Hast ja Recht. Komme zur Zeit nicht so gut voran, weil ich noch ein anderes Projekt nebenher bediene. Wenn ihr wollte, dass ich mehr schreibe, dann lasst mir hin und wieder Feedback da.
Tut mir Leid, Jungs
🙂
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Kapitel 5
Die Fahrt war schnell und hektisch. Anton wurde durchgeschüttelt aber die Schmerzen hielten sich in Grenzen. Hauptsächlich, weil Vasili aus einer kleinen, abgeschabten, olivgrünen Tasche ein paar Schmerztabletten heraus gekramt hatte. Die hatten Anton benommen gemacht, aber wenigstens war er jetzt wieder fähig die Augen offen zu halten.
Die Soldaten starrten aufmerksam aus den Fenstern, bereit, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr tätig zu werden, aber nur einmal auf dem Weg von Domborn zur Stadtgrenze von München mussten sie tatsächlich anhalten. Ein zitternder Polizist in einer fleckigen und zerknitterten Uniform hatte vor einer brennenden Fahrzeugsperre gestanden, seine Dienstwaffe fest in der Faust während um ihn herum die Hitze der Feuer Leichen zum dampfen brachte. Ganz allein hatte er da gestanden, von den Gewehren von Vasilis Soldaten in Schach gehalten während er seine Waffe langsam gehoben hatte. Immer höher war sie gewandert während Vasili ihn immer wieder ermahnt hatte sich nicht zu bewegen. 'Leg die Waffe weg, Mann. Komm schon.', hatte er immer wieder gesagt.
Dann, als der Lauf schon fast auf ihr Fahrzeug zeigte, hatten sie den Polizisten mit einem kurzen Feuerstoß in die Brust getötet.
Töten, oder getötet werden. Dann waren sie einfach weiter gefahren.
Ihr Ziel, das ehemalige Versorgungszentrum der Bundeswehr in München, war eine stacheldrahtstarrende Trutzburg mit Sandsäcken in den Fensteröffnungen im Erdgeschoss und an den Seiteneingängen. Vorgelagerte Verteidigungsstellungen waren in aller Hast aufgebaut und schon wieder geschleift worden. Tote stapelten sich an den Rändern des Platzes und an den Sandsackstellungen.
Es handelte sich um eine alte Kasernenalage, massiv aus Sandstein gebaut und hier und dort mit gläsernen Anbauten versehen. Eine moderne Trutzburg aus dem Beginn des 20ten Jahrhunderts.
Anton konnte im Vorbeifahren in den Seitenstraße vor dem Gebäude Schatten sehen, die sich in den Schatten der Häuser herum drückten. Die meisten liefen aufrecht, aber lang nicht alle. Und die Wesen, die auf allen Vieren durch den Unrat krochen waren keine Tiere. Es waren verdrehte und verkrüppelte Menschen, die unter dem Druck monströser Kräfte gebrochen worden waren.
Sie fuhren nicht durch das Tor, denn es war verschlossen, und als sie ihre vier Fahrzeuge abgestellt hatten stieg der Hauptgefreite Klein aus, durchmaß mit schnellen Schritten den Weg bis zum Tor und schlug mit seiner geballten Faust dagegen. Das Tor war massiv gebaut – altes, eisenhartes Holz – und während Klein seinen Gewehrkolben beim Klopfen zur Hilfe nahm betrachtete Anton die ihre Kolonne.
Klein und übersichtlich erschien ihm der Tross. Zwar waren alle vier Fahrzeuge dabei, doch waren die Jeeps nur mit jeweils zwei Mann besetzt und die beiden größeren Fahrzeuge waren kaum stärker aufgestellt. Da fehlten doch ein paar Soldaten, oder irrte er sich?
Doch er am nicht dazu, zu fragen, denn in diesem Moment öffnete sich eine Luke in der Tür, und nach einem kurzen Wortwechsel wurde das Tor schleifend und schabend aufgezogen.
Der Soldat, der ihnen geöffnet hatte, war hager und bärtig. Eindeutig zu ungepflegt für einen Soldaten, wunderte sich Anton. Angesichts der vergangenen Tage war das aber nicht überraschend.
Vasili, der vor ihm auf dem Beifahrersitz des VW-Bus saß, hatte den Soldaten jetzt auch gesehen und stieß einen überraschten, aber eindeutig erfreuten Laut aus. Dann saß Klein wieder im vorderen Jeep und sie fuhren auf den Innenhof.
Der Bärtige musterte die Fahrzeuge eines nach dem anderen mit einem eisenharten Blick. Er blinzelte, als er Vasili sah, und dann waren sie schon an ihm vorbei gefahren. Sein überraschtes Lachen begleitete sie bis vor den Haupteingang an der linken Seite des Innenhofes.
Eine Barrikade aus Sandsäcken war hier aufgebaut, ein lafettiertes MG überblickte den Hof und mitten auf dem Platz waren, im Abstand von einem dutzend Metern, zwei gepanzerte Fahrzeuge abgestellt. Auch auf ihnen waren jeweils Maschinengewehre montiert – auf dem einen Eines, und auf dem anderen Fahrzeug Zwei. Die Fensteröffnungen zum Innenhof waren frei von Sandsäcken, doch man hatte nahe des Tores mehrere Rollen NATO-Draht bereit gelegt und beidseitig, mehrere Meter vom Tor entfernt, Schützenstände errichtet, aus denen in einem spitzen Winkel den Bereich des Tores beschießen konnte, ohne, dass sich die Schützen gegenseitig gefährdeten.
Seit vielen Stunden fühlte sich Anton wieder sicher, aber ein unbestimmtes Unbehagen beschlich ihn.
Das alles machte den Eindruck von vielen Händen geschaffen worden zu sein. Viel mehr Händen als Anton sehen konnte und als er den Blick schweifen lies fielen ihm unweigerlich die vielen abgedeckten Körper auf, die in einer schattigen Ecke des Innenhofes abgelegt waren.
Anna drückte sich an ihn und er verzog kurz das Gesicht, als sie seine schmerzende Seite berührte, doch dann zog er sie an sich.
Was war nur mit der Welt los?
Dieser Irrsinn, war das noch natürlich?
War die Menschheit so überreizt durch ihre eigene Fülle von Individuen oder durch eine verquere Wahrnehmung der Welt? Waren Menschen am Ende doch nur eine über-intellektuelle Spezies Tier, die sich jetzt und hier selbst bekämpfte weil sie sich selbst zu viel geworden war?
Grassierte eine Krankheit? Der berühmte Zombievirus, über den so viele Filme gedreht und Bücher geschrieben worden waren?
War das die Apokalypse, wie sie von so vielen Zynikern und Nerds herbeigesehnt worden war? Jene Menschen die jetzt auf den Straßen verrotteten oder, mehr Tier als Mensch, durch die Straßen Münchens schlichen?
War das das Ende der Menschheit? Konnte sich ein Volk, ein System, eine Zvilisation von so etwas erholen?
Anton schauderte und sein Schädel begann wieder zu pochen. Er fühlte sich klein, und unbedeutend und so vollkommen und unbegreiflich nutzlos.
Das System in dem er aufgewachsen, und das ewig und unerschütterlich erschienen war, es brach vor seinen Augen auseinander.
Er atmete tief durch während sich die Welt zu drehen begann und seine Augen sich mit bitteren Tränen füllten.
Einatmen.
Ausatmen.
Einatmen.
Auuuuusatmen.
Er drängte die Gefühle zurück, während er sich an Anna klammerte. Dann war es vorbei. Fürs Erste.
Er schüttelte sich. Denn immer war er der Fels in der Brandung gewesen. Der ruhende Pol, der seinen Freunden und seiner Familie eine Stütze war. Dass er sich selbst jetzt so schwach erschien machte ihm Angst. Wie sollte er seine Freunde und Familie beschützen?
Seine Freunde? Also Seymon.
Seine Familie? Anna.
Mehr war nicht geblieben.
Anton drehte sich der Magen um und er kurbelte das Fenster runter, just in dem Moment als ihre Kolonne zum Stillstand kam.
Vasili war noch auf den letzten Metern aus dem noch langsam rollenden Fahrzeug gestiegen und erstattete jetzt einem Uniformträger Bericht.
Der Mann sah wichtig, aber ausgezehrt und erschöpft aus. Förmlich hörte dieser den Bericht von Vasili an, doch er unterbrach ihn bald und erteilte einige Kommandos. Während die Soldaten absaßen und Ausrüstung aus den Fahrzeugen luden, nahm Anna seine Hand und während ein junger Soldat, ein Gefreiter, sich erbot ihnen den Weg zu einem Schlafsaal zu weisen, sah Anton sich nur müde um.
Förmlich sah alles hier aus. Und alt. Diese Einrichtung der Bundeswehr strahle den unangenehmen Stolz einer Institution aus, die mit dem auskommen musste, was seit Jahren vorhanden war und nicht mehr erneuert werden konnte. Eine Behörde mit zu wenig Geld um würdig zu überleben, und gerade genug um nicht zu sterben.
Schon als sie den langen Gang hinter dem Hauptportal betraten bemerkten sie die Geräusche. Wie aus großer Ferne, oder tief unter der Erde, drang es an ihre Ohren. Animalisch und unangenehmen. Eine Vermischung von Schreien und Knurren, Poltern und Kreischen, Weinen und Singen.
Vor ihnen bewegte der Gefreite unruhig die Schultern und knackte mit seinen Fingerknöcheln. Also bildete sich Anton die Geräusche nicht nur ein.
„Was … ist das?“, fragte Anna leise, und als sie keine Antwort bekam noch einmal, „Was sind das für Geräusche?“.
Der junge Mann vor ihnen ging noch ein paar Schritte weiter, doch dann blieb er stehen und sah sie gequält an. Sein ganzes Gesicht und seine Haltung spiegelten Angst und Verzweiflung wieder. So stark waren diese Ausdrücke an ihm, dass Anton sie förmlich auf der Zunge schmecken konnte, hier, in diesem nach altem Staub riechenden Korridor.
„Es sind die Anderen.“, sagte er leise und blickte zu Boden, unfähig ihnen in die Augen zu sehen.
„Die anderen …?“, Anna erstarrte an seiner Seite. Vermutlich gingen ihr die Selben grauenvollen Vorstellungen durch den Kopf wie Anton.
„Wer..“, sie schluckte schwer, „... wer sind, die Anderen?“.
Anton merkte an der Art wie sie zögerte, dass sie die Frage in dem Moment bereute, in der sie sie stellte. Sie sollte überhaupt keine Antwort. Und Anton wollte sie auch nicht. Aber der Stein war ins Rollen gebracht worden und der junge Soldat sah unsicher zu ihnen auf, bevor sein Blick unstet und geisterhaft über die kaum vorhandene Einrichtung zitterte.
„Es sind die, die wir verloren haben.“, Anton konnte ihn kaum verstehen, so leise hatte er den Satz gehaucht.
„Die, die nicht mehr sie selbst sind, weil sie ...“, er brach ab, drehte sich ruckartig um und ging deutlich schneller weiter ohne seinen Satz zu beenden. Und das musste er auch nicht.
Während sie ihm folgten stiegen in Antons Geist Bilder auf und verloren sich wieder, als sie einander ablösten: Ben Keller und all die verlorenen Seelen im Sinners, Kai Moorbach und der Mob in Domborn – seine eigene Mutter! Antons Herz schien fast zu zerreißen – und Seymon mit einem abgerissenen Arm im Schoß.
Doch Seymon war nicht verloren.
Er war wieder zurück gekommen.
Anton stand jetzt mitten im Flur und bemerkte gar nicht, dass Anna an seiner Hand zog und leise auf ihn einredete.
Seymon! Und Ben Keller, der ihn kurz so überraschend klar angesehen hatte! Und seine Mutter, die verstanden hatte was passiert war, bevor ihr Herz stehen geblieben war!
Warum was das passiert? Warum wurde die ganze Welt wahnsinnig, doch in seiner Nähe gelang es den Menschen sich an den letzten Rest ihrer Menschlichkeit zu klammern? Oder ihn wieder zu finden?
Er musste verrückt geworden sein. Das konnte nichts mit ihm zu tun haben. Glück! Einfach nur das!
Als er den Blick hob konnte er den jungen Gefreiten sehen, der ihn mit einem seltsamen Blick ansah, ganz so als erwarte er, dass Anton sich vor seinen Augen in einen rasenden Irren verwandeln würde. Langsam kroch die Hand des Jungen zu dessen Pistolenholster an der Hüfte, doch Anton beachtete ihn nicht.
„Bring mich zu den Anderen.“, seine Stimme klang streng und ungewohnt in seinen eigenen Ohren.
„Welchen Anderen?“, fragte der Junge vorsichtig. Anton entging nicht, dass dieser verstohlen den sichernden Knopf an seinem Pistolenholster öffnete.
„Den 'Verlorenen', deinen Kameraden. Bring mich jetzt zu ihnen!“, er durchbohrte den Gefreiten mit seinen Blicken als sich eine andere Stimme einmischte. Es war Vasili, der hinter ihnen den Flur entlang kam, dicht gefolgt von Seymon und einer Handvoll seiner Soldaten.
„Tun Sie es, Gefreiter!“, raunzte er, „Und nehmen sie die Hand von der Waffe! Das ist ein Befehl!“.
Anton wusste selbst nicht, was passieren sollte, wenn er jetzt Kontakt mit den verrückt gewordenen Soldaten haben würde. Ob überhaupt etwas passieren würde. Er war sich nur sicher, dass etwas passieren würde.
Mittlerweile war seine kurz gewonnene Courage wieder verschwunden denn die Geräusche, die aus den Katakomben des alten Gebäudes drangen waren mit nichts zu vergleichen, das Anton jemals hätte.
Es klang, als würde hinter der schweren, mit eisernen Bändern verstärkten Tür am Ende des Ganges eine Orgie gefeiert, als würde ein Opferritual durchgeführt, als würden Tiere bei vollem Bewusstsein geschlachtet und und eine unheilige Messe gefeiert. Alles gleichzeitig und von den selben Wesen.
Anton wurde schlecht. Er meinte den Geruch von Ausscheidungen und Blut zu riechen und er warf einen Blick zurück auf die anderen. Nur Vasili war noch dicht bei ihm und starrte mit steinerner Miene auf die Tür. Die anderen waren am Fuß der Treppe und im Gang hinter Anton stehen geblieben und das Unbehagen war jedem deutlich anzusehen. Anton drehte sich wieder der Tür zu und konnte daher nicht sehen, wie Seymon zu schwanken begann. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und ein leises Knurren drang aus seiner Kehle und als er aufsah waren seine Augen geschlitzt, wie die Augen einer Katze und ein böser Zug lag um seinen Mund. Doch bevor es jemandem auffiel biss der große schwarze Mann die Zähne zusammen und mit einer unendlichen Willensanstrengung zwang er sich voran, hinter Anton den Gang entlang, und mit jedem Schritt wurde sein Blick wieder klarer und sein Gang aufrechter. Wenige Augenblicke später stand er neben Vasili. Er starrte stur geradeaus als der Soldat ihn kurz musterte, aber nicht lange, denn sie hatten gerade die Tür erreicht. Die schreckliche Kakophonie donnerte in ihren Ohren und zerrte an ihren Nerven. Doch dann machte Anton die letzten ängstlichen Schritte und das Gekreische verklang. Ängstlich, als würde die Tür jeden Moment aus den Angeln gesprengt, griff Anton nach dem schweren, eisernen Schlüssel. Der Schlüssel schabte schwer im Schloss, doch er drehte sich, und das Schloss schnappte auf!
Auf diesen Moment hätte ihn nichts vorbereiten können. Anton ahnte zwar, was er sehen würde denn er hatte die Bilder gesehen, als er noch für den Münchner Morgen Artikel über Massenmorde in Diskotheken geschrieben hatte - er rief sich nicht in Erinnerung, dass das erst ein paar Tage her war – und er hatte auch am eigenen Leib erfahren und mit angesehen, was im „Sinners“ passiert war, aber als die Tür jetzt aufschwang drohte es ihn wieder zu überwältigen. Feucht und greifbar, wie ein schwerer Nebel drang warm der Geruch von Blut und Fäkalien nach draußen, Vasili neben ihm schnaubte angewidert, wich aber nicht zurück und wenige Augenblicke später konnte er jemandem im hinteren Teil des Ganges würgen hören. Ein rotes Rinnsal schwappte über die Türschwelle und suchte sich still und anklagend einen Weg über den Boden und Anton wich mit einem großen Schritt aus, schockiert und unfähig zu erraten, was er genau hier unten hatte tun wollen.
Es war Vasili, der, mit Seymon an seiner Seite, den letzten Schritt tat und die Tür vollends aufstieß, doch als der erste der Verlorenen in ihren Sichtbereich schlich machte, sogar der selbstbewusste Soldat einen Schritt zurück und Anna stieß einen spitzen Schrei aus.
Immer mehr tauchten auf. Es waren abgerissene Gestalten, die, einer nach dem anderen, in ihren Sichtbereich drängten und sie verständnislos anstarrten. Schlank und drahtig die meisten. Kräftig und muskulös die anderen. Die Uniformteile zerrissen und durchgeblutet, mit schweren Verletzungen an Armen, Schultern und Köpfen – die Körper wie Ruinen. Die meisten Gesichter waren so deformiert, dass man den eigentlichen Menschen dahinter nicht mehr erkennen konnte. Anton sah zertrümmerte und furchtbar verformte Nasen, zugeschwollene Augen und aufgeplatzte Lippen – und Augen, die ihn fixierten, als wäre er das Wesen aus einem anderen Zeitalter und einer anderen Dimension, und nicht sie.
Diese Männer mussten sich hier unten einen schrecklichen Kampf auf Leben und Tod geliefert haben und Anton sah dutzende von regungslosen und verreckten Gestalten im Hintergrund verteilt. Keiner von ihnen hatte eienen leichten Tod gehabt und übrig geblieben waren nur die härtesten und die schlimmsten der Eingesperrten. Und auch die hätten sich über kurz oder lang gegenseitig zerfleischt.
Als der Erste in den Gang trat, ein schmaler, sehr großer Mann mit bloßem Oberkörper, eisblauen Augen und einem blutig verklebten Bart, vertrat ihm Vasili den Weg. Der große sah kurz auf den Soldaten zurück, seine Augen, die mehr als den Tod gesehen hatten, bannten den kleineren Mann wie eine Katze eine Maus.
„Geh mir aus dem Weg.“, krächzte er mit heiserer Stimme und Blutblasen warfen an seinen Lippen Blasen. Er wirkte nicht aggressiv, und schien niemanden zu bedrohen, doch seine Autorität war die eines Mannes, der die Hölle gesehen hatte. Vasili konnte ihm nur kurz die Stirn bieten, dann wich er zweifelnd zurück und der Lange taumelte weiter auf Anton zu.
Er wäre vermutlich mit ihm zusammen gestoßen, wenn ihn Seymons riesige Pranke nicht gestoppt hätte. Der große schwarze Mann hatte ihm die Hand auf die Brust gelegt, ohne eine Spur von Respekt oder Angst und sah ihm geradewegs in die Augen. Der Lange lächelte ein schreckliches Lächeln aus dem Mord und Totschlag blitzten, doch als sein unsteter Blick den Seymons traf erlosch es wieder.
„Du weißt es.“, nuschelte er und besprenkelte Seymons Arm dabei mit Blut, während Antons alter Freund nickte.
„Är vertreib die rothe Gaist!“, grollte Seymon.
Der Lange nickte mit zusammen gekniffenen Augen, unsicher, doch als er Anton nun ansah, schlich sich etwas wie Dankbarkeit in diesen Blick.
„Anton, das kann nicht dein Ernst sein!“, Anna war außer sich vor Wut und schaffte es kaum, ihre Stimme gesenkt zu lassen. Was aber nötig gewesen wäre wenn sie unter vier Augen mit Anton hätte reden wollen, denn um sie herum saßen ein dutzend Männer, lose im Raum verteilt, die sich wuschen, blutige Uniformteile auf einen großen Haufen warfen und Wunden versorgten. Es stank, wie in einem Lazarett im ersten Weltkrieg, nach Blut, Urin und Unmengen Desinfektionsmittel. Irgendjemand kam auf die Idee ein paar Fenster zu öffnen und auch wenn es von der Straße her nach Verwesung und Feuer roch, war die Luft willkommen und einige Soldaten brummten zustimmend.
Anton wandte sich wieder seiner Freundin zu und sah sie schon im Begriff aufzustehen und zu gehen. Doch aus irgendeinem Grund zögerte sie.
„Gib mir doch zumindest die Gelegenheit was zu sagen.“, seufzte Anton. „Ich weiß doch selbst nicht genau was los ist, alle Welt wird verrückt und keiner weiß was los ist.“, er ruderte hilflos mit den Armen - aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass einige der Verlorenen bei dem Wort 'verrückt' zusammen zuckten oder schmerzvoll das Gesicht verzogen.
„Ich weiß auch nicht, was mit diesen Leuten los ist, oder war. Aber ich glaube, wenn sie in meiner Nähe sind, dann sind sie nicht so..., so...“, er brach zögernd ab.
Anna sah ihn mit großen Augen an, als könne sie nicht glauben, was er da redete. Trotzdem lies Anton nicht locker.
„Irgendwas scheint in der Luft zu liegen. Ich sehe es, jeder ist nervös und reizbar bis hin zu... sowas.“, er wies in Richtung Keller.
„Ich spüre es nicht, obwohl jeder andere es zu spüren scheint. Mir geht es wie immer und ich glaube, wenn sie Leute in meiner Nähe sind, dann sind sie ruhiger.“, er stammelte jetzt ziellos, unfähig zu formulieren was er selbst für ausgemachten Quatsch gehalten hätte. Aber die Hinweise waren alle da.
„Du weiß selbst wie dumm sich das anhört, oder?“, Anna sah sehr enttäuscht aus und sie hob die Hand, als er ihr antworten wollte.
„Wenn du meinst, dass du dich mit diesen Irren umgeben willst, bitte schön! Ich mache da nicht mit!“, und mit einem vernichtenden Blick verließ sie das Zimmer.
Anton blieb mit einem leeren Gefühl zurück, als ob die Welt plötzlich sehr groß geworden wäre, die Dinge aber immernoch genauso klein und unbedeutend wären. Als gäbe es plötzlich zu viel Platz für viel zu wenige Gedanken.
Er sah sich unglücklich um, ließ den Blick über die versehrten Soldaten schweifen, sie in sich gekehrt und jeder für sich mit ihren Verletzungen beschäftigt waren. Kaum jemand hob den Blick und es wurde auch nicht gesprochen.
Seymon war kurz außerhalb des Raumes. Anton konnte seine und Vasilis Stimme hören.
Er fühlte sich sehr alleine. Schon immer hatte er versucht für seine Freunde und seine Familie da zu sein, hatte alles versucht, um Unheil von ihnen fern zu halten und hatte doch nichts erreicht.
Claudia und Franzi tot. Anna, verängstigt und unsicher wie sie war, kurz davor ihn zu verlassen.
Er vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte lang.
Als er wieder aufsah, konnte er sehen, dass einer der Soldaten aufgestanden war und sich seinen Weg zu ihm zu bahnen schien. Anton beobachtete ihn, wie er sich zwischen den Verletzten hindurch schlängelte, immer darauf bedacht, niemanden anzustoßen. Übervorsichtig hätte man sagen können.
Anton rief sich ins Gedächtnis, dass dieser Mann vermutlich gegen jeden anderen in diesem Raum noch vor wenigen Stunden einen Kampf ums Überleben geführt hatte. Da wunderte es ihn nicht, dass er jetzt so sorgsam darauf bedacht war, keinen Anstoß zu geben.
Der Mann setzte sich vorsichtig neben Anton, und sah erst dann auf um ihm in die Augen zu sehen. Schüchtern war dieser Blick, aber auch abgeklärt und ohne Illusionen.
Er öffnete den Mund, doch Anton konnte nur ein Flüstern hören.
„Es ist fast weg.“
Der Mann schien in sich hinein zu horchen und Anton dabei kaum zu sehen.
„Ich kann es noch ein bisschen spüren, aber fast nicht mehr.“
Sein Blick klärte sich und er sah Anton direkt an.
„Was sie auch immer gemacht haben, um den roten Geist zu vertreiben. Ich bin ihnen dankbar dafür.“
„Ich bin Anton.“, sagte Anton, dem es unangenehm war, dass man ihn respektvoll behandelte. „Und ich habe nichts gemacht. Ich weiß nichts, davon, wovon sie sprechen. Ich bin einfach nur hier und habe nichts getan.“.
„Sebastian Träubner!“, fast war der Mann aufgesprungen um zu salutieren, riss sich dann aber zusammen.
„Ich bin Sebastian. Zentraler Sanitätsdienst.“, er wies auf seine Schulterklappen mit dem Dienstgradabzeichen, um dann festzustellen, dass sie abgerissen waren. Anton konnte kurz einen gehetzten Ausdruck wahrnehmen, dann schüttelte der Soldat merklich den Kopf. Manche Angewohnheiten saßen wohl ziemlich tief, bei dem Mann.
„Sanitätssoldat, bin ich.“, wiederholte er stockend.
„Sie haben etwas gemacht!“, nahm er dann den Faden wieder auf. „Auch wenn sie es vielleicht nicht bewusst gemacht haben! Sie haben uns damit das Leben gerettet. Das wissen wir alle, und wir sind ihnen dankbar!“.
Anton sah in seine aufrichtigen Augen und konnte sich doch nicht zurück halten. 'Jetzt oder nie. Wenn du Klarheit haben willst das hol sie dir.'
„Ihr habt euch da unten gegenseitig umgebracht, oder?“, er versuchte beruhigend und abgeklärt zu klingen, aber seine Stimme schwankte. „Warum seid ihr alle so ruhig?“, er zuckte ergeben die Schultern.
„Und warum überhaupt? Geht es gleich wieder los?“, er hatte einen trockenen Mund und konnte sehen, dass es Sebastian genauso ging.
Der Soldat war ein wenig kleiner als Anton, aber schmal und durchtrainiert auch wenn er ihn ein paar Jahre jünger schätzte, als er selbst war.
Wenn der Kleine jetzt aber wieder durchdrehen würde wusste Anton nicht, ob er ihn aufhalten konnte. Er sah schwere Verletzungen an den Händen und den Armen des Sanitäters, und trotzdem schienen sie den jungen Mann nicht zu stören. Irgendwas hatte ihn durch und durch abgehärtet. Anton wollte gar nicht daran denken, wie es dazu gekommen war, aber er ahnte, dass es etwas mit der Sache im Keller zu tun hatte.
Sebastian sah ihm offen ins Gesicht, als er sagte: „Nein. Das passiert nicht wieder. Nicht, solange wir hier bei ihnen sind.“
Mittlerweile war die Aktivität in dem Raum zum Erliegen gekommen und die Männer saßen still und in sich gekehrt da, und lauschten den beiden Männern.
„Ich verstehe es aber nicht! Was passiert hier? Was hat das mit mir zu tun?“, die Stille war Anton unheimlich und Sebastian schien es schwer zu fallen, konkret zu werden. Aber er merkte auch, dass er kurz davor war, zu erfahren, was er wollte.
„Ihr könnt nicht für immer in meiner Nähe sein!“, er lachte nervös und peinlich berührt. Niemand lächelte auch nur.
„Aber das müssen wir.“, der junge Soldat schien der Verzweiflung nahe. „Wir verlieren uns, wenn sie nicht in der Nähe sind. Der rote Geist kommt dann wieder über uns! Es ist... wie ein Nebel, der alle Gedanken erdrückt und dann, dann, müssen wir töten...“.
„Niemand muss töten“, versuchte Anton schwach zu wiedersprechen.
Ein Blick aus den blauen Augen des Soldaten ließ ihn wieder verstummen.
„Oder?“, fragte er unsicher.
Die Antwort kam von Seymon, der in der Türöffnung stand und die Szene ebenfalls beobachtete.
„Ehs ist so, Antoin! Die rothe Gaist macht, dass du willst töte'“, er stockte kurz bevor er zögernd weitersprach, „In jäde Momen' wenn isch bin bei andere Ort als du, Antoin, isch fühle böhse Augen und will jeman' tuen weh! Er mach' dass du sein eine andere Mänsch... oder eine Monstär.“
Anton sah, dass viele der Soldaten bei ihm zustimmend nickten, erschauderten und sich unruhig bewegten. Seymons Worte hatten für sie alle gegolten und niemand schien etwas hinzufügen zu wollen.
„Ja und jetzt?“, fragte halt zu sich selbst und halb in die Runde.
„Was jetzt? Müsst ihr jetzt immer bei mir bleiben? Wie soll das gehen?“
„Vielleicht hört es irgendwann wieder auf, was auch immer es ist, aber sie sehen ja selbst, dass gerade die ganze Welt verrückt spielt.“, Sebastian schien auch etwas ratlos zu sein, als ein weiterer Soldat aus den hinteren Reihen aufstand. Es war der Lange, der ihnen unten im Keller als Erster entgegen gekommen war. Anton konnte jetzt, wo das Mann gewaschen war, sehen, dass er blondes, mittellanges Haar und einen wilden und ebenfalls blonden Bart hatte. Selbst über die Entfernung von einigen Metern konnte Anton das kalte Blitzen der eisblauen Augen sehen. Seine Stimme war immer noch leise und krächzend vor Heiserkeit.
„Sie werden uns aushalten müssen, Herr Rieder. Wir werden in ihrer Nähe essen, scheißen und schlafen müssen, sonst geht es grad wieder los wie da unten im Keller.“, selbstbewusst und ohne Schuldgefühle stand der Mann aufrecht unter den Anderen.
„Wir haben keine Macht darüber und solange Sie nicht wollen, dass wir sie fesseln und mit uns herumtragen, werden sie das akzeptieren müssen.“, er lächelte furchtbar als er das sagte und noch mehr schien ihn zu erheitern, was er dann sagte.
„Wir werden ihnen eine gute Leibgarde sein, denn jeder von denen die im Keller überlebt haben ist zäh, das kann ich ihnen versprechen und wir alle können auf uns aufpassen.“, grimmig sah er in die Runde und keiner der Männer schlug den Blick nieder.
„Wir werden also bei ihnen bleiben, als ihr Rudel, Herr Rieder.“, er grinste zähnefletschend.
„Du sagst es, Rob.“, sagte jemand aus der Menge. „Ein blutiges Rudel“.
„Aye.“, Robert 'Rob' Dohm, ehemaliger Kommandosoldat des KSK und jetzt einer der Verlorenen nickte grimmig, „Ein sehr blutiges Rudel.“