollte. Im Grunde verspürte er kein Bedürfnis, sich gerade jetzt mit dem Regimentskommandeur des 512. Sera zu unterhalten. Vor allem nicht in dieser Situation.
Eigentlich hätte Ekko wissen müssen, dass es ein Fehler war, ihn jetzt aus der Feuerlinie zu ziehen. Das Statement, das der Colonel mit dieser Aktion machte, konnte für den Attentäter lediglich eine Schlussfolgerung zulassen: Das Imperium nahm seinen Bluthund an die Leine.
Und allein Kroods Stolz verbot es, dass er dieser Ansicht Vorschub leistete.
Als guter Kommandeur wäre Ekko an seine Seite gekommen, anstatt ihn zu sich zu rufen.
Schließlich aber ergab er sich in sein Schicksal. Noch war ein Befehl ein Befehl.
Er hätte es ohnehin nicht verhindern können.
»Fuß an Fuß«, befahl er, ohne seinen Blick von dem aufgeregt schnaufenden Angreifer zu nehmen.
Sand knirschte. Rahaels Stiefel berührte Krood.
»Drehe raus«, schloss der Kasrkin das Verfahren ab. Dann fuhr er herum und eilte in Richtung des hinter ihnen stehenden Taurus, wo Colonel Ekko ihn bereits erwartete.
Der Colonel saß mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Beifahrersitz des Venator-Kommandowagens, einer Variante des imperialen Tauros Venator-Sturmfahrzeugs, die deutlich breiter war als der Rumpf des Kampffahrzeugs, und bei der – neben dem zusätzlichen Beifahrersitz an der Front - der hintere Gefechtsraum durch eine nach oben offene Funk- und Kommandozelle ersetzt worden war.
Das Fahrzeug hatte sich mehr oder weniger zielsicher einen Weg über die Brücke gebahnt und es dabei fertiggebracht, keinen der willkürlich auf dem blutigen Sand verteilten Körper zu überfahren. Statt einem imperialen Soldaten konnte Krood erkennen, wie sich eine gut gebaute junge Frau aus dem Fahrersitz löste und sich über die Seite des Venators schwang. Der imperiale Elitesoldat bedachte sie mit kurzen Blicken und überlegte, wo er sie bereits gesehen hatte.
Sie war eine imperiale Administratin, so viel war sicher. Die zerrissene Kleidung an ihrem Körper verströmte noch einen letzten Hauch von Eleganz, und trotz des verstaubten und zerschrammten Gesichts wirkte sie erhaben – ja, vielleicht sogar ein wenig aristokratisch.
Aber seit wann steuerte eine Administratin das Stabsfahrzeug eines Offiziers?
Ekko hingegen blieb sitzen.
Dass der Colonel das Fahrzeug selbst bei bestem Willen nicht hätte verlassen können, sah Krood erst, als er bereits neben der Karosserie stand.
Gesicht und Körper des imperialen Offiziers zeichneten sich durch Schrammen, blaue Flecke und ein Gemisch aus Sand und verkrustetem Blut aus. Seine Uniform war zerschlissen und zwischen den zerfetzten Hosenbeinen ließen sich die blutigen Formen seiner Beine erkennen.
Ekko folgte Kroods Blick, dann nickte. »Ja«, meinte er und lächelte jungenhaft – was auf Krood eher schmerzhaft und gequält wirkte, »mittendrin statt nur dabei.«
Colonel Ekko konnte also auch bluten. Ein Funken Respekt glomm tief in Kroods Innerem.
Aus dem Funktornister, der zwischen dem Colonel und dem Fahrersitz stand, knisterten aufgeregte Funksprüche. Vorsorglich hatte der Regimentskommandeur die Lautsprecher heruntergeregelt, sodass das Crescendo sich als verhältnismäßig leise säuselndes Kauderwelsch aus Schreien, Brüllen und statischen Entladungen manifestierte.
»Also, Sir«, begann Krood, »was gibt es?«
Die Nachdrücklichkeit, mit der er diese Worte sagte, ließ die Fahrerin des Colonels aufblicken. Dass sie die relative Schärfe des Tonfalls überraschte, ließ sich aus ihrem Blick ablesen. Dass Ekko dies allerdings vollkommen ignorierte, schien sie umso mehr zu erstaunen.
»Das wollte ich von Ihnen wissen, Krood«, meinte er lediglich und wies auf die Szenerie vor sich. »Ist das einer der Spaßvögel?«
»Hat eine Geisel genommen, Sir«, erklärte der Kasrkin kurz angebunden. Der Begriff ‚Spaßvögel‘ war seinem Erachten nach in dieser Situation mehr als nur unangemessen, »Aber er ist in einer Situation, aus der er nicht entkommen kann. Das Problem sollte bald bereinigt sein.«

Ein Moment der Stille folgte.
»Bereinigt?«, erkundigte sich der Colonel, bevor er fortfuhr: »Krood, wir haben es hier nicht mit einer einfachen Terroraktion zu tun. Die Gruppe, zu der dieser Mann gehört, hat gerade einen äußerst erfolgreichen Handstreich gegen ein Fest mit tausenden Teilnehmern, Zuschauern und Sicherheitskräften geführt.«
Wild gestikulierend hob der imperiale Offizier zu einer seiner recht extrovertierten, bisweilen ins Sarkastische abgleitenden Äußerungen an, dann schloss er den Mund und setzte neu an: »Ich hatte schon oft mit Aufständischen zu tun«, erklärte er und deutete vage auf das Blutbad um sie herum. »Das hier hat eine Dimension, die ich bisher nicht kannte. Ich verstehe es nicht.«
»Wer sollte das von Ihnen verlangen?«, meinte der Kasrkin und umfasste seine HE-Laserpistole stärker. Ein seltsames Gefühl kroch seinen Nacken empor. Eine eigenartige Empfindung, die sich einfach nicht greifen lassen wollte. Doch sie flüsterte ihm drei Worte zu, die das Alarmlevel in seinem Geist auf eine höhere Stufen hoben: »Pass auf! Gefahr!«
»Eine Inquisitorin ist auf dieser Welt aktiv – und glauben Sie mir – die will wissen, was hier gerade abgegangen ist«, meinte Ekko lapidar und seufzte.
Ja, natürlich. Krood erinnerte sich an sie. Hochgewachsen, wohl proportioniert, ein ansprechendes Gesicht – und ein kaltes Wesen, eine berechnende Persönlichkeit. Oh, ja. Krood erinnerte sich gut an sie. Und dabei hatte er die Frau nur einigen Minuten lang gesehen.
»Sie war das Ziel«, merkte die zerschrammte Frau in den Überresten eines einstmals sehr eleganten Kleids an.
Ekko zögerte kurz, fixierte den Kasrkin vor sich mit einem finsteren Blick und verrenkte sich dann bei einer ungelenken Drehung den Hals in Richtung seiner gut gebauten Begleiterin. »Das war jetzt wirklich unnötig«, stellte er fest. Er wandte sich wieder Krood zu, überlegte und setzte dann an, um etwas zu sagen, doch soweit kam er nicht.
Plötzlich brach das Chaos über ihnen zusammen wie eine Flutwelle, die einen Wellenbrecher überspülte.
Sturmtransporter des Munitoriums, Walküren und Vendettas gleichermaßen, kreischten aus allen Richtungen heran, die Insignien der PVS Bastets auf den Rümpfen.
Ungeachtet der heiklen und unübersichtlichen Situation stürmten die Maschinen wie kopflos angreifende Rekruten auf den Tatort des Massakers zu, erstickten Stimmen, genauso wie Geräusche, mit ihrem infernalischen Lärm.
Staub wirbelte in dichten Wolken auf, bedeckte die Szenerie mit einem nebligen Schleier. Leichenteile und Körper wurden vom heißen Strahlatem der mechanischen Vögel in die Luft gehoben und in alle Richtungen verteilt.
Im Nu wurde aus dem heillosen, unorganisierten Durcheinander eines überfallenen Festzugs ein völliges Chaos.
Heckrampen fielen, Seitenluken sprangen auf. Befehle gellten an die heiße Luft, als Infanteristen im Eilschritt aus den stählernen Körpern stürmten und sich im Gelände verteilten.
»Thronverdammte Scheiße!«, brüllte Ekko gegen das Crescendo aus Heulen, Schreien und Brüllen an. »Man versteht sein eigenes Wort nicht!« Zumindest reimte es Krood sich so zusammen.
Unter dem Dröhnen der sie umkreisenden Maschinen kam keinerlei akustische Kommunikation zustande.
Schwerfällig wandte sich der Regimentskommandeur dem Funkgerät zu und griff nach dem Handsprecher, der in eine Halterung der portablen Anlage eingehängt war.
Kroods Blick schweifte zu Ekkos Begleiterin, die, ein Bein elegant über den Überrollbügel geschwungen, wie eine Königin auf dem Dach des Fahrzeugs thronte und die Szenerie vor ihnen beobachtete. Der Anspannung in ihrem Körper war zu vernehmen, dass sie vermutlich selbst am Liebsten in das Geschehen eingegriffen hätte, aber aufgrund der Entfernung und ihrer körperlichen Verfassung dazu nicht in der Lage war.
Allerdings dauerte es nicht lange, bis sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Ein kurzer Einschnitt in ihrer ausdruckslosen Miene, ein Blitzen in ihren Augen, bevor sich ihr Mund zu einem Warnruf öffnete, den man unter dem Lärm der über ihnen tobenden Walküren ohnehin nicht hätte hören können.
Alarmiert fuhr der Kasrkin herum. Die Pattsituation hinter ihm war gleich dem sich verändernden Druck in einer Magmakammer in Bewegung geraten; ein pyroklastischer Strom, der sich die Flanken der Zeit herabbewegte und dabei an Geschwindigkeit, Hitze und Intensität gewann.
Es ließ sich für Krood später nicht mehr rekonstruieren, was erste Aktion ausgelöst, die erste Reaktion bedingt hatte. In dem Moment allerdings, in dem er sich der schnell zu Tal stürzenden Lawine aus Bewegungen zuwandte, hatten sich die klaren Fronten in ein Knäuel aus Armen, Beinen und Körpern verwandelt, die gefährlich dicht am Geländer um die Vorherrschaft über die Waffe kämpften. Ein gutes Dutzend Infanteristen und Arbitratoren waren vorgesprungen und versuchten, den Delinquenten niederzuringen, der sich heftig wehrte. Fäuste, Gewehrkolben und Schockstäbe schwangen durch die Luft, trafen Köpfe, Körper und Panzerungen.
Das Gerangel war heftig und gnadenlos, und auch wenn man sie nicht hörte, so konnte man sich die wütenden Rufe, gebellten Befehle und Schmerzensschreie selbst noch am Kommandofahrzeug vorstellen.
Dann sah der Kasrkin etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: Die Geisel, das hübsche junge Mädchen, wurde im allgemeinen Hin und Her über die Brüstung geschoben.
Da sie deutlich schlanker als die Kämpfenden und bei weitem auch nicht so schwer war, konnte sie deren Wucht nichts entgegensetzen.
»Passt auf!«, brüllte Krood und lief los. Er wusste, dass man ihn nicht hören würde und dass er der jungen Frau nicht mehr rechtzeitig zur Hilfe würde kommen können. Dennoch: Er musste es versuchen.
Ein gutes halbes Dutzend Schritte trennten ihn noch vom Rand der Brücke, als sie endgültig den Halt verlor und unter lautlosen Schreien der Panik in die Tiefe stürzte.
Ein zweiter Körper schwang über das eherne Geländer, versuchte nach dem fallenden Leib zu greifen. Einer von Ekkos Männern. Nur Augenblicke später sprengte das wütende Gerangel auch ihn von der Brücke.
»Nein!«, brüllte Krood und warf einen Soldaten, der ihm just in diesem Moment in den Weg taumelte, regelrecht zur Seite. »Thronverdammte Scheiße
Sekunden später erreichte er den Rand der Überführung, doch unter ihm gurgelte lediglich das weiß schäumende Wasser der Maat.
Die beiden Menschen waren fort.​
 

Sistermarynapalm

Blisterschnorrer
14 Juni 2011
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Leider kann ich hier einiges nicht lesen da sich die Texte überlagern. Steht da einfach zu viel in einem Beitrag drin oder bin ich der einzige mit dem Problem?

Hallo Yardis,

Vielen Dank für deinen Kommentar. Ich habe versucht, Dein Problem nachzuvollziehen, aber bei mir wird alles tatsächlich richtig und ordentlich formatiert angezeigt.

Da ich leider von niemandem sonst - und ich verwende dieselbe Formatierung wie damals bei Stargazer - eine entsprechende Rückmeldung erhalten habe und daher einen eventuellen Fehler bei der Formatierung aktuell nicht nachvollziehen kann, kann ich Dir sonst nur anbieten, zum Lesen von Equilibrium entweder auf Fanfiction.de

Equilibrium auf FF.de

oder auf die Tabletopwelt auszuweichen:

Equilibrium auf Tabletopwelt.de

Eine andere Lösung habe ich leider aktuell nicht. Wie gesagt: Die Formatierung wird bei mir richtig angezeigt, und auch sonst habe ich keine Fehlermeldungen bekommen.

Liebe Grüße

SisterMary
 
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Sistermarynapalm

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Das dumpfe Rauschen in Rahaels Ohren explodierte zu einem kreischenden Crescendo, als der junge Cadianer aus den Fluten der Maat emporstieg.

Für einen Augenblick war er vollkommen orientierungslos und konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was soeben passiert war.

Seine Lungen schrien nach Luft, und er spürte, wie sich seine Kleidung nach dem ersten Schock nun allmählich daran erinnerte, dass sie aus Stoff bestand und bei Nässe schwer und ungemütlich werden musste.

Hilflos ruderte er mit den Armen, versank zwischen schäumenden Schnellen und reißenden Strudeln.

Adrenalin pumpte durch seine Adern. Jede Zelle in seinem Körper schien zu lodern wie Flammen, die in seinem Innern emporzüngelten.

Sauerstoff! Er brauchte Sauerstoff!

Es wäre ein Leichtes gewesen. Nur kurz Luft holen.

Doch sein Verstand hielt dagegen, zwang ihn, den Sauerstoffmangel noch etwas länger zu ertragen.

Dann durchbrach er erneut die Oberfläche, keuchte und lechzte nach Luft.

Etwas zog an ihm vorbei, glitt schnell Richtung achtern. Er spürte den Sog, ruderte wild mit den Armen und versuchte, nach dem Gegenstand zu greifen, aber er trieb zu schnell weiter.

Das Flussbett der Maat war breit und der Storm zog eigentlich sehr gemächlich dahin. In der Regenzeit allerdings, wenn sich die Wolken an den Flanken der Berge des Jareth-Bezirks abregneten, wurde selbst die ruhige Maat zu einem fauchenden und gurgelnden Ungeheuer. Hätten die Meere und Flüsse Bastets ein Rudel gebildet, sie wäre in diesem Moment wohl zum Alpha-Fluss gewählt worden.

Rahael hätte dem schrecklich schön anzusehenden Schauspiel des wütenden Wassers sicherlich mehr abgewinnen können, wenn es ihn nicht voller Zorn mit sich gerissen hätten.

Der Fluss spie ihm kalte, braune Nässe ins Gesicht, riss an seiner Kleidung und seiner Haut, schlug ihn mit Ästen, Steinen und allerlei Schwemmmaterial und versuchte immer wieder, ihn hasserfüllt zu ertränken.

Rahael prustete und ruderte mit den Armen.

Viel mehr konnte er in diesem Moment auch nicht wirklich tun.

Seine Kleidung und Ausrüstung, mit der Standard-Beladung bereits gut fünfzehn Kilogramm schwer, hatten inzwischen so viel Wasser aufgenommen, dass sie nun fast das Doppelte wogen und Rahael bei jeder Bewegung kräftig Widerstand leisteten. Er spürte, wie seine Muskeln zu brennen begannen. Der Schmerz fraß sich durch seinen Körper, lähmte seine Bewegungen. Es fühlte sich an, als würde er versuchen, in einem besonders schlammigen Sumpf ein Bein zu heben und dabei feststellen, dass die Extremität in der schmoddrigen Pampe immer langsamer wurde, obwohl er alle Kraft in die Bewegung steckte. Natürlich gab es eine Möglichkeit, dieser Schreckenssituation zu entkommen. Sie wäre sogar noch einfacher gewesen, als einen Luftzug unter Wasser zu tätigen. Allerdings ähnelten sich die Endergebnisse beider Ideen auf erschreckend erstaunliche Weise.

Immerhin war der Verlust der Ausrüstung ein schweres Vergehen, das ihn ins Gefängnis oder sogar vor ein Füsilierkommando bringen konnte.

Für das Imperium galt: Mensch nach Maschine. Jedes Stück Ausrüstung, von der einfachen Trinkflasche bis hin zum schweren Leman Russ-Panzer, waren Utensilien, die von arkanen Maschinen und Servitoren aus wertvollen Rohstoffen erstellt wurden.

Sie ohne guten Grund zu schädigen – oder, noch schlimmer, zu verlieren – stellte in der imperialen Gesetzgebung ein Verbrechen dar. Je nach Wert der verloren Ausrüstung reichte die Strafe von einer Disziplinarmaßnahme über die Versetzung in ein Strafbataillon bis zum Gang vors Erschießungskommando. Dem einfachen Soldaten vergab man Inkompetenz nicht.

Ein Pflichtgefühl, seine Loyalität und sein Überlebenswille rangen miteinander, schrien sich gegenseitig an und rauften einander die Haare aus.

Man nannte das »Cadianisches Patt«: Keinen Schritt vor, keinen Schritt zurück – egal, in welche Richtung.

Hoch aufragende Felsen flankierten die Seiten des Flussbetts, kanalisierten den Strom, der aus den entfernt liegenden Bergen Richtung Meer floss. Sich ans sichere Ufer zu retten war unter diesen Umständen vollkommen unmöglich.

Moosbewachsene Steine und Findlinge, glatt geschliffen von den sie endlos umströmenden Fluten, reckten ihre Leiber aus der kochenden Brühe wie Sirenen, lockten mit dem Versprechen baldiger Sicherheit. Doch ihre Körper boten ihm keinen Halt, und das sie umgurgelnde Wasser zog seinen mit Kleidung und Ausrüstung schwer beladenen Körper in tückische Stromschnellen und gefährliche Strudel, die irgendwo im Nichts unter der Wasseroberfläche endeten.

Wie ein Spielball wurde der junge Cadianer herumgewirbelt und gleich einem Kreisel um die eigene Achse gedreht. Die Orientierung hatte er bereits nach kurzer Zeit verloren. Mal blickte er in die schäumenden Fluten, die ihn Richtung Meer jagten, dann wieder sah er nur die sandig-braunen, hochaufragenden Klippen.

Etwas Dunkles, Böses, heulte heran wie eine Dämonette nach einer durchzechten Nacht, kreischte und schnaufte. Ein riesiger Schatten, der über den Fluss kroch und nach Rahaels Körper tastete.

Er hob den Kopf. Eine Walküre schob ihren großen, schlanken Rumpf in sein Sichtfeld, schien eine unendlich lange Zeit über ihm zu verweilen.

Rahael starrte den Senkrechtstarter an, der sich offensichtlich für irgendetwas in Position zu bringen versuchte, doch er verstand nicht recht, was der Pilot eigentlich versuchte.

Schließlich kippte die Maschine nach vorne und hob sich unter dem heißen Fauchen ihrer Vektor-Schubtriebwerke zurück in den Himmel.

Der Cadianer sah der Maschine nach, bis ihn eine Stromschnelle packte und herumriss. Wieder wurde er unter Wasser gedrückt und begann fast unwillkürlich mit den Armen zu rudern, bis er die Oberfläche prustend durchbrach.

Dann sah er sie: Hände stiegen aus den Fluten empor, reckten sich in höchster Not dem Himmel entgegen, das Äquivalent eines stummen Hilferufs, den die sich nun in einer weiten Kurve befindlichen Maschine aber weder sehen noch hören konnte.

Rahael allerdings sah die Geste sehr wohl. Dort! Das war sie!

Er erinnerte sich. Das Mädchen. Ihr angsterfüllte Blick, als er sich über die Brüstung der Brücke lehnte und ihre Hand dennoch um wenige Zentimeter verfehlte. Ihr schlanker, gebräunter Körper, der wie in Zeitlupe kleiner wurde und in die Tiefe verschwand. Der Stoß, der ihn selbst über die Brüstung schickte. Und schließlich der Fall. Es war ihm vorgekommen wie eine Ewigkeit. Er hatte Scham und Unglück gespürt in dem Wissen, dass er nicht nur sie verloren hatte, sondern auch noch selbst in den Tod stürzen würde. Aber, schloss ihm der Gedanke durch den Kopf, vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht war dies ein Test des Imperators, eine Aufforderung, sich zu beweisen. Was hatte der Elite-Grenadier gesagt? Im Kampf bewähren.

Vielleicht gab es doch noch eine Chance, dem tödlichen Mahlstrom zu entkommen.

Er würde Entscheidungen treffen und sie vertreten müssen. Er musste der Gefahr entgegentreten und ihr trotzen. Sie mutig in ihre Schranken weisen. Er …

Ein Schwall Wasser gurgelte aus der Tiefe empor, spie ihm verächtlich ins Gesicht.

Rahael hustete und prustete. Seine Gedankenwelt geriet aus den Fugen, schüttelte sich wie ein nasser Hund und blickte betreten drein.

Er musste eine Entscheidung treffen. Jetzt.

Entweder, er ließ die Ausrüstung in den Fluten versinken und rettete dafür sich und – in der Folge – das Mädchen. Notwendigerweise würde ihn dieses Vorgehen den Kopf kosten.

Oder er ließ sich vom Gewicht der Koppel in die Tiefe ziehen, würde ertrinken und ebenfalls tot sein – aber zumindest in dem Wissen sterben, dass er bis zum Schluss auf seine Ausrüstung Acht gegeben hatte.

Die Entscheidung war eigentlich keine richtige. Man hatte sie ihm im Grunde bereits abgenommen. Das Ergebnis stand im Endeffekt fest, und die Frage war lediglich, ob er ihm ehrenvoll entgegentrat oder schmachvoll unterging.

Allerdings … und das hatte ihn die Erziehung auf Cadia zwar so nicht gelehrt, aber ein gewisser Basteter Colonel, der sich in den letzten Monaten erstaunlich oft in sein Leben eingemischt hatte: »Wenn Sie gehen, Rahael, dann mit einem Knall. Lassen Sie es scheppern – und wenn sich auch nur ein Mensch an Sie erinnert und weiß, dass Ihre Tat den Unterschied bedeutet hat, dann kann Ihnen auch die schlimmste Strafe nichts anhaben. Außer diese Nudelsoße. Die kann Ihnen durchaus etwas anhaben. Danach scheppert es auch. Und jemand wird sich gewiss an Sie erinnern.«

Der letzte Teil gehörte definitiv nicht zur Lektion. Als ihm das bewusst wurde, kratzte sich der gedankliche Ekko kurz grüblerisch am Kopf, zuckte mit den Schultern und ging.

Rahael kehrte in die Wirklichkeit zurück.

Er dachte an Leitis Sile, versuchte sich an das Gefühl der Fleur de Lys zu erinnern, die er um seinen Hals trug. Mein Leben für dein Leben, dachte er und keuchte, als ihn eine neuerliche Stromschnelle unter Wasser drückte.

Dann traf er eine Entscheidung.