Cathay, Himmelsberge, 1124IC
I.
Pochen. Jemand hämmerte mit einem Eisenschlegel von innen gegen seinen Schädel. Er hatte seine Augen geschlossen und Sterne tanzten in der Dunkelheit umher. Der Schnee klebte an seinem Umhang und kaltes Wasser sickerte durch den groben Stoff. Nicht, das es ihm etwas ausgemacht hätte. Sein Fell war ohnehin nass und angefroren. Wenigstens hatte das ewige Gehen ein Ende. Sie waren nun schon seit drei Tagen fast ununterbrochen auf den Beinen und stiegen den endlosen Berg hinauf. Ihr Meister hatte sie hierher geführt. Er sagte ihnen, am Dach des Himmels findet man den Willen zu töten. Nun, zumindest den Tod hatten einige gefunden. Den Hass auf den Meister gab es jedoch für alle gratis dazu. Fünfzehn Brüder waren sie gewesen. Jetzt waren nur noch Sieben übrig.
Stahl berührte seine Kehle und Natrik riss die Augen auf. Meisterassassine Kizzak beäugte ihn. „Wer schläft der stirbt, Narr“ flüsterte er mit seiner ihm typischen Singsang Stimme. „Möchtest du sterben Ratte? Der Weg ist noch weit... ja sehr weit-weit und deine Brüder sind hungrig.“ Er grinste und entblößte eine Reihe spitzer scharfer Zähne. Ohne eine Antwort abzuwarten zog er die Klinge zurück, wandte sich ab und stapfte durch den Schnee davon. „Es geht weiter Faulpelze!“ herrschte er die am Boden liegenden Skaven an.
Sie alle erhoben sich und gaben sich alle Mühe, ihre Müdigkeit und Schwäche voreinander zu verbergen. Kizzak hatte keine Essensvorräte für die fünf tägige Reise mitnehmen lassen und jeder wusste, was das bedeutete.
Natrik reihte sich in die Kolonne der Assassinenadepten ein. Das Wetter wurde schlechter und ein kalter Wind wirbelte den am Boden liegenden Schnee auf. Die Skaven hüllten sich in ihre langen, dunkelbraunen und schwarzen Leinenmäntel. Über ihnen, halb verborgen und düster von der grauen Wolkendecke war ihr Ziel in Sicht. Das Dach der Welt, wie Kizzak es nannte. Kizzak behauptete, es sei der höchste Berg in Cathay, auf dem sie je stehen würden. Natrik hatte keine Grund, ihm nicht zu glauben.
Der Aufstieg hatte ewig gedauert, aber nun hatten sie den größten Teil des Weges hinter sich gebracht. Zu Anfang war der Weg unbeschwerlich gewesen. Die Adepten eilten voller Eifer dem Gipfel entgegen, den alten Meister stets im Rücken. Zu diesem Zeitpunkt gingen sie auch noch davon aus, dass es Pausen geben würde. Als die Sonne am ersten Tag untergegangen war, hatte Dretzlik gefragt, wann sie das Nachtlager aufschlagen würden. Kizzak antwortete, dass er rasten darf, wenn er erfroren war.
Seitdem waren sie ununterbrochen auf den Beinen. Mühsam schleppten sie sich die Schneehänge hinauf, überquerten Sättel, über denen der eiskalte Wind peitschte und kletterten steile Klippe hinauf. Flinkwurm war dabei nach unten gestürzt, nachdem ihm ein Stein auf den Kopf gefallen war. Natrik hielt es allerdings für unwichtig den anderen mitzuteilen, dass er es war, der den Stein aus Versehen gelöst hatte. So etwas behielt man besser für sich.
Er wühlte sich weiter durch den hüfthohen Schnee, auf eine etwa vierzig Meter hohe Steilklippe zu. Die Aussicht, bei diesem Wind den eisglatten Stein hinaufzuklettern erfüllte Natrik mit Unbehagen. Er warf einen Blick hinüber zu Skartz. Der Skaven schob mit seinen kräftigen Armen den Schnee beiseite und achtete nicht auf seinen Bruder links neben ihm. Die Situation nutzend, wandte sich Natrik nach rechts und nutzte Skartz' Elan für sich selbst, indem er hinter ihm die vorgefertigte Laufspur nutzte. Auf diese Weise gelangte er ohne größere Anstrengung zu der Klippe.
Die Skaven des Eshin Clans sammelten sich an der Felswand. Schweigend und sich gegenseitig misstrauisch beäugend streiften sie sich ihre Kletterhandschuhe über. Das dünne Leder der Handschuhe war besetzt mit schwarzen Stahlhaken, welche sich zum klettern als auch zum kämpfen bestens eigneten.
Jeder der Skaven wählte einen Aufstiegsort, möglichst weit Abseits der Anderen. Niemand war darauf aus, plötzlich einen Stein auf den Kopf zu bekommen.
Natrik krallte sich in den zerfurchten Stein und fing an zu klettern. Schon nach kurzer Zeit brannten ihm Arme und Beine von der Anstrengung. Er verfluchte sich selbst und vor allem Meister Kizzak und konzentrierte sich auf seine Bewegungen, entschlossen durchzuhalten.
Plötzlich hörte er einen quiekenden Schrei, er drehte den Kopf zur Seite und sah ein wedelndes Bündel aus Gliedmaßen, Fell und schwarzem Mantel an sich vorbei sausen. Der Skaven, Natrik konnte nicht erkennen um wen es sich handelte, schlug dumpf in dem Schnee auf und rollte mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Schneeabhang am Fuß der Klippe hinunter. Ähnlich hatte sich auch der Körper von Flinkwurm verhalten stellte Natrik grübelnd fest. Er schob seine abschweifenden Gedanken beiseite und widmete seine Kraft wieder dem Stein. Den Blick konzentriert nach oben gerichtet, schob er sich Zoll um Zoll an der Wand nach oben, bis seine Hände plötzlich eine Kante zu fassen bekamen. Vor Überraschung hätte er fast losgelassen, entschied sich aber dann doch anders und zog sich unbeholfen über den Rand der Klippe.
Er hob den Blick und sah seinen Meister im Schnee sitzen. Neben ihm wartete bereits Skartz. Aus der Art und Weise, wie Skartz dort im Schnee lag und schnell atmete, konnte Natrik darauf schließen, dass er nicht viel langsamer als sein Bruder gewesen war.
Mit dem letztem Stück Eleganz das ihm geblieben war, erhob sich Natrik aus dem Schnee und setzte sich ein paar Schritte neben seinem Meister in den Schnee. Er wartete einige Minuten und beobachtete den Rand der Schlucht. Eine Hand tauchte aus dem Nichts auf, tastete blind umher und krallte sich schließlich in eine Spalte. Eine zweite Hand gesellte sich hinzu und schließlich erschien Dretzliks Kopf und bald darauf sein Körper. Dretzlik kroch auf allen Vieren, völlig erschöpft vom Abgrund weg. Meister Kizzak hob missbilligend eine Augenbraue, sagte jedoch nichts.
Sie warteten gemeinsam weitere Zehn Minuten. Niemand kam.
Schließlich erhob sich Kizzak langsam und blickte seine drei verbliebenen Schüler an. „Ich wusste, dass die anderen es nicht mehr schaffen. Sie waren schon unten völlig kraft-kraftlos, kaum imstande durch den Schnee zu laufen.“ Seine Stimme hob und senkte sich zum Rhythmus des pfeifenden Windes. „Ihr drei dort, erhebt euch jetzt wieder. Wir haben es bald geschafft, oben auf dem Dach werden wir gemeinsam meditieren. Wenn die Gehörnte Ratte euch mit Einsicht gesegnet hat, werdet ihr vielleicht Weisheit finden.“ Kizzak schaute noch einmal den am Boden liegenden Dretzlik an, dann wandte er sich ab und ging sicheren Schrittes den Abhang hinauf. Natrik und Skartz folgten, Dretzlick erhob sich zitternd aus dem Schnee und trotteten dem Trio hinterher.
Der Weg war nun bei weitem nicht mehr so steil wie zu Anfang stellte Natrik fest. Graue Felsen erhoben sich aus dem nun seichter gewordenem Schnee. Der Wind wehte nach wie vor sehr stark und pfiff zwischen den Steinen. Die Vier Gestalten bahnten sich einen Weg durch den umher tanzenden Schnee, den Blick stets nach vorne gerichtet. Schließlich blieb Kizzak stehen und deutete mit einer Klaue zu einem etwa zwanzig Meter hohen, zylinderförmigen Felsen. Halb zu seinen Schülern gewandt erklärte er: „Das Horn der Ratte, kleine Skaven“ er kicherte, „Der höchste Punkt in Cathay. Ihr habt ihn erreicht.“ Und mit einem spöttischen Blick zu Dretzlik fügte er hinzu: „Unser Nachtlager.“
II.
Sie suchten sich eine Stelle, die weniger stark vom Schnee bedeckt war, teilweise sogar kahl, so dass der schwarze Felsen sichtbar war. Im Halbkreis, mit einem Abstand von etwa drei Schritten zueinander errichteten sie sich jeder einen Schneehaufen, um sich vor der Witterung zu schützen. Natrik zog die Beine an den Körper und hüllte sich in seinem nassen Umhang ein. Er gab vor, die Augen zu schließen, ließ seine Lieder aber einen winzigen Spalt offen um seine Brüder beobachten zu können.
Skartz fummelte eine Weile mit den Händen an seiner Kapuze herum und kam schließlich in einer ähnlichen Position wie Natrik zur Ruhe. Sein Meister saß im Schneidersitz, in sich zusammengefallen mit dem Blick nach unten vor seinem Schneehaufen. Dretzlik saß vor seinem behelfsmäßigem Unterstand und hatte die Augen geschlossen. Er wiegte sich langsam vor und zurück und kam nach einigen Minuten zum stehen. Seine Brust hob und senkte sich sanft und seine Schnauze zuckte unregelmäßig.
Natrik warf einen Blick zu Skartz. Skartz starrte zurück. Ein kurzer Blick zu Kizzak. Der Meister hatte sich unbemerkt im sitzen aufgerichtet und beobachtete das Geschehen aufmerksam. Er nickte fast unmerklich und verharrte dann in seiner Position, die wachen Augen auf seine Schüler gerichtet.
Natrik und Skartz erhoben sich lautlos, die Augen auf den schlafenden Dretzlik gerichtet. Ihre Umhänge flatterten im Wind und der Schnee tobte um sie herum.
Skartz zog einen Dolch aus seinem Umhang hervor und Natrik bewaffnete sich mit einem Wurfmesser. Sie schlichen auf Dretzlik zu, kreisten ihn ein. Mit einem quitschenden kratzen von Krallen auf nacktem Stein sprang Skartz vorwärts. Das Geräusch war genug, um Dretzlik aufzuwecken. Er schlug die Augen auf und war sofort hellwach. Zu spät für ihn, Skartz flog auf ihn zu und versenkte den Dolch in Dretzliks Bauch. Dieser kreischte auf und schlug mit seinen Krallen bewehrten Handschuhen um sich, fuhr Skartz einmal über das Gesicht und stieß ihn so zurück. Jetzt, da die Sicht frei war schleuderte Natrik sein Messer auf den sich erhebenden Dretzlik. Das Messer fand zielsicher seinen Weg in die Kehle des Skaven und schleuderte ihn zu Boden. Dretzlik wälzte sich auf dem Boden hin und her und gab schreckliche Geräusche von sich.
Skartz hatte sich derweil aufgerappelt, Hass loderte in seinen Augen auf und Blut lief ihm aus tiefen Schnitten quer über das Gesicht. Ein Stück seines Ohres fehlte. Er sprang erneut auf Dretzlik zu und stach wild auf ihn ein.
Natrik rannte vorwärts, um sich seinen Teil der Beute zu holen, auf einmal fuhr Skartz herum, das blutverschmierte Messer in der Hand und fauchte ihn an. Natrik sprang zur Seite, zog im Flug ein weiteres Messer, rollte sich auf dem Boden ab und kam zwei Schritte neben Skartz wieder auf die Füße. Ein Tanz folgte, wie ihn nur ausgebildete Assassinen führen konnten. Sie stachen Aufeinander ein, die Hiebe waren größtenteils Finten, Versuche, den Gegner hervorzulocken und seine Deckung zu entblößen. Geschickt wichen sie sich gegenseitig aus, duckten sich unter den Stichen hinweg oder sprangen zu Seite.
„GENUG!“ donnerte Kizzak mit fester Stimme. Sofort hielten die Adepten inne, brachten einen gehörigen Abstand zwischen sich und richteten ihren Blick auf ihren Meister. Kizzak hatte sich erhoben, ein langes, leicht gekrümmtes und messerscharfes Schwert in der Hand. Natrik hatte nicht gewusst, dass sein Meister eine solch große Waffe bei sich führte. „Spart eure Kräfte ihr Narren“, fauchte der Meisterassassine. „Euer Bruder ist tot, er war zu schwach um lebend vom Berg herunterzukommen. Ihr hattet das Recht ihn zu töten, jetzt stillt euren Hunger und wartet den Morgen ab.“ Langsam setzte sich der alte Skaven wieder und sank in sich zusammen, fast als hätte er das eben geschehene vergessen.
Die beiden Adepten näherten sich misstrauisch ihrem totem Bruder, ließen sich nieder und begannen die bereits auskühlende Leiche zu verspeisen, den Gegenüber nie aus den Augen lassend.
III.
Natrik schlug die Augen auf. Der Sturm war vorüber und der Himmel war fast klar. Er blickte um sich, sah die Knochen von Dretzlik und ihm kamen die Bilder der vergangen Nacht schlagartig in Erinnerung. Er musste eingeschlafen sein, Natrik verfluchte seine Unachtsamkeit. Er erhob sich und blickte sich nach seinen Gefährten um. Nachdem Skartz und er den toten Skaven gegessen hatten, war er selbst wieder zu seinem Hügel gekrochen. Er hatte sich vorgenommen, nicht zu schlafen, aus Angst, Skartz könnte ihn anfallen. Letztendlich müssen aber Müdigkeit und Erschöpfung gesiegt haben.
Natrik war dennoch froh darüber, er fühlte sich so kräftig wie lange nicht mehr. Der Adept drehte sich einige Male im Kreis und versuchte die anderen Skaven ausfindig zu machen. Skartz schien ebenfalls zu schlafen, er lag zusammengerollt hinter seinem Schneehaufen. Vom Meister fehlte jedoch jede Spur. Natrik drehte sich um und ging auf das Horn der Ratte zu. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte den glatten Felsen an. Sein Meister stand in Zwanzig Meter Höhe über ihm auf dem Steinbrocken. „Größter aller Assassinen“, rief Natrik und benutzte die respektvolle Anrede, „Wie... wie seid ihr da hoch gekommen, Eure Tödlichkeit?“ Kizzak drehte sich auf dem Felsen um. „Mit Händen und Füßen dumme Ratte“ erklärte er, glitt den glatten Stein hinunter und rollte sich gewandt am Boden ab. Skartz gesellte sich zu ihnen, das Gesicht voller getrocknetem Blut. „Eure Tödlichkeit“ begann er und warf Natrik einen Seitenblick zu, „Was gedenkt ihr nun mit uns zu tun?“. Kizzak begutachtete den Sonnenaufgang unter ihnen am Horizont. „Wir werden hier-hierbleiben“ sagte er und verfiel wieder seinem Singsang. „Nachdenken über dies und das, wichtige Dinge wenn ihr so wollt. Alles, worüber man auf dem Dach nachdenkt ist wichtig“ erklärte er mit einem vielsagendem Blick.
„Ihr sagtet, wir finden hier oben den Willen zu Töten“ warf Natrik ein.
Kizzak deutete auf die Überreste von Dretzlik. „Und den habt ihr gefunden. Aber ihr habt keinen Verstand gefunden dumme Schüler-Skaven. Deswegen bleiben wir hier. Schaut euch den Weg der Sonne an wenn ihr Lust habt. Sie ist unser Feind und Freund zugleich. Eure Brüder sind Feind und Freund zugleich“ erläuterte Kizzak und deutete auf die Wunden, die Skartz Gesicht bedeckten. „Wenn ihr lange genug sitzt, wird euch die Geduld und Weisheit eines Assassinen von selbst in den Kopf fallen.“ Damit endete Kizzak seine Lektion und stapfte davon.
Natrik und Skartz standen eine Weile im Schnee, unsicher was sie jetzt tun sollten. Schließlich wandte sich Skartz ab, ging davon und ließ sich auf einem Steinbrocken nieder. Natrik tat es ihm gleich, nur ging er in die entgegengesetzte Richtung, dorthin wo die Sonne aufging. Er setzte sich im Schneidersitz auf einen kühlen Felsen und blickte zum Horizont und zur aufgehenden Sonne.
Die verbliebenen Wolkenfetzen des gestrigen Sturms wurden von unten golden angestrahlt und leuchteten mystisch im halbdunklen der Morgendämmerung. Natrik hörte auf seinen eigenen Atem. Ungeduld machte sich in ihm breit und er wollte wieder aufstehen. Er ermahnte sich selbst und rief sich die Worte seines Meistern in den Sinn. Der Adept atmete tief durch, schloss die Augen und öffnete sie als Assassine.
I.
Pochen. Jemand hämmerte mit einem Eisenschlegel von innen gegen seinen Schädel. Er hatte seine Augen geschlossen und Sterne tanzten in der Dunkelheit umher. Der Schnee klebte an seinem Umhang und kaltes Wasser sickerte durch den groben Stoff. Nicht, das es ihm etwas ausgemacht hätte. Sein Fell war ohnehin nass und angefroren. Wenigstens hatte das ewige Gehen ein Ende. Sie waren nun schon seit drei Tagen fast ununterbrochen auf den Beinen und stiegen den endlosen Berg hinauf. Ihr Meister hatte sie hierher geführt. Er sagte ihnen, am Dach des Himmels findet man den Willen zu töten. Nun, zumindest den Tod hatten einige gefunden. Den Hass auf den Meister gab es jedoch für alle gratis dazu. Fünfzehn Brüder waren sie gewesen. Jetzt waren nur noch Sieben übrig.
Stahl berührte seine Kehle und Natrik riss die Augen auf. Meisterassassine Kizzak beäugte ihn. „Wer schläft der stirbt, Narr“ flüsterte er mit seiner ihm typischen Singsang Stimme. „Möchtest du sterben Ratte? Der Weg ist noch weit... ja sehr weit-weit und deine Brüder sind hungrig.“ Er grinste und entblößte eine Reihe spitzer scharfer Zähne. Ohne eine Antwort abzuwarten zog er die Klinge zurück, wandte sich ab und stapfte durch den Schnee davon. „Es geht weiter Faulpelze!“ herrschte er die am Boden liegenden Skaven an.
Sie alle erhoben sich und gaben sich alle Mühe, ihre Müdigkeit und Schwäche voreinander zu verbergen. Kizzak hatte keine Essensvorräte für die fünf tägige Reise mitnehmen lassen und jeder wusste, was das bedeutete.
Natrik reihte sich in die Kolonne der Assassinenadepten ein. Das Wetter wurde schlechter und ein kalter Wind wirbelte den am Boden liegenden Schnee auf. Die Skaven hüllten sich in ihre langen, dunkelbraunen und schwarzen Leinenmäntel. Über ihnen, halb verborgen und düster von der grauen Wolkendecke war ihr Ziel in Sicht. Das Dach der Welt, wie Kizzak es nannte. Kizzak behauptete, es sei der höchste Berg in Cathay, auf dem sie je stehen würden. Natrik hatte keine Grund, ihm nicht zu glauben.
Der Aufstieg hatte ewig gedauert, aber nun hatten sie den größten Teil des Weges hinter sich gebracht. Zu Anfang war der Weg unbeschwerlich gewesen. Die Adepten eilten voller Eifer dem Gipfel entgegen, den alten Meister stets im Rücken. Zu diesem Zeitpunkt gingen sie auch noch davon aus, dass es Pausen geben würde. Als die Sonne am ersten Tag untergegangen war, hatte Dretzlik gefragt, wann sie das Nachtlager aufschlagen würden. Kizzak antwortete, dass er rasten darf, wenn er erfroren war.
Seitdem waren sie ununterbrochen auf den Beinen. Mühsam schleppten sie sich die Schneehänge hinauf, überquerten Sättel, über denen der eiskalte Wind peitschte und kletterten steile Klippe hinauf. Flinkwurm war dabei nach unten gestürzt, nachdem ihm ein Stein auf den Kopf gefallen war. Natrik hielt es allerdings für unwichtig den anderen mitzuteilen, dass er es war, der den Stein aus Versehen gelöst hatte. So etwas behielt man besser für sich.
Er wühlte sich weiter durch den hüfthohen Schnee, auf eine etwa vierzig Meter hohe Steilklippe zu. Die Aussicht, bei diesem Wind den eisglatten Stein hinaufzuklettern erfüllte Natrik mit Unbehagen. Er warf einen Blick hinüber zu Skartz. Der Skaven schob mit seinen kräftigen Armen den Schnee beiseite und achtete nicht auf seinen Bruder links neben ihm. Die Situation nutzend, wandte sich Natrik nach rechts und nutzte Skartz' Elan für sich selbst, indem er hinter ihm die vorgefertigte Laufspur nutzte. Auf diese Weise gelangte er ohne größere Anstrengung zu der Klippe.
Die Skaven des Eshin Clans sammelten sich an der Felswand. Schweigend und sich gegenseitig misstrauisch beäugend streiften sie sich ihre Kletterhandschuhe über. Das dünne Leder der Handschuhe war besetzt mit schwarzen Stahlhaken, welche sich zum klettern als auch zum kämpfen bestens eigneten.
Jeder der Skaven wählte einen Aufstiegsort, möglichst weit Abseits der Anderen. Niemand war darauf aus, plötzlich einen Stein auf den Kopf zu bekommen.
Natrik krallte sich in den zerfurchten Stein und fing an zu klettern. Schon nach kurzer Zeit brannten ihm Arme und Beine von der Anstrengung. Er verfluchte sich selbst und vor allem Meister Kizzak und konzentrierte sich auf seine Bewegungen, entschlossen durchzuhalten.
Plötzlich hörte er einen quiekenden Schrei, er drehte den Kopf zur Seite und sah ein wedelndes Bündel aus Gliedmaßen, Fell und schwarzem Mantel an sich vorbei sausen. Der Skaven, Natrik konnte nicht erkennen um wen es sich handelte, schlug dumpf in dem Schnee auf und rollte mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Schneeabhang am Fuß der Klippe hinunter. Ähnlich hatte sich auch der Körper von Flinkwurm verhalten stellte Natrik grübelnd fest. Er schob seine abschweifenden Gedanken beiseite und widmete seine Kraft wieder dem Stein. Den Blick konzentriert nach oben gerichtet, schob er sich Zoll um Zoll an der Wand nach oben, bis seine Hände plötzlich eine Kante zu fassen bekamen. Vor Überraschung hätte er fast losgelassen, entschied sich aber dann doch anders und zog sich unbeholfen über den Rand der Klippe.
Er hob den Blick und sah seinen Meister im Schnee sitzen. Neben ihm wartete bereits Skartz. Aus der Art und Weise, wie Skartz dort im Schnee lag und schnell atmete, konnte Natrik darauf schließen, dass er nicht viel langsamer als sein Bruder gewesen war.
Mit dem letztem Stück Eleganz das ihm geblieben war, erhob sich Natrik aus dem Schnee und setzte sich ein paar Schritte neben seinem Meister in den Schnee. Er wartete einige Minuten und beobachtete den Rand der Schlucht. Eine Hand tauchte aus dem Nichts auf, tastete blind umher und krallte sich schließlich in eine Spalte. Eine zweite Hand gesellte sich hinzu und schließlich erschien Dretzliks Kopf und bald darauf sein Körper. Dretzlik kroch auf allen Vieren, völlig erschöpft vom Abgrund weg. Meister Kizzak hob missbilligend eine Augenbraue, sagte jedoch nichts.
Sie warteten gemeinsam weitere Zehn Minuten. Niemand kam.
Schließlich erhob sich Kizzak langsam und blickte seine drei verbliebenen Schüler an. „Ich wusste, dass die anderen es nicht mehr schaffen. Sie waren schon unten völlig kraft-kraftlos, kaum imstande durch den Schnee zu laufen.“ Seine Stimme hob und senkte sich zum Rhythmus des pfeifenden Windes. „Ihr drei dort, erhebt euch jetzt wieder. Wir haben es bald geschafft, oben auf dem Dach werden wir gemeinsam meditieren. Wenn die Gehörnte Ratte euch mit Einsicht gesegnet hat, werdet ihr vielleicht Weisheit finden.“ Kizzak schaute noch einmal den am Boden liegenden Dretzlik an, dann wandte er sich ab und ging sicheren Schrittes den Abhang hinauf. Natrik und Skartz folgten, Dretzlick erhob sich zitternd aus dem Schnee und trotteten dem Trio hinterher.
Der Weg war nun bei weitem nicht mehr so steil wie zu Anfang stellte Natrik fest. Graue Felsen erhoben sich aus dem nun seichter gewordenem Schnee. Der Wind wehte nach wie vor sehr stark und pfiff zwischen den Steinen. Die Vier Gestalten bahnten sich einen Weg durch den umher tanzenden Schnee, den Blick stets nach vorne gerichtet. Schließlich blieb Kizzak stehen und deutete mit einer Klaue zu einem etwa zwanzig Meter hohen, zylinderförmigen Felsen. Halb zu seinen Schülern gewandt erklärte er: „Das Horn der Ratte, kleine Skaven“ er kicherte, „Der höchste Punkt in Cathay. Ihr habt ihn erreicht.“ Und mit einem spöttischen Blick zu Dretzlik fügte er hinzu: „Unser Nachtlager.“
II.
Sie suchten sich eine Stelle, die weniger stark vom Schnee bedeckt war, teilweise sogar kahl, so dass der schwarze Felsen sichtbar war. Im Halbkreis, mit einem Abstand von etwa drei Schritten zueinander errichteten sie sich jeder einen Schneehaufen, um sich vor der Witterung zu schützen. Natrik zog die Beine an den Körper und hüllte sich in seinem nassen Umhang ein. Er gab vor, die Augen zu schließen, ließ seine Lieder aber einen winzigen Spalt offen um seine Brüder beobachten zu können.
Skartz fummelte eine Weile mit den Händen an seiner Kapuze herum und kam schließlich in einer ähnlichen Position wie Natrik zur Ruhe. Sein Meister saß im Schneidersitz, in sich zusammengefallen mit dem Blick nach unten vor seinem Schneehaufen. Dretzlik saß vor seinem behelfsmäßigem Unterstand und hatte die Augen geschlossen. Er wiegte sich langsam vor und zurück und kam nach einigen Minuten zum stehen. Seine Brust hob und senkte sich sanft und seine Schnauze zuckte unregelmäßig.
Natrik warf einen Blick zu Skartz. Skartz starrte zurück. Ein kurzer Blick zu Kizzak. Der Meister hatte sich unbemerkt im sitzen aufgerichtet und beobachtete das Geschehen aufmerksam. Er nickte fast unmerklich und verharrte dann in seiner Position, die wachen Augen auf seine Schüler gerichtet.
Natrik und Skartz erhoben sich lautlos, die Augen auf den schlafenden Dretzlik gerichtet. Ihre Umhänge flatterten im Wind und der Schnee tobte um sie herum.
Skartz zog einen Dolch aus seinem Umhang hervor und Natrik bewaffnete sich mit einem Wurfmesser. Sie schlichen auf Dretzlik zu, kreisten ihn ein. Mit einem quitschenden kratzen von Krallen auf nacktem Stein sprang Skartz vorwärts. Das Geräusch war genug, um Dretzlik aufzuwecken. Er schlug die Augen auf und war sofort hellwach. Zu spät für ihn, Skartz flog auf ihn zu und versenkte den Dolch in Dretzliks Bauch. Dieser kreischte auf und schlug mit seinen Krallen bewehrten Handschuhen um sich, fuhr Skartz einmal über das Gesicht und stieß ihn so zurück. Jetzt, da die Sicht frei war schleuderte Natrik sein Messer auf den sich erhebenden Dretzlik. Das Messer fand zielsicher seinen Weg in die Kehle des Skaven und schleuderte ihn zu Boden. Dretzlik wälzte sich auf dem Boden hin und her und gab schreckliche Geräusche von sich.
Skartz hatte sich derweil aufgerappelt, Hass loderte in seinen Augen auf und Blut lief ihm aus tiefen Schnitten quer über das Gesicht. Ein Stück seines Ohres fehlte. Er sprang erneut auf Dretzlik zu und stach wild auf ihn ein.
Natrik rannte vorwärts, um sich seinen Teil der Beute zu holen, auf einmal fuhr Skartz herum, das blutverschmierte Messer in der Hand und fauchte ihn an. Natrik sprang zur Seite, zog im Flug ein weiteres Messer, rollte sich auf dem Boden ab und kam zwei Schritte neben Skartz wieder auf die Füße. Ein Tanz folgte, wie ihn nur ausgebildete Assassinen führen konnten. Sie stachen Aufeinander ein, die Hiebe waren größtenteils Finten, Versuche, den Gegner hervorzulocken und seine Deckung zu entblößen. Geschickt wichen sie sich gegenseitig aus, duckten sich unter den Stichen hinweg oder sprangen zu Seite.
„GENUG!“ donnerte Kizzak mit fester Stimme. Sofort hielten die Adepten inne, brachten einen gehörigen Abstand zwischen sich und richteten ihren Blick auf ihren Meister. Kizzak hatte sich erhoben, ein langes, leicht gekrümmtes und messerscharfes Schwert in der Hand. Natrik hatte nicht gewusst, dass sein Meister eine solch große Waffe bei sich führte. „Spart eure Kräfte ihr Narren“, fauchte der Meisterassassine. „Euer Bruder ist tot, er war zu schwach um lebend vom Berg herunterzukommen. Ihr hattet das Recht ihn zu töten, jetzt stillt euren Hunger und wartet den Morgen ab.“ Langsam setzte sich der alte Skaven wieder und sank in sich zusammen, fast als hätte er das eben geschehene vergessen.
Die beiden Adepten näherten sich misstrauisch ihrem totem Bruder, ließen sich nieder und begannen die bereits auskühlende Leiche zu verspeisen, den Gegenüber nie aus den Augen lassend.
III.
Natrik schlug die Augen auf. Der Sturm war vorüber und der Himmel war fast klar. Er blickte um sich, sah die Knochen von Dretzlik und ihm kamen die Bilder der vergangen Nacht schlagartig in Erinnerung. Er musste eingeschlafen sein, Natrik verfluchte seine Unachtsamkeit. Er erhob sich und blickte sich nach seinen Gefährten um. Nachdem Skartz und er den toten Skaven gegessen hatten, war er selbst wieder zu seinem Hügel gekrochen. Er hatte sich vorgenommen, nicht zu schlafen, aus Angst, Skartz könnte ihn anfallen. Letztendlich müssen aber Müdigkeit und Erschöpfung gesiegt haben.
Natrik war dennoch froh darüber, er fühlte sich so kräftig wie lange nicht mehr. Der Adept drehte sich einige Male im Kreis und versuchte die anderen Skaven ausfindig zu machen. Skartz schien ebenfalls zu schlafen, er lag zusammengerollt hinter seinem Schneehaufen. Vom Meister fehlte jedoch jede Spur. Natrik drehte sich um und ging auf das Horn der Ratte zu. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte den glatten Felsen an. Sein Meister stand in Zwanzig Meter Höhe über ihm auf dem Steinbrocken. „Größter aller Assassinen“, rief Natrik und benutzte die respektvolle Anrede, „Wie... wie seid ihr da hoch gekommen, Eure Tödlichkeit?“ Kizzak drehte sich auf dem Felsen um. „Mit Händen und Füßen dumme Ratte“ erklärte er, glitt den glatten Stein hinunter und rollte sich gewandt am Boden ab. Skartz gesellte sich zu ihnen, das Gesicht voller getrocknetem Blut. „Eure Tödlichkeit“ begann er und warf Natrik einen Seitenblick zu, „Was gedenkt ihr nun mit uns zu tun?“. Kizzak begutachtete den Sonnenaufgang unter ihnen am Horizont. „Wir werden hier-hierbleiben“ sagte er und verfiel wieder seinem Singsang. „Nachdenken über dies und das, wichtige Dinge wenn ihr so wollt. Alles, worüber man auf dem Dach nachdenkt ist wichtig“ erklärte er mit einem vielsagendem Blick.
„Ihr sagtet, wir finden hier oben den Willen zu Töten“ warf Natrik ein.
Kizzak deutete auf die Überreste von Dretzlik. „Und den habt ihr gefunden. Aber ihr habt keinen Verstand gefunden dumme Schüler-Skaven. Deswegen bleiben wir hier. Schaut euch den Weg der Sonne an wenn ihr Lust habt. Sie ist unser Feind und Freund zugleich. Eure Brüder sind Feind und Freund zugleich“ erläuterte Kizzak und deutete auf die Wunden, die Skartz Gesicht bedeckten. „Wenn ihr lange genug sitzt, wird euch die Geduld und Weisheit eines Assassinen von selbst in den Kopf fallen.“ Damit endete Kizzak seine Lektion und stapfte davon.
Natrik und Skartz standen eine Weile im Schnee, unsicher was sie jetzt tun sollten. Schließlich wandte sich Skartz ab, ging davon und ließ sich auf einem Steinbrocken nieder. Natrik tat es ihm gleich, nur ging er in die entgegengesetzte Richtung, dorthin wo die Sonne aufging. Er setzte sich im Schneidersitz auf einen kühlen Felsen und blickte zum Horizont und zur aufgehenden Sonne.
Die verbliebenen Wolkenfetzen des gestrigen Sturms wurden von unten golden angestrahlt und leuchteten mystisch im halbdunklen der Morgendämmerung. Natrik hörte auf seinen eigenen Atem. Ungeduld machte sich in ihm breit und er wollte wieder aufstehen. Er ermahnte sich selbst und rief sich die Worte seines Meistern in den Sinn. Der Adept atmete tief durch, schloss die Augen und öffnete sie als Assassine.