Da das Grundpathos mir bereits in diesem frühen Stadium stark ausgeprägt zu sein scheint, möchte ich allen Sympathien für Gauck und Antipathien für Wulff (dazu dann im Einzelnen später) zum Trotze folgendes anmerken: die Wahl des Bundespräsidenten ist immer schon ein parteipolitischer Akt gewesen. Das fing '49 mit Heuss an, der letztlich auch nur eine ungemein raffinierte Konzession Adenauers gewesen ist, und das hört heute mit dem Symbolträger einer Pax Romana innerkoalitionärer Art, nämlich Wulff, auf.
Ich möchte wetten, dass, wenn Rot-Grün eine starke Mehrheit in der Bundesversammlung gehabt hätte, diese ebenfalls einen altgedienten Parteisoldaten aufgestellt hätten - das haben sie 1999 mit der Nominierung Raus, der, wenn man mal alle Romantisierungen einen Moment beiseiteschiebt, auch nur ein "Grüß-Gott-August" von Parteien Gnaden gewesen ist, unter Beweis gestellt. Die Aufstellung Gaucks war ein genialer Schachzug, keine Frage, der würdigere Kandidat ist er allemale gewesen, aber letztlich war es mutmaßlich (obgleich gelungen) auch nur eine Lancierung des Agent Provocateurs. Das bitte ich bei allem berechtigten Protest zu berücksichtigen, das Wolkenkuckucksheim der parteipolitisch fremden Wahl eines unabhängigen, integren Bundespräsidenten gab es bislang nicht und wird es wohl in näherer Zukunft auch nicht geben. Da fand ich wohlfeile Altersweisheit wie die vom Biedenkopf auch etwas deplatziert, als es 1979 um die Wahl Karl Carstens ging, klang das noch ganz anders.
Nun zu den Kandidaten selbst: Gauck wäre in der Tat der weltkluge Citoyen gewesen, der zumindest einen Demarkationspunkt, wenn nicht eine Zäsur eingeleitet hätte. Ein kritischer und brillanter Intellektueller, das sage ich der Tatsache zum Trotze, dass ich einigen seiner Aussagen (z.B. zum "Stabilisierungseinsatz" in Afghanistan) nicht eben zustimme. Wulff ist - das ist hinreichend thematisiert worden - ein charakterloser Parteiapparatschik, der sich ferner nicht zu schade ist, die Anzahl der Gedenkstätten zu den Opfern des Nationalsozialismus in Niedersachsen, seine einmal im Jahr gehaltene Rede am 20. Juli und die reine Symbolpolitik, die ihn bei Ernennung einer muslimischen sowie einer ostdeutschen Frau zur Ministerin trieb, als Meriten um die Qualifikation zum Amt des Bundespräsidenten anzuführen (hier das inkriminierte Interview, falls Interesse besteht:
http://www.zeit.de/2010/24/Christian-Wulff-Interview). Gleichwohl denke ich, dass sich nicht eben viel realpolitisch ändern wird, was die Rolle des Bundespräsidenten selbst betrifft, Köhler mahnte ja letztlich auch mehr, als dass er dezidierten Widerstand gab; Gauck wäre sicherlich skeptischer gewesen, aber auch kein outrierter Kontrapunkt, dergestalt verstand er sich selbst ja auch nicht.
Ansonsten war es schon achtbar genug, dass Gauck sich zwei Wahlgänge halten konnte, das wäre bei einer anderen Konstellation (auch wenn die Querelen der Regierungsparteien eine nicht unwesentliche Rolle spielen) sicher nicht möglich gewesen. Aber wer ehrlich ist, wird zugestehen müssen, dass das Ergebnis nicht eben überraschend kommt.
😉