Fließend waren die Bewegungen. Der Gesang seiner Stimme floss Wasser gleich in das psionische Feld des Weltenschiffs und übertrug sich in den formbaren Phantomkristall. Die Struktur verfestigte sich, doch war sie noch immer filigran, grazil und künstlerisch auf hohem Niveau. Anuriel war dabei, sein Meisterwerk der Kristallsingerei zu vollenden. Die Skulptur war perfekt proportioniert, die Gesichtszüge sahen so aus, als wenn sie lebendig wären. Einzig das dunkle, glasige Material des Phantomkristalls deutete darauf hin, dass es sich nicht um ein Wesen aus Fleisch und Blut handelte.
Anuriel war hoch konzentriert, vollkommen versunken in seine Tätigkeit. Sein Herzschlag war noch schneller als sonst, sein Geist so scharf fokussiert wie das Prisma eines Illum Zar. Er schwitzte ergiebig. In der Werkstatt des Meisters stand er nur im Lendenschurz gekleidet und verausgabte sich körperlich und geistig, um die Skulptur zu vollenden.
Kraft seiner Gedanken auf psionischer Ebene und unterstützt durch seinen eigenen, melodischen Gesang, erschuf er Fingerglieder, mit allen natürlichen Falten, die er auch an seiner Hand sehen konnte. In den geformten Arm ließ er weiteres Phantomkristallmaterial fließen, wie Wasser in einen Kelch. Sein Gesang nahm einen tiefen Bariton an und aus dem weiteren Stoff formte sich ein Werkzeug. Ein Hammer wuchs förmlich aus der Hand der Skulptur. Langsam stieg der Stil empor und der Hammerkopf floss in seine Form. Anuriel hatte bereits den Amboss fertiggestellt. Er war gerade in den wichtigsten Zügen seiner Arbeit. Mit dem Hammer gab er sich nun besonders Mühe, auch wenn er einfacher zu formen schien, als die organisch wirkenden Körperteile der Statue.
Kaum war er an dieser Stelle fertig, da widmete er sich dem anderen Arm und ließ auch hier mehr Phantomkristall in Richtung der Hand fließen. Aus dem zusätzlichen Stoff erschuf er eine elegante Schwertklinge, jedoch noch verbogen, die gerade im Begriff war, von dem gerade geschaffenen Hammer in Form geschlagen zu werden.
Anuriel hielt inne. Seine Kehle war trocken. In Bächen floss der Schweiß seinen Oberkörper herunter. Er war ziemlich geschafft, seine Konzentration ließ etwas nach, wie er seit wenigen Herzschlägen bemerkte. Um sein Meisterwerk auch auf meisterlichem Niveau vollenden zu können, brauchte er einen kurzen Moment der Besinnung. Anuriel ging zum Krug mit Wasser.
„Beeindruckend.“, meinte eine Stimme hinter ihm.
Anuriel drehte sich um und sah den Meister. Er lächelte leicht und verbeugte sich vor dem Alten. Dieser ging prüfenden Blickes näher heran, umrundete die Skulptur.
„Wirklich, schon jetzt ein beeindruckendes Standbild Vauls. Welches Schwert?“
„Das achtundneunzigste.“
Der Meister nickte bedächtig. Und studierte weiter die Details.
Plötzlich ging ein tiefer, dröhnender Gongschlag durch das gesamte Phantomkristall des Weltenschiffs!
Der Meister und Anruiel waren sofort aus ihrer bisherigen Geisteshaltung gerissen. Langsam, aber beständig spürten beide Eldar, wie das hitzige Wogen, der einer heißen Welle gleiche Drang des Krieges durch das psionische Feld der Arche schwappte.
„Der Avatar erwacht.“, sprach der Meister halblaut. Anuriel nickte bloß.
Er wandte sich zum Gehen. Der Meister sah ihn eindringlich an.
„Keine Sorge, Meister. Ich kehre zurück und vollende es.“
Er raffte seine Kleidung zusammen und verließ sein Abbild Vauls unvollendet.
Der Exarch hatte alle Eldar, die dem Pfad des Kriegers als Skorpione folgten, bereits am Eingang des Schreins der Jadescheren mit eben diesem Ausspruch empfangen. Vollständig in die uralte Schreinrüstung gekleidet und der ehrwürdigen Bewaffnung seines Rangs versehen, wartete diese Verkörperung des Aspekts der Skorpione, dieser Priester des Kriegs auf seine Begleiter für die Schlacht.
Rituell rüsteten sich die Aspektkrieger gegenseitig, von unten beginnend, bis sie zu Letzt beim Helm angelangten. Dem Helm mit den Mandiblastern, dem letzten Abschnitt, der sie innerlich von dem ruhigen, friedlichen Pfad, den sie gerade beschritten, trennte und vollständig in den Krieger und die Kriegerin verwandelte, der auf dem Schlachtfeld all die Greul des Krieges austeilen und ertragen würde.
„Khaine verlangt nach uns.“
Der Exarch stapfte durch ihre Reihen und gab hier und da seine anstachelnden Zitate zum Besten. Er hielt keine aufpeitschenden, langwierigen Reden. Seine Anwesenheit, die psionische Präsenz der Schreinrüstung, reichte aus, um die immer heftiger durch den Phantomkristall der Arche strömende kriegerische Regung nochmals zu steigern. Wie ein Fokus wirkte der Exarch und jeder der Aspektkrieger, der bereits seinen Helm aufgesetzt hatte, scharrte immer unruhiger und schwang fortwährend zur Übung das Kettenschwert. Der Schrein war selbst von einer brodelnden Unruhe gefüllt. Der Hauch von Eredras-Weihrauch in der Luft vermochte keinen mehr zu besänftigen.
Anuriel atmete nochmals tief durch. Drei Mal. Er verschloss alle Tore in seinem Inneren, schützte alle friedlichen Pfade, die er bisher beschritten hatte. Insbesondere den des Kristallsängers. Er setzte sich den Helm auf und nun brandeten die kriegerischen Emotionen, die vom erwachenden Avatar und seiner Kammer im Herzen der Arche ausgingen, durch ihn hindurch. Verstärkt durch den Kriegerschrein der Jadescheren. Gebündelt durch den zwischen ihnen umherwandelnden Exarchen. Nun war er bereit!
In feierlicher Prozession verließen die Skorpionkrieger ihren Schrein, marschierten zu dem Portal, welches sie zum Schlachtfeld beförderte. Anuriel war nun vollkommen erfüllt von seinem Krieger-Ich.
Und plötzlich begann die Schlacht!
„Stell dich zum Kampf, Kristallsänger!“, donnerte die Stimme aus dem Schlund, der wie Lava im Gesicht glühte. Die riesige Klinge sauste auf ihn nieder und Anuriel schaffte es gerade noch mit einem Satz zur Seite, bevor die Waffe in den Boden krachte.
Wo war er? Was war hier los? Asche, Staub, glimmende Lavaadern zogen durch den Boden. Es war dunkel und nur das Licht von Magma erhellte die Szenerie in einem rötlichen Dunst.
Anuriel hatte nur noch wenige Erinnerung an die Schlacht! An den Kampf, an das Handgemenge unter den Chem-pan-sey, als die Skorpionkrieger unter Führung ihres Exarchen aus der Deckung gebrochen waren. Daran, dass in dem Gemetzel ein glücklicher Schuss aus einer Plasmawaffe den Exarchen schwer traf. Dieser umfiel. Und ein markerschütternder, zorniger Schrei in ihrer aller Köpfe widerhallte. Ein Ruf, einem Fanal gleich!
War er seitdem in diesem dunklen Alptraum?
Wutentbrannt brüllte die Manifestation des Kriegsgottes ihn an und schwang die Klinge erneut. Anuriel riss das hoch, was sich in seiner Hand befand. Ein Kettenschwert. Krachend schlugen die Waffen aufeinander. Die Kraft seines Gegenübers war gigantisch - gottgleich.
„Ich töte dich, wenn du dich nicht wehrst!“, donnerte die Stimme des Gottes.
Die glühenden Augen seines Kontrahenten hatten einen mörderischen Ausdruck und Anuriel wurde klar, dass er um sein nacktes Überleben kämpfen musste.
Das flammende Schwert wurde wieder in die Höhe gerissen und sauste in einem tödlichen Schwung senkrecht auf ihn herab. Anuriel sprang abermals zur Seite und rollte sich ab, war sofort wieder auf den Beinen. Seitlich schlug er sein rotierendes Kettenschwert in die glimmend, glühende Masse Eisen, die das Bein des Giganten darstellte. Khaela Mensha Khaine, der Gott des Krieges, des Mordens, knurrte nur empört auf. Der Kopf des eisernen Monstrums schwang herum und fixierte ihn wutentbrannt. Fast schneller, als das Auge sehen konnte, folgte eine rasche Schlagfolge mit der kreischenden Klinge. Anuriel war in die Defensive gedrängt. Sein Kettenschwert zuckte zur Abwehr empor, wurde ihm fast aus der Hand geschlagen. Er duckte sich, rollte, sprang und entkam damit einem tödlichen Streich der göttlichen Klinge.
„Kämpf!“, brüllte ihn die Inkarnation des Kriegsgottes an.
Anuriel konzentrierte sich. Er erkannte, dass er der Aufforderung nachkommen musste, wenn er überleben wollte. Die Schritte des Kriegsgottes donnerten über den Vulkangleichen Boden. Er sog die Luft tief ein, roch all das Verbrannte um ihn rum. Spürte die Hitze des Feuers unter ihm und die, welche vom eisernen Koloss ausging.
Beidhändig hatte der Gott des Krieges die kreischende Klinge über den Kopf erhoben und ließ wieder einen senkrechten Streich folgen. Anuriel drehte sich zur Seite und drosch wiederholt mit seinem Kettenschwert gegen die Hüfte Khaines. Mit aller Kraft hatte er den Streich geführt und in der dunklen, stählernen Masse tat sich ein Spalt auf, aus dem kurz Feuer züngelte. Nur langsam verblasste die glimmende Wunde. Khaele Mensha Khaine brüllte voller Zorn auf und schwang die Klinge waagerecht gegen Anuriel. Dieser blockte den schweren Hieb erfolgreich. Und eröffnete seinerseits eine Folge von Schlägen. Geschickt blockte der Kriegsgott diese ab, doch Anuriel kam in einen Rhythmus. Er drosch, schlug, hieb und stach – soweit dies mit einem Kettenschwert möglich war – auf Khaine ein. Seine Angriffe wogten wie gewaltige Wellen gegen den Kriegsgott, wie der aufgewühlte Ozean gegen die felsige Küste. Der Gott wiederum blieb nicht nur defensiv, führte Finten aus und versuchte selbst wieder die Initiative in dem Duell zu gewinnen.
Der Kampf wogte wie Ebbe und Flut hin und her, Anuriel spürte allmählich Erschöpfung. Keine körperliche, sondern geistige!
Die Manifestation Khaines brüllte unverzagt seine Wut heraus. Sein Zorn wurde geschürt durch jede erfolgreiche Aktion Anuriels.
Die Klinge hatte er zum gefühlten tausendsmal geblockt, als unvermittelt ein Fußtritt Khaines Anuriel ins Straucheln brachte! Er war unaufmerksam geworden. Und erschöpft.
Khaine war schnell über ihm. Die kreischende Klinge hielt er einem Dolch gleich, um ihn zu erstechen.
„Dein Tod! Du bist meiner nicht würdig.“
Anuriel sah die Klinge auf seine Brust niedersausen. Doch schneller, schneller als Khaine selbst, wich Anuriel dem Stoß aus, kam auf die Beine. Er stand, neben dem hockenden eisernen Ungetüm! All seine Kraft, all seinen Hass fokussierte er auf den Schlag. Den Schlag gegen den Hals des stählernen Kolosses, den er gedankenschnell ausführte! Funken stoben, Metall sägte kreischend auf Metall. Doch das Kettenschwert kam durch die glühende Masse! Krachend ging der Schädel zu Boden, der Mund weit geöffnet. Aus diesem donnerte Khaines Wutgebrüll. Der Körper mit der Klinge war immer noch in der Hocke. Anruiel holte erneut aus. Er schlug mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht auf den Torso. Das Kettenschwert grub sich in den Rücken. Und blieb stecken! Doch der Riss war enorm. Ein Glimmen, das sich zu einem blendenden Leuchten verstärkte, ging von dem Gott aus. Ein Sog entstand. Und als das Licht so hell war, das Anuriel mit einer Hand seine Augen abschirmen musste, explodierte der göttliche Körper! Eisenteile flogen durch die Luft. Und Anuriel sank erschöpft auf die Knie.
„Jetzt bist du meiner würdig, Kristallsänger des Vaul.“, sprach der abgeschlagene Kopf blechern. Und ehe sich Anuriel versah, schossen die verstreuten Metallteile des Gottes auf ihn zu, die eben noch arglos auf dem Boden lagen. Versenkten sich in seiner Rüstung, seinem Fleisch. Überrascht brüllte nun Anuriel auf, der vollkommen eingefasst wurde von Eisen. Ein Flüstern, das sich zu einer lauten Kakophonie steigerte, ging von dem Metall aus: „Krieg, Blut, Mord, Tod! KRIEG, BLUT, MORD, TOD!“
Er schrie dagegen an bis auch seine Augen, sein Mund, sein Gesicht vollständig umschlossen waren. Als alles vom Eisen bedeckt war, versank Anruiel in tiefe Dunkelheit.
Anuriels Atem ging schwer und der Schleier vor seinen Augen löste sich nur allmählich. Doch in seinem Inneren fühlte er, dass die Tore verschlossen waren. Verschlossen von unbezwingbaren Eisen. Er war gefangen.
Die Maske seiner Skorpionkriegerrüstung lag arglos weggeworfen neben ihm. Doch die Maske des Krieges hatte er damit nicht von seiner Seele genommen. Der sich klärende Blick wanderte über ein Schlachtfeld, welches von zerstörten, grobschlächtigen Metallkonstruktionen gesäumt war. Der Kampf gegen Khaine, in seinem Geiste, war das alles nur eine Illusion gewesen? Leblose, teils entsetzlich verstümmelte Leiber lagen achtlos herum.
In seinem Kopf rebellierte es, seine Seele wollte zurück. Er befand sich noch immer in der Kammer des Kriegers, der Ruf Khaines hallte noch immer in seinem Ohren, seinem Kopf, in seiner Seele wieder. Anuriel kam sich vor, als sei sein inneres Selbst in einem undurchdringlichen Panzer gerüstet. Aus dem er nicht entfliehen konnte! Der ihn gefangen hielt.
Sein Blick schweifte weiter über das Schlachtfeld. War nicht noch irgendwo einer dieser Chem-pan-sey, dem er mit seinem Kettenschwert die Gedärme öffnen konnte? Seine Gedanken waren beseelt von Zorn, von Hass, er wollte das Blut seiner Feinde vergießen, mordend, schlachtend über sie triumphieren.
„Wir haben ihn gefunden!“
Bei diesem Ruf drehte sich Anruiel um und erblickte zwei Aspektkrieger seines Schreins, die langsam auf ihn zu kamen.
„Anuriel, alles in Ordnung?“, sprach ihn einer an.
Sein blickte hetzte zwischen den Beiden hin und her, die Faust um sein Kettenschwert schloss sich fester. Er zwang sich die für ihn gerade wichtigste Frage zu stellen: „Wo ist der Feind?“
„Geflohen.“
„Und geschlagen.“, ergänzte der zweite Krieger.
Anruiels Blick fiel auf seine scheinbaren Kampfgefährten – er wusste ihre Namen, doch sein Geist gab sie ihm aktuell nicht Preis. KRIEG, schrie es fortwährend in ihm. BLUT, MORD, TOD! Der Choral in seinem Inneren wurde immer stärker und scheinbar auch vielstimmiger. Dabei war die Schlacht vorüber, zu Ende. Sein Helm und damit die Kriegsmaske von seiner Seele abgelegt – so sollte es zumindest sein!
„Wo ist der Exarch?“, fragte er apathisch.
„Gefallen. Die Rüstung leer, wie immer.“
„Wie immer, wenn sie fallen.“, pflichtete der andere Krieger wieder bei, mit leichter Trauer in der Stimme.
Die beiden sahen ihn unverwandt an. Anuriel zwang sich zur Ruhe, doch die innere Unruhe übertrug sich auch nach außen. Er zuckte teils unkontrolliert, seine Augen rasten, rollten. Er formte lautlos Worte mit seinem Mund und ständige wiederholte es sich in seinem Kopf: KRIEG, BLUT, MORD, TOD!
„Bist du noch von Khaine berührt?“, fragte der ihm näherstehende Krieger.
„Nein.“ Er atmete schwer. „Ich bin vollkommen von ihm ergriffen.“
Er wankte und strauchelte, stützte sich mit den Händen aus sein Kettenschwert.
„Und er ruft nach mir, immer und immer wieder.“
Mit diesen Worten übergab Anuriel zitternd das Kettenschwert und seine Shurikenpistole dem Aspektkrieger. Der andere las seinen Helm auf. Sie nahmen ihn in die Mitte und stützten ihn. Dann forderten sie den Runenleser an.
Anuriel kniete nackt in der Mitte des Halbkreises, den sie um ihn gebildet hatten. Die erhabene, edel verzierte und seit Äonen in der Schlacht gestählte Schreinrüstung des Exarchen links neben ihm. Rechts die reißende Klinge mit ihren im Farbton von Jade schimmernden Kettensegmenten. Zwei Skorpionkrieger standen als Ehrenwache zu seinen Seiten. Wie die übrigen Aspektkrieger des Schreins der Jadescheren standen sie ohne Helm da. Alle hatten die Maske des Krieges damit von ihren Seelen genommen. Außer einem.
Er atmete tief ein und aus, versuchte sich, seinen Geiste, seine Seele an den neuen Zustand zu gewöhnen. Innerlich hatte er an jede Pforte geschlagen, jedes Tor bestürmt. Keines öffnete sich, so zornig, wütend, verzweifelt er auch dagegen anrannte. Mit all der Macht die ihm nun zur Verfügung stand!
Seit er das Tor in seinem Inneren, welches auf den Pfad des Kristallsängers führte, vor wenigen Herzschlägen zum letzten Mal versuchte hatte zu öffnen und es schlicht verschlossen blieb, war ein Teil seiner Seele endgültig verstummt. Der Ruf Khaines in ihm überlagerte nun alle anderen, die noch in seiner Seele schlummerten. Ein wütender, zorniger Chor übertönte nun jeden anderen, friedlichen Pfad, den er als Eldar je beschritten hatte. Khaele Mensha Khaine hatte auf dem Höhepunkt der Schlacht gebrüllt, vor Zorn, über den Verlust seines Champions, des Exarchen des Schreins der Jadescheren. Und Anuriel war es gewesen, der den Ruf aufgenommen hatte.
Seine Erinnerungen kehrten allmählich zurück. Getrieben von Hass, Zorn, schierer Wut und einer unstillbaren Lust zu Morden, hatte er unter den Feinden der Kinder Ishas gewütet. Er war weit alleine vorgeprescht, als der Rest der Truppen schon gehalten hatte, da die Verluste der Menschen so hoch waren, dass sie kopflos flohen. Und genau diesen Fliehenden hatte Anuriel nachgesetzt, um mit seinem Kettenschwert einer Sense gleich blutige Ernte einzufahren.
Ohne Sinn und Verstand, unter Missachtung sämtlicher taktischer Disziplin war er davon geeilt, um das Verlangen, welches der Ruf Khaines in ihm hervorgerufen hatte, zu stillen. Sein imaginärer Sieg über den Kriegsgott hat ihm zum neuen Priester des Schreins der Jadescheren gemacht. Unfreiwillig und unwiderruflich.
Nun konnte er nicht mehr zurück. Seine Seele konnte diesen Pfad, auf dem er nun wandelte, nicht mehr verlassen.
Der Runenleser überragt ihn. Anuriel hob den Kopf um in die Sichtschlitze des Helms aus Phantomkristall zu blicken. Der metallene Geruch von Blut und der frischen, feuchten Grases stiegen ihm in die Nase. Vermischte sich mit einem Geruch nach Brand, nach Asche. Kam dies aus seinem Inneren?
Er spürte eine psionische Sondierung, die der Runenleser an dem Selbst von Anuriel durchführte. Und eine unterschwellige Botschaft des Bedauerns und gleichzeitig der Bewunderung für diese Aufopferung.
„Wo ist seine Rüstung?“, fragte der Runenleser, seinen Blick von Anruiel abwendend. Zwei Skorpionkrieger hielten dem Psioniker eine einfache Aspektkriegerrüstung entgegen. Der Runenleser musterte sie kurz und entnahm dann den Seelenstein aus der Brusthalterung.
„Richtet ihn auf.“, befahl der Runenleser den Skorpionkriegern der Ehrenwache.
Die zwei Angesprochenen packten ihn unter den Armen und brachten Anuriel sanft zum Stehen. Unverwandt aber teilnahmslos beobachtete er den Wanderer auf dem Runenpfad.
„Kleidet ihn ein.“ Mit diesen Worten intonierte der Runenleser die Litanei des Übergangs und die restlichen Aspektkrieger stimmten ein.
Als die letzten Strophen erreicht waren, hatte die Ehrenwache ihm rituell von unten nach oben die Rüstung angelegt. Es war nur noch eine Stelle auf seiner Brust frei und sein Haupt. Der Runenleser stülpte ihm als letztes den Helm der Schreinrüstung über den Kopf. Mit einem plötzlichen Schlag war sein Geist wieder frei und öffnete sich. Öffnete sich der Matrix der Rüstung! Und wurde überschwemmt von Eindrücken, von Gefühlen, von Regungen aller vorherigen Träger. Gerüche, Landschaftsbilder, Schlachtgeräusche – einer unaufhaltsamen Flutwelle gleich überrollten Anuriel die Sinneswahrnehmungen der vorherigen Exarchen! Er taumelte leicht im Geiste, auch sein Körper schwankte. Er spürte nicht mehr die Berührung der beiden Aspektkrieger der Ehrenwache, die ihn stützten. Auch übertönte das Stimmengewirr, dass von seiner neuen Rüstung ausging, die letzten Worte des Runenlesers, der nun den Seelenstein von seiner alten Rüstung in die freie Stelle an seiner Brust einfügte. Er spürte nur noch ein schmerzhaftes Ziehen, gefolgt von einem Zischen. Der Geruch von verbranntem Fleisch kroch in seine Nase. Fest griffen zig winzige Fasern Phantonkristall aus der Rüstung in sein Fleisch. Nun war er endgültig mit der Rüstung verbunden. Anuriel brüllte vor Zorn, vor Wut, vor schierem Hass. Und es grollte in diesem infernalen Kriegsschrei auch Khaines Ruf mit: KRIEG, BLUT, MORD, TOD!
Er war neugeboren als Priester der Schlachten.
Anuriel war hoch konzentriert, vollkommen versunken in seine Tätigkeit. Sein Herzschlag war noch schneller als sonst, sein Geist so scharf fokussiert wie das Prisma eines Illum Zar. Er schwitzte ergiebig. In der Werkstatt des Meisters stand er nur im Lendenschurz gekleidet und verausgabte sich körperlich und geistig, um die Skulptur zu vollenden.
Kraft seiner Gedanken auf psionischer Ebene und unterstützt durch seinen eigenen, melodischen Gesang, erschuf er Fingerglieder, mit allen natürlichen Falten, die er auch an seiner Hand sehen konnte. In den geformten Arm ließ er weiteres Phantomkristallmaterial fließen, wie Wasser in einen Kelch. Sein Gesang nahm einen tiefen Bariton an und aus dem weiteren Stoff formte sich ein Werkzeug. Ein Hammer wuchs förmlich aus der Hand der Skulptur. Langsam stieg der Stil empor und der Hammerkopf floss in seine Form. Anuriel hatte bereits den Amboss fertiggestellt. Er war gerade in den wichtigsten Zügen seiner Arbeit. Mit dem Hammer gab er sich nun besonders Mühe, auch wenn er einfacher zu formen schien, als die organisch wirkenden Körperteile der Statue.
Kaum war er an dieser Stelle fertig, da widmete er sich dem anderen Arm und ließ auch hier mehr Phantomkristall in Richtung der Hand fließen. Aus dem zusätzlichen Stoff erschuf er eine elegante Schwertklinge, jedoch noch verbogen, die gerade im Begriff war, von dem gerade geschaffenen Hammer in Form geschlagen zu werden.
Anuriel hielt inne. Seine Kehle war trocken. In Bächen floss der Schweiß seinen Oberkörper herunter. Er war ziemlich geschafft, seine Konzentration ließ etwas nach, wie er seit wenigen Herzschlägen bemerkte. Um sein Meisterwerk auch auf meisterlichem Niveau vollenden zu können, brauchte er einen kurzen Moment der Besinnung. Anuriel ging zum Krug mit Wasser.
„Beeindruckend.“, meinte eine Stimme hinter ihm.
Anuriel drehte sich um und sah den Meister. Er lächelte leicht und verbeugte sich vor dem Alten. Dieser ging prüfenden Blickes näher heran, umrundete die Skulptur.
„Wirklich, schon jetzt ein beeindruckendes Standbild Vauls. Welches Schwert?“
„Das achtundneunzigste.“
Der Meister nickte bedächtig. Und studierte weiter die Details.
Plötzlich ging ein tiefer, dröhnender Gongschlag durch das gesamte Phantomkristall des Weltenschiffs!
Der Meister und Anruiel waren sofort aus ihrer bisherigen Geisteshaltung gerissen. Langsam, aber beständig spürten beide Eldar, wie das hitzige Wogen, der einer heißen Welle gleiche Drang des Krieges durch das psionische Feld der Arche schwappte.
„Der Avatar erwacht.“, sprach der Meister halblaut. Anuriel nickte bloß.
Er wandte sich zum Gehen. Der Meister sah ihn eindringlich an.
„Keine Sorge, Meister. Ich kehre zurück und vollende es.“
Er raffte seine Kleidung zusammen und verließ sein Abbild Vauls unvollendet.
***
„Krieg ruft!“
Der Exarch hatte alle Eldar, die dem Pfad des Kriegers als Skorpione folgten, bereits am Eingang des Schreins der Jadescheren mit eben diesem Ausspruch empfangen. Vollständig in die uralte Schreinrüstung gekleidet und der ehrwürdigen Bewaffnung seines Rangs versehen, wartete diese Verkörperung des Aspekts der Skorpione, dieser Priester des Kriegs auf seine Begleiter für die Schlacht.
Rituell rüsteten sich die Aspektkrieger gegenseitig, von unten beginnend, bis sie zu Letzt beim Helm angelangten. Dem Helm mit den Mandiblastern, dem letzten Abschnitt, der sie innerlich von dem ruhigen, friedlichen Pfad, den sie gerade beschritten, trennte und vollständig in den Krieger und die Kriegerin verwandelte, der auf dem Schlachtfeld all die Greul des Krieges austeilen und ertragen würde.
„Khaine verlangt nach uns.“
Der Exarch stapfte durch ihre Reihen und gab hier und da seine anstachelnden Zitate zum Besten. Er hielt keine aufpeitschenden, langwierigen Reden. Seine Anwesenheit, die psionische Präsenz der Schreinrüstung, reichte aus, um die immer heftiger durch den Phantomkristall der Arche strömende kriegerische Regung nochmals zu steigern. Wie ein Fokus wirkte der Exarch und jeder der Aspektkrieger, der bereits seinen Helm aufgesetzt hatte, scharrte immer unruhiger und schwang fortwährend zur Übung das Kettenschwert. Der Schrein war selbst von einer brodelnden Unruhe gefüllt. Der Hauch von Eredras-Weihrauch in der Luft vermochte keinen mehr zu besänftigen.
Anuriel atmete nochmals tief durch. Drei Mal. Er verschloss alle Tore in seinem Inneren, schützte alle friedlichen Pfade, die er bisher beschritten hatte. Insbesondere den des Kristallsängers. Er setzte sich den Helm auf und nun brandeten die kriegerischen Emotionen, die vom erwachenden Avatar und seiner Kammer im Herzen der Arche ausgingen, durch ihn hindurch. Verstärkt durch den Kriegerschrein der Jadescheren. Gebündelt durch den zwischen ihnen umherwandelnden Exarchen. Nun war er bereit!
In feierlicher Prozession verließen die Skorpionkrieger ihren Schrein, marschierten zu dem Portal, welches sie zum Schlachtfeld beförderte. Anuriel war nun vollkommen erfüllt von seinem Krieger-Ich.
Und plötzlich begann die Schlacht!
***
Der Gott überragte ihn um mehrere Haupteslängen!
„Stell dich zum Kampf, Kristallsänger!“, donnerte die Stimme aus dem Schlund, der wie Lava im Gesicht glühte. Die riesige Klinge sauste auf ihn nieder und Anuriel schaffte es gerade noch mit einem Satz zur Seite, bevor die Waffe in den Boden krachte.
Wo war er? Was war hier los? Asche, Staub, glimmende Lavaadern zogen durch den Boden. Es war dunkel und nur das Licht von Magma erhellte die Szenerie in einem rötlichen Dunst.
Anuriel hatte nur noch wenige Erinnerung an die Schlacht! An den Kampf, an das Handgemenge unter den Chem-pan-sey, als die Skorpionkrieger unter Führung ihres Exarchen aus der Deckung gebrochen waren. Daran, dass in dem Gemetzel ein glücklicher Schuss aus einer Plasmawaffe den Exarchen schwer traf. Dieser umfiel. Und ein markerschütternder, zorniger Schrei in ihrer aller Köpfe widerhallte. Ein Ruf, einem Fanal gleich!
War er seitdem in diesem dunklen Alptraum?
Wutentbrannt brüllte die Manifestation des Kriegsgottes ihn an und schwang die Klinge erneut. Anuriel riss das hoch, was sich in seiner Hand befand. Ein Kettenschwert. Krachend schlugen die Waffen aufeinander. Die Kraft seines Gegenübers war gigantisch - gottgleich.
„Ich töte dich, wenn du dich nicht wehrst!“, donnerte die Stimme des Gottes.
Die glühenden Augen seines Kontrahenten hatten einen mörderischen Ausdruck und Anuriel wurde klar, dass er um sein nacktes Überleben kämpfen musste.
Das flammende Schwert wurde wieder in die Höhe gerissen und sauste in einem tödlichen Schwung senkrecht auf ihn herab. Anuriel sprang abermals zur Seite und rollte sich ab, war sofort wieder auf den Beinen. Seitlich schlug er sein rotierendes Kettenschwert in die glimmend, glühende Masse Eisen, die das Bein des Giganten darstellte. Khaela Mensha Khaine, der Gott des Krieges, des Mordens, knurrte nur empört auf. Der Kopf des eisernen Monstrums schwang herum und fixierte ihn wutentbrannt. Fast schneller, als das Auge sehen konnte, folgte eine rasche Schlagfolge mit der kreischenden Klinge. Anuriel war in die Defensive gedrängt. Sein Kettenschwert zuckte zur Abwehr empor, wurde ihm fast aus der Hand geschlagen. Er duckte sich, rollte, sprang und entkam damit einem tödlichen Streich der göttlichen Klinge.
„Kämpf!“, brüllte ihn die Inkarnation des Kriegsgottes an.
Anuriel konzentrierte sich. Er erkannte, dass er der Aufforderung nachkommen musste, wenn er überleben wollte. Die Schritte des Kriegsgottes donnerten über den Vulkangleichen Boden. Er sog die Luft tief ein, roch all das Verbrannte um ihn rum. Spürte die Hitze des Feuers unter ihm und die, welche vom eisernen Koloss ausging.
Beidhändig hatte der Gott des Krieges die kreischende Klinge über den Kopf erhoben und ließ wieder einen senkrechten Streich folgen. Anuriel drehte sich zur Seite und drosch wiederholt mit seinem Kettenschwert gegen die Hüfte Khaines. Mit aller Kraft hatte er den Streich geführt und in der dunklen, stählernen Masse tat sich ein Spalt auf, aus dem kurz Feuer züngelte. Nur langsam verblasste die glimmende Wunde. Khaele Mensha Khaine brüllte voller Zorn auf und schwang die Klinge waagerecht gegen Anuriel. Dieser blockte den schweren Hieb erfolgreich. Und eröffnete seinerseits eine Folge von Schlägen. Geschickt blockte der Kriegsgott diese ab, doch Anuriel kam in einen Rhythmus. Er drosch, schlug, hieb und stach – soweit dies mit einem Kettenschwert möglich war – auf Khaine ein. Seine Angriffe wogten wie gewaltige Wellen gegen den Kriegsgott, wie der aufgewühlte Ozean gegen die felsige Küste. Der Gott wiederum blieb nicht nur defensiv, führte Finten aus und versuchte selbst wieder die Initiative in dem Duell zu gewinnen.
Der Kampf wogte wie Ebbe und Flut hin und her, Anuriel spürte allmählich Erschöpfung. Keine körperliche, sondern geistige!
Die Manifestation Khaines brüllte unverzagt seine Wut heraus. Sein Zorn wurde geschürt durch jede erfolgreiche Aktion Anuriels.
Die Klinge hatte er zum gefühlten tausendsmal geblockt, als unvermittelt ein Fußtritt Khaines Anuriel ins Straucheln brachte! Er war unaufmerksam geworden. Und erschöpft.
Khaine war schnell über ihm. Die kreischende Klinge hielt er einem Dolch gleich, um ihn zu erstechen.
„Dein Tod! Du bist meiner nicht würdig.“
Anuriel sah die Klinge auf seine Brust niedersausen. Doch schneller, schneller als Khaine selbst, wich Anuriel dem Stoß aus, kam auf die Beine. Er stand, neben dem hockenden eisernen Ungetüm! All seine Kraft, all seinen Hass fokussierte er auf den Schlag. Den Schlag gegen den Hals des stählernen Kolosses, den er gedankenschnell ausführte! Funken stoben, Metall sägte kreischend auf Metall. Doch das Kettenschwert kam durch die glühende Masse! Krachend ging der Schädel zu Boden, der Mund weit geöffnet. Aus diesem donnerte Khaines Wutgebrüll. Der Körper mit der Klinge war immer noch in der Hocke. Anruiel holte erneut aus. Er schlug mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht auf den Torso. Das Kettenschwert grub sich in den Rücken. Und blieb stecken! Doch der Riss war enorm. Ein Glimmen, das sich zu einem blendenden Leuchten verstärkte, ging von dem Gott aus. Ein Sog entstand. Und als das Licht so hell war, das Anuriel mit einer Hand seine Augen abschirmen musste, explodierte der göttliche Körper! Eisenteile flogen durch die Luft. Und Anuriel sank erschöpft auf die Knie.
„Jetzt bist du meiner würdig, Kristallsänger des Vaul.“, sprach der abgeschlagene Kopf blechern. Und ehe sich Anuriel versah, schossen die verstreuten Metallteile des Gottes auf ihn zu, die eben noch arglos auf dem Boden lagen. Versenkten sich in seiner Rüstung, seinem Fleisch. Überrascht brüllte nun Anuriel auf, der vollkommen eingefasst wurde von Eisen. Ein Flüstern, das sich zu einer lauten Kakophonie steigerte, ging von dem Metall aus: „Krieg, Blut, Mord, Tod! KRIEG, BLUT, MORD, TOD!“
Er schrie dagegen an bis auch seine Augen, sein Mund, sein Gesicht vollständig umschlossen waren. Als alles vom Eisen bedeckt war, versank Anruiel in tiefe Dunkelheit.
***
Er kam nicht mehr raus!
Anuriels Atem ging schwer und der Schleier vor seinen Augen löste sich nur allmählich. Doch in seinem Inneren fühlte er, dass die Tore verschlossen waren. Verschlossen von unbezwingbaren Eisen. Er war gefangen.
Die Maske seiner Skorpionkriegerrüstung lag arglos weggeworfen neben ihm. Doch die Maske des Krieges hatte er damit nicht von seiner Seele genommen. Der sich klärende Blick wanderte über ein Schlachtfeld, welches von zerstörten, grobschlächtigen Metallkonstruktionen gesäumt war. Der Kampf gegen Khaine, in seinem Geiste, war das alles nur eine Illusion gewesen? Leblose, teils entsetzlich verstümmelte Leiber lagen achtlos herum.
In seinem Kopf rebellierte es, seine Seele wollte zurück. Er befand sich noch immer in der Kammer des Kriegers, der Ruf Khaines hallte noch immer in seinem Ohren, seinem Kopf, in seiner Seele wieder. Anuriel kam sich vor, als sei sein inneres Selbst in einem undurchdringlichen Panzer gerüstet. Aus dem er nicht entfliehen konnte! Der ihn gefangen hielt.
Sein Blick schweifte weiter über das Schlachtfeld. War nicht noch irgendwo einer dieser Chem-pan-sey, dem er mit seinem Kettenschwert die Gedärme öffnen konnte? Seine Gedanken waren beseelt von Zorn, von Hass, er wollte das Blut seiner Feinde vergießen, mordend, schlachtend über sie triumphieren.
„Wir haben ihn gefunden!“
Bei diesem Ruf drehte sich Anruiel um und erblickte zwei Aspektkrieger seines Schreins, die langsam auf ihn zu kamen.
„Anuriel, alles in Ordnung?“, sprach ihn einer an.
Sein blickte hetzte zwischen den Beiden hin und her, die Faust um sein Kettenschwert schloss sich fester. Er zwang sich die für ihn gerade wichtigste Frage zu stellen: „Wo ist der Feind?“
„Geflohen.“
„Und geschlagen.“, ergänzte der zweite Krieger.
Anruiels Blick fiel auf seine scheinbaren Kampfgefährten – er wusste ihre Namen, doch sein Geist gab sie ihm aktuell nicht Preis. KRIEG, schrie es fortwährend in ihm. BLUT, MORD, TOD! Der Choral in seinem Inneren wurde immer stärker und scheinbar auch vielstimmiger. Dabei war die Schlacht vorüber, zu Ende. Sein Helm und damit die Kriegsmaske von seiner Seele abgelegt – so sollte es zumindest sein!
„Wo ist der Exarch?“, fragte er apathisch.
„Gefallen. Die Rüstung leer, wie immer.“
„Wie immer, wenn sie fallen.“, pflichtete der andere Krieger wieder bei, mit leichter Trauer in der Stimme.
Die beiden sahen ihn unverwandt an. Anuriel zwang sich zur Ruhe, doch die innere Unruhe übertrug sich auch nach außen. Er zuckte teils unkontrolliert, seine Augen rasten, rollten. Er formte lautlos Worte mit seinem Mund und ständige wiederholte es sich in seinem Kopf: KRIEG, BLUT, MORD, TOD!
„Bist du noch von Khaine berührt?“, fragte der ihm näherstehende Krieger.
„Nein.“ Er atmete schwer. „Ich bin vollkommen von ihm ergriffen.“
Er wankte und strauchelte, stützte sich mit den Händen aus sein Kettenschwert.
„Und er ruft nach mir, immer und immer wieder.“
Mit diesen Worten übergab Anuriel zitternd das Kettenschwert und seine Shurikenpistole dem Aspektkrieger. Der andere las seinen Helm auf. Sie nahmen ihn in die Mitte und stützten ihn. Dann forderten sie den Runenleser an.
***
Der Serpent setzte auf. Aus der Heckluke trat der Runenleser und kam bedächtigen Schrittes auf die Prozession zu. Alle Skorpionkrieger des Schreins der Jadescheren, die in die Schlacht gezogen waren, hatten sich auf einer kleinen Anhöhe, unweit des Schlachtfeldes versammelt.
Anuriel kniete nackt in der Mitte des Halbkreises, den sie um ihn gebildet hatten. Die erhabene, edel verzierte und seit Äonen in der Schlacht gestählte Schreinrüstung des Exarchen links neben ihm. Rechts die reißende Klinge mit ihren im Farbton von Jade schimmernden Kettensegmenten. Zwei Skorpionkrieger standen als Ehrenwache zu seinen Seiten. Wie die übrigen Aspektkrieger des Schreins der Jadescheren standen sie ohne Helm da. Alle hatten die Maske des Krieges damit von ihren Seelen genommen. Außer einem.
Er atmete tief ein und aus, versuchte sich, seinen Geiste, seine Seele an den neuen Zustand zu gewöhnen. Innerlich hatte er an jede Pforte geschlagen, jedes Tor bestürmt. Keines öffnete sich, so zornig, wütend, verzweifelt er auch dagegen anrannte. Mit all der Macht die ihm nun zur Verfügung stand!
Seit er das Tor in seinem Inneren, welches auf den Pfad des Kristallsängers führte, vor wenigen Herzschlägen zum letzten Mal versuchte hatte zu öffnen und es schlicht verschlossen blieb, war ein Teil seiner Seele endgültig verstummt. Der Ruf Khaines in ihm überlagerte nun alle anderen, die noch in seiner Seele schlummerten. Ein wütender, zorniger Chor übertönte nun jeden anderen, friedlichen Pfad, den er als Eldar je beschritten hatte. Khaele Mensha Khaine hatte auf dem Höhepunkt der Schlacht gebrüllt, vor Zorn, über den Verlust seines Champions, des Exarchen des Schreins der Jadescheren. Und Anuriel war es gewesen, der den Ruf aufgenommen hatte.
Seine Erinnerungen kehrten allmählich zurück. Getrieben von Hass, Zorn, schierer Wut und einer unstillbaren Lust zu Morden, hatte er unter den Feinden der Kinder Ishas gewütet. Er war weit alleine vorgeprescht, als der Rest der Truppen schon gehalten hatte, da die Verluste der Menschen so hoch waren, dass sie kopflos flohen. Und genau diesen Fliehenden hatte Anuriel nachgesetzt, um mit seinem Kettenschwert einer Sense gleich blutige Ernte einzufahren.
Ohne Sinn und Verstand, unter Missachtung sämtlicher taktischer Disziplin war er davon geeilt, um das Verlangen, welches der Ruf Khaines in ihm hervorgerufen hatte, zu stillen. Sein imaginärer Sieg über den Kriegsgott hat ihm zum neuen Priester des Schreins der Jadescheren gemacht. Unfreiwillig und unwiderruflich.
Nun konnte er nicht mehr zurück. Seine Seele konnte diesen Pfad, auf dem er nun wandelte, nicht mehr verlassen.
Der Runenleser überragt ihn. Anuriel hob den Kopf um in die Sichtschlitze des Helms aus Phantomkristall zu blicken. Der metallene Geruch von Blut und der frischen, feuchten Grases stiegen ihm in die Nase. Vermischte sich mit einem Geruch nach Brand, nach Asche. Kam dies aus seinem Inneren?
Er spürte eine psionische Sondierung, die der Runenleser an dem Selbst von Anuriel durchführte. Und eine unterschwellige Botschaft des Bedauerns und gleichzeitig der Bewunderung für diese Aufopferung.
„Wo ist seine Rüstung?“, fragte der Runenleser, seinen Blick von Anruiel abwendend. Zwei Skorpionkrieger hielten dem Psioniker eine einfache Aspektkriegerrüstung entgegen. Der Runenleser musterte sie kurz und entnahm dann den Seelenstein aus der Brusthalterung.
„Richtet ihn auf.“, befahl der Runenleser den Skorpionkriegern der Ehrenwache.
Die zwei Angesprochenen packten ihn unter den Armen und brachten Anuriel sanft zum Stehen. Unverwandt aber teilnahmslos beobachtete er den Wanderer auf dem Runenpfad.
„Kleidet ihn ein.“ Mit diesen Worten intonierte der Runenleser die Litanei des Übergangs und die restlichen Aspektkrieger stimmten ein.
Als die letzten Strophen erreicht waren, hatte die Ehrenwache ihm rituell von unten nach oben die Rüstung angelegt. Es war nur noch eine Stelle auf seiner Brust frei und sein Haupt. Der Runenleser stülpte ihm als letztes den Helm der Schreinrüstung über den Kopf. Mit einem plötzlichen Schlag war sein Geist wieder frei und öffnete sich. Öffnete sich der Matrix der Rüstung! Und wurde überschwemmt von Eindrücken, von Gefühlen, von Regungen aller vorherigen Träger. Gerüche, Landschaftsbilder, Schlachtgeräusche – einer unaufhaltsamen Flutwelle gleich überrollten Anuriel die Sinneswahrnehmungen der vorherigen Exarchen! Er taumelte leicht im Geiste, auch sein Körper schwankte. Er spürte nicht mehr die Berührung der beiden Aspektkrieger der Ehrenwache, die ihn stützten. Auch übertönte das Stimmengewirr, dass von seiner neuen Rüstung ausging, die letzten Worte des Runenlesers, der nun den Seelenstein von seiner alten Rüstung in die freie Stelle an seiner Brust einfügte. Er spürte nur noch ein schmerzhaftes Ziehen, gefolgt von einem Zischen. Der Geruch von verbranntem Fleisch kroch in seine Nase. Fest griffen zig winzige Fasern Phantonkristall aus der Rüstung in sein Fleisch. Nun war er endgültig mit der Rüstung verbunden. Anuriel brüllte vor Zorn, vor Wut, vor schierem Hass. Und es grollte in diesem infernalen Kriegsschrei auch Khaines Ruf mit: KRIEG, BLUT, MORD, TOD!
Er war neugeboren als Priester der Schlachten.