Eleonore konnte einfach nicht die Finger von der Blume in ihrem Haar lassen. Sie wollte und wollte nicht sitzen, jedenfalls in ihren Augen. Mutter ermahnte sie schon wieder, dass sie die Lilie endlich in Frieden lassen sollte. Doch Mutter hatte auch leicht reden. Verheiratete Frauen trugen auf Wolfeste ihre Haare immer als Zopf, Eleonore dagegen hatte die Qual des Herrichtens. Und wie immer passte ihr die Blume nicht. Sie hatte am Abend zuvor eine Wasserrose gewählt, ihre Mutter jedoch hatte auf die Lilie, Staatswappen, bestanden.
„Lass endlich den Schmuck, wo er ist. Willst du, dass dein Bruder dich in schlechtem Zustand antrifft, wenn er nach siebzehn Jahren endlich zurückkehrt?“, beschwerte sich Mutter.
„Du sagst es Mama, siebzehn Jahre. Er kennt mich doch gar nicht.“, sprach die Neunzehnjährige auf ihre Mutter ein.
„Der erste Eindruck zählt. Und jetzt schweig, da kommen die ersten Schiffe!“
Und da kamen sie. Riesige Truppentransporter brachen durch die Wolkendecke des grünlichen Himmels. Ihre Triebwerke zogen Schlieren hinter sich her. Ihre klobigen Körper näherten sich langsam dem Grund, in flachem Winkel auf Kreisbahnen herabsinkend. Selbst aus der großen Entfernung konnte man die blaugrüne Lackierung und die violetten Lilienwappen ausmachen. Nun, Eleonore konnte sie ausmachen. Sie wusste nicht, ob die anderen auch so klar sehen konnten, ihre Eltern, ihr Onkel Ephraim, ihre Cousinen Gretchen und Eva, die fasziniert in den Himmel starrten. Die sieben und neun Jahre jungen Mädchen hatten im Leben noch nie Flugwale gesehen.
Die anfliegenden Kolosse nämlich waren keine imperialen Transporter. Dieser Typ, RS- 77 Bröger, genannt Flugwal, war ein wolfestischer Schiffstyp. Entwickelt von Richard Bröger vor siebentausend Jahren, wurde er schon bald darauf vom Adeptus Mechanicus entdeckt, als Meisterstück gepriesen und sektorweit exportiert. Militärisch wurde er allerdings nur von Wolfeste und einigen Nachbarsystemen sowie von örtlichen Verbrechersyndikaten verwendet. Eigentlich war der Flugwal ein Passagierschiff.
Eleonore bemerkte, dass jemand an ihrem Kleid zog. Sie blickte nach unten und entdeckte die kleine Gretchen. Sie kniete sich hin, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Allerdings ohne die Knie auf den Boden zu legen, Mutter würde nur wieder wegen des Kleides schimpfen.
„Sag mal, Ellie, wer ist dieser Hans eigentlich?“, fragte ihre Cousine. Man hatte ihr wohl erzählt, dass sie alle auf Hansens Rückkehr warteten, aber nicht, wer Hans war.
„Hansi ist mein großer Bruder. Vor siebzehn Jahren wurde er, wie jeder erstgeborene Mann von Wolfeste, zum Dienst am Imperator eingezogen. Und seitdem war er nicht mehr zuhause. Vor vier Monaten kam die Nachricht, dass sein Regiment die siebzehn Jahre Dienst überstanden hat und nun zurückkehrt.“, erklärte sie in dem Tonfall, mit dem Erwachsene immer mit Kindern redeten. Obwohl sie sich geschworen hatte, als sie noch jünger war, selbst niemals diesen Tonfall anzunehmen.
„Meine Mama sagt, wenn ich immer brav jeden Abend zum Imperator bete, werden die Soldaten draußen wiederkommen.“
„Und hast du jeden Abend gebetet?“
„Mhm!“, machte Gretchen mit einem zufriedenen Lächeln. „Ich hab dem Imperator immer für den Tag gedankt. Genau wie Tabea es immer sagte.“
Tabea? Eleonore musste eine Weile nachdenken, bis ihr endlich einfiel, dass Tabea Reichert Gretchens Kindergärtnerin war. Gretchen kam letztes Jahr zwar in die Grundschule, sprach aber trotzdem weiter von ihrer Erzieherin.
„Ellie!“ Ihre Cousine zog schon wieder an ihrem Kleid. Sie musste es nur noch ein paar Mal machen, um Eleonore wieder zum Bügeln zu nötigen.
„Was hast du?“
„Ich seh nichts.“
Das konnte sie in der Tat nicht. Die Transporter waren im Landemodus und schon so tief, dass Gretchen nicht über das steinerne Geländer sehen konnte, vor dem sie standen. Ihre ältere Schwester Eva konnte über sie hinwegsehen, gab aber ein komisches Bild ab, wie sie da am Geländer baumelte. Ihr Vater, Onkel Ephraim, nahm sie hoch, um ihr zu helfen. Eleonore blieb nichts anderes übrig, als Gretchen zu heben. Ihr eigener Vater war zu sehr damit beschäftigt, das Eiserne Kreuz an seiner Uniform zu polieren. Außerdem unterhielt er sich mit einem älteren Major, den er von früher zu kennen schien.
„Ich bin froh, dass mein Sohn zurückkehrt. Er hat überlebt und wird nun sicherlich die Offiziersbahn einschlagen. Aber ich wundere mich sehr über die Informationspolitik des Departementos. Ich habe seit Jahren nichts aus dem All gehört. Sie?“
„Nein. Mein Schwager, Oberst des siebten Regiments, hat neulich gemeldet: Frontverlauf stabil. Ketzer konnten keinen Fuß Boden gewinnen, nichts weiter zu melden.“
Der Major war also beim Departemento, stellte Eleonore fest. Aber er war kein Kommissar. Wenigstens etwas.
„Stabil? Zu meiner Zeit nannte man das Versagen des kommandierenden Offiziers!“
„Ich weiß Wolfgang. Wir waren beide Frontschweine. Aber etwas stimmt nicht. Unter uns, ich weiß, dass es in den letzten Monaten und Jahren überdurchschnittlich viele Feldexekutionen und Ähnliches gab. Es kommt mir fast so vor, als seien die Chaostruppen so zahlreich, dass sie sich einfach gegen unsere Stellungen werfen.“
„Ohne Rücksicht auf Verluste? Passt zu diesem Pack. Mein Sohn hat sie zurückgeschlagen, er war einer von denen, die für Imperator und Heimat gegen die Mächte des Bösen triumphierten.“
Auf dem Platz unter ihnen kamen die Menschen in Aufruhr, die ersten Flugwale hatten aufgesetzt. Eleonore beobachtete das Treiben. Väter in Uniformen und Mütter mit Taschentüchern und Tränen in den Augen drängten an die Transporter heran, bis zu der Absperrung, an der Kommissare und Ehrengarde nach dem Rechten sahen. Junge Männer hielten das schwarz-weiß-rote Banner Wolfestes in die Höhe und priesen Imperator und planetaren Kaiser. Kinder folgten ihren Eltern, um irgendwelche Brüder, Vettern oder Onkel zu empfangen, die sie nie kennen gelernt hatten. Doch sie würden enttäuscht werden, so wie Eleonore dies in ihrem Fall erwartete. Sie hatte schon oft mit verschiedenen Frauen darüber gesprochen, wie die Heimkehrer normalerweise waren. Auch ihre Mutter hatte ihr erzählt, wie ihr Vater vor und nach dem Kriegsdienst gewesen war. In seiner Jugend, so hatte es ihre Mutter erzählt, war er ein lustiger, offener junger Mann mit schulterlangen, goldenen Locken. Er und seine Freunde waren damals voller Tatendrang und Träume aufgebrochen, um dem Imperator zwischen den Sternen zu dienen. Dann hatte ihre Mutter vierzehn Jahre auf ihren Wolfgang warten müssen.
Wie er nach seiner Rückkehr war, konnte Eleonore auch ohne ihre Mutter kombinieren. Seine Freunde von damals waren alle gefallen, so sagte es ihr Vater. Doch Eleonore wusste, dass gefallen ein Euphemismus war, um die zurückgebliebenen zu trösten. Sicher waren seine Freunde zerfetzt worden von Granaten oder Maschinengewehren oder Bestien der Ketzer. Ihr Vater hatte nie von den schrecklichen Wesen gesprochen, die er im All sicherlich bekämpft hatte. Ihr Vater war ein ruhiger, arbeitsamer Mann geworden, mit kurzem Haarschnitt und ohne jegliche Träume. Nur dafür am Leben, seinen Dienst weiter auszuführen. Der Major, mit dem er sich gerade unterhielt, war ebenfalls ein Paradenbeispiel dieser Zurückkehrer.
Lauter Trompetenschall und Pauken rissen sie aus ihren Gedanken. Die ersten Soldaten marschierten aus den Transportern, mit perfektem, wolfestischem Stechschritt, in blitzenden Paradeuniformen in blassgrün und violett. Offiziere voran, dahinter Unteroffiziere, Kommissare, höhere Mannschaftsdienstgrade und zum Schluss diejenigen, die siebzehn lange Jahre überlebt hatten und doch nicht mehr Dekoration trugen, als die jungen Männer, die vor langer Zeit aufgebrochen waren. Es wäre sinnlos gewesen, nach jemandem Ausschau zu halten, da sie ihren Bruder ja gar nicht kannte, also beschloss Eleonore einfach dem Kaiser zuzusehen, wie er seinen Soldaten Willkommensgrüße zurief und sie als treueste Diener des Imperators pries. Der Kaiser hatte selbstverständlich in der Vergangenheit selbst gedient, als General allerdings.
„Kommt. Wir gehen hinunter. Sobald die Soldaten den Kaiser passiert haben, dürfen sie gehen.“, sagte ihr Vater.
Als sie etwa zwei Minuten später auf dem Platz angekommen waren, herrschte ein heilloses Durcheinander. Jede Familie versuchte, ihren Sohn zu finden. Überall schüttelten Väter ihren heimgekehrten Söhnen die Hand und gratulierten zu ihrem abgeschlossenen Dienst, Mütter fielen ihren Söhnen um den Hals und kleine Kinder blickten verstohlen hinter den Eltern hervor, um ihre unbekannten Geschwister zu mustern. Sie war nicht allein, erkannte Eleonore sofort. Auf diesem Platz gab es Tausende, die in ihrer Situation waren. Auch wenn sie zu den Ältesten unter solchen zählte.
Wie sollte sie reagieren, wie sich vorstellen, was kann man einem Fremden, der siebzehn Jahre lang in der Fremde um sein Leben kämpfte, schon sagen, als kleine, unbedeutende Person, die nicht einmal im Leben die Heimat verlassen hatte, geschweige denn je in Gefahr gewesen ist? Würde er sie denn akzeptieren? Oder würde er sie zunächst einfach ignorieren, sie als unbedeutende Statistin abschreiben? Sie kannte ihn nicht. Jedoch kannte er sie auch nicht. Wie reagiert jemand, der heimkommt und ein Mädchen, das schon fast erwachsen ist, als seine kleine Schwester vorgestellt bekommt?
Zu ihrem Glück riss Gretchen sie aus ihren Gedanken.
„Ellie, was wenn Hans mich nicht mag?“
„Wie soll er dich denn nicht mögen?“, sagte sie. Er weiß ja nicht mal, dass du existierst, aber das kann man einem kleinen Kind noch nicht erklären. „Du bist doch seine Cousine.“
„Ist er so nett wie du?“, hakte Gretchen weiter nach.
Woher soll ich das denn wissen, jammerte sie in ihren Gedanken. Ich würde das ja selbst gerne wissen.
„Er ist mehr so wie mein Vater, also wie Onkel Wolfgang.“
Ihre Cousine setzte zu einer weiteren, unmöglichen Frage an, doch kam sie nicht dazu, sehr zu Eleonores Freude, denn er war angekommen.
Eleonore blickte auf. Ihr Vater und dessen Kollege begrüßten und priesen einen Mann in Uniform. Hans. Sie betrachtete diesen unbekannten Bruder.
Er war groß, fast Einen-Meter-Fünfundneunzig, schätzte sie. Er hatte kurze, blonde Haare, ein hartes, aber sehr durchschnittliches Gesicht und eine tiefe Narbe auf der rechten Gesichtshälfte. Er stand stramm da, lächelte leicht, aber unehrlich, wenn Vater oder der Major ihn lobten und gab kurze Antworten mit einer ruhigen, durchaus freundlich klingenden Stimme, wenn man ihn fragte. Er umarmte Mutter, begrüßte ihren Onkel und setzte Gretchen seine grünblaue Parademütze auf. Dann kam sie an die Reihe.
„Du bist also meine Schwester?“, sagte er mit einem verhaltenen Lächeln.
„Eleonore!“ Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Und weil sie nicht weiter wusste, streckte sie ihm die Hand entgegen. Er blickte ihre Hand kurz an, machte aber keine Anstalten, diese zu ergreifen. Nach einem kurzen Moment ließ Eleonore die Hand wieder sinken, fühlte sich aber an die Wand gedrängt.
Ihr Bruder jedoch erlöste sie aus ihrer Starre. Er trat näher an sie heran und umarmte sie. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
„Ich freue mich, dass ich kein Einzelkind bin.“, sagte Hans.
„Danke.“, flüsterte sie.
Er ließ sie los, blickte sie noch einen Moment an und wandte sich dann wieder ihrem Vater zu, der schon wieder angefangen hatte, von Offizierslaufbahnen und Beamtenposten zu sprechen.
„Ich danke dir Vater, aber erstmal möchte ich etwas Ruhe. Ein Offizierspatent kann ich auch später machen. Ich möchte erstmal meine Welt wieder kennenlernen.“
„Wie?“, machte Vater. „Wolfeste ist doch immer noch so wie früher.“
Ihr Vater verstand wohl gar nichts, dachte Eleonoren. Ihr wurde erst jetzt bewusst, in welcher Situation ihr Bruder war. Lange Zeit gab es für ihn nichts als Dienst und Kampf, an ein normales Leben musste er sich wieder erst gewöhnen. Aber ihr Vater war da anders, er war nie in ein normales Leben zurückgekehrt. Er lebte immer noch in seinem Dienst, obwohl seine Zeit an der Front schon seit über zwei Jahrzehnten vorbei war. Eleonore verstand nicht, warum ihr diese Erkenntnis erst jetzt oder gerade jetzt gekommen ist. Wenigstens war sie ihr gekommen.
„Gut, am besten gehen wir zum Auto. Wir haben oben, an der Kepplerstraße geparkt.“, sagte Vater zu ihrem Bruder.
„Fährst du immer noch den alten Ewer?“, fragte ihr Bruder, während sie sich in Bewegung setzten.
„Aber nicht doch, der hätte die Jahre auch nicht überstanden. Ich habe ein Volksauto, du wirst sicher beeindruckt sein.“
Einige Stunden später saß Eleonore in ihrem Zimmer und betrachtete die Decke. Ihr Bett kam ihr ungemütlich vor. Bald würde es Abendessen geben. Doch etwas ließ ihr keine Ruhe.
War sie die Einzige gewesen? Ist sonst niemand aufgefallen, was ihr auffiel? Dieser Blick, die Augen ihres Bruders. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Waren dies die Augen eines müden Menschen? Oder eines Kranken? Oder etwa eines Toten?
Eleonore wusste nicht, wie die Augen eines Toten aussahen, aber so stellte sie sich welche vor. Völlig ausdruckslos, immer nur in eine Richtung blicken, so schien es jedenfalls. Nicht auf das Leben, sondern auf etwas dahinter gerichtet. Sie würde wohl Alpträume von diesen Augen bekommen. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür.
„Es ist offen!“, schrie sie. Hoffentlich war es nicht Mutter, um sie in die Küche zu holen. Doch der, der ins Zimmer eintrat, war nicht ihre Mutter, sondern ihr Bruder. In zivilen Kleidern. So kam er ihr irgendwie kleiner vor, auch ein wenig älter.
„Wie kann ich dir helfen?“
Sie wollte sich aufsetzen. Doch bevor sie dazu kam, hatte sich ihr Bruder neben sie gelegt. Er vergrub sein Gesicht in ihrer Brust.
„Ich… Wie kann…“
Da hörte sie etwas. Leise, fast vom Schlag ihres eigenen Herzens übertönt. Und doch unüberhörbar. Schluchzen. Ihr Bruder, Veteran aus siebzehn Jahren Krieg, weinte.
„Ellie.“, flüsterte er. „Hilf mir. Ich bin tot.“
„Lass endlich den Schmuck, wo er ist. Willst du, dass dein Bruder dich in schlechtem Zustand antrifft, wenn er nach siebzehn Jahren endlich zurückkehrt?“, beschwerte sich Mutter.
„Du sagst es Mama, siebzehn Jahre. Er kennt mich doch gar nicht.“, sprach die Neunzehnjährige auf ihre Mutter ein.
„Der erste Eindruck zählt. Und jetzt schweig, da kommen die ersten Schiffe!“
Und da kamen sie. Riesige Truppentransporter brachen durch die Wolkendecke des grünlichen Himmels. Ihre Triebwerke zogen Schlieren hinter sich her. Ihre klobigen Körper näherten sich langsam dem Grund, in flachem Winkel auf Kreisbahnen herabsinkend. Selbst aus der großen Entfernung konnte man die blaugrüne Lackierung und die violetten Lilienwappen ausmachen. Nun, Eleonore konnte sie ausmachen. Sie wusste nicht, ob die anderen auch so klar sehen konnten, ihre Eltern, ihr Onkel Ephraim, ihre Cousinen Gretchen und Eva, die fasziniert in den Himmel starrten. Die sieben und neun Jahre jungen Mädchen hatten im Leben noch nie Flugwale gesehen.
Die anfliegenden Kolosse nämlich waren keine imperialen Transporter. Dieser Typ, RS- 77 Bröger, genannt Flugwal, war ein wolfestischer Schiffstyp. Entwickelt von Richard Bröger vor siebentausend Jahren, wurde er schon bald darauf vom Adeptus Mechanicus entdeckt, als Meisterstück gepriesen und sektorweit exportiert. Militärisch wurde er allerdings nur von Wolfeste und einigen Nachbarsystemen sowie von örtlichen Verbrechersyndikaten verwendet. Eigentlich war der Flugwal ein Passagierschiff.
Eleonore bemerkte, dass jemand an ihrem Kleid zog. Sie blickte nach unten und entdeckte die kleine Gretchen. Sie kniete sich hin, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Allerdings ohne die Knie auf den Boden zu legen, Mutter würde nur wieder wegen des Kleides schimpfen.
„Sag mal, Ellie, wer ist dieser Hans eigentlich?“, fragte ihre Cousine. Man hatte ihr wohl erzählt, dass sie alle auf Hansens Rückkehr warteten, aber nicht, wer Hans war.
„Hansi ist mein großer Bruder. Vor siebzehn Jahren wurde er, wie jeder erstgeborene Mann von Wolfeste, zum Dienst am Imperator eingezogen. Und seitdem war er nicht mehr zuhause. Vor vier Monaten kam die Nachricht, dass sein Regiment die siebzehn Jahre Dienst überstanden hat und nun zurückkehrt.“, erklärte sie in dem Tonfall, mit dem Erwachsene immer mit Kindern redeten. Obwohl sie sich geschworen hatte, als sie noch jünger war, selbst niemals diesen Tonfall anzunehmen.
„Meine Mama sagt, wenn ich immer brav jeden Abend zum Imperator bete, werden die Soldaten draußen wiederkommen.“
„Und hast du jeden Abend gebetet?“
„Mhm!“, machte Gretchen mit einem zufriedenen Lächeln. „Ich hab dem Imperator immer für den Tag gedankt. Genau wie Tabea es immer sagte.“
Tabea? Eleonore musste eine Weile nachdenken, bis ihr endlich einfiel, dass Tabea Reichert Gretchens Kindergärtnerin war. Gretchen kam letztes Jahr zwar in die Grundschule, sprach aber trotzdem weiter von ihrer Erzieherin.
„Ellie!“ Ihre Cousine zog schon wieder an ihrem Kleid. Sie musste es nur noch ein paar Mal machen, um Eleonore wieder zum Bügeln zu nötigen.
„Was hast du?“
„Ich seh nichts.“
Das konnte sie in der Tat nicht. Die Transporter waren im Landemodus und schon so tief, dass Gretchen nicht über das steinerne Geländer sehen konnte, vor dem sie standen. Ihre ältere Schwester Eva konnte über sie hinwegsehen, gab aber ein komisches Bild ab, wie sie da am Geländer baumelte. Ihr Vater, Onkel Ephraim, nahm sie hoch, um ihr zu helfen. Eleonore blieb nichts anderes übrig, als Gretchen zu heben. Ihr eigener Vater war zu sehr damit beschäftigt, das Eiserne Kreuz an seiner Uniform zu polieren. Außerdem unterhielt er sich mit einem älteren Major, den er von früher zu kennen schien.
„Ich bin froh, dass mein Sohn zurückkehrt. Er hat überlebt und wird nun sicherlich die Offiziersbahn einschlagen. Aber ich wundere mich sehr über die Informationspolitik des Departementos. Ich habe seit Jahren nichts aus dem All gehört. Sie?“
„Nein. Mein Schwager, Oberst des siebten Regiments, hat neulich gemeldet: Frontverlauf stabil. Ketzer konnten keinen Fuß Boden gewinnen, nichts weiter zu melden.“
Der Major war also beim Departemento, stellte Eleonore fest. Aber er war kein Kommissar. Wenigstens etwas.
„Stabil? Zu meiner Zeit nannte man das Versagen des kommandierenden Offiziers!“
„Ich weiß Wolfgang. Wir waren beide Frontschweine. Aber etwas stimmt nicht. Unter uns, ich weiß, dass es in den letzten Monaten und Jahren überdurchschnittlich viele Feldexekutionen und Ähnliches gab. Es kommt mir fast so vor, als seien die Chaostruppen so zahlreich, dass sie sich einfach gegen unsere Stellungen werfen.“
„Ohne Rücksicht auf Verluste? Passt zu diesem Pack. Mein Sohn hat sie zurückgeschlagen, er war einer von denen, die für Imperator und Heimat gegen die Mächte des Bösen triumphierten.“
Auf dem Platz unter ihnen kamen die Menschen in Aufruhr, die ersten Flugwale hatten aufgesetzt. Eleonore beobachtete das Treiben. Väter in Uniformen und Mütter mit Taschentüchern und Tränen in den Augen drängten an die Transporter heran, bis zu der Absperrung, an der Kommissare und Ehrengarde nach dem Rechten sahen. Junge Männer hielten das schwarz-weiß-rote Banner Wolfestes in die Höhe und priesen Imperator und planetaren Kaiser. Kinder folgten ihren Eltern, um irgendwelche Brüder, Vettern oder Onkel zu empfangen, die sie nie kennen gelernt hatten. Doch sie würden enttäuscht werden, so wie Eleonore dies in ihrem Fall erwartete. Sie hatte schon oft mit verschiedenen Frauen darüber gesprochen, wie die Heimkehrer normalerweise waren. Auch ihre Mutter hatte ihr erzählt, wie ihr Vater vor und nach dem Kriegsdienst gewesen war. In seiner Jugend, so hatte es ihre Mutter erzählt, war er ein lustiger, offener junger Mann mit schulterlangen, goldenen Locken. Er und seine Freunde waren damals voller Tatendrang und Träume aufgebrochen, um dem Imperator zwischen den Sternen zu dienen. Dann hatte ihre Mutter vierzehn Jahre auf ihren Wolfgang warten müssen.
Wie er nach seiner Rückkehr war, konnte Eleonore auch ohne ihre Mutter kombinieren. Seine Freunde von damals waren alle gefallen, so sagte es ihr Vater. Doch Eleonore wusste, dass gefallen ein Euphemismus war, um die zurückgebliebenen zu trösten. Sicher waren seine Freunde zerfetzt worden von Granaten oder Maschinengewehren oder Bestien der Ketzer. Ihr Vater hatte nie von den schrecklichen Wesen gesprochen, die er im All sicherlich bekämpft hatte. Ihr Vater war ein ruhiger, arbeitsamer Mann geworden, mit kurzem Haarschnitt und ohne jegliche Träume. Nur dafür am Leben, seinen Dienst weiter auszuführen. Der Major, mit dem er sich gerade unterhielt, war ebenfalls ein Paradenbeispiel dieser Zurückkehrer.
Lauter Trompetenschall und Pauken rissen sie aus ihren Gedanken. Die ersten Soldaten marschierten aus den Transportern, mit perfektem, wolfestischem Stechschritt, in blitzenden Paradeuniformen in blassgrün und violett. Offiziere voran, dahinter Unteroffiziere, Kommissare, höhere Mannschaftsdienstgrade und zum Schluss diejenigen, die siebzehn lange Jahre überlebt hatten und doch nicht mehr Dekoration trugen, als die jungen Männer, die vor langer Zeit aufgebrochen waren. Es wäre sinnlos gewesen, nach jemandem Ausschau zu halten, da sie ihren Bruder ja gar nicht kannte, also beschloss Eleonore einfach dem Kaiser zuzusehen, wie er seinen Soldaten Willkommensgrüße zurief und sie als treueste Diener des Imperators pries. Der Kaiser hatte selbstverständlich in der Vergangenheit selbst gedient, als General allerdings.
„Kommt. Wir gehen hinunter. Sobald die Soldaten den Kaiser passiert haben, dürfen sie gehen.“, sagte ihr Vater.
Als sie etwa zwei Minuten später auf dem Platz angekommen waren, herrschte ein heilloses Durcheinander. Jede Familie versuchte, ihren Sohn zu finden. Überall schüttelten Väter ihren heimgekehrten Söhnen die Hand und gratulierten zu ihrem abgeschlossenen Dienst, Mütter fielen ihren Söhnen um den Hals und kleine Kinder blickten verstohlen hinter den Eltern hervor, um ihre unbekannten Geschwister zu mustern. Sie war nicht allein, erkannte Eleonore sofort. Auf diesem Platz gab es Tausende, die in ihrer Situation waren. Auch wenn sie zu den Ältesten unter solchen zählte.
Wie sollte sie reagieren, wie sich vorstellen, was kann man einem Fremden, der siebzehn Jahre lang in der Fremde um sein Leben kämpfte, schon sagen, als kleine, unbedeutende Person, die nicht einmal im Leben die Heimat verlassen hatte, geschweige denn je in Gefahr gewesen ist? Würde er sie denn akzeptieren? Oder würde er sie zunächst einfach ignorieren, sie als unbedeutende Statistin abschreiben? Sie kannte ihn nicht. Jedoch kannte er sie auch nicht. Wie reagiert jemand, der heimkommt und ein Mädchen, das schon fast erwachsen ist, als seine kleine Schwester vorgestellt bekommt?
Zu ihrem Glück riss Gretchen sie aus ihren Gedanken.
„Ellie, was wenn Hans mich nicht mag?“
„Wie soll er dich denn nicht mögen?“, sagte sie. Er weiß ja nicht mal, dass du existierst, aber das kann man einem kleinen Kind noch nicht erklären. „Du bist doch seine Cousine.“
„Ist er so nett wie du?“, hakte Gretchen weiter nach.
Woher soll ich das denn wissen, jammerte sie in ihren Gedanken. Ich würde das ja selbst gerne wissen.
„Er ist mehr so wie mein Vater, also wie Onkel Wolfgang.“
Ihre Cousine setzte zu einer weiteren, unmöglichen Frage an, doch kam sie nicht dazu, sehr zu Eleonores Freude, denn er war angekommen.
Eleonore blickte auf. Ihr Vater und dessen Kollege begrüßten und priesen einen Mann in Uniform. Hans. Sie betrachtete diesen unbekannten Bruder.
Er war groß, fast Einen-Meter-Fünfundneunzig, schätzte sie. Er hatte kurze, blonde Haare, ein hartes, aber sehr durchschnittliches Gesicht und eine tiefe Narbe auf der rechten Gesichtshälfte. Er stand stramm da, lächelte leicht, aber unehrlich, wenn Vater oder der Major ihn lobten und gab kurze Antworten mit einer ruhigen, durchaus freundlich klingenden Stimme, wenn man ihn fragte. Er umarmte Mutter, begrüßte ihren Onkel und setzte Gretchen seine grünblaue Parademütze auf. Dann kam sie an die Reihe.
„Du bist also meine Schwester?“, sagte er mit einem verhaltenen Lächeln.
„Eleonore!“ Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Und weil sie nicht weiter wusste, streckte sie ihm die Hand entgegen. Er blickte ihre Hand kurz an, machte aber keine Anstalten, diese zu ergreifen. Nach einem kurzen Moment ließ Eleonore die Hand wieder sinken, fühlte sich aber an die Wand gedrängt.
Ihr Bruder jedoch erlöste sie aus ihrer Starre. Er trat näher an sie heran und umarmte sie. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
„Ich freue mich, dass ich kein Einzelkind bin.“, sagte Hans.
„Danke.“, flüsterte sie.
Er ließ sie los, blickte sie noch einen Moment an und wandte sich dann wieder ihrem Vater zu, der schon wieder angefangen hatte, von Offizierslaufbahnen und Beamtenposten zu sprechen.
„Ich danke dir Vater, aber erstmal möchte ich etwas Ruhe. Ein Offizierspatent kann ich auch später machen. Ich möchte erstmal meine Welt wieder kennenlernen.“
„Wie?“, machte Vater. „Wolfeste ist doch immer noch so wie früher.“
Ihr Vater verstand wohl gar nichts, dachte Eleonoren. Ihr wurde erst jetzt bewusst, in welcher Situation ihr Bruder war. Lange Zeit gab es für ihn nichts als Dienst und Kampf, an ein normales Leben musste er sich wieder erst gewöhnen. Aber ihr Vater war da anders, er war nie in ein normales Leben zurückgekehrt. Er lebte immer noch in seinem Dienst, obwohl seine Zeit an der Front schon seit über zwei Jahrzehnten vorbei war. Eleonore verstand nicht, warum ihr diese Erkenntnis erst jetzt oder gerade jetzt gekommen ist. Wenigstens war sie ihr gekommen.
„Gut, am besten gehen wir zum Auto. Wir haben oben, an der Kepplerstraße geparkt.“, sagte Vater zu ihrem Bruder.
„Fährst du immer noch den alten Ewer?“, fragte ihr Bruder, während sie sich in Bewegung setzten.
„Aber nicht doch, der hätte die Jahre auch nicht überstanden. Ich habe ein Volksauto, du wirst sicher beeindruckt sein.“
Einige Stunden später saß Eleonore in ihrem Zimmer und betrachtete die Decke. Ihr Bett kam ihr ungemütlich vor. Bald würde es Abendessen geben. Doch etwas ließ ihr keine Ruhe.
War sie die Einzige gewesen? Ist sonst niemand aufgefallen, was ihr auffiel? Dieser Blick, die Augen ihres Bruders. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Waren dies die Augen eines müden Menschen? Oder eines Kranken? Oder etwa eines Toten?
Eleonore wusste nicht, wie die Augen eines Toten aussahen, aber so stellte sie sich welche vor. Völlig ausdruckslos, immer nur in eine Richtung blicken, so schien es jedenfalls. Nicht auf das Leben, sondern auf etwas dahinter gerichtet. Sie würde wohl Alpträume von diesen Augen bekommen. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür.
„Es ist offen!“, schrie sie. Hoffentlich war es nicht Mutter, um sie in die Küche zu holen. Doch der, der ins Zimmer eintrat, war nicht ihre Mutter, sondern ihr Bruder. In zivilen Kleidern. So kam er ihr irgendwie kleiner vor, auch ein wenig älter.
„Wie kann ich dir helfen?“
Sie wollte sich aufsetzen. Doch bevor sie dazu kam, hatte sich ihr Bruder neben sie gelegt. Er vergrub sein Gesicht in ihrer Brust.
„Ich… Wie kann…“
Da hörte sie etwas. Leise, fast vom Schlag ihres eigenen Herzens übertönt. Und doch unüberhörbar. Schluchzen. Ihr Bruder, Veteran aus siebzehn Jahren Krieg, weinte.
„Ellie.“, flüsterte er. „Hilf mir. Ich bin tot.“
Zuletzt bearbeitet: