[Archiv] [Storywettbewerb III 2011] [WFantasy] "Träume eines Mädchens" — PLATZ 1
Diese Geschichte belegte den 1. Platz und wurde von Rabenfeder geschrieben.
€. von Rabenfeder: Ich habe am Tag des Wettbewerbsschlusses noch eine kleine Zeichnung angehängt:
_____
Plötzlich war ich wieder ein kleines Mädchen, das ungeduldig im Schlamm von einem Fuß auf den anderen sprang. Ich versuchte ja, ebenso erwachsen zu wirken wie die anderen Dorfbewohner, die sich ebenfalls am Dorfausgang versammelt hatten – und vor allem reifer als meine Geschwister! – doch konnte ich meine Aufregung kaum verbergen. Heute Morgen hatte es wie ein Lauffeuer seine Runde gemacht: Matthias, ein fahrender Händler, würde auf seinem Weg nach Weisenburg hier vorbeikommen.
Es kamen selten Menschen von außerhalb durch ihre kleine Bauerngemeinde und besonders selten Menschen wie Matthias. Das letzte Mal, als er hier durchgezogen war, hatte ich kaum Laufen gelernt. Vater schimpfte ihn einen Trödler, aber er schimpfte über alles und jeden: ich sah hingegen die Wunder aus aller Welt, die in dem kleinen Wagen vor uns ausgebreitet lagen. Vielleicht quiekte ich leise auf, als ich nun den Karren nahe der Baumgrenze ausmachte. Zum Glück bemerkten das weder Vater noch meine Geschwister.
Matthias war ein bunter Farbfleck in einer graubraunen Menschenmenge, ein spitzer Kinnbart und unrasierte Wangen sowie ein Ohrring im linken Ohr gaben ihm etwas Verwegenes. In die Taschen an den baumelnden Rockschößen hatte er mal die eine, mal die andere Hand vergraben, während er vor der Menschentraube auf und ab ging, auf diese und jene Ware zeigte und sie in höchsten Tönen lobte. Durfte es vielleicht diese Kette für die schöne Dame sein? Oder diese erstklassige Sichel aus Tilea für den jungen Herrn hier vorne? Vielleicht ein Stück Stoff, grün, rot, orange? Die neueste Mode aus Bretonia!
Ich hatte mich bereits ganz nach vorne gedrängt und lugte auf Zehenspitzen auf die Auslage. Da waren sie, direkt vor mir! Zwischen einigen matten Murmeln, Pfauenfedern und einer Spiegelscherbe lagen ein gutes Dutzend gelblicher, in unterschiedlicher Qualität bedruckter Papiere. Sofort fesselte mich das Bild, das zuoberst lag: ein Mann in wallenden Roben und mit nach oben gerissenen Armen stand auf einem Berg getöteter Orks. Blitze fuhren im Hintergrund herab und Feuer zuckte aus den Fingern der Gestalt. Ich konnte förmlich erkennen, dass sie wie ich kupferrote Haare hatte, und beugte mich näher heran, um jedes Detail zu erfassen: es schien, als würde der Mann über die Elemente selbst gebieten, als wären ihm die Naturgewalten untertan. Blitze zuckten auf seinen Befehl, der Donner grollte, er zauberte Flammen aus dem Nichts und –
„Hej, Mädchen! Nicht so nah heran, du ruinierst den Druck!“
„E-entschuldigt, ich…“
„Aber aber, nicht der Rede wert! Ich sehe, ich habe einen richtigen kleinen Kenner echter Qualität vor mir.“
Mir schoss durch den Kopf, dass ich mit zehn Jahren alles andere als klein war, doch hielt ich mit großen Augen meinen Mund geschlossen.
„Dieser wunderschöne Druck hier ist ‚Walter vom Flammenden Orden bezwingt die Orks vom Nachtfeuerpass“, nur drei Pfennige. Ein echtes Schnäppchen! Vielleicht willst du deine Eltern fragen, ob…“
Eine Hand packte mich am Oberarm und riss mich zurück. Mein Blick fiel kurz auf den schmalen schwarzen Streifen Stoff, den er am Oberarm trug, seitdem Mutter fortgegangen war.
„Tut uns Leid, mein Herr, aber wir halten hier unser Geld zusammen und geben es nicht für solchen Tand aus“, hörte ich die Stimme meines Vaters brummen. „Ida, du kommst jetzt sofort her.“
Ich wollte protestieren, aber der Griff verstärkte sich und schob mich in die hinterste Reihe zurück.
Am frühen Nachmittag, als er bereits wieder auf dem Feld stand, gelang es mir schließlich, meinem Vater zu entwischen. Der Händler hatte seine Ware bereits wieder verstaut und war drauf und dran, aufzubrechen. Die Menge hatte sich zerstreut, nur einige der Kinder tollten durch den Dreck. Ich zupfte an Rocksaum von Matthias, der gerade eine längliche Kiste in den Wagen hievte.
„Ah, der kleine Kunstkenner“, begrüßte er mich breit lächelnd. Ich schaute etwas beleidigt drein.
„Dir hat es das Bild wohl angetan, was?“
Ich nickte nur.
„Ich habe in Weisenburg mal einen Magier gesehen. Beeindruckende Gestalt. War bei der Siegesparade der kurfürstlichen Truppen über die Tiermenschen vom Dornforst mit dabei. Es schien, als würde er ein kleines Stück über dem Boden schweben“ – er sprang auf die Ladefläche seines Wagens und balancierte auf den Zehenspitzen – „und als die Parade sich dem Ende zuneigte, ließ er leuchtende Sterne in die Nacht aufsteigen.“
Theatralisch warf der Händler die Hände in die Luft.
„Es war atemberaubend. Flackerndes Licht warf Schatten überall, die Leute waren ganz außer sich. Ein weiterer Fingerzeig des Magiers und die Lichter verschwanden, wie sie gekommen waren.“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, dann beugte er sich wieder zu mir hinunter.
„Hat es sich dein Vater doch anders überlegt und dir das Geld gegeben?“
Die Wahrheit war: er hatte es nicht. Vater hätte so etwas nie und nimmer gutgeheißen. Dennoch hielt ich dem Händler in der offenen Handfläche drei Pfennige hin.
„Oh, er hat?“, fragte Matthias, offensichtlich selbst überrascht. „Nun denn…“
Ein Griff in den Karren, eine elegante Bewegung und er hielt mir das gerollte Papier hin, nachdem er die Münzen in seinen Beutel hatte gleiten lassen. Ich schnappte nach dem Bild und drückte es an mich wie der Schatz, der es war. Matthias lachte erneut.
„Nun, viel Spaß damit, junge Dame“, sagte er zum Abschied, während er bereits auf den Kutschbock stieg.
Ich eilte wenig später nach Hause, hoffend, dass Vater zu betrunken sein würde, um die fehlenden drei Pfennige zu bemerken.
Nur für einen kurzen Augenblick scheint mein Körper zu brennen.
Ich schaute von dem zerfledderten Heft vor mir auf und rieb müde meine Augen. Trotz aller Fortschritte in den letzten Monden fiel es mir immer noch schwer, aus den winzigen schwarzen Strichen Buchstaben, Wörter und ganze Sätze zu erkennen. Ich war ganz begeistert gewesen, als ich den „Kleinen Almanach für den angehenden Lehrling“ nach meinem neunzehnten Geburtstag bei Matthias hatte erwerben können – der Händler wusste nur zu gut, dass ich für solche Dinge stets mein Erspartes zusammenkratzen würde. Jetzt jedoch frustrierten mich die Buchstabenreihen. Auf den letzten Seiten hatte ein Mann namens Balthasar Gelt in umständlichen Worten erläutert, wie er seine Kraft aus den Winden der Magie ziehen würde, den elementaren Strömen der Zauberei, die die Welt durchkreuzen. Ich kniff die Augen eng zusammen in der irrsinnigen Hoffnung, irgendwo einen solchen Strom zu sehen. Vergeblich.
„Was tust du da, Mädchen? Hast du schon wieder deine Flausen im Kopf?“, krächzte es aus der Ecke, gefolgt von einem schweren Hustenkrampf.
Vater war in den letzten Wochen schrecklich verfallen. Von dem einstmals stolzen und kräftigen Mann, der mich allzu oft geschlagen, aber auf dessen Schultern ich auch bis an das Ende der Welt zu blicken glaubte, war wenig mehr als eine vertrocknete Hülle übrig geblieben. Der schlimme Husten, den er sich im nasskalten Herbst zugezogen hatte, entzog ihm nach und nach seine Lebenskraft. Vater keuchte erneut, woraufhin meine zwei Jahre jüngere Schwester Ilsa ihn von einer Schale mit heißer Brühe trinken ließ. Der elfjährige Heinrich und die neunjährige Emma spielten auf dem Fußboden und schienen nichts von Vaters Zustand zu verstehen, wenn mein Bruder auch immer wieder verstohlene Blicke zu uns warf. Ich rückte mit meinem Schemel näher an das Bett heran.
„Wer soll denn den Hof übernehmen, wenn ich nicht mehr bin? Dein Bruder? Ha! In fünf Jahren vielleicht…“
Vater wurde erneut von einem Hustenkrampf geschüttelt, und wieder traten mir Tränen in die Augen. Warum konnte ich nicht wie Janus von Falkenach sein, jener berühmte Magier vom Jadeorden, von dem man schrieb, dass er an einem einzigen Tag fünfzig Menschen von der Beulenpest geheilt hatte? Janus hätte mit Sicherheit nicht einfach vor einem einfachen Husten kapituliert.
„Rede doch nicht so, Vater. Ruhe dich lieber aus, trink. In ein paar Tagen kannst du dich schon wieder selbst um den Hof kümmern, und in fünf Jahren dann…“
Vater lachte, ein hässliches, krächzendes Geräusch.
„Ich sagte ja: nichts als Flausen im Kopf.“
Erneut hustete er, schlimmer als zuvor. Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie nie zuvor wollte ich ihm beweisen, wie Unrecht er hatte, dass ich mich nicht nur mit Hirngespinsten herumschlug, dass ich zumindest ein wenig wie Janus von Falkenach sein konnte. Wenn ich mich nur genug konzentrierte, musste es doch gelingen, etwas von diesen Winden der Magie zu sehen, sie zu ergreifen und Vater neues Leben einzuflößen. Je mehr ich nach ihnen suchte, desto mehr erschien es mir, als würde ein feiner roter Hauch die Spitze der erloschenen Kerze und die Glut der Feuerstelle umspielen, an meinen Beinen entlangstreichen und mich sanft an der Wange berühren. Ich streckte die Hand nach ihm aus.
Einen Moment lang schien es, als könne ich ihn ergreifen, doch dann verschwand er, von mir verjagt. Oder er hatte nie existiert.
„Mädchen, was machst du da nun schon wieder? Hör mir lieber zu: du sorgst dafür, dass Heinrich alles lernt, was er lernen muss, und dann…“
Ich ließ den Arm sinken und schaute betreten auf die Bettkante.
Einen Wimpernschlag schmerzen alle meine Glieder.
Mit einem Seufzer stützte ich mich auf die Sense und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Bereits der ganze Sommer war ungewöhnlich heiß gewesen und auch der Herbst hatte kaum Linderung gebracht. Bei vielen war das Getreide auf den Feldern verdorrt, auch unser Hof war davon kaum verschont geblieben. Doch obwohl unsere Ackerfläche so geschrumpft war, hatten wir in den vergangenen Wochen nicht einmal die Hälfte der Ernte eingefahren. Meine Arme schmerzten bereits nach wenigen Stunden, Ilsa konnte ebenso wenig die Sense den ganzen Tag durch schwingen. Heinrich und auch die kleine Emma gaben ihr Bestes, die Ähren hinter uns einzusammeln, doch es erschien einfach nicht genug. Seitdem Vater vor drei Jahren gestorben war, schien es mit dem Hof nur noch bergab zu gehen. Ich hoffte, dass in zwei Jahren noch genug übrig sein würde, was ich Heinrich übergeben könnte: mein Bruder selbst schien den Tag, an dem er Vaters Erbe erhalten würde, schon heute kaum noch erwarten zu können.
Ein Sohn des Dorfes, Ludwig Hohenbrunn, hatte kürzlich versucht, um mich zu werben, doch ich hatte abgelehnt. Ich wusste es selbst nicht genau, aber es wäre mir wohl wie Verrat an Vater und auch an Heinrich erschienen. Über die Hälfte der Zeit war schon überstanden, in zwei Jahren würde sich alles zum Besseren wenden.
Wie so oft in vergangener Zeit schien es mir so, als würde nicht nur die Hitze in der Luft flimmern, sondern auch der rote Hauch. Ich hatte von der Hälfte unseres mühsam Ersparten kurz vor Vaters noch ein weiteres Heft erstanden, doch nichts Weiteres über Magie oder Zauberei lernen können. Immer wieder schalt ich mich selbst für die Hirngespinste, denen ich anhing, doch gleichzeitig hoffte ein Teil von mir auch dass, sobald Heinrich den Hof übernommen hatte, ich vielleicht selbst nach Weisenburg reisen könnte – vielleicht bei Matthias auf seinem Karren – um einen Magier höchstpersönlich kennen zu lernen, sodass er mit mir etwas von seinen Geheimnissen teilte. Es war ein kindlicher, ein dummer Wunsch, aber es war auch ein schöner.
„Wie ich sehe, seid ihr ja immer noch nicht sonderlich weiter als vor ein paar Tagen.“
Ich wandte den Kopf und sah am Rande des Feldes Kaspar Schmalling stehen. Unser hagerer Nachbar war seit Vaters Tod plötzlich uns besonders freundlich gesonnen gewesen, hatte Hilfe angeboten und hatte besonders mit Heinrich viel unternommen. Gewissermaßen war er ihm ein zweiter Vater geworden. Mir war der plötzliche Gemütswechsel nicht geheuer, aber mein Bruder begrüßte unseren Nachbarn lachend. Ein Stich durchfuhr meine Brust – seit Vaters Tod hatte ich ihn nicht mehr oft lachen sehen.
„Ich habe mir Folgendes überlegt:“, begann Kaspar unumwunden, nachdem er Heinrich umarmt hatte. „Es ist eine Verschwendung, dass ihr euch so abmüht, aber der alte Hof trotzdem vor die Hunde geht. Wie wäre es also, wenn ich Heinrich, nun, als meinen Ziehsohn annehmen würde?“
Heinrichs Gesicht hellte sich noch weiter auf.
„Natürlich könnte er dann – wenn die Zeit reif dafür ist, versteht sich – den Hof übernehmen. Aber bis dahin: nun, ihr seht ja, wohin das alles gerade führt. Ich und meine Knechte könnten die Felder mit bestellen, das sollte kein Problem darstellen. Und ihr, Ida, Ilsa, Emma, kommt bei meiner Frau unter und habt keine Sorgen, bis wir einen Mann für euch finden.“
„Kommt nicht in Frage!“, platzte sofort aus mir heraus. Heinrich machte ein Gesicht, als hätte ich ihn gerade getreten.
„Aber Ida, sei doch vernünftig“, meinte Kaspar beschwichtigend. „So wie es jetzt bei euch läuft, kann es doch nicht weiter gehen.“
Ich schüttelte den Kopf. Er versuchte nur, uns Vaters Erbe streitig zu machen. Den Hof übernehmen, wenn die Zeit reif sei? Wir würden unseren Besitz verlieren, um wenig mehr als Mägde in Kaspars Diensten zu sein.
„Nein. Nein. In zwei Jahren übernimmt mein Bruder den Hof, so oder so. Und wir kommen auch ohne euch bis dahin zurecht.“
Kaspar trat einen Schritt auf unser Feld zu und ballte die Fäuste. „Du solltest dir besser überlegen, dieses Angebot so vorschnell auszuschlagen. Das ist das Beste, was ich machen werde!“
Ich spuckte vor mir auf den Boden.
„Verschwinde, Kaspar. Verschwinde!“
Unser Nachbar schnaubte und wandte sich zum Gehen. Heinrichs Blick bohrte sich wie Nadeln in meinen Rücken.
Mein ganzer Körper scheint wie von Nadeln zerstochen.
Ein Schwall kalten Wassers reißt mich ins Hier und Jetzt zurück. Meine Schultern, meine Arme, meine Beine, mein ganzer Körper scheint vor Schmerz zu brennen. Ist es erst noch ein dumpfer, pochender Schmerz, der mich fast zurück in die Schwärze taumeln lässt, wird er grell und weiß, als mich ein Schlag trifft.
„Aufwachen, na los!“
Nur langsam, quälend langsam werde ich mir selbst und meiner Umgebung wieder bewusst. Ich stehe in einem Raum mit einem einzelnen Fenster, die Arme über dem Kopf zusammengebunden und an einem Pfahl befestigt. Ohne diese Aufhängung wäre ich längst zu Boden gestürzt, denn meine eigenen Beine können mich schon lange nicht mehr tragen, doch es tut weh, so weh. Mein Blick irrt weiter durch den Raum, schleichend, kaum fähig zu begreifen, was er da sieht: Bänke mit Werkzeugen aller Art, Hämmern unterschiedlicher Größen, Meißeln, Schüreisen, Messern und Geräten, die ich nicht kenne. Zwischen ihnen steht eine unauffällige Gestalt in ebenso unauffälliger Kleidung und schreit mich an, doch ihre Worte dringen nur wie durch eine Mauer zu mir durch. Eine weitere, gerüstete Gestalt hält sich im Hintergrund, halb im Schatten verborgen. Der Hammer des Sigmar, der an einer Kette um seinen Hals hängt, ist dennoch gut zu erkennen. Mein Blick wandert schließlich meinen eigenen nackten Körper hinunter. Ich erkenne mich selbst kaum wieder und wundere mich, dass ich noch stehen kann. Der Gerüstete macht eine Bewegung, und der andere verstummt.
„Das Geständnis ist unterschrieben und besiegelt, das Urteil gefällt und wird noch am heutigen Tage vollstreckt. Diener des Chaos, Hexen, kann nur eine Bestrafung zuteilwerden.“
Erinnerungen sickern in meinen Verstand ein: Bewaffnete, die nachts in unseren Hof dringen, die Anklage ausrufend. Nur zäh bewegen sich meine Gedanken. Geständnis? Ich erinnere mich, was ich alles gesagt habe, nur um die Schmerzen zu beenden, um nur einen Augenblick Frieden zu finden.
„Die Scheite sind bereits aufgeschichtet. Hier, Kurt, zieh ihr das über, um ihre Blöße zu verdecken.“
Der Mann mit Namen Kurt nimmt das Leinengewand auf und macht sich in aller Ruhe daran, meine Fesseln zu lösen. Ich versuche, etwas zu sagen, doch stammle nur unverständliche Laute. Meine Augen brennen.
Nur gestützt gelange ich aus dem Zimmer hinaus nach draußen. Die Nacht ist hereingebrochen – ich weiß nicht, welche – doch der Platz ist erleuchtet von mehreren Fackeln. In seiner Mitte steht wie ein künstlicher Hügel ein Monument aus Reisig und Holz, aus dem ein einzelner Pfahl in den Himmel ragt. Das ganze Dorf scheint auf dem Platz versammelt, steht stumm und sieht anklagend zu mir hin. Menschen, die ich Freunde, Bekannte genannt habe – sie alle wenden den Blick ab, als der meine den ihren trifft.
Der Mann mit Namen Kurt zieht mich mehr zu dem Pfahl, als dass ich selber gehe, und bindet mich fest wie er es schon zuvor getan hatte. Ich empfinde es fast als Erleichterung, endlich nicht mehr selbst stehen zu müssen.
„Im Namen des Ordens der Templer des Sigmar“, begann der Gerüstete nun laut zu der Menge zu sprechen, „verkünde ich, dass diese Frau der Hexerei schuldig gesprochen wurde. Kaspar Schmalling bezeugt, dass sie seine einzige Kuh verhexte, auf dass sie krank wurde und starb; Ludwig Hohenbrunn legte Zeugnis ab, dass sie versuchte, ihn mit einem Liebeszauber zu verführen; Heinrich und Emma bezeugten, dass sie des Nachtens okkulte Werke des Chaos studierte.“
Mein Blick fiel auf meine Geschwister. Heinrich sah mich trotzig an, während die kleine Emma nicht recht zu verstehen schien, was um sie herum geschah. Ilsa wiederum sah entsetzt zu den beiden. Mir traten erneut Tränen in die Augen. Ich sehe Kaspar, der selbstzufrieden lächelt, und beginne zu verstehen.
„Schließlich hat sie sich noch selbst bezichtigt, dass sie die letzten drei Vollmonde im nahen Wald mit den Tiermenschen allerlei Unzucht getrieben hat, um ihre finsteren Kräfte zu stärken, um anschließend einen Dürrezauber über das gesamte Land zu legen.“
Jeder Punkt ist bereits von Buhrufen und Pfiffen unterlegt worden, doch nun erhebt sich ein schier infernalisches Geschrei. Ich schließe die Augen, weil ich nicht in ihre Gesichter blicken kann, nicht auf den Gerüsteten, der sich mit einer Fackel in der Hand mir nähert.
„Möge das Feuer sie reinigen, damit auch diese gemarterte Seele ihren Weg zu Sigmar finden kann. Möge die Verderbnis vergehen und nichts als die Unschuld zurückbleiben. Verbrenne.“
Mit diesem letzten Wort scheint er die Fackel auf den Scheiterhaufen geworfen zu haben, denn ich fühle, wie rasend schnell sich Hitze unter mit mir ausbreitet. Erste Flammen lecken höher und greifen nach meinen Zehen, hinterlassen schmerzhafte Brandmale – ich beiße mir auf die Zunge und nehme mir vor, nicht zu schreien, was auch noch kommen möge. Rauch treibt mir Tränen in die Augen und zwingt mich, sie zu öffnen.
Um mich herum ist schwarzer Qualm. Feuer schießt in die Höhe, wo es Reisig verzehrt, und kriecht von allen Seiten an mich heran, leckt höher und höher. Ich sehe erneut den roten Hauch, wie er leuchtend hell wie nie zuvor über den Flammen tanzt und mich von allen Seiten liebkost.
Mir entfährt ein heiseres Lachen und obwohl meine Arme gebunden sind, tauche ich in ihn ein.
Diese Geschichte belegte den 1. Platz und wurde von Rabenfeder geschrieben.
€. von Rabenfeder: Ich habe am Tag des Wettbewerbsschlusses noch eine kleine Zeichnung angehängt:

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Plötzlich war ich wieder ein kleines Mädchen, das ungeduldig im Schlamm von einem Fuß auf den anderen sprang. Ich versuchte ja, ebenso erwachsen zu wirken wie die anderen Dorfbewohner, die sich ebenfalls am Dorfausgang versammelt hatten – und vor allem reifer als meine Geschwister! – doch konnte ich meine Aufregung kaum verbergen. Heute Morgen hatte es wie ein Lauffeuer seine Runde gemacht: Matthias, ein fahrender Händler, würde auf seinem Weg nach Weisenburg hier vorbeikommen.
Es kamen selten Menschen von außerhalb durch ihre kleine Bauerngemeinde und besonders selten Menschen wie Matthias. Das letzte Mal, als er hier durchgezogen war, hatte ich kaum Laufen gelernt. Vater schimpfte ihn einen Trödler, aber er schimpfte über alles und jeden: ich sah hingegen die Wunder aus aller Welt, die in dem kleinen Wagen vor uns ausgebreitet lagen. Vielleicht quiekte ich leise auf, als ich nun den Karren nahe der Baumgrenze ausmachte. Zum Glück bemerkten das weder Vater noch meine Geschwister.
Matthias war ein bunter Farbfleck in einer graubraunen Menschenmenge, ein spitzer Kinnbart und unrasierte Wangen sowie ein Ohrring im linken Ohr gaben ihm etwas Verwegenes. In die Taschen an den baumelnden Rockschößen hatte er mal die eine, mal die andere Hand vergraben, während er vor der Menschentraube auf und ab ging, auf diese und jene Ware zeigte und sie in höchsten Tönen lobte. Durfte es vielleicht diese Kette für die schöne Dame sein? Oder diese erstklassige Sichel aus Tilea für den jungen Herrn hier vorne? Vielleicht ein Stück Stoff, grün, rot, orange? Die neueste Mode aus Bretonia!
Ich hatte mich bereits ganz nach vorne gedrängt und lugte auf Zehenspitzen auf die Auslage. Da waren sie, direkt vor mir! Zwischen einigen matten Murmeln, Pfauenfedern und einer Spiegelscherbe lagen ein gutes Dutzend gelblicher, in unterschiedlicher Qualität bedruckter Papiere. Sofort fesselte mich das Bild, das zuoberst lag: ein Mann in wallenden Roben und mit nach oben gerissenen Armen stand auf einem Berg getöteter Orks. Blitze fuhren im Hintergrund herab und Feuer zuckte aus den Fingern der Gestalt. Ich konnte förmlich erkennen, dass sie wie ich kupferrote Haare hatte, und beugte mich näher heran, um jedes Detail zu erfassen: es schien, als würde der Mann über die Elemente selbst gebieten, als wären ihm die Naturgewalten untertan. Blitze zuckten auf seinen Befehl, der Donner grollte, er zauberte Flammen aus dem Nichts und –
„Hej, Mädchen! Nicht so nah heran, du ruinierst den Druck!“
„E-entschuldigt, ich…“
„Aber aber, nicht der Rede wert! Ich sehe, ich habe einen richtigen kleinen Kenner echter Qualität vor mir.“
Mir schoss durch den Kopf, dass ich mit zehn Jahren alles andere als klein war, doch hielt ich mit großen Augen meinen Mund geschlossen.
„Dieser wunderschöne Druck hier ist ‚Walter vom Flammenden Orden bezwingt die Orks vom Nachtfeuerpass“, nur drei Pfennige. Ein echtes Schnäppchen! Vielleicht willst du deine Eltern fragen, ob…“
Eine Hand packte mich am Oberarm und riss mich zurück. Mein Blick fiel kurz auf den schmalen schwarzen Streifen Stoff, den er am Oberarm trug, seitdem Mutter fortgegangen war.
„Tut uns Leid, mein Herr, aber wir halten hier unser Geld zusammen und geben es nicht für solchen Tand aus“, hörte ich die Stimme meines Vaters brummen. „Ida, du kommst jetzt sofort her.“
Ich wollte protestieren, aber der Griff verstärkte sich und schob mich in die hinterste Reihe zurück.
Am frühen Nachmittag, als er bereits wieder auf dem Feld stand, gelang es mir schließlich, meinem Vater zu entwischen. Der Händler hatte seine Ware bereits wieder verstaut und war drauf und dran, aufzubrechen. Die Menge hatte sich zerstreut, nur einige der Kinder tollten durch den Dreck. Ich zupfte an Rocksaum von Matthias, der gerade eine längliche Kiste in den Wagen hievte.
„Ah, der kleine Kunstkenner“, begrüßte er mich breit lächelnd. Ich schaute etwas beleidigt drein.
„Dir hat es das Bild wohl angetan, was?“
Ich nickte nur.
„Ich habe in Weisenburg mal einen Magier gesehen. Beeindruckende Gestalt. War bei der Siegesparade der kurfürstlichen Truppen über die Tiermenschen vom Dornforst mit dabei. Es schien, als würde er ein kleines Stück über dem Boden schweben“ – er sprang auf die Ladefläche seines Wagens und balancierte auf den Zehenspitzen – „und als die Parade sich dem Ende zuneigte, ließ er leuchtende Sterne in die Nacht aufsteigen.“
Theatralisch warf der Händler die Hände in die Luft.
„Es war atemberaubend. Flackerndes Licht warf Schatten überall, die Leute waren ganz außer sich. Ein weiterer Fingerzeig des Magiers und die Lichter verschwanden, wie sie gekommen waren.“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, dann beugte er sich wieder zu mir hinunter.
„Hat es sich dein Vater doch anders überlegt und dir das Geld gegeben?“
Die Wahrheit war: er hatte es nicht. Vater hätte so etwas nie und nimmer gutgeheißen. Dennoch hielt ich dem Händler in der offenen Handfläche drei Pfennige hin.
„Oh, er hat?“, fragte Matthias, offensichtlich selbst überrascht. „Nun denn…“
Ein Griff in den Karren, eine elegante Bewegung und er hielt mir das gerollte Papier hin, nachdem er die Münzen in seinen Beutel hatte gleiten lassen. Ich schnappte nach dem Bild und drückte es an mich wie der Schatz, der es war. Matthias lachte erneut.
„Nun, viel Spaß damit, junge Dame“, sagte er zum Abschied, während er bereits auf den Kutschbock stieg.
Ich eilte wenig später nach Hause, hoffend, dass Vater zu betrunken sein würde, um die fehlenden drei Pfennige zu bemerken.
Nur für einen kurzen Augenblick scheint mein Körper zu brennen.
Ich schaute von dem zerfledderten Heft vor mir auf und rieb müde meine Augen. Trotz aller Fortschritte in den letzten Monden fiel es mir immer noch schwer, aus den winzigen schwarzen Strichen Buchstaben, Wörter und ganze Sätze zu erkennen. Ich war ganz begeistert gewesen, als ich den „Kleinen Almanach für den angehenden Lehrling“ nach meinem neunzehnten Geburtstag bei Matthias hatte erwerben können – der Händler wusste nur zu gut, dass ich für solche Dinge stets mein Erspartes zusammenkratzen würde. Jetzt jedoch frustrierten mich die Buchstabenreihen. Auf den letzten Seiten hatte ein Mann namens Balthasar Gelt in umständlichen Worten erläutert, wie er seine Kraft aus den Winden der Magie ziehen würde, den elementaren Strömen der Zauberei, die die Welt durchkreuzen. Ich kniff die Augen eng zusammen in der irrsinnigen Hoffnung, irgendwo einen solchen Strom zu sehen. Vergeblich.
„Was tust du da, Mädchen? Hast du schon wieder deine Flausen im Kopf?“, krächzte es aus der Ecke, gefolgt von einem schweren Hustenkrampf.
Vater war in den letzten Wochen schrecklich verfallen. Von dem einstmals stolzen und kräftigen Mann, der mich allzu oft geschlagen, aber auf dessen Schultern ich auch bis an das Ende der Welt zu blicken glaubte, war wenig mehr als eine vertrocknete Hülle übrig geblieben. Der schlimme Husten, den er sich im nasskalten Herbst zugezogen hatte, entzog ihm nach und nach seine Lebenskraft. Vater keuchte erneut, woraufhin meine zwei Jahre jüngere Schwester Ilsa ihn von einer Schale mit heißer Brühe trinken ließ. Der elfjährige Heinrich und die neunjährige Emma spielten auf dem Fußboden und schienen nichts von Vaters Zustand zu verstehen, wenn mein Bruder auch immer wieder verstohlene Blicke zu uns warf. Ich rückte mit meinem Schemel näher an das Bett heran.
„Wer soll denn den Hof übernehmen, wenn ich nicht mehr bin? Dein Bruder? Ha! In fünf Jahren vielleicht…“
Vater wurde erneut von einem Hustenkrampf geschüttelt, und wieder traten mir Tränen in die Augen. Warum konnte ich nicht wie Janus von Falkenach sein, jener berühmte Magier vom Jadeorden, von dem man schrieb, dass er an einem einzigen Tag fünfzig Menschen von der Beulenpest geheilt hatte? Janus hätte mit Sicherheit nicht einfach vor einem einfachen Husten kapituliert.
„Rede doch nicht so, Vater. Ruhe dich lieber aus, trink. In ein paar Tagen kannst du dich schon wieder selbst um den Hof kümmern, und in fünf Jahren dann…“
Vater lachte, ein hässliches, krächzendes Geräusch.
„Ich sagte ja: nichts als Flausen im Kopf.“
Erneut hustete er, schlimmer als zuvor. Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie nie zuvor wollte ich ihm beweisen, wie Unrecht er hatte, dass ich mich nicht nur mit Hirngespinsten herumschlug, dass ich zumindest ein wenig wie Janus von Falkenach sein konnte. Wenn ich mich nur genug konzentrierte, musste es doch gelingen, etwas von diesen Winden der Magie zu sehen, sie zu ergreifen und Vater neues Leben einzuflößen. Je mehr ich nach ihnen suchte, desto mehr erschien es mir, als würde ein feiner roter Hauch die Spitze der erloschenen Kerze und die Glut der Feuerstelle umspielen, an meinen Beinen entlangstreichen und mich sanft an der Wange berühren. Ich streckte die Hand nach ihm aus.
Einen Moment lang schien es, als könne ich ihn ergreifen, doch dann verschwand er, von mir verjagt. Oder er hatte nie existiert.
„Mädchen, was machst du da nun schon wieder? Hör mir lieber zu: du sorgst dafür, dass Heinrich alles lernt, was er lernen muss, und dann…“
Ich ließ den Arm sinken und schaute betreten auf die Bettkante.
Einen Wimpernschlag schmerzen alle meine Glieder.
Mit einem Seufzer stützte ich mich auf die Sense und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Bereits der ganze Sommer war ungewöhnlich heiß gewesen und auch der Herbst hatte kaum Linderung gebracht. Bei vielen war das Getreide auf den Feldern verdorrt, auch unser Hof war davon kaum verschont geblieben. Doch obwohl unsere Ackerfläche so geschrumpft war, hatten wir in den vergangenen Wochen nicht einmal die Hälfte der Ernte eingefahren. Meine Arme schmerzten bereits nach wenigen Stunden, Ilsa konnte ebenso wenig die Sense den ganzen Tag durch schwingen. Heinrich und auch die kleine Emma gaben ihr Bestes, die Ähren hinter uns einzusammeln, doch es erschien einfach nicht genug. Seitdem Vater vor drei Jahren gestorben war, schien es mit dem Hof nur noch bergab zu gehen. Ich hoffte, dass in zwei Jahren noch genug übrig sein würde, was ich Heinrich übergeben könnte: mein Bruder selbst schien den Tag, an dem er Vaters Erbe erhalten würde, schon heute kaum noch erwarten zu können.
Ein Sohn des Dorfes, Ludwig Hohenbrunn, hatte kürzlich versucht, um mich zu werben, doch ich hatte abgelehnt. Ich wusste es selbst nicht genau, aber es wäre mir wohl wie Verrat an Vater und auch an Heinrich erschienen. Über die Hälfte der Zeit war schon überstanden, in zwei Jahren würde sich alles zum Besseren wenden.
Wie so oft in vergangener Zeit schien es mir so, als würde nicht nur die Hitze in der Luft flimmern, sondern auch der rote Hauch. Ich hatte von der Hälfte unseres mühsam Ersparten kurz vor Vaters noch ein weiteres Heft erstanden, doch nichts Weiteres über Magie oder Zauberei lernen können. Immer wieder schalt ich mich selbst für die Hirngespinste, denen ich anhing, doch gleichzeitig hoffte ein Teil von mir auch dass, sobald Heinrich den Hof übernommen hatte, ich vielleicht selbst nach Weisenburg reisen könnte – vielleicht bei Matthias auf seinem Karren – um einen Magier höchstpersönlich kennen zu lernen, sodass er mit mir etwas von seinen Geheimnissen teilte. Es war ein kindlicher, ein dummer Wunsch, aber es war auch ein schöner.
„Wie ich sehe, seid ihr ja immer noch nicht sonderlich weiter als vor ein paar Tagen.“
Ich wandte den Kopf und sah am Rande des Feldes Kaspar Schmalling stehen. Unser hagerer Nachbar war seit Vaters Tod plötzlich uns besonders freundlich gesonnen gewesen, hatte Hilfe angeboten und hatte besonders mit Heinrich viel unternommen. Gewissermaßen war er ihm ein zweiter Vater geworden. Mir war der plötzliche Gemütswechsel nicht geheuer, aber mein Bruder begrüßte unseren Nachbarn lachend. Ein Stich durchfuhr meine Brust – seit Vaters Tod hatte ich ihn nicht mehr oft lachen sehen.
„Ich habe mir Folgendes überlegt:“, begann Kaspar unumwunden, nachdem er Heinrich umarmt hatte. „Es ist eine Verschwendung, dass ihr euch so abmüht, aber der alte Hof trotzdem vor die Hunde geht. Wie wäre es also, wenn ich Heinrich, nun, als meinen Ziehsohn annehmen würde?“
Heinrichs Gesicht hellte sich noch weiter auf.
„Natürlich könnte er dann – wenn die Zeit reif dafür ist, versteht sich – den Hof übernehmen. Aber bis dahin: nun, ihr seht ja, wohin das alles gerade führt. Ich und meine Knechte könnten die Felder mit bestellen, das sollte kein Problem darstellen. Und ihr, Ida, Ilsa, Emma, kommt bei meiner Frau unter und habt keine Sorgen, bis wir einen Mann für euch finden.“
„Kommt nicht in Frage!“, platzte sofort aus mir heraus. Heinrich machte ein Gesicht, als hätte ich ihn gerade getreten.
„Aber Ida, sei doch vernünftig“, meinte Kaspar beschwichtigend. „So wie es jetzt bei euch läuft, kann es doch nicht weiter gehen.“
Ich schüttelte den Kopf. Er versuchte nur, uns Vaters Erbe streitig zu machen. Den Hof übernehmen, wenn die Zeit reif sei? Wir würden unseren Besitz verlieren, um wenig mehr als Mägde in Kaspars Diensten zu sein.
„Nein. Nein. In zwei Jahren übernimmt mein Bruder den Hof, so oder so. Und wir kommen auch ohne euch bis dahin zurecht.“
Kaspar trat einen Schritt auf unser Feld zu und ballte die Fäuste. „Du solltest dir besser überlegen, dieses Angebot so vorschnell auszuschlagen. Das ist das Beste, was ich machen werde!“
Ich spuckte vor mir auf den Boden.
„Verschwinde, Kaspar. Verschwinde!“
Unser Nachbar schnaubte und wandte sich zum Gehen. Heinrichs Blick bohrte sich wie Nadeln in meinen Rücken.
Mein ganzer Körper scheint wie von Nadeln zerstochen.
Ein Schwall kalten Wassers reißt mich ins Hier und Jetzt zurück. Meine Schultern, meine Arme, meine Beine, mein ganzer Körper scheint vor Schmerz zu brennen. Ist es erst noch ein dumpfer, pochender Schmerz, der mich fast zurück in die Schwärze taumeln lässt, wird er grell und weiß, als mich ein Schlag trifft.
„Aufwachen, na los!“
Nur langsam, quälend langsam werde ich mir selbst und meiner Umgebung wieder bewusst. Ich stehe in einem Raum mit einem einzelnen Fenster, die Arme über dem Kopf zusammengebunden und an einem Pfahl befestigt. Ohne diese Aufhängung wäre ich längst zu Boden gestürzt, denn meine eigenen Beine können mich schon lange nicht mehr tragen, doch es tut weh, so weh. Mein Blick irrt weiter durch den Raum, schleichend, kaum fähig zu begreifen, was er da sieht: Bänke mit Werkzeugen aller Art, Hämmern unterschiedlicher Größen, Meißeln, Schüreisen, Messern und Geräten, die ich nicht kenne. Zwischen ihnen steht eine unauffällige Gestalt in ebenso unauffälliger Kleidung und schreit mich an, doch ihre Worte dringen nur wie durch eine Mauer zu mir durch. Eine weitere, gerüstete Gestalt hält sich im Hintergrund, halb im Schatten verborgen. Der Hammer des Sigmar, der an einer Kette um seinen Hals hängt, ist dennoch gut zu erkennen. Mein Blick wandert schließlich meinen eigenen nackten Körper hinunter. Ich erkenne mich selbst kaum wieder und wundere mich, dass ich noch stehen kann. Der Gerüstete macht eine Bewegung, und der andere verstummt.
„Das Geständnis ist unterschrieben und besiegelt, das Urteil gefällt und wird noch am heutigen Tage vollstreckt. Diener des Chaos, Hexen, kann nur eine Bestrafung zuteilwerden.“
Erinnerungen sickern in meinen Verstand ein: Bewaffnete, die nachts in unseren Hof dringen, die Anklage ausrufend. Nur zäh bewegen sich meine Gedanken. Geständnis? Ich erinnere mich, was ich alles gesagt habe, nur um die Schmerzen zu beenden, um nur einen Augenblick Frieden zu finden.
„Die Scheite sind bereits aufgeschichtet. Hier, Kurt, zieh ihr das über, um ihre Blöße zu verdecken.“
Der Mann mit Namen Kurt nimmt das Leinengewand auf und macht sich in aller Ruhe daran, meine Fesseln zu lösen. Ich versuche, etwas zu sagen, doch stammle nur unverständliche Laute. Meine Augen brennen.
Nur gestützt gelange ich aus dem Zimmer hinaus nach draußen. Die Nacht ist hereingebrochen – ich weiß nicht, welche – doch der Platz ist erleuchtet von mehreren Fackeln. In seiner Mitte steht wie ein künstlicher Hügel ein Monument aus Reisig und Holz, aus dem ein einzelner Pfahl in den Himmel ragt. Das ganze Dorf scheint auf dem Platz versammelt, steht stumm und sieht anklagend zu mir hin. Menschen, die ich Freunde, Bekannte genannt habe – sie alle wenden den Blick ab, als der meine den ihren trifft.
Der Mann mit Namen Kurt zieht mich mehr zu dem Pfahl, als dass ich selber gehe, und bindet mich fest wie er es schon zuvor getan hatte. Ich empfinde es fast als Erleichterung, endlich nicht mehr selbst stehen zu müssen.
„Im Namen des Ordens der Templer des Sigmar“, begann der Gerüstete nun laut zu der Menge zu sprechen, „verkünde ich, dass diese Frau der Hexerei schuldig gesprochen wurde. Kaspar Schmalling bezeugt, dass sie seine einzige Kuh verhexte, auf dass sie krank wurde und starb; Ludwig Hohenbrunn legte Zeugnis ab, dass sie versuchte, ihn mit einem Liebeszauber zu verführen; Heinrich und Emma bezeugten, dass sie des Nachtens okkulte Werke des Chaos studierte.“
Mein Blick fiel auf meine Geschwister. Heinrich sah mich trotzig an, während die kleine Emma nicht recht zu verstehen schien, was um sie herum geschah. Ilsa wiederum sah entsetzt zu den beiden. Mir traten erneut Tränen in die Augen. Ich sehe Kaspar, der selbstzufrieden lächelt, und beginne zu verstehen.
„Schließlich hat sie sich noch selbst bezichtigt, dass sie die letzten drei Vollmonde im nahen Wald mit den Tiermenschen allerlei Unzucht getrieben hat, um ihre finsteren Kräfte zu stärken, um anschließend einen Dürrezauber über das gesamte Land zu legen.“
Jeder Punkt ist bereits von Buhrufen und Pfiffen unterlegt worden, doch nun erhebt sich ein schier infernalisches Geschrei. Ich schließe die Augen, weil ich nicht in ihre Gesichter blicken kann, nicht auf den Gerüsteten, der sich mit einer Fackel in der Hand mir nähert.
„Möge das Feuer sie reinigen, damit auch diese gemarterte Seele ihren Weg zu Sigmar finden kann. Möge die Verderbnis vergehen und nichts als die Unschuld zurückbleiben. Verbrenne.“
Mit diesem letzten Wort scheint er die Fackel auf den Scheiterhaufen geworfen zu haben, denn ich fühle, wie rasend schnell sich Hitze unter mit mir ausbreitet. Erste Flammen lecken höher und greifen nach meinen Zehen, hinterlassen schmerzhafte Brandmale – ich beiße mir auf die Zunge und nehme mir vor, nicht zu schreien, was auch noch kommen möge. Rauch treibt mir Tränen in die Augen und zwingt mich, sie zu öffnen.
Um mich herum ist schwarzer Qualm. Feuer schießt in die Höhe, wo es Reisig verzehrt, und kriecht von allen Seiten an mich heran, leckt höher und höher. Ich sehe erneut den roten Hauch, wie er leuchtend hell wie nie zuvor über den Flammen tanzt und mich von allen Seiten liebkost.
Mir entfährt ein heiseres Lachen und obwohl meine Arme gebunden sind, tauche ich in ihn ein.
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