Teil 6
Fea sprach sich dagegen aus, sich einem der zahlreichen Flüchtlingszüge anzuschließen, die sich langsam ihren Weg in vermeintlich sicherere Gebiete bahnten. Zum einen würden diese sich stets nur langsam bewegen können – Alte, Gebrechliche und Kinder kamen nicht schnell voran, und damit seien sie ein gefundenes Fressen für den Feind. Zum anderen würden sie sich geradewegs in eines der imperialen Auffanglager begeben, sicher weit weg von der Oberfläche und den oberen Schichten der Makropole. Und so reisten wir alleine. Ich hielt mich an Fea, auch wenn ich glaube, dass auch sie Angst verspürte.
Wechselseitig wachten wir übereinander, wenn wir rasteten, um uns ein bisschen Schlaf zu gönnen. Tatsächlich hielten wir nur selten an, die Furcht vor dem, was hinter uns lag, trieb uns an. Schnell gelangten wir an die Grenze unserer Kräfte, stete Wachsamkeit und Anspannung forderten ihren Tribut. Wir begannen, uns mit PEP wach zu halten. Der Weg geriet zu einem Aneinanderfügen surrealer Szenen und albtraumhafter Bilder, Schrecken und Ödnis reiten sich aneinander. Die Toten, die immer häufiger auf offener Straße lagen, hielten bald keinen Schrecken mehr für mich bereit. Ich stumpfte ab. Ich weiß nicht, was ich tatsächlich sah, und was mir mein vernebelter Geist nur vorgaukelte. Wir hasteten an Flüchtlingszügen vorbei, oft mehrere Hundert Seelen groß, deren leere Augen uns auf unserem Weg verfolgten. Wir entgingen oft nur knapp den Bürgerwehren, die sich überall bildeten, wo die Bewohner der Ebenen nicht fliehen wollten – meist waren diese Milizen wenig mehr als Schlägertrupps, die ihre radikale Auslegung der imperialen Doktrin mit Gewalt durchsetzten. Sie waren schlimmer als die Banden zuvor. Bei denen war man sich recht sicher gewesen, woran man war.
Der Beleuchtungsthythmus funktionierte zu großen Teilen nicht mehr. Manchmal wanderten wir stundenlang durch gleißend helles Licht, dass in den Augen stach und den Geist peinigte. An Schlaf war dort nicht zu denken. Zumeist waren die Lampen aber ausgefallen, und Dunkelheit hüllte uns sanft ein. Es schuf eine gespenstische Atmosphäre – nur manche der öffentlichen Bildschirme funktionierten noch und sendeten permanent Durchhalteparolen. Die meisten Wohnkomplexe lagen verlassen und tot dar; ab und an brachen wir in einen ein und ließen das mitgehen, was wir brauchten.
Die Posten, die sonst den Strom der Menschen in Richtung der Makropoloberfläche kontrollierten – Ebene um Ebene nach oben – waren unbesetzt. So war es auch zwischen der Vierzehnten und Dreizehnten. Nach Stunden, vielleicht Tagen ohne Schlaf wählten wir diesen Ort, um zu rasten: die imperialen Bollwerke, die Bunkern gleich hier angelegt waren, boten einen Schutz, der sonst nirgends gegeben war. Ob es Tag oder Nacht war, wusste ich längst nicht mehr.
Wir wählten unser Lager im Herzen des Grenzpostens in einem Raum, der einmal die Kommandantur gewesen sein mochte – es war schwierig zu sagen, weil die Armee alles – bis auf die kleinste Schraube, den nichtigsten Cogitator – mitgenommen hatten. Fea erklärte sich bereit, die erste Wache zu übernehmen, und so lag ich unter der groben Decke, die sie mir gegeben hatte, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ich hatte immer Probleme, Schlaf zu finden, so erschöpft ich auch war: die PEP-Kapseln ließen mich aufgekratzt und unruhig zurück. Ich holte meinen Glücksbringer hervor, dessen einer Flügel immer noch abgeknickt war. Irgendwie gefiel er mir so.
Das tapsende Geräusch von Schritten auf Beton ließ mich zur Seite blicken. Fea schälte sich aus der Dunkelheit. Wie ich wohl auch hatte sie tiefe Schatten unter den Augen. Ihre übliche schwarze Kleidung war zerknittert und fleckig, die Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. Wortlos trat sie an mich heran, legte sich einen Schritt weit von mir hin, beobachtete mich stumm. Ich fuhr mit nervös mit der Zunge über die Lippen, meine Handflächen waren plötzlich schweißnass. Ich wollte etwas sagen, doch mein Mund war ausgetrocknet – mit entfuhr nur ein Krächzen.
Fea ließ mich nicht aus den Augen. Als ich nichts weiter sagte, rutschte sie Stück um Stück näher an mich heran, schmiegte sich schließlich an mich. Ich verkrampfte, als sie die Arme um mich schlang, ein Zittern durchfuhr mich. War das nicht wider allem, was ich glaubte? War das nicht Verrat an mir selbst? Ich blickte Fea an, wie sie mich etwas ängstlich musterte. Alles war im freien Fall, im Untergang begriffen. Das Licht des Imperators schien fern wie nie. Was sollte das jetzt noch ändern?
Zaghaft und ungeschickt erwiderte ich die Umarmung, umschloss Fea mit meinen Armen. Es war ein sonderbares Gefühl, sie so zu berühren. Vorsichtig, ganz sachte küsste sie mich, kaum ein flüchtiger Hauch erst; dann bestimmter, fordernder, drängender, eng an mich gepresst. Als ich ihr erst die Kapuzenjacke abstreifte, dann das T-Shirt, die Hose, den BH öffnete und sie es mir gleich tat, kam ich mir schrecklich unbeholfen vor.
„Orodi!“, brachte Fea unter beinahe mädchenhaftem Kichern hervor, als ich zum wiederholten Male am Verschluss abrutschte. Als sie schließlich unverhüllt vor mir lag, war ich verschwitzt, als wäre ich über Meilen gerannt, das pochende Herz in der Brust beinahe zerspringend. Mein Atem ging nur noch keuchend, stoßweise; Fea schien es ähnlich zu gehen. Ich sah sie das erste Mal so vor mir, der eigenen Nacktheit bewusst: die Tätowierung, die sich über ihren gesamten rechten Arm, die Schulter und den halben Rücken streckte. Ich fuhr die Linien mit den Fingern nach. Die geschwungene Linie ihres Beckens, die aufgerichteten Brustknospen, das dunkle Dreieck zwischen ihren Schenkeln – sie war wunderschön. Als sie sich zu mir herab beugte, schnappte ich nach Luft.
Mir war in dieser Nacht der geruhsamste Schlaf seit Langem vergönnt.
Als ich am nächsten Morgen – zumindest nenne ich ihn so, es war Dunkel wie eh und je – schläfrig die Augen öffnete, blickte ich in den Lauf einer Laserpistole. Schlagartig wurde ich wach. Warm an mich geschmiegt regte sich auch Fea unruhig, brummte etwas.
Ich blickte die Pistole entlang, sah eine kräftige Hand, einen behaarten Arm, einen kurzärmligen Ledermantel, ein grobes Gesicht. Ich versuchte vergeblich zu schlucken. Ein Plünderer, Deserteur vielleicht oder Überbleibsel einer der Banden. Kein Mitglied der Bürgerwehren – bei dem Anblick, den sie beide boten, wären sie schon längst tot gewesen.
„Keine Mätzchen, verstanden?“, blaffte mich der Mann an. „Und sag das auch deiner... Geliebten“ - ein anzügliches Grinsen umspielte seine Lippen - „sonst habt ihr schneller ein Loch im Kopf, als euch lieb sein kann.“
Auch Fea schien mit einem Mal wach zu sein. Wachsam taxierte sie unseren Gegenüber.
„Seht ihr“, fuhr der Mann fort, „es ist eigentlich ganz einfach. Ich hab' euch noch nicht umgelegt, weil frisches Fleisch rar geworden ist. Macht also keine Scherereien, und mit ein bisschen Glück kommt ihr mit dem Leben davon.“
Ich war mir sicher, dass er log, kaum dass er es ausgesprochen hatte. Lag es an dem verschlagenen Ausdruck in seinem Gesicht, oder bildete ich ihn mir nur ein? War es ein generelles Misstrauen, dass in den letzten Monaten in mir herangewachsen war? Vielleicht wusste ich auch einfach, dass das, was er sagte, nicht stimmen konnte. Er wollte uns benutzen und wegwerfen.
„Aufstehen!“, bedeutete er mit, mit der Waffe eine entsprechende Geste machend. Zitternd erhob ich mich, den Blick wie gebannt auf die Pistole gerichtet. Ich wollte seinem Befehl nicht Folge leisten, doch etwas in mir zwang mich dazu – vermutlich die Resthoffnung, irgendwie lebend hier herauszukommen. Ich versuchte, meine Blöße zu bedecken. Ich schämte mich vor ihm für meine Nacktheit. Er grinste breit, öffnete mit einer Hand den Verschluss seine Gürtels, zog die Hose halb herunter.
Mit beängstigender Geschwindigkeit schnellte Fea hoch. Ehe sich der Mann auch nur zu ihr umgewandt hatte, stand sie neben ihm, rammte ihm erst ihr Knie in den Schritt und dann, als er einknickte, den Ellbogen an die Schläfe. Als er, Überraschung im Gesicht, wegknickte, löste sich ein Schuss, der jedoch harmlos einen Brandfleck an der Decke hinterließ. Der Mann prallte auf dem Boden auf, die Waffe fiel aus seiner schlaffen Hand. Fea bückte sich, hob die Pistole auf und feuerte drei präzise Schüsse in seinen Kopf. Er zuckte noch einmal, dann bewegte er sich nicht mehr. Unwirkliche Ruhe legte sich wieder auf den Grenzposten, während Fea schon begann, sich wieder einzukleiden. Noch immer stand ich nackt, wie gelähmt dar, auf das Blut starrend, dass sich langsam um den Leichnam ausbreitete. Ich hatte gerade Fea einen Menschen töten sehen, und es sah geübter aus, als mir lieb war. Wer war sie wirklich? Warum hatte ich bei ihren Gelegenheitsarbeiten... - ich unterbrach mich in Gedanken selber. Genug der elenden Fragerei, die mich immer nur weiter im Kreis herumführte. Fea war Fea, das genügte mir vollkommen.
Sie warf sich die Jacke über, hing sich die Jacke um. „Komm schon“, trieb sie mich an. „Lass uns hier verschwinden.“
Seit der Nacht im Grenzposten waren Fea und ich uns auf eine Art und Weise näher gekommen, die man kaum in Worte fassen kann. Es ist grenzenloses Vertrauen, eine tiefe Verbundenheit, die zwischen uns herrscht. Es ist schön. Es kribbelt tief unter der Haut, wenn sie in der Nähe ist, es ist wie ein Lachen, das man ständig in sich herumträgt. Ich mag Worte – man kann sie wie Kunst formen – aber wie ich bereits erwähnte, reichen sie hier einfach nicht aus.
Wir wichen die folgenden Tage zur Sicherheit auf die Wartungsgänge aus, die, parallel zu den Hauptverkehrsachsen, ebenfalls stetig nach oben führten. Es sind düstere, beengte Tunnel voller Kabel und Rohre, oft in diffus von kleinen Lampen an den Seiten beleuchtet. Ich fühlte, ich fühle mich so frei wie selten. Gang um Gang scheint sich zu gleichen, doch ich bin unbeschwert. Dann taucht sie plötzlich vor uns auf: eine Luke aus mehreren Schichten Durastahl, in unstetes, flackerndes Licht getaucht. Vermutlich geht selbst hier, soweit oben, die Stromversorgung langsam vor die Hunde.
So schließt sich der Kreis aus Vergangenheit und Gegenwart. Blickt man zurück, sieht man die einzelnen Ereignisse klar und deutlich, die uns hierhin geführt haben. Wir sind so weit gekommen. Ich tausche einen Blick mit Fea. Ich glaube, dass das, was ich fühle, wenn ich sie sehe, Liebe ist. Sie drückt auf den Taster vor der Tür, und langsam fahren die einzelnen Schichten zur Seite, werden in der Wand versenkt. Helles Licht flutet den Gang, und wir treten hinaus.