Hi! Ich habe mit dieser Geschichte vor zwei Jahren an einem Wettbewerb von GW teilgenommen. Leider hat sie es nicht in die engere Auswahl geschafft. Ich wollte jedoch nicht, dass sie auf meiner Festpatte verstaubt, daher teile ich sie mit euch.
Die Grundidee war, dass ich zur Abwechslung mal keinen großen Helden als Hauptcharakter haben wollte, sondern einen ganz normalen Menschen. Einen beliebigen der
vielen Milliarden Einwohner des Imperiums. Die Normalität hielt allerdings nicht lange an, denn ganz so unscheinbar ist die Hauptperson dann doch nicht...
Ich würde mich über Feedback freuen und hoffe, meine Geschichte gefällt euch.
Verdammt
Für Anna begann der Tag, wie jeder andere auch. Um 05:00 Uhr morgens wurde sie von einem hellen, durchdringenden Ton aus dem Schlaf gerissen. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen und setzte sich in ihrer kleinen Koje auf. Ihr Vater und ihre Mutter erhoben sich bereits. “Guten Morgen mein Schatz.”, begrüßte der Vater sie, während er zu der Schalttafel an der Tür eilte, um den Wecker aus zu schalten. “Morgen.”, entgegnete sie zerknirscht und schwang die Beine über die Bettkante. Die Wohneinheit ihrer Familie war sehr klein. Es gab nur den Wohnraum, in dem gegessen, geschlafen und gelebt wurde, sowie ein kleines Bad. Mehr Platz wurde den Arbeitern der Fabrik nicht zugestanden. In Archaos Secundus, einer Makropole auf dem Planeten Archaos, gab es nicht genug Platz für die Milliarden von Menschen, man lebte auf engstem Raum zusammen und arrangierte sich mit den harten Lebensbedingungen, so gut es ging. Zumindest galt das für die einfachen Bewohner der mittleren Ebnen. Die Reichen und Schönen der Stadt lebten in den höheren Ebenen, nahe der Spitze der Makropole, so hatte Anna zumindest gehört. Angeblich ragten die Habitate der Regierung bis zu den Sternen hinauf, so dass die mächtigsten Männer des Planeten sie nach belieben betrachten konnten. Anna wusste nicht, ob das stimmte, denn sie hatte mit ihren 18 Lebensjahren noch nie eine andere Ebene von Archaos Secundus gesehen, als die, in der sie lebte. Genau genommen hatte sie noch nicht einmal das Viertel, in dem sich die Fabrik und ihre Wohneinheit befanden, verlassen.
Anna stolperte unbeholfen in das kleine Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Flüssigkeit war trüb und brannte leicht auf der Haut, da die Wasseraufbereitungsanlagen der Stadt vollkommen überfordert waren. Mit einem Stück Seife wusch die junge Frau sich die schmutzigen Hände, eine Angewohnheit, an der sie nach wie vor festhielt. Morgens sowie abends schrubbte sie sich die Finger wund um wenigstens den gröbsten Schmutz, das Öl und andere schwarze Rückstände los zu werden, die sich in dem Arbeiterviertel unweigerlich über alles und jeden legten. Während sie mit der Seife zu werke war, kam ihr Vater hinzu und benetzte ebenfalls sein Gesicht mit Wasser. Er hatte den Traum von Sauberkeit schon vor langem aufgegeben. Nach jahrelangem Schuften in der Fabrik hatte sich jede Kerbe, jede Falte seiner zerfurchten Haut mit dunklen, hartnäckigen Rückständen gefüllt, die sich nicht mehr abwaschen ließen. Stumm verließ er das Bad um seinen Overall anzuziehen. Nach der Wäsche zog auch seine Tochter ihre Arbeitskleidung an; einen grauen Overall aus grobem, zerschlissenem Stoff mit unzähligen Taschen für Werkzeug. Seit ihrem 10. Lebensjahr arbeitete Anna in der selben Fabrik, wie ihre Eltern. Zunächst wurde sie nur damit beauftragt Werkzeuge und Arbeitsmaterialien von den Ausgabestellen zu den Arbeitsplätzen der Erwachsenen zu bringen. Wenn eine der größeren Maschinen eine Fehlfunktion hatte, musste sie in deren beengten und düsteren Bauch klettern um das Problem zu finden. Doch seit ihrem 15. Geburtstag war sie alt genug, um als vollwertige Arbeitskraft die Uniformen für die Soldaten der planetaren Verteidigungsstreitkräfte zu nähen. Ihre Schicht begann um sieben Uhr. Zeit genug, um noch etwas zu essen. Als die kleine Familie am Esstisch saß und ihren Protein-Kohlenhydrate-Brei löffelte, begann ihr Vater mit ihr über die Jungs der Nachtschicht zu reden. Das tat er in letzter Zeit immer häufiger. Er sprach es nicht aus, doch Anna wusste warum. Sie war erwachsen und es war an der Zeit, sich einen Ehemann zu suchen, selbst Kinder zu kriegen und somit dem Fortbestand der Fabrik zu dienen. Wenn die Arbeiter nicht genug Nachwuchs hätten, würde es irgendwann nicht mehr genug Arbeitskräfte geben und dann würden die tapferen Soldaten des Imperiums keine wärmende Kleidung mehr erhalten. Keine Stiefel um die Feinde der Menschheit zu zertreten. Keine Handschuhe mehr, um auf fernen, eisigen Welten ihr Gewehr halten zu können. Anna war im tiefen Glauben an den Imperator der Menschheit erzogen worden und wollte ihrer Pflicht seinem Imperium gegenüber nachkommen. Dass sie nicht viel von Männern hielt und keinen kannte, dem sie auch nur freundschaftliche Gefühle entgegen brachte, war nebensächlich. Sie wollte auf keinen Fall den Zorn des Imperators auf sich ziehen. Auch stand verheirateten Paaren etwas mehr Lohn zu. Geld, das sie und ihre Familie gut gebrauchen konnten.
Aus diesen völlig unromantischen Gründen hätte Anna morgen schon geheiratet, doch es waren die Jungs, die sie ablehnten. Es lag keineswegs an ihrem Äußeren, das war ihr klar. Ihre schwarzen, kinnlangen Haare umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht, große, helle Augen, eine schmale Nase und volle Lippen. Anna kannte viele Frauen, die einen Mann hatten und unscheinbarer waren. Nein, niemand wollte Anna heiraten, weil alle Männer sie schon von klein auf kannten. Sie waren alle zusammen in die Schule gegangen und die meisten von ihnen arbeiteten später auch in derselben Schicht. Sie alle kannten die Gerüchte über sie, manche waren sogar bei den seltsamen Zwischenfällen dabei gewesen. Alle flüsterten sie hinter ihrem Rücken. Sie nannten sie Hexe, Mutant, Abschaum, Dämonenkind, Xenobrut. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nie Freunde gehabt. Schon in der Schule war sie den anderen nicht geheuer. Sie konnte irgendwie… spüren, wenn ihr jemand einen Streich spielen oder ihre Pausenration stehlen wollte. Noch bevor der Übeltäter zur Tat schreiten konnte, lief Anna ihm davon - manchmal schlug sie auch zu. Es hatte im Laufe der Jahre mehrere Knochenbrüche und blaue Flecken gegeben. Einmal hatte der Hausmeister der Schule sie allein in einem verlassenen Korridor getroffen und wollte sie in eine Ecke drängen. Die neunjährige Anna, von einer grauenvollen Vorahnung gepackt, schlug mit ihrer kleinen Faust auf den großen, massigen Mann ein. Mit einem einzigen Hieb brach sie zwei Rippen und prellte eine weitere. Einer der Heiler, der den Mann auf die Krankenstation bringen sollte, hatte gemurmelt: “Das kann unmöglich ein kleines Mädchen getan haben. Mit bloßen Händen.” Es dauerte nicht lange und niemand mehr wollte etwas mit Anna zu tun haben. Man ging ihr aus dem Weg, ignorierte oder beschimpfte sie. Dabei war es nie ihre Absicht gewesen, jemanden ernsthaft zu verletzen. Sie wusste selbst nicht, woher ihre Vorahnungen und ihre schnellen Reaktionen kamen. Das machte ihr Angst. Sie fürchtete sich vor sich selbst. Konnte es wirklich sein, dass sie ein Monster oder eine Hexe war? Ihre Eltern waren doch vollkommen normal, also konnte das doch unmöglich stimmen. Anna lernte, ihren Mitmenschen aus dem Weg zu gehen, sich nicht provozieren zu lassen und unterdrückte vehement jede Vorahnung und alles, was nicht normal zu sein schien. Doch die Kinder des Viertels vergaßen die unheimlichen Begebenheiten nicht und heute war Anna noch immer allein. Nur ihre Eltern hielten zu ihr, liebten sie und sorgten sich um sie. Jedes Mal, wenn Anna etwas seltsames passiert war, hatten ihre Eltern ihr den Kopf gestreichelt, ihr gesagt, dass es nicht ihre Schuld sei, sie es aber trotzdem verheimlichen musste. Vor jedem.
Ihr Vater fragte sie etwas und riss sie damit aus ihren Grübeleien. “Was?”, fragte sie durcheinander. “Derrek, Schatz, toller Kerl in der Nachtschicht. Arbeitet an der Linie für Rucksäcke. Kennst ihn nich’?” Womit ihr Vater ihr zu verstehen gab, dass er sie vielleicht heiraten würde, da er die Gerüchte über sie möglicherweise noch nicht gehört hatte. “Nein, ich kenn’ ihn nich.”, antwortete sie widerstrebend. “Solltest du - wir können ihn am Ruhetag zum Essen einladen.” “Ja.”, antwortete die junge Frau ohne Begeisterung. Die Schüssel vor ihr war geleert und es wurde Zeit, zur Arbeit zu gehen. Gemeinsam mit ihren Eltern verließ sie die kleine Unterkunft und trat hinaus auf die schmale Gasse davor. Zu beiden Seiten des Weges reihten sich die grauen, schmutzigen, rechteckigen Unterkünfte der Arbeiter aneinander. Um keinen Platz zu verschwenden, waren jeweils fünf Wohneinheiten übereinander gestapelt, die oberen Etagen waren durch schmale Treppen und Leitern erreichbar. Annas Familie wohnte ebenerdig und musste sich zunächst durch einige Müllsäcke kämpfen, die den Weg nach draußen versperrten. Es gab zwar einige Recyclinganlagen auf den unteren Ebenen der Stadt, doch die Müllabfuhr kam bei der schieren Menge an Abfällen einfach nicht hinterher. Den entsetzlichen Gestank nahm Anna schon gar nicht mehr wahr, ebenso wenig den dichten Smog, der die recycelte Luft verpestete. Ihre Mutter jedoch wurde von einem heftigen Hustenanfall erschüttert. Das geschah immer häufiger und die Anfälle wurden schlimmer. Der Vater hatte einen Heiler um Rat gefragt, doch der hatte nur mit den Achseln gezuckt und etwas von “Liegt an der Luft”, gemurmelt.
Die Fabrik war nur zwei Straßen entfernt und wie immer füllten sich die Wege mit Menschen, die alle das gleiche Ziel hatten. Durch ein großes Tor, welches zwei Mann hoch war und zehn breit, ging es zur Registrierung. Eine Reihe von Servitoren der Verwaltung stand rechts an der Wand und scannte die Ausweise jeden Mitarbeiters, registrierte die Uhrzeit und sendete die Informationen an die Verwaltung, ein paar Etagen weiter oben. Zur Linken sah Anna weitere Servitoren, die die Ausweise derjenigen scannten, die das Gebäude verließen. Wachmänner tummelten sich im Eingangsbereich und beobachteten gelangweilt das Kommen und Gehen. Um 06:50 Uhr ertönte ein lauter Gong aus den Lautsprechern der Eingangshalle und alle Arbeiter der Frühschicht lenkten ihre Schritte zu der Kapelle, die sich weiter hinten auf der rechten Seite an die Eingangshalle anschloss. Vor Beginn jeder Schicht wurde gebetet. Die Menschen drängten sich dicht an dicht, knieten ehrfürchtig vor dem Altar mit dem riesigen, vergoldeten Aquila und senkten andächtig die Köpfe. Ein Priester, in weite, helle Roben gehüllt, trat vor die Versammelten und gemeinsam beteten sie für einen weiteren, produktiven Tag im Dienste des Gott-Imperators. Durch die Erfüllung ihrer Pflicht, so der Priester, preisten sie alle seinen Namen und dienten ihm und damit der gesamten Menschheit.
Anna kniete mit geschlossenen Augen zwischen ihren Eltern und betete so inbrünstig, wie alle anderen. “Bitte, lass mich einen Mann finden, mit dem ich Kinder zeugen kann, so wie es dein Wille ist. Bitte, beschütze mich vor den seltsamen Kräften, die ich zu haben scheine. Schütze meine Seele, reinige mich von dem Unreinen.” Um Punkt sieben Uhr beendete der Priester die Andacht und scheuchte sie alle an ihre Arbeitsstationen.
Die Produktion der Uniformen lief Tag und Nacht. Nur am Ruhetag, einmal alle zwei Standard-Wochen, standen die Maschinen still. Die Armeen des Imperators waren ungezählt, genauso wie die Kriege, die sie zum Schutze der Menschheit führten. Der Bedarf an Ausrüstung war unvorstellbar groß. Deshalb achteten die Aufseher darauf, dass keine Zeit verschwendet wurde, es keine Unterbrechungen gab. Der Mann, der an Annas Platz saß und eine Feldjacke zusammen nähte, war aus der Nachtschicht und durfte erst gehen, wenn er von Anna abgelöst wurde. Sie begrüßte ihn leise und er stand wortlos auf und ging schlürfenden Schrittes hinaus. Anna setzte sich an ihren Platz. Prompt kam ein kleiner Junge angelaufen, einen großen Karren vor sich her schiebend. Anna nahm die vorgeschnittenen Stoffe aus dem Karren und begann sie mit geübten Fingern zusammenzunähen. Die Stunden zogen vorbei, während sie erst eine Feldjacke, dann eine Hose, dann einen Offiziersmantel nähte und in einen wartenden Karren rechts von sich legte. Alles war wie immer. Am Platz vor ihr saß Tim, ein ehemaliger Klassenkamerad. Offenbar wurde ihm mal wieder langweilig, denn er drehte sich zu ihr um und grinste höhnisch. “Na, haste kleine Kinder gefrühstückt, du Hexe?” Zorn kochte in Anna hoch, doch sie unterdrückte ihn. Sie kannte derlei Gemeinheiten von Tim, genauso wie von allen anderen. Es war inzwischen Teil ihres Alltags. Sie ignorierte ihn und arbeitete weiter. Im Gegensatz zu ihm nahm sie ihre Pflichten ernst. Doch ihr Schweigen stachelte ihn nur noch weiter an. Als der kleine Junge erneut mit Arbeitsmaterialien zu Annas Platz eilte, zog Tim die Nase hoch und spuckte auf den wertvollen Stoff im Karren. “Lass das!”, fauchte die junge Frau, griff widerwillig in den Karren und zog den beschmutzten Stoff heraus. Eine Offiziersjacke. Und der klebrige, graue Fleck war deutlich zu sehen. Anna konnte Tim für die Beschädigung der Ware melden. Aber das würde Arbeitszeit in Anspruch nehmen und die Aufseher konnten sie genauso wenig leiden, wie alle anderen. Den Stoff einfach zu entsorgen kam ebenfalls nicht in Frage, die Aufseher würden sie der Verschwendung von wertvollen Ressourcen bezichtigen. Es half nichts. Sie musste die Jacke fertig stellen. Wenn bei der Endkontrolle der Fleck auffiel, würde man ihr die Schuld geben. Sie konnte nur darauf hoffen, dass die Jacke in der Menge der Exemplare unter ging.
Ihre Passivität stachelte Tim nur noch weiter an. “Guckt mal, die näht Scheiße zusammen!”, krähte er. “Bist ‘ne schlechte Näherin, bist hochnäsig, bist’n scheiß Mutant, Hexe!” Viele Blicke wanderten zu ihnen herüber. Manche begannen zu murmeln oder nickten leicht in stiller Zustimmung. Niemand griff ein. Niemand machte sich für Anna stark. “Mach deine Arbeit, Tim!”, herrschte sie ihn an und ging mit gutem Beispiel voran. Ein Brennen erfasste ihr Herz und ließ sie leise aufkeuchen. Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Das starke Gefühl einer Bedrohung wallte ihn ihr auf. Stark, aufdringlich und unmissverständlich. Ihr war klar, dass Tim es heute nicht bei verbalen Attacken bleiben lassen würde, auch wenn sie keine Ahnung hatte, woher dieses Wissen so plötzlich gekommen war. Tim wollte Gewalt und Grausamkeit. Alles in ihr schrie danach, sich zu schützen, der Attacke zuvorzukommen. Nicht schon wieder!, dachte sie sich. Es durfte nicht noch einen seltsamen Vorfall geben. Sie durfte dem Verlangen in ihr nicht nachgeben. Ihre Seele stand auf dem Spiel. Mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, ignorierte die Frau das Brennen und Tosen in sich und führte eine zitternde Hand zur Nadel der Nähmaschine vor sich. Plötzlich bewegte Tim sich. Seine Hand fegte in Annas Blickfeld und traf auf die ihre. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Linke. Und noch einer und noch einer. Die Explosionen von Schmerz erfolgten rasch aufeinander. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, riss instinktiv ihre Hand zurück und presste sie schützend gegen ihren Körper. Die automatisierte Nadel war abgebrochen, der gezackte Stumpf fuhr noch immer auf und ab, auf und ab. Blut tropfte auf den Tisch und den Stoff darunter. Ihr Blut. Mit vor Schmerz tränenden Augen blickte Anna fassungslos auf ihre Hand. Eine Reihe von Einstichen zog sich quer über ihren Handrücken, die Spitze der Nadel steckte noch in ihrem Fleisch. Die Stiche gingen tief und der Schmerz gewann noch an Intensität, nachdem der erste Schock abgeklungen war. Ein Wimmern drang aus ihrem Mund. Zitternd griff sie mit der Rechten nach der Nadel und zog sie heraus. Ein Reißen im Innern. Noch mehr Blut. Der Schmerz wurde noch intensiver, raubte ihr für einen Moment den Atem. Als sie wieder Luft in ihre Lungen saugen konnte, hob sie den Blick und sah in das von Boshaftigkeit verzerrte Gesicht von Tim. Er saß verkehrt herum auf seinem Stuhl, sah sie an und lachte in sich hinein. Hass erfüllte Anna, bahnte sich den Weg durch ihren Verstand und verdrängte sogar den Schmerz. All die Gemeinheiten, all die Grausamkeiten, die ihr je widerfahren waren, durch Tim und durch viele andere Menschen, all das kochte in ihr hoch. Dieses bösartige Gesicht und dieses Lachen standen stellvertretend für alles Leid in ihrem Leben. Erneut richteten sich ihre Nackenhaare auf, die Luft schien zu vibrieren und es roch plötzlich intensiv nach Ozon. Dann zerplatzte Tims Kopf.
Im einen Moment lachte er sie noch aus, im nächsten war da nur noch eine rote Wolke, die auseinander stob und zahllose winzige Knochensplitter, wie Schrapnelle in alle Richtungen sausten. Einige bohrten sich Schmerzhaft in Annas Körper und auch ihre Kollegen wurden getroffen und schrien vor Schreck und Schmerz auf. Während der feuchte, rote Nebel sich langsam, wie in Zeitlupe auf Tims Körper, seinen Arbeitsplatz, auf Anna und alles in einem Umkreis von mehreren Metern herab senkte wurde es totenstill. Alle waren starr vor Schreck und das einzige Geräusch war das nasse Klatschen, mit dem Tims Körper von seinem Stuhl rutschte und auf dem Boden aufschlug. Dann war der Moment vorbei. Was folgte, war Chaos.
Die Leute schrien vor Entsetzen, brüllten nach den Aufsehern und wichen in Panik vor Anna zurück. Viele zeigten mit dem Finger auf sie und riefen Dinge wie “Mörderin!”, “Hexe!”, “Mutant!”, oder “Du hast ihn getötet!” Anna selbst saß regungslos auf ihrem Stuhl und starrte entsetzt auf das Blutbad. War das wirklich sie gewesen? Aber das hatte sie nicht gewollt! Es war keine Absicht! Trotz der Wut auf ihn, trotz allem, was sie hatte erdulden müssen - sie wollte nie jemanden verletzen. Sie konnte Tim unmöglich getötet haben. Oder doch? Hatte sie es vielleicht doch gewollt, tief im Innern? Plötzlich war da ihre Mutter neben ihr, ergriff ihren Arm und zog sie auf die Beine. “Los komm. Weg hier.”, sagte sie, doch Anna schien zu einer leblosen Puppe geworden zu sein. Mit sanftem Nachdruck zog ihre Mutter sie mit sich durch die Menge der panischen Arbeiter, die verängstigt zurück wichen als sie die blutgetränkte Anna auf sich zu kommen sahen. Anna bekam nicht mit, wie und wann sie die Fabrik verlassen hatten. Sie wusste nur, dass plötzlich ihr Vater zu ihrer Linken ging und fragte, was passiert war und dass sie sich vor der Tür ihrer Wohnung befand. Während die Mutter sie nach drinnen schob erzählte diese ihrem Ehemann von dem toten Tim. Anna stand in der Mitte des kleinen Raumes, tropfte Blut und Hirnmasse auf den Boden und begann haltlos zu zittern. “Zieh das aus und wasch dich.”, wies ihre Mutter sie an, doch ihr Körper bebte so stark, dass sie Hilfe benötigte. Nachdem sie das Gröbste von Tims Überresten los geworden und von ihrer Mutter in neue Kleider gesteckt worden war, ließ das Beben allmählich nach. Dafür kam die Angst. Diese stand auch ihren Eltern ins Gesicht geschrieben. “Du musst fliehen. Sie werden dich sonst holen.”, sagte ihre Mutter mit kummervollem Gesicht. Der Vater eilte in die Kochecke und stöberte in den den Schränken herum. “Fliehen?”, fragte Anna. “Ja, lauf weg, Kind. Sie werden dich suchen. Wenn sie dich finden, töten sie dich.” Ihr Vater kam mit einem kleinen Bündel zurück und drückte es ihr in die Hand. “Wir lieben dich. Aber du musst gehen.”, beharrte er. Tränen der Verzweiflung und der Angst stiegen Anna in die Augen. Ihre Mutter umarmte sie, drückte sie an sich und sah ihr danach in die Augen. Selbst den Tränen nahe, sagte sie: “Du bist nicht schlecht. Denk daran. Wir lieben dich. Lauf.” Auch der Vater umarmte sie zum Abschied, dann öffnete er die Tür. Anna wischte sich die Tränen mit einem Ärmel ihres zu langen Hemdes ab und versuchte mit den Ereignissen Schritt zu halten. Tim war tot. Wie sie es getan hatte und warum spielte keine Rolle. Sie kannte die Menschen. Sie würden sie dafür bestrafen. Also musste sie sich verstecken. “Ich komme wieder, sobald ich kann.”, versprach sie ihren Eltern. Dann rannte sie hinaus, in das kalte, graue Labyrinth der Makropole.
Zunächst achtete Anna überhaupt nicht darauf, wo sie lang ging. Sie wollte einfach nur weg, möglichst weit weg von den Menschen, die ihr böses wollten, weg von der Schuld und der kopflosen Leiche Tims. Sie rannte über riesige Straßen, auf denen Fahrzeuge unterschiedlichster Art unterwegs waren, drängte sich durch Gruppen von Fußgängern und kletterte in dunklen Gassen über Berge von Abfall. Irgendwann - sie hatte längst die Orientierung und das Zeitgefühl verloren - brach sie keuchend und mit hämmerndem Herzen zusammen, rollte sich ein wie ein verwundetes Tier und schluchzte hemmungslos. Sie lag inmitten eines riesigen Areals, ein vielfaches größer als die Fertigungshalle der Fabrik. Das ganze Gelände war mit Rohren und Leitungen überzogen, die sich in einem wirren Muster überkreuzten, verbanden, oder aufteilten. Manche stießen heißen Dampf aus, manche summten laut, in anderen war ein stetiges Rauschen zu hören. Anna hatte sich durch Lücken und Hohlräume gezwängt, war über Rohre hinweg gestiegen und unter ihnen durch gekrochen, bis ihre Kräfte sie verlassen hatten. Jetzt lag sie in einem der größeren Zwischenräume und versuchte verzweifelt, wieder zu Atem zu kommen. Allmählich ging ihr Atem ruhiger, das Herz hämmerte nicht mehr gegen ihren Brustkorb, als wolle es selbst davon rennen. Sie wusste nicht, wie lange sie zwischen all diesen Rohren lag. Eine Stunde? Zwei? Einen ganzen Tag? Es spielte keine Rolle. Irgendwann meldete sich ihr Magen und verlangte knurrend nach Nahrung. Ihr fiel das Bündel wieder ein, das ihr Vater ihr gegeben hatte. Ihre linke Hand umklammerte es noch immer. Ohne sich aufzusetzen packte Anna den Inhalt aus. Es waren ein Nahrungsriegel aus Kohlenhydraten und Proteinen sowie ein Ring aus einem Drahtgeflecht. Ihr Vater hatte ihn aus Altmetall gefertigt, sie erkannte seiner Hände Werk sofort. Wahrscheinlich hatte er ihn seiner Tochter zu ihrer Hochzeit schenken wollen… Erneut schluchzend, steckte sie sich das Andenken an den Ringfinger der linken Hand. Um ihren Magen zu beruhigend zwang sie sich, ein paar Bissen von dem Riegel zu essen. Irgendwann döste sie ein und träumte von explodierenden Menschen und dunklen, bösen Gestalten, die ihre Krallen nach ihr ausstreckten und sie hetzten wie ein wildes Tier.
Mit einem Schrei wachte Anna auf. Sie fuhr hoch und stieß sich den Kopf an einem heißen Rohr. Stöhnend rieb sie sich den Kopf, an dem sogleich eine große Beule entstand. “Lauf nicht weg, das wird dir nichts bringen.” Erschrocken fuhr Anna herum und sah sich nach der Herkunft der kalten, fremden Stimme um. Sie musste nicht lange suchen. Nur zwei Meter von ihr entfernt hockte ein Mann geduckt auf einem breiten Rohr und beobachtete sie wachsam. Er trug vorwiegend schwarze Kleidung von einer Qualität, wie sie in Annas Fabrik nirgends hergestellt wurde. Schwere Stiefel, in denen weite Hosen steckten, eine robust wirkende Weste aus einem Material, das sie noch nie gesehen hatte. Behandschuhte Hände, die auf den Oberschenkeln ruhten. Die Gestalt wurde von einem langen, ebenfalls schwarzen Umhang umrahmt. Das Gesicht war groß, kahl rasiert und vernarbt. Kalte, graue Augen starrten Anna durchdringend an. Sie hatte keine Ahnung, wer der Fremde war, aber instinktiv wusste sie, dass er eine Gefahr war. Eine Aura der Angst umgab ihn, wie ein zweiter Mantel. Wimmernd kroch Anna rückwärts um den Fremden dabei nicht aus den Augen zu lassen. “Du hast den Jungen getötet richtig? Hast seinen Kopf explodieren lassen?” Der Mann machte keinerlei Anstalten, Anna aufzuhalten und so kroch sie weiter. Als sie mit dem Rücken gegen eine bodennahe Leitung stieß musste sie sich von der Gestalt abwenden und darüber hinweg klettern. Sie hörte über sich das Rascheln von Kleidung, dann tauchte die Gestalt plötzlich auf einem anderen Rohr stehend vor ihr auf. Er zog eine glänzende, aus poliertem Metall bestehende Waffe hervor, eine Laserpistole. Völlig ruhig richtete er die Mündung auf die junge Frau. Diese hob die Hände und wimmerte, vor Angst erstarrt. Der Mann seufzte und sagte: “Du hast eine Begabung. Schade, dass wir dich nicht schon viel früher gefunden haben. Du hättest eine von uns werden können. Dem Imperator und der Menschheit treu dienen können. Aber jetzt…” Er räusperte sich und sprach dann in gleichgültigen, geschäftsmäßigen Ton weiter: “Du bist eine nicht sanktionierte Psionikerin und hast einen unschuldigen Menschen getötet. Du bist zum Tode verurteilt. Möge der Imperator Gnade mit deiner Seele haben.” Anna beobachtete hilflos, wie der Zeigefinger an der Pistole sich krümmte. Die Furcht hielt sie noch immer in ihren Krallen und so konnte sie nichts weiter tun, als ein Stoßgebet an den Gott-Imperator zu schicken. Eine Reihe ohrenbetäubender Schüsse ertönte. Den Bruchteil einer Sekunde später folgten noch lautere, markerschütternde Explosionen und aus dem Fremden stoben große Blutwolken hervor. Seine zerfetzten Überreste fielen von dem Rohr hinunter und auf den Boden. Anna fuhr heftig zusammen, die Hände immer noch unsinniger Weise vor dem Gesicht erhoben, welche erneut rot von Blut waren. Das ganze erinnerte sie zu sehr an Tim. Ein Schrei bahnte sich den Weg aus ihren Lungen und zerriss die Stille, die auf die Explosionen gefolgt war. Einmal begonnen, konnte sie gar nicht mehr aufhören, sich das Entsetzen und die Angst aus dem Leib zu brüllen. “Ist ja gut, Mädchen. Sei ruhig. Oder willst du, dass dich der Nächste findet?” Ertönte eine neue Stimme. Annas Kopf ruckte nach rechts und erblickte einen weiteren Mann, der sich mühsam durch das Gewirr von Leitungen zwängte um sich ihr zu nähern. Auch vor ihm fürchtete sie sich. In diesem Moment fürchtete sie sich vor allem und jedem und so schrie sie einfach weiter, hoffte, ihn mit ihrer Stimme auf Abstand halten zu können. Der Mann war korpulenter als der erste, dessen Gedärme nun auf Boden verteilt waren. Er trug wertvoll aussehende, auffällige Kleidung in rot und gold. In einer Hand jedoch hielt er eine übertrieben große, klobige Pistole gegen die die Laserpistole des Toten sich winzig ausnahm. Die riesige, schwarze Mündung zeigte zu Boden und Rauch stieg aus ihr hervor.
“Ich tue dir nichts, bitte hör auf zu schreien, Kind.” Der Mann steckte seine Waffe weg und streckte Anna beide Hände entgegen, die Handflächen nach außen. “Ich will dir helfen. Ich bin wie du.” Das ließ Anna verstummen. Er wirkte wie ein reicher Kaufmann, er drückte sich sehr vornehm und gebildet aus. Seine Worte waren so unvertraut, dass Anna Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Was meinte er damit, dass er so sei, wie sie? Konnte er Menschen mit bloßen Gedanken töten? Während sie ihn betrachtete spürte sie… Etwas… Etwas, das sie noch bei keinem anderen Menschen wahrgenommen hatte. Behutsam trat er näher, die Hände noch immer beschwichtigend erhoben. “Komm mit mir. Ich kann dir helfen.” Als Anna zögerte, sagte der Mann mit einem schiefen Grinsen: “Ich habe dir gerade das Leben gerettet. Du schuldest mir etwas. Du kannst mir vertrauen.” Anna wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre ganze Welt fiel auseinander, sie wurde gejagt, hatte kein Versteck und dieser Mann war offensichtlich reich und klug - sie traf die Entscheidung, ihm zu vertrauen. Mit zittrigen Knien erhob sie sich und kletterte durch die Rohre auf den Kaufmann zu. Als sie ihn erreichte, lächelte er zufrieden, wandte sich um und ging voraus. “Ich heiße Markus und du?” “Anna.”, antwortete sie mit heiserer, brüchiger Stimme. “Du kommst aus dieser Gegend, nicht wahr?” Stumm nickte sie. “Ich fürchte, du kannst nicht mehr nach Hause, Anna. Sie suchen dich. Du musst dein altes Leben hinter dir lassen.” “Meine Eltern…”, begann Anna verzweifelt, doch Markus schnitt ihr das Wort ab. “Du kannst ihnen nicht mehr helfen. Sie verhören sie bereits.” Anna blickte den Mann verständnislos an. “Ver...hören?” “Sie fragen deine Eltern über dich aus. Wo du bist, wen du kennst. Wenn sie keine zufriedenstellenden Antworten bekommen, wenden sie Gewalt an.” Neues Entsetzen erfüllte Anna. “Wer? Wer tut Gewalt an?” “Die Inquisition - Die Kollegen des Inquisitors da hinten.”, sagte Markus und deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der Leiche, die sie zurück ließen. Anna wusste nicht, was die Inquisition war, aber wenn sie ihre gläubigen, braven Eltern quälten, dann mussten es Feinde der Menschheit sein. “Das wird der Imperator nicht zulassen! Er wird sie retten. So wie ich gerettet bin. Der Imperator beschützt!” Daraufhin brach Markus in Gelächter aus. “Anna… Die Inquisitoren sind die Diener des Imperators. Deine bloße Existenz ist eine Blasphemie! Psioniker, wie dich und mich töten sie und sie schrecken nicht davor zurück, auch anderen Leid anzutun, wenn es ihrer Sache nützt.” “Nein! Der Imperator beschützt! Bin keine Blasphemie, habe immer gebetet. Immer meine Arbeit gemacht!” “Das spielt keine Rolle. Du bist mit diesen Fähigkeiten geboren worden. Sie können dich nicht kontrollieren also fürchten sie dich. Und sie wollen alles töten, was sie fürchten.” Anna öffnete den Mund, wollte dagegen halten, ihren Glauben verteidigen und diesen Markus der Blasphemie bezichtigen. Doch ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Eigentlich sollte sie sich von ihm fern halten, ihm gar nicht zu hören, wenn er solch schreckliche Dinge behauptete. Doch er hatte ihr das Leben gerettet. Er wollte ihr helfen, das spürte sie deutlich. Außerdem hatte sie furchtbare Angst, wusste nicht, wo sie war oder wo sie hin sollte. Dieser Markus strahlte eine selbstbewusste Ruhe aus, die ihr einen Halt gab. Da ihr nichts besseres Einfiel, folgte sie ihm. Einem Häretiker, der einen - angeblichen - Diener des Imperators erschossen hatte und dabei keinerlei Anzeichen von Bedauern gezeigt hatte. Dafür würde sie in die ewige Verdammnis gestoßen werden. Andererseits würde sie das sowieso. Anna blieb eine ganze Weile lang still, damit beschäftigt, den zusammenbruch ihrer Weltanschauung zu verarbeiten.
Markus führte sie aus dem Labyrinth hinaus auf eine Straße und ging unbeirrt weiter in Richtung eines Aufzuges, der in andere Ebenen führte. “Ich nehme dich mit zu mir. Dort bist du sicher. Für deine Eltern ist es zu spät und du hättest sie sowieso nicht retten können. Du hast eine Begabung, außergewöhnliche Kräfte, doch du beherrscht sie noch nicht.” Viele Wörter, die er benutzte, kannte Anna nicht und die Gedankengänge waren ihr zu fremd, um ihnen folgen zu können. Sie bekam jedoch den Eindruck, dass er ihr helfen wollte. Als die beiden den Aufzug betraten, betätigte Markus einen Knopf und ein beunruhigendes Gefühl verknotete Annas Eingeweide. Sie hielt die Hände schützend vor den Bauch und schaute zu Markus, der vollkommen ruhig blieb. “Du fährst zum ersten Mal mit einem Aufzug oder? Wir fahren sehr schnell nach oben. Zehn Ebenen weiter nach oben. Das Gefühl ist normal.” Annas Augen wurden groß. Zehn Ebenen über ihrem Zuhause! Dieser Mann musste wahrhaft reich sein. Die Türen öffneten sich und Anna war, als wäre sie in einer anderen Welt gelandet. Die Plätze, Straßen und Tunnel waren noch immer ein in sich geschlossenes Labyrinth, doch alles wirkte viel… sauberer und... ordentlicher. Ein seltsames Licht erfüllte den Platz, auf den sie trat, es schmerzte in den Augen und sie schirmte sie mit einer Hand ab. Markus schmunzelte. “Was du siehst und fühlst ist Sonnenlicht. Halte dich nicht zu lange darin auf, deine Haut ist das nicht gewöhnt und kann verbrennen.” Geblendet von den ersten Strahlen, natürlichen Lichts in ihrem Leben stolperte die junge Frau ihrem Retter hinterher und sah nicht viel von den anderen, erstaunlichen Dingen, die im Wohnbereich der Reichen und Mächtigen zu sehen waren.
“Ich kam gerade noch rechtzeitig zu deiner Rettung.”, sagte Markus unvermittelt. “Ich halte immer die Augen nach anderen Psionikern offen. Als ich hörte, dass ein Inquisitor in die Stadt gereist war, ließ ich ihn beschatten.” Schließlich führte er Anna in das Innere eines Habitates, dass sich in jeder Hinsicht von ihrem alten Zuhause unterschied. Es war groß, es war hell, es war sauber und schön. Der Eingangsbereich war rund und mit einem dicken, gewebten Stoff bedeckt. Gegenüber des Eingangs war eine große Fensterfläche, durch die dasselbe, grelle, warme Licht viel. Links und rechts des Fensters gingen Treppen nach oben - das Habitat verfügte über mehrere Ebenen in sich, wie die Fabrik! “Du kannst hier wohnen. Oben habe ich ein Gästezimmer.” Überwältigt wusste Anna nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, was ein “Gästezimmer” war, aber sie verstand, dass Markus ihr ein Dach über dem Kopf bot. Unwillkürlich kniete sie sich hin und fuhr mit den Fingern über den Stoff, der den Boden bedeckte. Er war weich, flauschig. Der Stoff und die Webart waren ihr fremd. Die flauschigen Fasern waren mit einer festeren Bodenschicht verbunden. Wie gerne würde sie etwas so schönes nähen! “Du musst am Verhungern sein. Ich kann mir vorstellen, dass es dir dein ganzes Leben lang so ging. Komm mit in die Küche und iss etwas. Dann kannst du dich ausruhen. Morgen früh fangen wir an, dich zu trainieren.” Anna hob den Kopf und sah ihn fragend an. “Trai...nieren…?” “Das heißt, wir bereiten dich vor und üben.” Anna runzelte die Stirn. Sie fühlte sich hoffnungslos überfordert. “Worauf vorbereiten?”, hakte sie nach. Markus grinste und es war kein gütiger Ausdruck. Es war das gefährliche Lächeln eines Raubtieres. “Darauf, Rache für deine Eltern und dein Leben im Elend zu nehmen.”, sagte er. “Wenn du lernst deine Fähigkeiten zu kontrollieren und vor anderen zu verbergen, dann können du und ich die Welt verändern. Wir zahlen es dem Imperium heim.”
Anna brauchte einen Moment um die fremden Worte zu interpretieren. Ein Wort jedoch verstand sie mühelos: Rache. Zähnebleckend grinste sie zurück.
Die Grundidee war, dass ich zur Abwechslung mal keinen großen Helden als Hauptcharakter haben wollte, sondern einen ganz normalen Menschen. Einen beliebigen der
vielen Milliarden Einwohner des Imperiums. Die Normalität hielt allerdings nicht lange an, denn ganz so unscheinbar ist die Hauptperson dann doch nicht...
Ich würde mich über Feedback freuen und hoffe, meine Geschichte gefällt euch.
Verdammt
Für Anna begann der Tag, wie jeder andere auch. Um 05:00 Uhr morgens wurde sie von einem hellen, durchdringenden Ton aus dem Schlaf gerissen. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen und setzte sich in ihrer kleinen Koje auf. Ihr Vater und ihre Mutter erhoben sich bereits. “Guten Morgen mein Schatz.”, begrüßte der Vater sie, während er zu der Schalttafel an der Tür eilte, um den Wecker aus zu schalten. “Morgen.”, entgegnete sie zerknirscht und schwang die Beine über die Bettkante. Die Wohneinheit ihrer Familie war sehr klein. Es gab nur den Wohnraum, in dem gegessen, geschlafen und gelebt wurde, sowie ein kleines Bad. Mehr Platz wurde den Arbeitern der Fabrik nicht zugestanden. In Archaos Secundus, einer Makropole auf dem Planeten Archaos, gab es nicht genug Platz für die Milliarden von Menschen, man lebte auf engstem Raum zusammen und arrangierte sich mit den harten Lebensbedingungen, so gut es ging. Zumindest galt das für die einfachen Bewohner der mittleren Ebnen. Die Reichen und Schönen der Stadt lebten in den höheren Ebenen, nahe der Spitze der Makropole, so hatte Anna zumindest gehört. Angeblich ragten die Habitate der Regierung bis zu den Sternen hinauf, so dass die mächtigsten Männer des Planeten sie nach belieben betrachten konnten. Anna wusste nicht, ob das stimmte, denn sie hatte mit ihren 18 Lebensjahren noch nie eine andere Ebene von Archaos Secundus gesehen, als die, in der sie lebte. Genau genommen hatte sie noch nicht einmal das Viertel, in dem sich die Fabrik und ihre Wohneinheit befanden, verlassen.
Anna stolperte unbeholfen in das kleine Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Flüssigkeit war trüb und brannte leicht auf der Haut, da die Wasseraufbereitungsanlagen der Stadt vollkommen überfordert waren. Mit einem Stück Seife wusch die junge Frau sich die schmutzigen Hände, eine Angewohnheit, an der sie nach wie vor festhielt. Morgens sowie abends schrubbte sie sich die Finger wund um wenigstens den gröbsten Schmutz, das Öl und andere schwarze Rückstände los zu werden, die sich in dem Arbeiterviertel unweigerlich über alles und jeden legten. Während sie mit der Seife zu werke war, kam ihr Vater hinzu und benetzte ebenfalls sein Gesicht mit Wasser. Er hatte den Traum von Sauberkeit schon vor langem aufgegeben. Nach jahrelangem Schuften in der Fabrik hatte sich jede Kerbe, jede Falte seiner zerfurchten Haut mit dunklen, hartnäckigen Rückständen gefüllt, die sich nicht mehr abwaschen ließen. Stumm verließ er das Bad um seinen Overall anzuziehen. Nach der Wäsche zog auch seine Tochter ihre Arbeitskleidung an; einen grauen Overall aus grobem, zerschlissenem Stoff mit unzähligen Taschen für Werkzeug. Seit ihrem 10. Lebensjahr arbeitete Anna in der selben Fabrik, wie ihre Eltern. Zunächst wurde sie nur damit beauftragt Werkzeuge und Arbeitsmaterialien von den Ausgabestellen zu den Arbeitsplätzen der Erwachsenen zu bringen. Wenn eine der größeren Maschinen eine Fehlfunktion hatte, musste sie in deren beengten und düsteren Bauch klettern um das Problem zu finden. Doch seit ihrem 15. Geburtstag war sie alt genug, um als vollwertige Arbeitskraft die Uniformen für die Soldaten der planetaren Verteidigungsstreitkräfte zu nähen. Ihre Schicht begann um sieben Uhr. Zeit genug, um noch etwas zu essen. Als die kleine Familie am Esstisch saß und ihren Protein-Kohlenhydrate-Brei löffelte, begann ihr Vater mit ihr über die Jungs der Nachtschicht zu reden. Das tat er in letzter Zeit immer häufiger. Er sprach es nicht aus, doch Anna wusste warum. Sie war erwachsen und es war an der Zeit, sich einen Ehemann zu suchen, selbst Kinder zu kriegen und somit dem Fortbestand der Fabrik zu dienen. Wenn die Arbeiter nicht genug Nachwuchs hätten, würde es irgendwann nicht mehr genug Arbeitskräfte geben und dann würden die tapferen Soldaten des Imperiums keine wärmende Kleidung mehr erhalten. Keine Stiefel um die Feinde der Menschheit zu zertreten. Keine Handschuhe mehr, um auf fernen, eisigen Welten ihr Gewehr halten zu können. Anna war im tiefen Glauben an den Imperator der Menschheit erzogen worden und wollte ihrer Pflicht seinem Imperium gegenüber nachkommen. Dass sie nicht viel von Männern hielt und keinen kannte, dem sie auch nur freundschaftliche Gefühle entgegen brachte, war nebensächlich. Sie wollte auf keinen Fall den Zorn des Imperators auf sich ziehen. Auch stand verheirateten Paaren etwas mehr Lohn zu. Geld, das sie und ihre Familie gut gebrauchen konnten.
Aus diesen völlig unromantischen Gründen hätte Anna morgen schon geheiratet, doch es waren die Jungs, die sie ablehnten. Es lag keineswegs an ihrem Äußeren, das war ihr klar. Ihre schwarzen, kinnlangen Haare umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht, große, helle Augen, eine schmale Nase und volle Lippen. Anna kannte viele Frauen, die einen Mann hatten und unscheinbarer waren. Nein, niemand wollte Anna heiraten, weil alle Männer sie schon von klein auf kannten. Sie waren alle zusammen in die Schule gegangen und die meisten von ihnen arbeiteten später auch in derselben Schicht. Sie alle kannten die Gerüchte über sie, manche waren sogar bei den seltsamen Zwischenfällen dabei gewesen. Alle flüsterten sie hinter ihrem Rücken. Sie nannten sie Hexe, Mutant, Abschaum, Dämonenkind, Xenobrut. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nie Freunde gehabt. Schon in der Schule war sie den anderen nicht geheuer. Sie konnte irgendwie… spüren, wenn ihr jemand einen Streich spielen oder ihre Pausenration stehlen wollte. Noch bevor der Übeltäter zur Tat schreiten konnte, lief Anna ihm davon - manchmal schlug sie auch zu. Es hatte im Laufe der Jahre mehrere Knochenbrüche und blaue Flecken gegeben. Einmal hatte der Hausmeister der Schule sie allein in einem verlassenen Korridor getroffen und wollte sie in eine Ecke drängen. Die neunjährige Anna, von einer grauenvollen Vorahnung gepackt, schlug mit ihrer kleinen Faust auf den großen, massigen Mann ein. Mit einem einzigen Hieb brach sie zwei Rippen und prellte eine weitere. Einer der Heiler, der den Mann auf die Krankenstation bringen sollte, hatte gemurmelt: “Das kann unmöglich ein kleines Mädchen getan haben. Mit bloßen Händen.” Es dauerte nicht lange und niemand mehr wollte etwas mit Anna zu tun haben. Man ging ihr aus dem Weg, ignorierte oder beschimpfte sie. Dabei war es nie ihre Absicht gewesen, jemanden ernsthaft zu verletzen. Sie wusste selbst nicht, woher ihre Vorahnungen und ihre schnellen Reaktionen kamen. Das machte ihr Angst. Sie fürchtete sich vor sich selbst. Konnte es wirklich sein, dass sie ein Monster oder eine Hexe war? Ihre Eltern waren doch vollkommen normal, also konnte das doch unmöglich stimmen. Anna lernte, ihren Mitmenschen aus dem Weg zu gehen, sich nicht provozieren zu lassen und unterdrückte vehement jede Vorahnung und alles, was nicht normal zu sein schien. Doch die Kinder des Viertels vergaßen die unheimlichen Begebenheiten nicht und heute war Anna noch immer allein. Nur ihre Eltern hielten zu ihr, liebten sie und sorgten sich um sie. Jedes Mal, wenn Anna etwas seltsames passiert war, hatten ihre Eltern ihr den Kopf gestreichelt, ihr gesagt, dass es nicht ihre Schuld sei, sie es aber trotzdem verheimlichen musste. Vor jedem.
Ihr Vater fragte sie etwas und riss sie damit aus ihren Grübeleien. “Was?”, fragte sie durcheinander. “Derrek, Schatz, toller Kerl in der Nachtschicht. Arbeitet an der Linie für Rucksäcke. Kennst ihn nich’?” Womit ihr Vater ihr zu verstehen gab, dass er sie vielleicht heiraten würde, da er die Gerüchte über sie möglicherweise noch nicht gehört hatte. “Nein, ich kenn’ ihn nich.”, antwortete sie widerstrebend. “Solltest du - wir können ihn am Ruhetag zum Essen einladen.” “Ja.”, antwortete die junge Frau ohne Begeisterung. Die Schüssel vor ihr war geleert und es wurde Zeit, zur Arbeit zu gehen. Gemeinsam mit ihren Eltern verließ sie die kleine Unterkunft und trat hinaus auf die schmale Gasse davor. Zu beiden Seiten des Weges reihten sich die grauen, schmutzigen, rechteckigen Unterkünfte der Arbeiter aneinander. Um keinen Platz zu verschwenden, waren jeweils fünf Wohneinheiten übereinander gestapelt, die oberen Etagen waren durch schmale Treppen und Leitern erreichbar. Annas Familie wohnte ebenerdig und musste sich zunächst durch einige Müllsäcke kämpfen, die den Weg nach draußen versperrten. Es gab zwar einige Recyclinganlagen auf den unteren Ebenen der Stadt, doch die Müllabfuhr kam bei der schieren Menge an Abfällen einfach nicht hinterher. Den entsetzlichen Gestank nahm Anna schon gar nicht mehr wahr, ebenso wenig den dichten Smog, der die recycelte Luft verpestete. Ihre Mutter jedoch wurde von einem heftigen Hustenanfall erschüttert. Das geschah immer häufiger und die Anfälle wurden schlimmer. Der Vater hatte einen Heiler um Rat gefragt, doch der hatte nur mit den Achseln gezuckt und etwas von “Liegt an der Luft”, gemurmelt.
Die Fabrik war nur zwei Straßen entfernt und wie immer füllten sich die Wege mit Menschen, die alle das gleiche Ziel hatten. Durch ein großes Tor, welches zwei Mann hoch war und zehn breit, ging es zur Registrierung. Eine Reihe von Servitoren der Verwaltung stand rechts an der Wand und scannte die Ausweise jeden Mitarbeiters, registrierte die Uhrzeit und sendete die Informationen an die Verwaltung, ein paar Etagen weiter oben. Zur Linken sah Anna weitere Servitoren, die die Ausweise derjenigen scannten, die das Gebäude verließen. Wachmänner tummelten sich im Eingangsbereich und beobachteten gelangweilt das Kommen und Gehen. Um 06:50 Uhr ertönte ein lauter Gong aus den Lautsprechern der Eingangshalle und alle Arbeiter der Frühschicht lenkten ihre Schritte zu der Kapelle, die sich weiter hinten auf der rechten Seite an die Eingangshalle anschloss. Vor Beginn jeder Schicht wurde gebetet. Die Menschen drängten sich dicht an dicht, knieten ehrfürchtig vor dem Altar mit dem riesigen, vergoldeten Aquila und senkten andächtig die Köpfe. Ein Priester, in weite, helle Roben gehüllt, trat vor die Versammelten und gemeinsam beteten sie für einen weiteren, produktiven Tag im Dienste des Gott-Imperators. Durch die Erfüllung ihrer Pflicht, so der Priester, preisten sie alle seinen Namen und dienten ihm und damit der gesamten Menschheit.
Anna kniete mit geschlossenen Augen zwischen ihren Eltern und betete so inbrünstig, wie alle anderen. “Bitte, lass mich einen Mann finden, mit dem ich Kinder zeugen kann, so wie es dein Wille ist. Bitte, beschütze mich vor den seltsamen Kräften, die ich zu haben scheine. Schütze meine Seele, reinige mich von dem Unreinen.” Um Punkt sieben Uhr beendete der Priester die Andacht und scheuchte sie alle an ihre Arbeitsstationen.
Die Produktion der Uniformen lief Tag und Nacht. Nur am Ruhetag, einmal alle zwei Standard-Wochen, standen die Maschinen still. Die Armeen des Imperators waren ungezählt, genauso wie die Kriege, die sie zum Schutze der Menschheit führten. Der Bedarf an Ausrüstung war unvorstellbar groß. Deshalb achteten die Aufseher darauf, dass keine Zeit verschwendet wurde, es keine Unterbrechungen gab. Der Mann, der an Annas Platz saß und eine Feldjacke zusammen nähte, war aus der Nachtschicht und durfte erst gehen, wenn er von Anna abgelöst wurde. Sie begrüßte ihn leise und er stand wortlos auf und ging schlürfenden Schrittes hinaus. Anna setzte sich an ihren Platz. Prompt kam ein kleiner Junge angelaufen, einen großen Karren vor sich her schiebend. Anna nahm die vorgeschnittenen Stoffe aus dem Karren und begann sie mit geübten Fingern zusammenzunähen. Die Stunden zogen vorbei, während sie erst eine Feldjacke, dann eine Hose, dann einen Offiziersmantel nähte und in einen wartenden Karren rechts von sich legte. Alles war wie immer. Am Platz vor ihr saß Tim, ein ehemaliger Klassenkamerad. Offenbar wurde ihm mal wieder langweilig, denn er drehte sich zu ihr um und grinste höhnisch. “Na, haste kleine Kinder gefrühstückt, du Hexe?” Zorn kochte in Anna hoch, doch sie unterdrückte ihn. Sie kannte derlei Gemeinheiten von Tim, genauso wie von allen anderen. Es war inzwischen Teil ihres Alltags. Sie ignorierte ihn und arbeitete weiter. Im Gegensatz zu ihm nahm sie ihre Pflichten ernst. Doch ihr Schweigen stachelte ihn nur noch weiter an. Als der kleine Junge erneut mit Arbeitsmaterialien zu Annas Platz eilte, zog Tim die Nase hoch und spuckte auf den wertvollen Stoff im Karren. “Lass das!”, fauchte die junge Frau, griff widerwillig in den Karren und zog den beschmutzten Stoff heraus. Eine Offiziersjacke. Und der klebrige, graue Fleck war deutlich zu sehen. Anna konnte Tim für die Beschädigung der Ware melden. Aber das würde Arbeitszeit in Anspruch nehmen und die Aufseher konnten sie genauso wenig leiden, wie alle anderen. Den Stoff einfach zu entsorgen kam ebenfalls nicht in Frage, die Aufseher würden sie der Verschwendung von wertvollen Ressourcen bezichtigen. Es half nichts. Sie musste die Jacke fertig stellen. Wenn bei der Endkontrolle der Fleck auffiel, würde man ihr die Schuld geben. Sie konnte nur darauf hoffen, dass die Jacke in der Menge der Exemplare unter ging.
Ihre Passivität stachelte Tim nur noch weiter an. “Guckt mal, die näht Scheiße zusammen!”, krähte er. “Bist ‘ne schlechte Näherin, bist hochnäsig, bist’n scheiß Mutant, Hexe!” Viele Blicke wanderten zu ihnen herüber. Manche begannen zu murmeln oder nickten leicht in stiller Zustimmung. Niemand griff ein. Niemand machte sich für Anna stark. “Mach deine Arbeit, Tim!”, herrschte sie ihn an und ging mit gutem Beispiel voran. Ein Brennen erfasste ihr Herz und ließ sie leise aufkeuchen. Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Das starke Gefühl einer Bedrohung wallte ihn ihr auf. Stark, aufdringlich und unmissverständlich. Ihr war klar, dass Tim es heute nicht bei verbalen Attacken bleiben lassen würde, auch wenn sie keine Ahnung hatte, woher dieses Wissen so plötzlich gekommen war. Tim wollte Gewalt und Grausamkeit. Alles in ihr schrie danach, sich zu schützen, der Attacke zuvorzukommen. Nicht schon wieder!, dachte sie sich. Es durfte nicht noch einen seltsamen Vorfall geben. Sie durfte dem Verlangen in ihr nicht nachgeben. Ihre Seele stand auf dem Spiel. Mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, ignorierte die Frau das Brennen und Tosen in sich und führte eine zitternde Hand zur Nadel der Nähmaschine vor sich. Plötzlich bewegte Tim sich. Seine Hand fegte in Annas Blickfeld und traf auf die ihre. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Linke. Und noch einer und noch einer. Die Explosionen von Schmerz erfolgten rasch aufeinander. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, riss instinktiv ihre Hand zurück und presste sie schützend gegen ihren Körper. Die automatisierte Nadel war abgebrochen, der gezackte Stumpf fuhr noch immer auf und ab, auf und ab. Blut tropfte auf den Tisch und den Stoff darunter. Ihr Blut. Mit vor Schmerz tränenden Augen blickte Anna fassungslos auf ihre Hand. Eine Reihe von Einstichen zog sich quer über ihren Handrücken, die Spitze der Nadel steckte noch in ihrem Fleisch. Die Stiche gingen tief und der Schmerz gewann noch an Intensität, nachdem der erste Schock abgeklungen war. Ein Wimmern drang aus ihrem Mund. Zitternd griff sie mit der Rechten nach der Nadel und zog sie heraus. Ein Reißen im Innern. Noch mehr Blut. Der Schmerz wurde noch intensiver, raubte ihr für einen Moment den Atem. Als sie wieder Luft in ihre Lungen saugen konnte, hob sie den Blick und sah in das von Boshaftigkeit verzerrte Gesicht von Tim. Er saß verkehrt herum auf seinem Stuhl, sah sie an und lachte in sich hinein. Hass erfüllte Anna, bahnte sich den Weg durch ihren Verstand und verdrängte sogar den Schmerz. All die Gemeinheiten, all die Grausamkeiten, die ihr je widerfahren waren, durch Tim und durch viele andere Menschen, all das kochte in ihr hoch. Dieses bösartige Gesicht und dieses Lachen standen stellvertretend für alles Leid in ihrem Leben. Erneut richteten sich ihre Nackenhaare auf, die Luft schien zu vibrieren und es roch plötzlich intensiv nach Ozon. Dann zerplatzte Tims Kopf.
Im einen Moment lachte er sie noch aus, im nächsten war da nur noch eine rote Wolke, die auseinander stob und zahllose winzige Knochensplitter, wie Schrapnelle in alle Richtungen sausten. Einige bohrten sich Schmerzhaft in Annas Körper und auch ihre Kollegen wurden getroffen und schrien vor Schreck und Schmerz auf. Während der feuchte, rote Nebel sich langsam, wie in Zeitlupe auf Tims Körper, seinen Arbeitsplatz, auf Anna und alles in einem Umkreis von mehreren Metern herab senkte wurde es totenstill. Alle waren starr vor Schreck und das einzige Geräusch war das nasse Klatschen, mit dem Tims Körper von seinem Stuhl rutschte und auf dem Boden aufschlug. Dann war der Moment vorbei. Was folgte, war Chaos.
Die Leute schrien vor Entsetzen, brüllten nach den Aufsehern und wichen in Panik vor Anna zurück. Viele zeigten mit dem Finger auf sie und riefen Dinge wie “Mörderin!”, “Hexe!”, “Mutant!”, oder “Du hast ihn getötet!” Anna selbst saß regungslos auf ihrem Stuhl und starrte entsetzt auf das Blutbad. War das wirklich sie gewesen? Aber das hatte sie nicht gewollt! Es war keine Absicht! Trotz der Wut auf ihn, trotz allem, was sie hatte erdulden müssen - sie wollte nie jemanden verletzen. Sie konnte Tim unmöglich getötet haben. Oder doch? Hatte sie es vielleicht doch gewollt, tief im Innern? Plötzlich war da ihre Mutter neben ihr, ergriff ihren Arm und zog sie auf die Beine. “Los komm. Weg hier.”, sagte sie, doch Anna schien zu einer leblosen Puppe geworden zu sein. Mit sanftem Nachdruck zog ihre Mutter sie mit sich durch die Menge der panischen Arbeiter, die verängstigt zurück wichen als sie die blutgetränkte Anna auf sich zu kommen sahen. Anna bekam nicht mit, wie und wann sie die Fabrik verlassen hatten. Sie wusste nur, dass plötzlich ihr Vater zu ihrer Linken ging und fragte, was passiert war und dass sie sich vor der Tür ihrer Wohnung befand. Während die Mutter sie nach drinnen schob erzählte diese ihrem Ehemann von dem toten Tim. Anna stand in der Mitte des kleinen Raumes, tropfte Blut und Hirnmasse auf den Boden und begann haltlos zu zittern. “Zieh das aus und wasch dich.”, wies ihre Mutter sie an, doch ihr Körper bebte so stark, dass sie Hilfe benötigte. Nachdem sie das Gröbste von Tims Überresten los geworden und von ihrer Mutter in neue Kleider gesteckt worden war, ließ das Beben allmählich nach. Dafür kam die Angst. Diese stand auch ihren Eltern ins Gesicht geschrieben. “Du musst fliehen. Sie werden dich sonst holen.”, sagte ihre Mutter mit kummervollem Gesicht. Der Vater eilte in die Kochecke und stöberte in den den Schränken herum. “Fliehen?”, fragte Anna. “Ja, lauf weg, Kind. Sie werden dich suchen. Wenn sie dich finden, töten sie dich.” Ihr Vater kam mit einem kleinen Bündel zurück und drückte es ihr in die Hand. “Wir lieben dich. Aber du musst gehen.”, beharrte er. Tränen der Verzweiflung und der Angst stiegen Anna in die Augen. Ihre Mutter umarmte sie, drückte sie an sich und sah ihr danach in die Augen. Selbst den Tränen nahe, sagte sie: “Du bist nicht schlecht. Denk daran. Wir lieben dich. Lauf.” Auch der Vater umarmte sie zum Abschied, dann öffnete er die Tür. Anna wischte sich die Tränen mit einem Ärmel ihres zu langen Hemdes ab und versuchte mit den Ereignissen Schritt zu halten. Tim war tot. Wie sie es getan hatte und warum spielte keine Rolle. Sie kannte die Menschen. Sie würden sie dafür bestrafen. Also musste sie sich verstecken. “Ich komme wieder, sobald ich kann.”, versprach sie ihren Eltern. Dann rannte sie hinaus, in das kalte, graue Labyrinth der Makropole.
Zunächst achtete Anna überhaupt nicht darauf, wo sie lang ging. Sie wollte einfach nur weg, möglichst weit weg von den Menschen, die ihr böses wollten, weg von der Schuld und der kopflosen Leiche Tims. Sie rannte über riesige Straßen, auf denen Fahrzeuge unterschiedlichster Art unterwegs waren, drängte sich durch Gruppen von Fußgängern und kletterte in dunklen Gassen über Berge von Abfall. Irgendwann - sie hatte längst die Orientierung und das Zeitgefühl verloren - brach sie keuchend und mit hämmerndem Herzen zusammen, rollte sich ein wie ein verwundetes Tier und schluchzte hemmungslos. Sie lag inmitten eines riesigen Areals, ein vielfaches größer als die Fertigungshalle der Fabrik. Das ganze Gelände war mit Rohren und Leitungen überzogen, die sich in einem wirren Muster überkreuzten, verbanden, oder aufteilten. Manche stießen heißen Dampf aus, manche summten laut, in anderen war ein stetiges Rauschen zu hören. Anna hatte sich durch Lücken und Hohlräume gezwängt, war über Rohre hinweg gestiegen und unter ihnen durch gekrochen, bis ihre Kräfte sie verlassen hatten. Jetzt lag sie in einem der größeren Zwischenräume und versuchte verzweifelt, wieder zu Atem zu kommen. Allmählich ging ihr Atem ruhiger, das Herz hämmerte nicht mehr gegen ihren Brustkorb, als wolle es selbst davon rennen. Sie wusste nicht, wie lange sie zwischen all diesen Rohren lag. Eine Stunde? Zwei? Einen ganzen Tag? Es spielte keine Rolle. Irgendwann meldete sich ihr Magen und verlangte knurrend nach Nahrung. Ihr fiel das Bündel wieder ein, das ihr Vater ihr gegeben hatte. Ihre linke Hand umklammerte es noch immer. Ohne sich aufzusetzen packte Anna den Inhalt aus. Es waren ein Nahrungsriegel aus Kohlenhydraten und Proteinen sowie ein Ring aus einem Drahtgeflecht. Ihr Vater hatte ihn aus Altmetall gefertigt, sie erkannte seiner Hände Werk sofort. Wahrscheinlich hatte er ihn seiner Tochter zu ihrer Hochzeit schenken wollen… Erneut schluchzend, steckte sie sich das Andenken an den Ringfinger der linken Hand. Um ihren Magen zu beruhigend zwang sie sich, ein paar Bissen von dem Riegel zu essen. Irgendwann döste sie ein und träumte von explodierenden Menschen und dunklen, bösen Gestalten, die ihre Krallen nach ihr ausstreckten und sie hetzten wie ein wildes Tier.
Mit einem Schrei wachte Anna auf. Sie fuhr hoch und stieß sich den Kopf an einem heißen Rohr. Stöhnend rieb sie sich den Kopf, an dem sogleich eine große Beule entstand. “Lauf nicht weg, das wird dir nichts bringen.” Erschrocken fuhr Anna herum und sah sich nach der Herkunft der kalten, fremden Stimme um. Sie musste nicht lange suchen. Nur zwei Meter von ihr entfernt hockte ein Mann geduckt auf einem breiten Rohr und beobachtete sie wachsam. Er trug vorwiegend schwarze Kleidung von einer Qualität, wie sie in Annas Fabrik nirgends hergestellt wurde. Schwere Stiefel, in denen weite Hosen steckten, eine robust wirkende Weste aus einem Material, das sie noch nie gesehen hatte. Behandschuhte Hände, die auf den Oberschenkeln ruhten. Die Gestalt wurde von einem langen, ebenfalls schwarzen Umhang umrahmt. Das Gesicht war groß, kahl rasiert und vernarbt. Kalte, graue Augen starrten Anna durchdringend an. Sie hatte keine Ahnung, wer der Fremde war, aber instinktiv wusste sie, dass er eine Gefahr war. Eine Aura der Angst umgab ihn, wie ein zweiter Mantel. Wimmernd kroch Anna rückwärts um den Fremden dabei nicht aus den Augen zu lassen. “Du hast den Jungen getötet richtig? Hast seinen Kopf explodieren lassen?” Der Mann machte keinerlei Anstalten, Anna aufzuhalten und so kroch sie weiter. Als sie mit dem Rücken gegen eine bodennahe Leitung stieß musste sie sich von der Gestalt abwenden und darüber hinweg klettern. Sie hörte über sich das Rascheln von Kleidung, dann tauchte die Gestalt plötzlich auf einem anderen Rohr stehend vor ihr auf. Er zog eine glänzende, aus poliertem Metall bestehende Waffe hervor, eine Laserpistole. Völlig ruhig richtete er die Mündung auf die junge Frau. Diese hob die Hände und wimmerte, vor Angst erstarrt. Der Mann seufzte und sagte: “Du hast eine Begabung. Schade, dass wir dich nicht schon viel früher gefunden haben. Du hättest eine von uns werden können. Dem Imperator und der Menschheit treu dienen können. Aber jetzt…” Er räusperte sich und sprach dann in gleichgültigen, geschäftsmäßigen Ton weiter: “Du bist eine nicht sanktionierte Psionikerin und hast einen unschuldigen Menschen getötet. Du bist zum Tode verurteilt. Möge der Imperator Gnade mit deiner Seele haben.” Anna beobachtete hilflos, wie der Zeigefinger an der Pistole sich krümmte. Die Furcht hielt sie noch immer in ihren Krallen und so konnte sie nichts weiter tun, als ein Stoßgebet an den Gott-Imperator zu schicken. Eine Reihe ohrenbetäubender Schüsse ertönte. Den Bruchteil einer Sekunde später folgten noch lautere, markerschütternde Explosionen und aus dem Fremden stoben große Blutwolken hervor. Seine zerfetzten Überreste fielen von dem Rohr hinunter und auf den Boden. Anna fuhr heftig zusammen, die Hände immer noch unsinniger Weise vor dem Gesicht erhoben, welche erneut rot von Blut waren. Das ganze erinnerte sie zu sehr an Tim. Ein Schrei bahnte sich den Weg aus ihren Lungen und zerriss die Stille, die auf die Explosionen gefolgt war. Einmal begonnen, konnte sie gar nicht mehr aufhören, sich das Entsetzen und die Angst aus dem Leib zu brüllen. “Ist ja gut, Mädchen. Sei ruhig. Oder willst du, dass dich der Nächste findet?” Ertönte eine neue Stimme. Annas Kopf ruckte nach rechts und erblickte einen weiteren Mann, der sich mühsam durch das Gewirr von Leitungen zwängte um sich ihr zu nähern. Auch vor ihm fürchtete sie sich. In diesem Moment fürchtete sie sich vor allem und jedem und so schrie sie einfach weiter, hoffte, ihn mit ihrer Stimme auf Abstand halten zu können. Der Mann war korpulenter als der erste, dessen Gedärme nun auf Boden verteilt waren. Er trug wertvoll aussehende, auffällige Kleidung in rot und gold. In einer Hand jedoch hielt er eine übertrieben große, klobige Pistole gegen die die Laserpistole des Toten sich winzig ausnahm. Die riesige, schwarze Mündung zeigte zu Boden und Rauch stieg aus ihr hervor.
“Ich tue dir nichts, bitte hör auf zu schreien, Kind.” Der Mann steckte seine Waffe weg und streckte Anna beide Hände entgegen, die Handflächen nach außen. “Ich will dir helfen. Ich bin wie du.” Das ließ Anna verstummen. Er wirkte wie ein reicher Kaufmann, er drückte sich sehr vornehm und gebildet aus. Seine Worte waren so unvertraut, dass Anna Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Was meinte er damit, dass er so sei, wie sie? Konnte er Menschen mit bloßen Gedanken töten? Während sie ihn betrachtete spürte sie… Etwas… Etwas, das sie noch bei keinem anderen Menschen wahrgenommen hatte. Behutsam trat er näher, die Hände noch immer beschwichtigend erhoben. “Komm mit mir. Ich kann dir helfen.” Als Anna zögerte, sagte der Mann mit einem schiefen Grinsen: “Ich habe dir gerade das Leben gerettet. Du schuldest mir etwas. Du kannst mir vertrauen.” Anna wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre ganze Welt fiel auseinander, sie wurde gejagt, hatte kein Versteck und dieser Mann war offensichtlich reich und klug - sie traf die Entscheidung, ihm zu vertrauen. Mit zittrigen Knien erhob sie sich und kletterte durch die Rohre auf den Kaufmann zu. Als sie ihn erreichte, lächelte er zufrieden, wandte sich um und ging voraus. “Ich heiße Markus und du?” “Anna.”, antwortete sie mit heiserer, brüchiger Stimme. “Du kommst aus dieser Gegend, nicht wahr?” Stumm nickte sie. “Ich fürchte, du kannst nicht mehr nach Hause, Anna. Sie suchen dich. Du musst dein altes Leben hinter dir lassen.” “Meine Eltern…”, begann Anna verzweifelt, doch Markus schnitt ihr das Wort ab. “Du kannst ihnen nicht mehr helfen. Sie verhören sie bereits.” Anna blickte den Mann verständnislos an. “Ver...hören?” “Sie fragen deine Eltern über dich aus. Wo du bist, wen du kennst. Wenn sie keine zufriedenstellenden Antworten bekommen, wenden sie Gewalt an.” Neues Entsetzen erfüllte Anna. “Wer? Wer tut Gewalt an?” “Die Inquisition - Die Kollegen des Inquisitors da hinten.”, sagte Markus und deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der Leiche, die sie zurück ließen. Anna wusste nicht, was die Inquisition war, aber wenn sie ihre gläubigen, braven Eltern quälten, dann mussten es Feinde der Menschheit sein. “Das wird der Imperator nicht zulassen! Er wird sie retten. So wie ich gerettet bin. Der Imperator beschützt!” Daraufhin brach Markus in Gelächter aus. “Anna… Die Inquisitoren sind die Diener des Imperators. Deine bloße Existenz ist eine Blasphemie! Psioniker, wie dich und mich töten sie und sie schrecken nicht davor zurück, auch anderen Leid anzutun, wenn es ihrer Sache nützt.” “Nein! Der Imperator beschützt! Bin keine Blasphemie, habe immer gebetet. Immer meine Arbeit gemacht!” “Das spielt keine Rolle. Du bist mit diesen Fähigkeiten geboren worden. Sie können dich nicht kontrollieren also fürchten sie dich. Und sie wollen alles töten, was sie fürchten.” Anna öffnete den Mund, wollte dagegen halten, ihren Glauben verteidigen und diesen Markus der Blasphemie bezichtigen. Doch ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Eigentlich sollte sie sich von ihm fern halten, ihm gar nicht zu hören, wenn er solch schreckliche Dinge behauptete. Doch er hatte ihr das Leben gerettet. Er wollte ihr helfen, das spürte sie deutlich. Außerdem hatte sie furchtbare Angst, wusste nicht, wo sie war oder wo sie hin sollte. Dieser Markus strahlte eine selbstbewusste Ruhe aus, die ihr einen Halt gab. Da ihr nichts besseres Einfiel, folgte sie ihm. Einem Häretiker, der einen - angeblichen - Diener des Imperators erschossen hatte und dabei keinerlei Anzeichen von Bedauern gezeigt hatte. Dafür würde sie in die ewige Verdammnis gestoßen werden. Andererseits würde sie das sowieso. Anna blieb eine ganze Weile lang still, damit beschäftigt, den zusammenbruch ihrer Weltanschauung zu verarbeiten.
Markus führte sie aus dem Labyrinth hinaus auf eine Straße und ging unbeirrt weiter in Richtung eines Aufzuges, der in andere Ebenen führte. “Ich nehme dich mit zu mir. Dort bist du sicher. Für deine Eltern ist es zu spät und du hättest sie sowieso nicht retten können. Du hast eine Begabung, außergewöhnliche Kräfte, doch du beherrscht sie noch nicht.” Viele Wörter, die er benutzte, kannte Anna nicht und die Gedankengänge waren ihr zu fremd, um ihnen folgen zu können. Sie bekam jedoch den Eindruck, dass er ihr helfen wollte. Als die beiden den Aufzug betraten, betätigte Markus einen Knopf und ein beunruhigendes Gefühl verknotete Annas Eingeweide. Sie hielt die Hände schützend vor den Bauch und schaute zu Markus, der vollkommen ruhig blieb. “Du fährst zum ersten Mal mit einem Aufzug oder? Wir fahren sehr schnell nach oben. Zehn Ebenen weiter nach oben. Das Gefühl ist normal.” Annas Augen wurden groß. Zehn Ebenen über ihrem Zuhause! Dieser Mann musste wahrhaft reich sein. Die Türen öffneten sich und Anna war, als wäre sie in einer anderen Welt gelandet. Die Plätze, Straßen und Tunnel waren noch immer ein in sich geschlossenes Labyrinth, doch alles wirkte viel… sauberer und... ordentlicher. Ein seltsames Licht erfüllte den Platz, auf den sie trat, es schmerzte in den Augen und sie schirmte sie mit einer Hand ab. Markus schmunzelte. “Was du siehst und fühlst ist Sonnenlicht. Halte dich nicht zu lange darin auf, deine Haut ist das nicht gewöhnt und kann verbrennen.” Geblendet von den ersten Strahlen, natürlichen Lichts in ihrem Leben stolperte die junge Frau ihrem Retter hinterher und sah nicht viel von den anderen, erstaunlichen Dingen, die im Wohnbereich der Reichen und Mächtigen zu sehen waren.
“Ich kam gerade noch rechtzeitig zu deiner Rettung.”, sagte Markus unvermittelt. “Ich halte immer die Augen nach anderen Psionikern offen. Als ich hörte, dass ein Inquisitor in die Stadt gereist war, ließ ich ihn beschatten.” Schließlich führte er Anna in das Innere eines Habitates, dass sich in jeder Hinsicht von ihrem alten Zuhause unterschied. Es war groß, es war hell, es war sauber und schön. Der Eingangsbereich war rund und mit einem dicken, gewebten Stoff bedeckt. Gegenüber des Eingangs war eine große Fensterfläche, durch die dasselbe, grelle, warme Licht viel. Links und rechts des Fensters gingen Treppen nach oben - das Habitat verfügte über mehrere Ebenen in sich, wie die Fabrik! “Du kannst hier wohnen. Oben habe ich ein Gästezimmer.” Überwältigt wusste Anna nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, was ein “Gästezimmer” war, aber sie verstand, dass Markus ihr ein Dach über dem Kopf bot. Unwillkürlich kniete sie sich hin und fuhr mit den Fingern über den Stoff, der den Boden bedeckte. Er war weich, flauschig. Der Stoff und die Webart waren ihr fremd. Die flauschigen Fasern waren mit einer festeren Bodenschicht verbunden. Wie gerne würde sie etwas so schönes nähen! “Du musst am Verhungern sein. Ich kann mir vorstellen, dass es dir dein ganzes Leben lang so ging. Komm mit in die Küche und iss etwas. Dann kannst du dich ausruhen. Morgen früh fangen wir an, dich zu trainieren.” Anna hob den Kopf und sah ihn fragend an. “Trai...nieren…?” “Das heißt, wir bereiten dich vor und üben.” Anna runzelte die Stirn. Sie fühlte sich hoffnungslos überfordert. “Worauf vorbereiten?”, hakte sie nach. Markus grinste und es war kein gütiger Ausdruck. Es war das gefährliche Lächeln eines Raubtieres. “Darauf, Rache für deine Eltern und dein Leben im Elend zu nehmen.”, sagte er. “Wenn du lernst deine Fähigkeiten zu kontrollieren und vor anderen zu verbergen, dann können du und ich die Welt verändern. Wir zahlen es dem Imperium heim.”
Anna brauchte einen Moment um die fremden Worte zu interpretieren. Ein Wort jedoch verstand sie mühelos: Rache. Zähnebleckend grinste sie zurück.