3.) Warten
18 Tage vorher, 2. Tag der Mission „Linden“
- „Wenn schon ein guter General Gold wert ist, dann ist ein guter Truppführer so wertvoll, wie alle Schätze der Galaxis zusammen.“
Generalfeldmarschall Ullrich von Horn
aus: Überlegungen zur imperialen Garde, Absatz XIV
- „Alles am Soldatentum ist eine Belastung. Man trägt Kleidung, die man sich nicht selbst ausgesucht hat, man befindet sich in Situationen, in die man nie geraten wollte und man reagiert, wie es einem eingetrichtert wurde. Soldaten sind dazu bestimmt dieses Bürde zu tragen, damit diejenigen hinter den Linien die Freiheiten genießen, die man selbst zu ihrem Schutz aufgeben musste.“
Generalfeldmarschall Ullrich von Horn
aus: Überlegungen zur imperialen Garde, Absatz XIX
Es war eine weitere mondlose, bitterkalte Nacht. Scaevola hielt den Becher mit heißem Tee fest umklammert. Die linke Hand war immer noch bandagiert, das Andenken an seine gestrige Konfrontation mit dem Ork. Auch der Rest seines Körpers war gezeichnet von den Blessuren seines Handgemenges mit den Grünhäuten. Ein Sanitäter hatte einige Zeit damit verbracht, an ihm herumzuwerken. Angesichts seiner Wehwehchen musste er aber betrübt feststellen, dass es andere schlimmer erwischt hatte. Obwohl die Operation ein voller Erfolg und das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gewesen waren, musste die Kompanie vierzehn Tote und zwanzig Verwundete hinnehmen. Da war es nur ein schwacher Trost, dass der Gegner vollständig vernichtet worden war, über einhundertvierzig Orks. Es waren diese Verluste, die einem Offizier letztendlich zu Herzen gingen. Für die hohen Kommandanten und Taktiker des Officio waren es nur Zahlen auf einem Stück Papier. Es waren sogar vergleichsweise niedrige Zahlen, angesichts des großen Ganzen. Doch für die Truppkommandanten oder Befehlshaber der Kompanien waren sie mit Gesichtern von Freunden und Kameraden verbunden, die einen in schlaflosen Nächten vor dem geistigen Auge haften blieben. Und Leutnant Scaevola hatte schon zu viele solche Nächte erlebt, um sich noch der vagen Hoffnung hinzugeben, dass sie eines Tages vergehen würden.
Auch das östliche Ufer war von den dort befindlichen Orks gesäubert worden. Der Angriff der restlichen Kompanien seines Regimentes, unterstützt von den Panzern des dritten, sowie den Soldaten des achten Autrianischen, war wie der buchstäbliche Zorn des Imperators durch die feindlichen Linien gefegt. Dennoch war es den Grünhäuten gelungen, im Osten einen Brückenkopf zu bilden. Dementsprechend heftiger war dort das Gefecht verlaufen, während Scaevola und seine Männer zum hilflosen Zusehen am anderen Ufer verdammt gewesen waren.
Das Oberkommando des Regiments sprach von etlichen Toten und hunderten Verletzten. Ein Zug Leman Russ, der Stolz der imperialen Panzertruppe, war im Häuserkampf am anderen Ufer vollständig vernichtet worden. All dies waren bedauerliche Tatsachen, die Sceavolas Herz schwer werden ließen. Viele gute Männer hatten heute ihr Leben für diese Brücke gelassen. Da war es nur ein schwacher Trost, dass sie dieses heißumkämpfte Objekt intakt erobert hatten. Während seiner unbedachten Frontalattacke hatte es Sergeant Gallas mit seinen Leuten ins Kommandogebäude geschafft. Sie konnten gerade noch verhindern, dass ein Ork die Sprengladungen zündete. Gallas hatte einen kühlen Kopf bewahrt und wie ein umsichtiger Anführer gehandelt. Ganz im Gegensatz zu ihm selbst, musste sich Scaevola eingestehen. Um ehrlich zu sein, er war erledigt, total ausgebrannt. Nur noch eine leere Hülle, die nur durch die Uniform daran gehindert wurde, beim nächsten Windhauch zerfallen würde.
Sogar Gallas Einsatz stellte sich später als eine unnötige Aktion heraus. Bereits zu Anfang des Gefechts hatte sich der zwölfte Trupp zur Brückenunterseite begeben und die Drähte zu den Sprengladungen gekappt. Die Mission war also zu keinem Zeitpunkt wirklich in Gefahr gewesen.
Ironie des Krieges.
Grausame Ironie des Krieges.
Nachher ist man immer klüger, dachte Scaevola, während er Richtung Brücke blickte. Dort waren Pioniereinheiten dabei, die brennenden Wracks ins Wasser zu stoßen und die orkischen gegen eigene Sprengladungen einzutauschen.
Er wandte sich um, als er angeredet wurde. Hinter ihm stand sein Stellvertreter, Unteroffizier Karl Belisar. Belisar war ein große, sehnige Gestalt, der langsam auf die Fünfzig zuging. Er strahlte eine Härte und Unnahbarkeit aus, die von seiner rauen Stimme, sowie den harten, markanten Gesichtszügen, die wie aus Granit gemeißelt wirkten, nur noch mehr unterstrichen wurde. Seine blauen Augen waren so eiskalt wie ein Gletschergebirge und so durchdringend, als könnten sie durch einen direkt hindurch in das Herz blicken. Belisar war erst kürzlich seiner Einheit als ranghöchster Unteroffizier zugeteilt worden, doch sein Ruf war ihm bereits vorausgeeilt. In Friedenszeiten hätte er um einen anderen Stellvertreter angesucht, vielleicht hätte er sogar Gallas dazu befördert. Doch er wusste, dass es im Krieg andere Spielregeln gab.
Scaevola beantwortete die Frage seines Stellvertreters.
„Ich habe unsere Einheit auf Stellungen nördlich der Brücke verteilt, Sergeant Hartrand bildet den rechten, und Sergeant Spesers Trupp die linke Flanke. Bei Speser haben wir den Kontakt zur 1. Kompanie, die den südöstlichen Teil abdeckt. Die erste Linie befindet sich 200 Meter vor uns.“
Insgesamt waren es zwei Halbkreise, die das Objekt sicherten. Den ganzen Tag hatten die Männer seiner Kompanie in der unbarmherzigen Sonne geschuftet, um diese zwei Stellungen zu errichten. Manche Offiziere hätten nur eine Stellung graben lassen. In vielen Regimentern der imperialen Armee war es Überzeugung, dass die Soldaten besser kämpften, wenn sie keine Hoffnung auf Rückzug verschwenden konnten. Scaevola war da anderer Ansicht. Die zweite, rückwärtige Stellung war ihre Rückfalllinie, sollte die Erste nicht mehr gehalten werden. Es war auch nicht die autrianische Art, sogar dem legendären Ulrich von Horn sagte man nach, dass er seine Soldaten nicht nur als entbehrliches Material gesehen hatte. Ein Blick ins Belisars gefühlskaltes Gesicht zeigte Scaevola, dass nicht alle Landsleute so viele Skrupel hatten, wie der verehrte Generalfeldmarschall.
„Herr Leutnant, ich hätte da noch einen Punkt zu besprechen.“
„Ja“, Scaevola merkte, wie er sich innerlich verkrampfte. Die Gegenwart von Belisar war ihm sichtlich unangenehm.
„Ich denke nicht, dass der Kommandant der Kompanie so offensichtlich den Tod suchen sollte, wie sie es heute getan haben.“
Scaevola wusste, dass sein Gegenüber Recht hatte, doch er wollte dem „Schwein“ diese Befriedigung auf keinen Fall gönnen.
„Wenn wir schon unverantwortlichem Handeln reden“, sagte er mit einem Tonfall, der nur mühsam die dahinter aufgestaute Flut an Aggression aufhalten konnte, „sollten wir über Stellvertreter reden, die mit einem Raketenwerfer eine One - man Show abziehen.“
„Ich habe nur mit einer Distanzwaffe den Feind ausgeschalten, wie der Rest unserer Kompanie es auch getan hätte, Herr Leutnant.“
Für Scaevola klang die Erwähnung seines Ranges nicht wie eine Ehrenbezeichnung, sondern mehr wie eine Verhöhnung. Er wollte gerade seine Antwort herausschleudern, als Funker Horsik hereinplatzte.
„Nachricht vom Boss! Herr Leutnant, er will den Status wissen.“ Horsik erschrak, als er Belisar erblickte, den er erst jetzt bemerkte. Dieser wandte sich dem Funker zu.
„Funker Horsik, für diese Bemerkung werden Sie drei Tage Strafdienst ableisten!“
„Befehl missachten, Horsik. Es sei denn, Sie wollen auch Major Klever zur Strafabteilung versetzen!“ Einen Moment lang trafen sich die Blicke der beiden höchsten Offizier wie gekreuzte Klingen. Dann schien, zu Sceavolas Überraschung, Belisar nachzugeben.
„Jawohl, Herr Leutnant“, sagte Belisar, und verabschiedete sich mit einem zackigen militärischen Gruß.
Zumindest die Hackordnung hält er ein, dachte sich Scaevola. Er rieb sich gedankenverloren die Nase und berührte die Stelle, wo die Bruchstelle schon längst wieder verheilt war. Dann ging er mit dem Funker im Schlepptau zur Kom-Station, um seinem Vorgesetzten Kommandanten Montecuccoli Bericht zu erstatten.
Scaevola saß an der Uferböschung und beobachtete den träge vor sich hin fließenden Fluss. Er hatte noch seine Meldung an Montecuccoli geschickt, bevor er es nicht mehr im Unterstand ausgehalten hatte. Seine Gefühle fuhren gerade mit ihm Achterbahn, die immer wiederkehrenden Aufwallungen von Zorn waren schwer zu bewältigen. Er wollte losbrüllen, doch ihm war klar, dass sich seine Männer nur zwanzig Meter entfernt aufhielten. Als Offizier musste er seinen Leuten ein Vorbild sein. Sein Streit mit Bellisarius würde schon für genug Furore in der kompanieinternen Klatschszene sorgen. Was dies anging, waren Soldaten mit Waschweibern vergleichbar, die sich jeden Tag auf dem Marktplatz trafen. Die Geschwindigkeit wie sich selbst die scheinbar geheimsten Meldungen verbreiteten, war ein weiterer Beweis dafür. Wie hatte Horsik bloß von Major Klevers „Ehrenbezeichnung“ für den General erfahren? Im Zelt waren nur vier Personen gewesen, und Scaevola zweifelte, dass Fogler und Montecuccoli damit prahlend die Runde gemacht hatten. Eigentlich hatte Belisar Recht gehabt, als er den Funker für dessen Insubordination maßregeln wollte. Immerhin hatte sich sogar Belisar bei ihrem Streit an die militärischen Verhaltensregeln gehalten.
Im Nachhinein musste Scaevola zugeben, dass sein Stellvertreter in allen Punkten richtig gelegen war. Eine Erkenntnis, die ihn über die Maßen frustrierte. Er hatte das Alles so satt! Er hasste den Ort, wo er sich gerade befand, er hasste, was aus ihm geworden war. Ein Teil von ihm hatte es sichtlich genossen, als er den Ork mit seinem Energiesäbel getötet hatte. Aber da war noch mehr. Er erschrak, als er erkannte, dass es nichts mehr in ihm gab, dass Skrupel hatte, ein lebendes Wesen zu töten. Dieser Aspekt seiner Seele war in den letzten Jahren, bei jedem getöteten Gegner, immer kleiner geworden. Nun war er endgültig verschwunden, sein Gewissen war in dieser scheinbar völlig abgestumpft. Vielleicht klang dies seltsam für einen Soldaten, dessen Aufgabe es ja gerade war die Feinde des Imperators zu dienen. Aber Scaevola hatte diesen Weg nicht freiwillig gewählt. Er war ein Gefangener in einem System, das er zutiefst verachtete. Selbst sein Status als Offizier und Kommandant einer Kompanie konnte diesem Zustand nur wenig Abhilfe verschaffen.
Er hoffte, dass die imperiale Armee nun zufrieden mit ihm war. Sie hatten nun endlich die perfekte Killermaschine, die nach Abzug seiner Menschlichkeit geblieben war.
Es war ein langer Prozess, dachte Scaevola bitter. Begonnen hatte er bei seiner Grundausbildung auf Nova Autria. Er war einberufen, einer der Zehner-Männer, wie der Rekrutierungsvorgang in der Umgangssprache seines Planeten hieß. Er war glücklich auf der Universitas gewesen, wo er sich in die Bücher längst vergangener Epochen hatte vertiefen konnte. Von seinem Traum hatten ihn die Umstände jedoch in einen Alptraum befördert. Sein Ausbilder, als er noch ein einfacher Infanterist gewesen war, war berühmt-berüchtigt gewesen. Sein Ruf hatte sich auch außerhalb der militärischen Welt einen Namen gemacht, es hieß, dass damit Mütter ihre Kinder zum Gehorsam brachten.
Es war wirklich eine Drohung, bei ihm zu landen, erinnerte sich Scaevola. Militärische Übungen, endlose Märsche und ungezählte Inspektionen, Ruhe gab es nur in der Schlafenszeit, und manchmal nicht mal dort. Strafen wegen Fehler waren im Minutentakt verhängt worden. Scaevola hatte mehr als einmal erlebt, dass Männer unter der psychischen und physischen Belastung zusammengebrochen worden waren. Sie wurden zum Lazarett gebracht, manche kehrten nicht wieder. Skalps nannte man die frischen Rekruten im internen Fachjargon der imperialen Armee. Nutzlos, nicht mehr wert als die Uniform, die sie auf dem Leib trugen. Skalps, und die Ausbilder rühmten sich förmlich damit, wer mehr Trophäen auf dem imaginären Gürtel namens Ruf trug. Einer überragte sie Alle, und dieser Mann war ausgerechnet Scaevolas Ausbilder gewesen.
Aber Scaevola hatte seine Chance zur Rache bekommen. Bei einer Nahkampfübung war er seinem Ausbilder persönlich gegenüber gestanden. Das Training war sehr schnell ausgeartet. Die Folge war ein mehrtägiger Spitalsaufenthalt gewesen. Aber auch sein Kontrahent war nicht so schnell aus dem Krankenhaus entlassen worden, wie sich Scaevola mit einem befriedigenden Lächeln erinnerte. Er strich sich wieder über die Nase und berührte den Punkt, wo der Bruch längst verheilt war. Das letzte verbliebene Andenken an dieses Ereignis. War dies damals der Anfang seiner Transformation gewesen? Er hatte auf seinen am Boden liegenden Gegner eingedroschen, selbst als diesem das Blut in Strömen aus dem Mund gelaufen war. Kein Skrupel, keine Reue, letzten Endes keine Menschlichkeit.
Ihm ging auf, dass er schon zuviel gesehen und erlebt hatte. Er vermisste seine Familie, die Lichtjahre entfernt waren, seine alten Freunde und Kameraden, die er nicht mehr sehen konnte. Mit einem Stich im Herzen erblickte er im Geiste wieder die Gesichter, als er sich ihre Namen in Erinnerung rief. Beim Anblick eines blonden jungen Mannes mit strahlend blauen Augen, brannte sich dessen Name in sein Innerstes. RICHARD LOHNER, einer seiner ältesten Freunde, schon seit Schulzeiten und dann noch in der Grundausbildung. Sie hatten zusammen ein Team gebildet, ein Band untrennbarer Freundschaft war zwischen ihnen gewoben. Richard war die letzte Verbindung an eine verloren gegangene Welt der Freude und Menschlichkeit gewesen. Er vermisste solche Freunde, denen er sich in solchen Momenten hätte öffnen können. Scaevola verfluchte in einem Anflug von Wut sein Schicksal. Er hätte genauso gut eine Familie auf Nova Autria gründen können, wie sein Vater. Doch im selben Moment wischte er diesen Wunsch beiseite, im Wissen das es nur ein fantastischer Traum war. Das Zehnermannsystem verpflichtete seine Familie gerade dazu, einen Sohn für die Armee abzustellen. Er hatte schweren Herzens seine Pflicht getan, um seine jüngeren Brüder zu schützen.
Außerdem war auch zuviel vorgefallen, als dass er einfach in sein altes Leben zurückkehren konnte. Erinnerungen an vergangene Zeiten fielen über ihn her, und ließen die Last seines Herzens nur noch schwerer werden.
Scaevola wusste, dass er sich den ungelösten Problemen seiner Vergangenheit noch nicht stellen konnte. Es galt nun, sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Er beruhigte den Sturm in seinen Gedanken, indem er sich nur auf seine Atmung konzentrierte. Außerdem hatte er als erfahrener Krieger noch ein paar Tricks im Ärmel. Seine Hand griff an die rechte Brusttasche und schob die Datentafel weg, um das dahinter liegende Objekt zu fassen. Er beförderte es hinaus und fasste das folierte Ende mit den Daumen und Zeigefingern seiner beiden Hände. Mit einer kleinen Kraftanstrengung zerriss er die Verpackung und förderte den kompakten Riegel zutage.
Schokolade!
Der Leutnant genoss den köstlichen Geschmack, als der erste Bissen in seinem Mund zu zerrinnen begann. Scaevola bemerkte, wie sich langsam seine Stimmung besserte. Auch, wenn er das Geheimnis dahinter kannte. Die Süßigkeit enthielt Unmengen an Botenstoffen, die die Nervenrezeptoren zur Bildung der glückbringenden Endorphine stimulierten. Es war ein offenes Geheimnis, dass es diese Kleinigkeiten waren, die einen wesentlichen Beitrag zur Moral der Garde leisteten. Warme Essen, trockene Kleidung, ein Dach über dem Kopf, und Unmengen an Schokolade. Jeder neue Bissen förderte neue Hormonschübe in ihm.
Jetzt fehlt nur noch ein Schluck heißen Tees.
Den Becher hatte er allerdings im Unterstand gelassen, erinnerte er sich. Scaevola schwang sich auf die Beine und schlenderte zu seinen Leuten, während er sich das letzte Stück in den Mund schob.