Teil 4
Irgendwie war ich, nach scheinbar endlos langer Zeit, in der ich sie nicht gesehen hatte, wieder bei Fea gelandet. Wir hatten uns in ihrer Wohnung verabredet, und so saß ich nun auf ihrem Bett, die Beine von mir gestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt. Ich erwähnte bereits, wie chaotisch es dort aussieht? Dieses Bett ist beinahe die gesamte Wohnung, füllt die wenigen Quadratmeter fast zur Gänze aus. Sonst ist da noch eine Kochnische; Toiletten, Duschen, das alles teilt sich hier der halbe Wohnkomplex. Ringsherum an den Wänden sind Regale mehr oder weniger gerade angebracht. Auf ihnen stapeln sich lose Blätter, Geräteteile und zerlesene Bücher, hier und da sticht eine Musikbox hervor. Aus ihnen schallte an diesem Tag, wie so oft, Musik aus einer von Feas Lieblingsgruppen. Auf dem Boden sieht es ähnlich aus, überall liegt etwas herum: man kann sich kaum bewegen.
Fea saß auf der anderen Seite auf der Bettkante. Ihre Kapuzenjacke lag achtlos in der Ecke, sie trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Band namens „Pluma Corvi“. So konnte ich einmal mehr eine Tätowierung bewundern, die sich dicht ihren gesamten rechten Arm bis zu den Fingerspitzen herabwand.
Bisher hatten wir beide uns vor allem angeschwiegen, waren unseren eigenen Gedanken nachgehangen. Ich hatte am Morgen eine Kapsel PEP genommen, deren Wirkung jetzt langsam nachließ – nun war ich schläfrig und dämmerte immer wieder weg, hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Ebenso schnell verschwand die von der Droge geschaffene gute Laune. Auch Fea schien angespannter als sonst zu sein. Unruhig trommelte sie mit ihren Fingern auf dem Bettrahmen herum, stand kurz auf, suchte etwas, setzte sich wieder hin. Schließlich zog sie irgendwo aus der Unordnung zwei Flaschen Illecebra hervor. Sie hielt mir eine von ihnen entgegen, doch als ich auch nach einigen Sekunden noch keine Reaktion gezeigt hatte, öffnete sie die andere für sich und trank hastig einige Schlucke, ehe sie sich nervös mit der Zunge über die Lippen fuhr.
„War bestimmt wieder ganz schön voll auf dem Weg hierhin, oder?“
„Mhm“, machte ich, wenig daran interessiert, ein Gespräch anzufangen.
„Bist bestimmt genau in den Schichtwechsel geraten.“
„Hm.“
Stille machte sich wieder breit. In Gedanken war ich bereits zu Hause, um vielleicht endlich eine neue Skulptur anzufangen, wahrscheinlich aber eher wieder eine der kleinen Kapseln nehmend. Ich wollte gehen, doch irgendwie konnte ich nicht. Vermutlich war es einfach Antriebslosigkeit. Hoffentlich war es das.
„Scheiße, habe ich dir eigentlich irgendetwas getan?“, brach es plötzlich aus Fea hervor. „Warum bist du nicht mehr im Stande, auch nur zwei vernünftige Wörter mit mir zu wechseln? Warum knallst du dich seit Neuestem von vorne bis hinten voll?“
Ich war kurz irritiert. Wer nahm denn schon seit Jahren PEP? Da war sie ja wirklich die Falsche, mir Vorhalte zu machen. Ich verzichtete darauf, ihr zu antworten, brummte nur etwas Unverständliches. Ich hatte wirklich keine Lust, mich jetzt mit Feas Problemen zu beschäftigen. Diese sprang von ihrem Platz auf, baute sich vor mir auf.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Ich blickte demonstrativ zur Seite, lehnte mich ein Stück weiter zurück. Verstand sie denn nicht, dass ich gerade keine Lust hatte, mit ihr im Argen zu liegen ? Früher war sie sicher noch nicht so streitlustig gewesen. Ich sehnte mich nach einer Kapsel PEP.
„Was für eine Scheiße ziehst du hier eigentlich ab?“, brüllte mich Fea an, schmiss ihre Flasche gegen die Wand. Plastek zersplitterte knackend, Illecebra floss den Putz herunter und hinterließ eine feuchte Spur. Ich zuckte zusammen. Erste Verwunderung wich Zorn. Ich richtete mich auf.
„Was für eine Scheiße ich hier abziehe? Frag dich das doch erst einmal selber! Du bist es doch, die alles kaputt gemacht hat.“
„Dann sag, um was es deiner Meinung nach hier verdammt noch mal geht.“ Fea verschränkte die Arme unter den Brüsten, vor Wut leicht zitternd. Letzte Zweifel kamen in mir auf: was, wenn ich nun daneben lag? Wenn ich alles nur falsch interpretiert hatte? Nun, dann sollte Fea zumindest ihr Verhalten erklären.
„Verstehst du es nicht, oder willst du es nicht verstehen?“, rief ich verärgert. „Eine... Beziehung zwischen uns, das ist, das wäre gegen alles, was die Menschheit ausmacht. Wenn wir der Perversion verfallen, was unterscheidet uns dann noch von Xenos oder den Anhängern des Erzfeindes selbst?“ Fea antwortete nicht gleich, sondern begann, unruhig auf und ab zu laufen. Ich fühlte mich bestätigt und fuhr fort. „Es ist ja nicht eine kleine Lapalie, Fea, das ist eine Todsünde! Wende dich doch an die Ekklasiarchie“, fügte ich fast flehentlich hinzu, „dort kann dir bestimmt geholfen werden. Bitte.“
Fea schüttelte den Kopf, strich sich unruhig durch die Haare. „Das kann doch nicht dein Ernst sein“, murmelte sie leise, immer noch in Bewegung. „Das kann doch wirklich nicht dein Ernst sein!“, wiederholte sie schließlich lauter. „Du kannst doch diesen Mist wirklich nicht glauben? Stellst du diese beschissenen Ansichten wirklich über das“ - sie rang kurz mit den Worten - „was tatsächlich ist, nur weil jemand hier irgendwo auf den oberen Ebenen oder auf Terra das mal beschlossen hat?“
„Irgendwo auf Terra?“, echote ich. Meine Stimme überschlug sich beinahe. „Diese Leitlinien wurden uns vom Imperator selbst vermittelt. Irgendwo auf Terra... das ist doch ketzerisches Gerede! Immer wieder gegen unser Imperium Stimmung zu machen – Fea, hör damit auf!“, beschwor ich sie eindringlich.
Als hätte man einem plötzlich Servitor jeglichen Strom entzogen, ließ sich die Angesprochene wieder auf der Bettkante nieder. Sie fuhr sich mit den Händen wiederholt durch das Gesicht, atmete tief durch.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass du soetwas sagen kannst“, flüsterte Fea leise. „Miri... ich dachte, ich würde dir etwas bedeuten.“
„So eine Scheiße“, verfluchte ich die Situation an sich. „Doch nicht so... doch nicht so.“
„Lass uns nicht weiter streiten. So soll es nicht enden. Das kann, das darf es einfach nicht.“ Sie klang nur noch müde.
„Dann sieh ein, dass du falsch liegst“, bat ich sie erneut. „Dass du dem Imperium schadest. Dass... das“ - ich vermied eine konkrete Bezeichnung - „einfach abartig ist. Bitte, Fea. Die Ekklesiarchie...“
Fea setzte sich mir gegenüber auf das Bett, die Beine überkreuzt. „Ach Miri“, seufzte sie traurig mit einem Gesichtsausdruck, den ich sonst noch nie bei ihr gesehen hatte. „Ich glaube, du verstehst es einfach nicht.“
Ich wurde nun nur noch wütender. „Ich verstehe sehr wohl!“, fuhr ich sie an. „Also tu nicht so mitleidig. Du bist vom rechten Pfad abgekommen, sieh das endlich ein!“
Fea sah ungewohnt hilflos aus. Sie rang mit den Händen, mit den Worten. „Ist das wirklich das, was du – was du selbst glaubst?“ Sie lehnte sich etwas zu mir herüber, berührte sacht meine Wange. Ich zuckte zurück, schlug ihren Arm weg. Die kurze Berührung hatte für mich etwas ungeheuer Schmutziges, etwas, dass mich tief im Innern gleichzeitig lachen und schreien ließ.
Ich krabbelte ein Stück zurück, sprang dann auf, brachte weiter Abstand zwischen mich und Fea.
„Lass mich in Ruhe! Lass mich einfach nur in Frieden!“, schrie ich sie an, ehe ich zur Tür stürmte – lose Zettel auf dem Boden durch den ganzen Raum verteilend – sie aufriss und hinausrannte. Das letzte Bild, dass ich von Fea hatte, war, dass sie, irgendwie gebrochen, immer noch den Arm angehoben, auf dem Bett saß und mir nachblickte.
Die nächsten Stunden irrte ich, verstört, aufgelöst, aber doch irgendwie erleichtert, durch die Straßen der Ebene. So ging es also zu Ende, ein kurzer Knall, und es war nicht mehr. Irgendwo zwischen Feas Wohnung und dem Aquila muss ich den Entschluss gefasst haben, mich an die Behörden zu wenden. Ich hatte einmal eine Sendung gesehen, die den Trutzbau zeigte, einige Bahnstunden von hier entfernt: ein Ungetüm aus Beton und Durastahl, Wahrzeichen der Imperialen Macht.
Nach dem Gespräch mit ihr war ich mir sicher, dass sich Fea nicht von selbst Hilfe suchen würde – dafür war sie schon zu verblendet, zu weit auf dem Weg vorangeschritten, der sie nur ins Dunkel führen würde. Aber wenn ich sie meldete, konnte sie sicher in professionelle Behandlung kommen; vielleicht konnte man so eine Perversion auch von einem Prediger austreiben lassen? Und sollte sie tatsächlich eine Anhängerin des Erzfeindes sein, konnte ich mir nicht vorwerfen, nicht mein Möglichstes getan zu haben. Je länger ich mit diesen Gedanken spielte, ihn im Kopf hin und her wandte, desto sicherer wurde ich mir, dass dies der richtige Weg war. Endlich war die Zeit des unentschlossenen Abwartens, des hilflosen Zusammenkauerns vorbei. Der Bann war gebrochen. Ich würde mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen.
Als ich zu Hause ankam, versuchte meine Mutter aus mir herauszubekommen, was geschehen war. Ich hatte jedoch keine Zeit für ausufernde Erklärungen. Stattdessen drückte ich ihr nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sagte, dass ich schnell los müsse, gegen Abend aber wieder zu Hause sei. Sie schien verwundert, ließ mich aber unter dem Versprechen ziehen, dass ich dann alles ganz genau berichten würde.
Während der Fahrt packte mich erneut eine gewisse Unruhe. Warum war Fea nur so uneinsichtig? Es hätte alles nicht so enden müssen. Ich fingerte den Glücksbringer hervor – ein Flügel war abgeknickt. Ich erinnerte mich, dass mir das schon früher aufgefallen war, ich aber vergessen hatte, ihn zu kleben. Draußen zogen Straßenschluchten, Betonbauten und riesige Wohnkomplexe vorbei. Immer wieder schaute ich auf meine Uhr, doch die Zeit kroch nur dahin. Es dauerte schließlich länger als erwartet. Der Tag war schon fast vorbei, als ich letztendlich am Machariusplatz ausstieg. Über mir erhob sich, bis unter die Decke der Ebene, hunderte Schritt breit, die imperiale Repräsentanz. Die Festung erschien noch bedrohlicher, noch gewaltiger als auf den Bildern, ich erschien mir mit meinen Problemen plötzlich nichtig und unbedeutend. Das Portal war übergroß und aus massivem Metall. In es graviert und über die umliegenden Wände verteilte Fresken zeigten die Eroberung der Galaxis durch den Imperator, er selbst war das zentrale Motiv des Schlusssteins. Mir fiel auf, dass zwischen den Szenen kleine Nischen mit waffenstarrenden Geschütztürmen eingestreut waren. Überall waren Menschen, die das Gebäude betraten oder verließen – Beamte, Leute aus der Ebene, Soldaten in dem schmutzig-braunen Drillich der planetaren Verteidigungsstreitkräfte. Alle strahlten Hektik und Nervosität aus. Ich betrat die Festung.
Auch innen zeugte alles auf eine kalte, düstere Art von der Glorie des Imperiums. Die Eingangshalle schien nicht für Menschen, sondern für Titanen gemacht, über mir war nur Schwärze, aber kein Ende des Raumes zu sehen. Streng symmetrisch angelegt, gingen zu meiner Linken und Rechten Treppen nach oben und unten, wanden sich dort außer Sicht. In der Mitte trennte eine hüfthohe Mauer die Besucher von Dutzenden Angestellten, die hinter ihren Cogitatoren saßen und sich bemühten, so gut es ging Auskunft zu geben und Bittsteller weiterzuleiten. Hier herrschte noch mehr Chaos als draußen: Soldaten warteten darauf, dass Servitoren Kisten in bereit stehende Transporter verluden, einige geleiteten eine Kolonne Beamter nach draußen. Ich sah genauer hin – auch die Männer und Frauen am Empfang waren bereits dabei, aufzubrechen. Nur noch einige wenige arbeiteten tatsächlich.
Irritiert wandte ich mich an einen Soldaten namens Eldrim, Schulterklappen und Abzeichen nach Koporal der 169. Aricischen Schützen. Er war älter als die meisten seiner Kameraden – diese zählten wohl wie ich zwanzig Jahre – hatte einen voluminösen Schnauzbart und ein väterliches Gesicht. Auf meine Frage, was hier gerade geschähe, lachte er nur.
„Noch nicht gehört, Mädchen? Wo lebst du denn? Der Erzfeind ist gelandet! Hab da nichts Genaueres gehört, aber anscheinend haben es unsere Jungs draußen es nicht geschafft, ihm ordentlich einzuheißen. Jedenfalls räumen wir jetzt die unteren Ebenen und bündeln unsere Kräfte weiter oben.“
Die Worte waren so ungeheuerlich – und ich wohl auch so durch die bisherigen Ereignisse des Tages mitgenommen – dass ich irritiert erwiderte: „Aber es ist wichtig!“
„Du hast ja keine Ahnung! Geh lieber nach Hause und verbarrikadier' dich, hoff' ein wenig auf dein Glück. Oder willst du dich lieber einziehen lassen?“ Wieder ließ er ein dröhnendes Lachen ertönen.
Ich war wie paralysiert. Der Erzfeind – hier? Und was war mit Fea? Kümmerte sich das Imperium denn gar nicht mehr um seine Bürger?
Bevor der Korporal seine scherzhafte Drohung wahr machen konnte, verließ ich die Repräsentanz wieder auf dem Weg, den ich gekommen war, und setzte mich in die nächste Bahn Richtung zu Hause.