@Blackorc:
Ich selbst bin in einer früheren Diskussion hier für mehr Basisdemokratie eingetreten. Im Sinne eines "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?" muss ich allerdings sagen, dass mir bei einer Volksabstimmung über ein neues Grundgesetz doch etwas mulmig wäre.
Schon witzig, bei mir ist es genau andersherum: ich bin für gewöhnlich kein Freund von Plebisziten oder gar von weitreichenderen Modellen wie der Konkordanzdemokratie, in diesem einzigartigen Fall sehe ich aber qua Anspruch die eherne Pflicht, eine Volksabstimmung abzuhalten, nachdem es bei der Wiedervereinigung so schillernd verabsäumt worden ist. Das Grundgesetz lebt ja nicht von seiner offiziösen Geltung im gelebten Recht, sondern durch seine Voraussetzung, eine zumindest gedachte Konstitutionsakte für staatliche Handlungsmacht zu sein. Nun stellt das Grundgesetz selber fest, dass "sich das Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetzes gegeben" habe, was nun einmal formal nicht stimmt.
Überhaupt bin ich auch nicht wohlgesonnen über das laxe Verhalten unserer Parlamentarier, die seit Bestand des Grundgesetzes über 50 Veränderungen an diesem vorgenommen haben - das sind freilich auch Glättungen der Unebenheiten, z.T. nur kleine Abweichungen, aber gerade Jahrgänge wie 1969 sollten schon denkenswert machen, was den Respekt vor dieser unserer "Verfassung" betrifft; auch in diesem Sinne kann es nur gewinnen, wenn es endlich rechtmäßig durch den Akt der Wahl anerkannt würde, so legalistisch es auch klingen mag.
@Sohn des Khaine:
Diese "ich würde ja eigentlich gerne was sagen, aber man darf ja nicht"-Mentalität ist in so krasser Form bei den Amis einfach nicht denkbar, eben weil es den first Amendment gibt.
Bei allem Respekt: ich halte das nach wie vor für eines der populärsten Märchen, die sich im heutigen Kulturbetrieb halten. Wem wird denn das Wort entzogen und, noch wichtiger, wer lässt sich denn eigentlich das Wort verbieten?
Die ganzen "unbequemen Wahrheiten", wie sie dann - ohnehin nur
ex post, weil man die Kritik ja nicht antizipieren konnte - genannt werden, unterliegen doch keinem Zensorenamt, ganz im Gegenteil. Necla Kelek, Thilo Sarrazin, Henryk M. Broder, Norbert Bolz, Hans-Olaf Henkel oder Ralph Giordano gehen doch unverdrossen ihrem publizistischen Werk nach, je nachdem, wo sie ihre Erzeugnisse veröffentlichen, erhalten sie schärfste Gegenworte oder rauschenden Applaus. Dass "Die Zeit" z.B. von Anfang an gegen Sarrazin stehen würde, war klar, genauso, wie der "Focus" treu demselben die Stange gehalten hat. Täglich werden dutzende Leserbriefe abgedruckt, die mit solchen "unbequemen Denkern" offen sympathisieren, dieselben tingeln denn auch meistens durch alle Talkshows, geben Interviews, können Gastbeiträge in renommierten Zeitungen verfassen; wo genau ist denn da das allenthalben als "jakobinisch" verschriene Pressewesen, das
par ordre de mufti den letzten echten Freiheitskämpfern in die Suppe der Liberalität spuckt? Für mich ist das vornehmlich ein gewitzter PR-Trick, um ohnehin beliebten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch noch die Rolle des leidenden Säulenheiligen, des kerygmatischen Jesus zu verleihen.
@Bloodknight:
Mir war das auch schlecht...vor allem, weil die Bild und andere Zeitungen von einem Tag auf den anderen eine 180°-Wende hingelegt haben von "wie kann er so was sagen" zu "das wird man ja noch sagen dürfen". Pfui Medien, sage ich dazu.
Halte ich mittlerweile auch für eine Kolportage. Die allermeisten Journaillen haben ihren Kurs von vornherein gehalten (Focus, SZ, Zeit, Spiegel), bei der FAZ sieht es zunächst nach einer Opportunitätswende aus, aber die Wahrheit liegt anderswo: der erste Rezensent von Sarrazins Werk ist Frank Schirrmacher gewesen, dessen lange Analyse die FAS abdruckte. Diese war dezidiert kritisch und legte den Finger auf all die gärenden Wunden (bewundernde Zitation Galtons nicht nur bei den wissenschaftlichen Aspekten, die dauernde Rede vom "dysgenischen Potential" - das haben wir ja
en detail schon anderswo durchgekaspert), eine Haltung, die Schirrmacher bis hin zu seinem langen Interview mit Sarrazin behalten sollte. Auch die Feuilletonrezension einen Tag später von Christian Geyer fand scharfe Worte für Sarrazin. Zu diesem Zeitpunkt war das Buch noch nicht erschienen und in der ganzen Causa noch kein Politikum, darum ist "Deutschland schafft sich ab" auch nur im eher linksliberalen Feuilleton vertreten gewesen.
Erst als die ersten Stellungnahmen seitens der Bundesregierung kamen, rückte das Buch in den Fokus des sehr konservativen Politikressorts der FAZ, das folgerichtig Sarrazin in höchsten Tönen lobte. Ich sehe da nicht unbedingt Duckmäusertum am Werke, sondern vielmehr die simple Tatsache, dass unterschiedliche Autoren die Urteile verfassten. Im Großen und Ganzen jedenfalls sind die Medien ziemlich konstant bei ihrer Meinung geblieben.