WHFB - Das Kurfürstentum Averland

Sir Leon

Malermeister
19. März 2004
2.097
226
20.216
41
Motivation

Ich habe irgendwann Anfang der 90er Jahre mit WHFB begonnen, nach der 5. Edition aber aufgehört. Da die 8. wieder deutlich mehr Richtung Spiel und weniger Wetkampf geht, habe ich meine alten Figuren wieder ausgegraben, durch neue ergänzt und schließlich eine Armee ausgehoben. Eigentlich arbeite ich an der schon recht lange, hatte sie hier aber irgendwie nicht vorgestellt. Jedenfalls ist sie inzwischen auf eine spielbare Größe herangewachsen, aber längst noch nicht fertig. Da jetzt langsam die coolen Sachen dazu kommen, die nicht zwingend in die Armee, aber unbedingt in meine Sammlung müssen, dachte ich mir, dass das hier auch ganz gut aufgehoben sein könnte.

Das Imperium ist in meinen Augen die Armee mit dem dichtesten Hintergrund. Vor allem die Gotrek-und-Felix-Romane haben mich da sehr geprägt, weil sie einen interessanten Einblick in den Alltag imperialer Bürger liefern. Averland ist in vielerlei Hinsicht eine interessante Provinz. Sehr wohlhabend, lange von einem ausgesprochen verrückten Herrscher geführt und fernab von Chaoseinfällen und anderen unangenehmen Dingen... mag man zumindest annehmen. Das Chaos tritt hier subtiler auf. Der Wahnsinn des Kurfürsten resultierte aus den Versuchungen einer Chaos-Kultistin. Nach dem Tode Marius Leitdorfs kam ein Vertreter eben dieses Kults an die Herrschaft. Keine angenehmen Aussichten. Der Hintergrund meiner Armee spielt vor diesen Ereignissen, aber nach dem Tod des Fürsten. Die Armee verfügt aber auch über Elemente, die nichts mit dem Hintergrund zu tun haben.
 
Hintergrund: Einführung - Averland

averlandl.jpg


"[...] Wir verließen Nuln gen Osten und betraten somit eine der reichsten Provinzen unseres geliebten Vaterlandes. Das Kurfürstentum Averland ist berühmt für seine Pferdezucht, die ihr viel Wohlstand beschied. Das Land selbst ist von relativ einheitlicher Landschaft. So zeigen sich nur hier und dorten ein paar Waldflecken, doch sonst sieht das Auge nur Wildwiesen und grüne Hügel. Wir schlugen mit einem leichten Schlag nach Norden eine schmale Straße den Fluss Aver aufwärts ein. Der Fluss ist Patron des Landes und der Hauptstadt Averheim, die wir nach einigen Tagen erreichten. Auch wenn wir hier, geschätzter Oheim, nicht in Altdorf oder Nuln sind, so ist Averheim doch eine kleine, kulturelle Schatzkammer, was zu einem guten Theile dem verstorbenen Kurfürsten Marius Leitdorf zu verdanken ist. Ich bedauerte schon bei der Passage des Greifentores, dass unser Aufenthalt nur kurz sein sollte. [...]
Würden wir weiter dem Aver folgen, erreichten wir in wenigen Tagen das Mootland, welches sich im Averland, wie ich aus den Gesprächen mit den Averländern erfuhr (die sich übrigens allesamt - wie ich betonen möchte - als ausgesprochen angenehme und durchweg ausreichend gebildete Unterhalter erwiesen haben), keiner besonderen Beliebtheit erfreut. So scheint mir, man kann den Feldzug des Kurfürsten gegen die Halblinge nicht allein dem Wahnsinn dero Hochwohlgeboren zuschreiben. Auch der hinter dem Moot liegende Blauwasser reizte meine Begleiter und mich nicht zu einer Reise in diese Richtung (man berichtete uns überdies von stirländischen Wegelagerern, welche die Gegendt unsicher machen, da sie im eigenen Lande nichts zu holen wissen). Von Averheim aus folgten wir der alten Zwegenstaße daher in südöstlicher Richtung und bogen von ihr gen Süden ab, als wir den Weltenrand auf lange sehen konnten. Selbst aus fünfzig Meilen Entfernung erschien uns das Massiv geheimnisvoll und bedrohlich. Dagegen war der Anblick des offenen Landes vor den Ausläufern der Grauberge mit seinen Gutshöfen, Weinbergen und Imkereien ein angenehmer, freundlicher Anblick. Selbst das Landvolk hierin ist durchaus von annehmbarer Bildung und nicht wenige können gar Schreiben. Aber vor allem sei gesagt, dass wir hier den wahren Grund des Wohlstands sehen konnten; die Pferde des Averlands. Es sind stattliche Rösser von schönem Wuchs und feinem Fell (es sei gesagt, dass man dorten besonders fhiele Falben und Füchse, daführ aber fast keine Schimmel sah). [...]
Heute trafen wir auf ausländisches Volke. Wandernde Waffenknechte aus Tilea, äußerlich kaum von Straßenräubern auseinander zu halten. Diese Begegnung war durchaus nicht angenehm, aber ein reiches Land zieht auch viele professionelle Kämpfer anderer Nationen an. Ich befürworte das, denn warum sollten wir das Blute unserer braven Bürger über Gebühr vergießen, wenn dies auch gegen hartes Gold andere gerne über sich ergehen lassen? [...]
- Aus: "Briefe an die Familie - Die Reisen des Junkers Janne Humbert von Traven", zum Druck im Jahre 2519


Achtung! Weiter geht es erst auf Seite 5 (Beitrag 43)! Für die lange Hintergrundgeschichte brauchte es viele Platzhalter. 😉

Inhaltsverzeichnis - Hintergrund


  1. Kapitel: Averheim
    1. Teil, 2. Teil, 3. Teil, 4. Teil, 5. Teil, 6. Teil, 7. Teil
  2. Kapitel: Jäger und Großschwerter
    1. Teil, 2. Teil, 3. Teil, 4. Teil, 5. Teil (eweitert am 07.04.12)
  3. Kapitel: Der Zug der Verlorenen
  4. Kapitel: Panther gegen Priester
  5. Kapitel: Inhalt noch nicht durchgeplant -
    weitere Kapitel werden wohl folgen

Inhaltsverzeichnis - Bilder


 
Zuletzt bearbeitet:
Fertiggestellte Einheiten

s_ldnernichtstaatliche_kr_fteast.jpg


Von links: AST (alter Reichsgardist mit Banner der neuen Bihandkämpfer), Söldner-Armbrustschützen (aus den Verlorenen Legionären), Schattenmagier (Warhammer Quest), Halbling Bogenschützen (4. Edition)
Hintergrund: Kriegsaltar (alter Kriegswagen mit Priorin der Schwesternschaft des Sigmar)

_681622.jpg


Schwertkämpfer (aus Modellen der 5. und 6. Edition, Champion aus der 4. Edition)

m_rser_und_musketen.jpg


Mörser (4. Edition) und Musketenschützen (6. Edition)

_484316.jpg


Hellebardenträger (5. und 6. Edition, Halblinge umgebaut aus der 4. Edition, Champion ist ein Technikus des Kriegswagens mit Hakenhellebarde)

_940196.jpg


Bihandkämpfer (Generationentreffen aller Editionen seit der 4., Champion ist ein Held aus der 4. Edition, Regimentsfüller aus einem Champion der Marienburger von Mortheim)

kanone.jpg


Großkanone (6. Edition)

ast_fertig.jpg


AST nochmal in der Nahaufnahme

pantherritter_03.jpg


Pantherritter (4. Edition mit Schilden der 6. Edition und mit GS-Fellen für die Pferde)
 
Einheiten Vorschau

dp_2.jpg


Von Zeppel Dampfpanzer (6. Edition) mit Techniki der 4. Edition.

21_pantherritter.jpg


21 Pantherritter (4. Edition); Großmeister und eine weitere Einheit (10 Modelle, Bihänder, 4. Edition, eigener Orden: Die Söhne Sollands)

Weitere Einheiten (überwiegend schon vorhanden):
- weitere 40 Hellebardenträger (4. Edition)
- 35 Schwertkämpfer + 10 Armbruster (aus Milizen als Stirländer Verbündete)
- weitere Halblingeinheiten
- 35 Schwertkämpfer (aus aktuellen Bogenschützen als Passwache des Averlands)

- jede Menge Helden, Magier und Kommandanten... und wer weiß, was die nächste Edition so bringt... 😉
 
1. Kapitel: Averheim

Das dumpfe Aufsetzen der Pferdehufe ging schlagartig in ein weit hörbares Klappern über, als die schwere Reisekutsche das Kopfsteinpflaster der Reichsstraße II erreichte. Doch mit der besseren Straße verringerte sich auch schnell das Tempo des Fuhrwerks. Herzog Manngold Heinrich II. Tillmann von Ebbstein hörte Trommeln und Pfeifen aufspielen und reckte neugierig seinen Kopf zum Fenster heraus. In langen Reihen marschierten mit Speeren bewaffnete Soldaten in schwarz-gelb gefärbten Uniformen. Die Militärkappelle spielte „Oh, mein Averland“ und die Soldaten sangen mit. Nach einigen heiseren Rufen der Offiziere rückten die Soldaten enger zusammen und die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung. Von Ebbstein beobachtete nachdenklich die Soldaten. Die Kolonne war schon lange aus seinem Blickfeld verschwunden, doch er blieb bewegungslos. In der Ferne konnte er noch hören, wie die Kämpfer den Refrain grölten. „Oh, mein Averland, du Mutter meiner Ehre, du Patronin meiner Pflicht.“. Pflicht. Auch von Ebbstein war hier, weil es seine Pflicht war. Seine Heimat hatte nach ihm geschickt und er war gekommen, um zu tun, was getan werden musste.


In der Dunkelheit der Nacht stand ein Mann. Er war nicht besonders groß, aber sehr kräftig. Wer genau hinsah, konnte seine Anspannung sehen. Seine ausgeprägte Nackenmuskulatur trat deutlich unter der schlichten Kleidung hervor, die er trug. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn. Die braunen Locken hingen ihm wirr ins Gesicht und standen im Widerspruch zu den ebenmäßigen Zügen, die sein Gesicht prägten, korrespondierten aber mit seinem vollen Bart. Der Mann schien einen bestimmten Punkt auf der anderen Straßenseite zu beobachten. Ganz in den Schatten eines Hauses gepresst, konnte ihn kaum einer bemerken. Nur eine umher streunende Katze verharrte kurz, als sie den leisen Atem des Mannes vernahm. Dann ging sie weiter ihrer Wege auf der Suche nach einem kleinen Nagetier.
Ein weiterer Mann betrat die Szenerie. Er kam aus einem Hauseingang etwas weiter entfernt, sah sich kurz um und ging dann zügig den Treppenabsatz herab und kam auf den ersten zu. Er war etwas größer als der Beobachter, aber nicht so kräftig gebaut. Seine Kleidung war gleichsam schlicht, sah an ihm aber unpassend aus. Er bewegte sich nicht wie ein Einfacherer Hafenarbeiter oder Handwerksgeselle, viel zu aufrecht und selbstbewusst. Er trug kurz geschorenes Haupthaar und einen sauber gestutzten Vollbart.
Die beiden Männer begrüßten sich mit einem sparsamen Nicken, dann hob der Neuankömmling die Hand, nahm sie sodann aber wieder herab. Irgendwo in der Ferne wurde eine Fackel entzündet, doch mehr geschah nicht. Hiernach überquerten beide Männer die Straße. Sie strebten mit schnellen, aber vorsichtigen Schritten jenen Punkt an, den der Kräftige beobachtet hatte. Beim Gehen hielten beide die Rechte unter dem Wams verborgen. Sie erreichten das gegenüberliegende Haus und den beobachteten Punkt – eine Tür. Der Kräftige ergriff den Türknauf mit der Linken und zog die Rechte wieder unter seiner Kleidung hervor. In seiner unverhältnismäßig kleinen Hand befand sich eine Pistole, deren feine Machart die Annahme zuließ, dass allein ihr Schloss teurer sein mochte, als die vollständige Garderobe beider Männer zusammen. Auch sein Begleiter hatte nun eine ähnlich gefertigte Waffe in der Hand. Er nickte dem Kräftigen abermals zu und dieser stieß die Tür auf.

Esther öffnete das Fenster. Die Kühle der Nacht eines ausgehenden Sommers strich über ihre bloßen Arme und verursachte einen leichten, unwillkürlichen Schauer. Sie hatte nie gut schlafen können, wen Lothar nicht neben ihr schlief. Als er in Friedenszeiten in der Stadtwache seinen Dienst tat, hatte ein gutmütiger Hauptmann ihn sooft es nur ging am Tage eingesetzt, so dass er des Nachts bei ihr sein konnte. Esther hatte sich sehr wohl gefühlt und nach der Beförderung Lothars zum Feldwaibel hatten sie sich das kleine Haus gekauft, an dessen oberen Fenster sie nun stand. Aber man kann nicht lange in die Sonne sehen, ohne geblendet zu werden, wie ihr Vater stets zu sagen pflegte. Der Krieg im Norden erreichte das Imperium und das Ostland wurde zu einem Schlachtfeld. Durch Lothar hatte Esther immer die neusten Gerüchte von den Schauplätzen des Grauens erfahren. Das Ostland war schließlich gefallen, aber die Chaoshorden wandten sich nach Westen und griffen Middenland und schließlich Middenheim an. Während die Truppen des Imperiums sich sammelten, war eine weitere Armee der Chaosanhänger aus dem Weltenrandgebirge gekommen und bedrohte den Osten und Süden des Imperiums. Averland hatte sich zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht von seinen Verlusten aus dem letzten großen Kampf gegen die Orks erholt, in denen auch Marius Leitdorf, der Kurfürst des Averlands gefallen war. Innere Streitigkeiten entzweiten das Land seitdem und der Einfluss des imperialen Statthalters, der nominell das Fürstentum verwaltete, reichte kaum über Averheim und die nähere Umgebung der Stadt hinaus. Trotzdem marschierten die Truppen Averlands nun wieder. Esther musste Lothar verabschieden, denn auch er musste in den Krieg ziehen. Sie vermisste ihn schrecklich und jedes Gerücht, dass die Stadt erreichte, ließ sie erschaudern, denn mehrmals hieß es, dass die Armeen des Imperiums endgültig geschlagen worden seien. Doch nach langem Warten erreichte die Stadt schließlich die Nachricht vom Sieg. Ganz Averheim feierte und die Priester aller Kirchen riefen zu Andacht und Gebet. Aber was im Ganzen eine glorreiche Stunde war, war im Einzelnen eine Qual. Nach den Feierlichkeiten trafen nach und nach die geschundenen Streitkräfte Averlands wieder ein. Die ehemals prunkvollen Uniformen waren zerschlissen und den Gesichtern der einstmals stolzen Soldaten war der Schrecken anzusehen, dem sie gegenübergetreten waren. Und mit den Soldaten trafen auch die Toten ein. Sei es durch Verlustzahlen, durch Abschiedsbriefe, welche die Kameraden mitbrachten oder durch tatsächliche Anwesenheit. Der imperiale Statthalter war gefallen und mit ihm beinahe drei Viertel seiner Armee. Und Lothar. Esther hatte seit seinem Aufbruch keine Nacht mehr ohne Unterbrechung geschlafen. Für ihr Auskommen war gesorgt, denn Averland war reich und zahlte an die Kriegswitwen eine bescheidene, aber ausreichende Rente. Außerdem half sie ihren Eltern im Laden der familieneigenen Bäckerei. Aber da sie sich um ihre wirtschaftliche Existenz nicht sorgen musste, hatte sie auch keine Aufgabe, die sie von ihrem Verlust ablenken konnte.
Gedankenverloren starrte sie auf die Straße herunter. In der Kesselgasse war es immer sehr ruhig, denn die Schankstuben und Bordelle befanden sich am anderen Ende der Stadt. Nur selten passierte einmal die Reisekutsche eines Adeligen die Gasse oder ein paar Händler kamen von einer Feier im Gildenhaus heim. Doch heute Nacht stimmte etwas nicht. Es war zwar alles ruhig, aber ein kleines Detail passte nicht in das Gesamtbild, das sich ihr offenbarte. Es war so banal, dass es ihr nicht gleich einfallen mochte, aber dann sah sie es. Beim Tuchhändler Schengener von gegenüber stand die Tür zum Wohnhaus offen. Schengener war einer der reichsten Bewohner der Gasse und hatte ein eigenes Kontor am Hafen. Esther hatte schon einmal von Einbrüchen in das Kontor gehört, aber noch nie war jemand in das Wohnhaus des Händlers eingedrungen.
Sie hielt angespannt den Atem an, stützte die Handflächen auf das Fensterbrett und winkelte die Arme an. Nach vorne gebeugt versuchte Esther mehr zu erkennen und dann ging alles so schnell. Eine Stimme drang aus dem Haus. So laut und bestimmt, dass sie sogar bis an ihr Fenster drang und noch klar zu verstehen war.
„Im Namen des Imperiums! Ihr seid alle verhaftet!“
Esther wusste nicht, ob sie erst die beiden Lichtblitze sah oder doch erst die beiden gellenden Schüsse hörte. Dann folgte gleich darauf ein weiterer Schuss. Stille. Ein Fenster zersprang so unvermittelt, dass die junge Witwe erschrocken aufschrie und ein lebloser Körper stürzte auf die Straße. Dann ein vierter Schuss. Esther konnte Blut und Schießpulver riechen. Mehrere maskierte und in langen Gewändern gehüllte Gestalten stürzten aus dem Haus und liefen die Straße hinab. Reiter kamen ihnen mit erhobenen Pistolen entgegengesprengt. Bevor die Maskierten überhaupt reagieren konnten, brachen zwei von ihnen getroffen in sich zusammen und blieben mit verdrehten Gliedern auf der Straße liegen. Die aufgeschreckten Flüchtlinge wandten sich nun in die andere Richtung, aber Fackelschein und Hufschlag kündigte ihren endgültigen Untergang auch aus dieser Richtung an. Mehrere von ihnen brachen unter den Schüssen der Verfolger zusammen, dann konnte Esther sie von ihrem Fenster aus nicht mehr sehen. Die Reiter passierten ihr Haus und ließen die Toten achtlos liegen. In der Ferne konnte sie weitere Schüsse und Schreie hören.
Plötzlich regte sich einer der vermeintlich Erschossenen wieder, sah sich im liegen um und schob einen toten Kameraden von sich herunter. Er erhob sich und dann sah er nach oben. Ihre Blicke trafen sich nur kurz und Esther zuckte vom Fenster zurück. Nur ein Liedschlag verging, da hörte sie wilde Schläge gegen die Haustür donnern. Wenige waren nötig, um die einfache Holzpforte aufzuschlagen. Esther lief zur Schlafzimmertür, warf sie zu und erschrak. Ein großer, bestiefelter Fuß hatte sich zwischen Tür und Rahmen geschoben. Sie warf sich mit aller Kraft gegen die Tür, doch Esther war eine kleine, zierliche Person und konnte der rohen Kraft des grobschlächtigen Angreifers nicht viel entgegensetzen. Durch einen wuchtigen Stoß wurde sie ins Zimmer zurück geworfen, stolperte über einen Beistelltisch und fiel zu Boden. Der Angreifer stand nun im Türrahmen. Er war groß und ganz in ein schmutziges, weißes Gewand gehüllt. Sein Gesicht war hinter einer schwarzen Maske verborgen, die dem Gesicht eines schaurigen Monsters nachempfunden war. Das Gewand wurde von einem mit Nieten besetzen Gürtel zusammen gerafft, von dem etliche runde Gegenstände herab baumelten. Esther begann zu weinen, als sie erkannte, dass es sich dabei um die abgeschlagenen Köpfe kleiner Kinder handelte, die mit den Haaren am Gürtel befestigt worden waren. In der behandschuhten Rechten hielt der Eindringling einen mit Eisen verstärkten Prügel. Schwer atmend stand er so einige Augenblicke da, bevor er entschlossen auf sie zu kam. Esther krabbelte rückwärts vor ihm weg und tastete nach irgendetwas, womit sie sich schützen konnte. Als sie schließlich die Wand im Rücken spürte, begann sie zu stammeln:
„Gnädiger Herr! Bitte, tut mir nichts! Ich…“, doch weiter kam sie nicht. Ein Schatten fiel in den Raum, ein ohrenbetäubender Krach donnerte durch den Raum, Feuer und Qualm breitete sich zuckend aus und etwas Warmes, Nasses spritzte in Esthers Gesicht. Der Angreifer sank in die Knie, hielt sich mit der Linken die Schulter, während die Rechte schlaff herunter hing. Den Prügel hatte er fallen gelassen. Doch dann erhob er sich wieder, zog mit seiner gesunden Seite einen langen Dolch und drehte sich um. Esther konnte nun im Türrahmen einen Mann erkennen. Er sah anders als die Reiter oder die Flüchtlinge aus. Seine schlichte Kleidung deutete auf einen Hafenarbeiter oder Fuhrknecht hin, es war aber zu dunkel, um es genau erkennen zu können. Davon abgesehen verneinte die Pistole in seiner Hand diese Annahme auf sehr eindrucksvolle Weise. Der schnaubende Hüne unter der Maske schien den Neuankömmling nicht besonders zu beeindrucken. Er warf die Pistole zurück in den Flur und zog ein Kurzschwert. Verwundet und an Waffenlänge unterlegen stürzte sich der Riese auf den Mann, doch dieser nahm dem Angriff die Wucht, indem er ebenfalls auf den anderen zustürzte. Von diesem Manöver vollends überrascht begegneten sich beide in der Mitte des Raums in einer tödlichen Umarmung. Der Verwundete zuckte krampfhaft, ließ seine Waffe fallen und krallte sich an der Schulter des Neuankömmlings fest.
 
Karl stieß den widerlichen Chaosanhänger von sich. Durch den kräftigen Stoß wurde seine Klinge wieder frei. Eine stetig wachsende Blutlache breitete sich auf dem weißen Gewand des Kultisten aus, aber Karl wollte sicher gehen. Er trat an den vermeintlich Sterbenden heran. Der saß auf den Boden und hielt sich schnaubend das klaffende Loch in seinem Torso. Karl umkreiste ihn, blieb an seiner Seite stehen, legte seine Klinge an den Hals des Feindes und schnitt ihm die Kehle durch. Der Mann wollte schreien, brachte aber nur einen gurgelnden Laut heraus, dann kippte er endgültig zur Seite und blieb tot liegen. Karl wischte die Klinge an dem Gewand des Toten ab, steckte dann das Schwert wieder in die Scheide, die unter seinem Wams verborgen war. Er betrachtete noch einmal die Leiche und sah dann das Amulett mit dem abstoßenden Chaossymbol. Angewidert trat er gegen den Toten. Der drehte sich und begrub das Symbol unter seinem massigen Körper. Karl erhob sich wieder, um seine Pistole zu holen, als er die Frau bemerkte. Sie kauerte mit schreckensbleichem Gesicht an der Wand des Schlafzimmers. Es gab zwar kein Licht, aber der Raum war nicht sehr groß und Karls Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Die Frau war nicht sehr alt. Höchstens dreißig, wahrscheinlich aber jünger. Ihr lichtblondes Haar war blutverkrustet, ebenso wie die rechte Seite ihres Gesichts blutverschmiert war, sie selbst schien aber unverletzt zu sein. Ihre großen Augen glänzten und Tränen zogen dünne Bahnen über das schmale Gesicht. An der Wurzel ihrer kleinen Nase, leicht links zum Auge hin versetzt, erkannte Karl einen dunklen Punkt, wohl ein Muttermal. Ihre Blicke trafen sich und Karl lächelte aufmunternd. Dann ergriff er das Wort:
„Seid Ihr verletzt? Ihr seid jetzt in Sicherheit.“
Er machte einen Schritt auf sie zu, der sie angsterfüllt zusammenfahren ließ. Karl verharrte, hob beschwichtigend beide Hände und erklärte:
„Ich werde Euch nichts tun. Mein Name ist Karl Eisenhut. Ich arbeite für die Kurfürstliche Staatsbewahrung. Kann ich Euch helfen, meine Dame?“
Karl nahm eine deutliche Entspannung in der Haltung der Frau wahr. Dann sackte sie in sich zusammen und weite. Er trat an sie heran und kniete sich neben sie. In diesem Augenblick betraten weitere Männer das Zimmer. Karl legte seine Hand auf das Schwert, ließ dann aber wieder von der Waffe ab, als er die Kürassiere erkannte.
„Diese Dame hier braucht vielleicht einen Medicus. Veranlasst das bitte, Ludwig. Ihr anderen schafft diesen widerlichen Kadaver hier heraus.“
Während die fürstlichen Reiter wortlos seine Befehle ausführten, trug Karl die immer noch weinende Frau zu ihrem Bett. Er wollte sie ablegen, doch sie klammerte sich mit ihren Händen an seiner Kleidung fest und presste ihr Gesicht gegen seine Brust. Verlegen versuchte Karl sie von sich zu lösen, gab es aber schließlich auf und legte ihr eine Hand auf das Haar, strich so sanft darüber, wie es einem unwirschen Kämpfer von seiner Statur möglich war und dachte über tröstende Worte nach, mit denen er sie vielleicht hätte beruhigen können. So vergingen endlos lange Minuten, bis wieder Männer den Raum betraten. Bei ihnen war sein Vorgesetzter. Karl lachte innerlich, denn Eugen von Rabbe war für verdeckte Ermittlungen einfach nicht geschaffen. Er trug die schlichte Kleidung eines Fuhrknechts, bewegte sich aber weiter wie ein dero von Rabbe. Stolz, aufrecht und von seiner Umgebung sichtlich angeekelt.
Bei ihnen waren außerdem Ludwig und ein alter, hagerer Mann, der reichlich verschlafen wirkte.
„Eisenhut, lasst von dem Frauenzimmer ab. Das ist wirklich nicht der Zeitpunkt für Süßholz. Warum habt Ihr nach dem Medicus schicken lassen?“, sprach von Rabbe ihn an.
Karl lächelte bitter, Ludwig verdrehte hinter von Rabbe die Augen, nur der Medicus tat so, als wäre er mit der Frau und Karl allein im Raum und ging gleich an seine Arbeit. Behutsam löste er sie aus den Armen des Kriegers und legte sie auf den Rücken. Er sah in ihre Augen, dann untersuchte er die blutigen Stellen im Gesicht.
„Das Blut ist nicht von ihr.“, erklärte Karl.
Erst jetzt sah der Alte auf, musterte ihn knapp und brummte dann:
„Geht. Die anderen auch. Ich habe hier eine Dame zu untersuchen.“
Karl erhob sich, Ludwig hatte den Raum schon verlassen und von Robbe lief ob seiner Taktlosigkeit rot an. Die drei Männer gingen auf die Straße.


„Ich vermelde Herzog Manngold Heinrich II. Tillmann von Ebbstein!“, rief der Herold auf, nachdem er dreimal mit seinem Stab auf den Boden gestoßen hatte. Von Ebbstein betrat den kleinen Saal, in dem mehrere Männer an einem Kartentisch standen. Die meisten waren sehr jung, trugen pompöse Uniformen und Hüte mit großen Federn unter dem Arm. Moderne Reitersäbel an den Hüften zeugten von einer neuen Generation der averländsichen Kriegerelite. Die jungen Burschen beobachteten ihn genau. Vielen Gesichtern entnahm er Verunsicherung, Stolz oder sogar unverhohlenen Spott. Zwischen ihnen stand ein greiser Mann, offenbar der Statthalter. Ihm ging auf, dass er noch gar nicht wusste, wer den Posten nun bekleidete, was unter Umständen für Peinlichkeiten sorgen könnte. Der Herzog baute sich einige Meter vor der Gruppe auf, schlug die Hacken zusammen und salutierte. Der Alte am Kartentisch nahm ihn erst jetzt zur Kenntnis.


Ludwig reichte eine Flasche herum, von Robbe lehnte – wie immer – ab, Karl bedankte sich und nahm einen tiefen Schluck. Zu seiner Überraschung war es tatsächlich Wasser.
„Elf Verräter. Das ist gute Arbeit gewesen, meine Herren.“, begann von Robbe.
„Elf sind nicht genug.“, grollte Ludwig. „Im Zweifelsfall bekamen wir die Information ohnehin von einem anderen Kult zugespielt und haben nur deren Arbeit erledigt.“
„Würde ich so nicht sagen. Ein toter Chaosanhänger ist besser als ein lebendiger, also ist es egal, wo wir die Information her haben.“, mischte sich Karl ein.
„Einerlei. Eisenhut, kümmert Euch darum. Wenn Eure Quelle selbst ein Kultist ist, gehört er genauso auf den Scheiterhaufen, wie alle anderen auch.“
„Herr von Rabbe, das war nur eine simple Vermutung. Die Annahme stützt sich auf keine Grundlage.“
„Ach was!“, wischte von Rabbe die Bemerkung bei Seite, „Das muss überprüft werden. Alle Informanten. Fangt Morgen damit an. Ich werde jetzt zur Burg zurückkehren und berichte dem Herrn Geheimrat Hubertus von dieser Sache. Meine Herren.“
Sie verabschiedeten sich. Ludwig und Karl blieben eine Weile auf der Straße und tranken abwechselnd von dem Wasser.
„Manchmal frage ich mich, wie der Mann an diesen Posten gekommen ist.“, brach Ludwig das Schweigen.
„Kann ich dir nicht sagen. Aber wahrscheinlich über die richtigen Bekanntschaften.“
„Traut man so einem Pinkle gar nicht zu.“
„Er ist es auch nicht. Du müsstest mal seinen Bruder erleben.“

„Till!“, rief der alte Mann zwischen den Kriegern aus.
Von Ebbstein legte seinen Kopf zur Seite.
„Wendelin?“
„Ja. Freilich eine ältere Ausführung des gleichen.“
Von Ebbstein und der Statthalter gingen aufeinander zu, reichten sich die Hände und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Für einen Moment schienen sie die anderen Männer um sie herum vergessen zu haben. Fürst Ottokar Wendelin IV. Leitdorf-Flintberg war schon jenseits der Vierzig, als von Ebbstein ihn kennen gelernt hatte. Damals diente der Herzog als Pistolier in einer Armee Averlands, die vom Fürsten angeführt wurde. Sie hatten zusammen viele Schlachten überlebt und kämpften Rücken an Rücken bei der Schlacht um Grenzstadt. Jetzt, da er selbst über fünfzig war, musste der alte Freund schon bald die Achtzig erreicht haben. Und das zeigte sich deutlich. Der Händedruck war weich gewesen, die schweren Tränensäcke und tiefen Falten zeichneten das weise Gesicht und von den langen Locken waren nur ein paar schüttere, graue Strähnen geblieben.
„Was im Namen Sigmars hat denn ausgerechnet dich mit dieser traurigen Pflicht gestraft?“, fragte von Ebbstein.
„Das dachte ich auch, aber es war der persönliche Wunsch des Kaisers. Ich bin eben jemand, der es allen recht macht. Kein Spross meiner weitreichenden Familie muss sich Sorgen machen, dass ich so lange dem Amt nachgehen kann, dass der Kaiser mich letztlich zum Kurfürsten ernennt. Das hat etwas diplomatisches, oder nicht?“
Von Ebbstein lachte schallend. Er sah seinen alten Mentor an, dann lenkte ihn ein leises Husten ab. Erst jetzt nahmen beide Männer wieder die jungen Adeligen wahr, die immer noch im Saal zusammen standen.
„Mit Verlaub, Euer Gnaden.“, erhob einer von ihnen das Wort, „Es wäre sehr ratsam, wenn wir uns heute noch für ein Vorgehen entscheiden könnten, was die Briganten in…“
„Nein, lieber Graf von Rabbe, heute werden wir das nicht mehr klären. Wisst Ihr, ein großer Vorteil am Dasein eines Statthalters im Vergleich zum Kurfürsten ist doch, dass es weit demütiger und weniger ruhmreich ist. Ich gedenke, die Verwaltung der Streitkräfte in fähigere und jüngere Hände zu legen.“
Die jungen Männer wechselten vielsagende Blicke und der angesprochene Graf spannte sich. Auf von Ebbstein wirkte er in diesem Moment eher wie ein Hahn, der sich vor seinen Hennen aufplustert.
„Ich habe beschlossen, dass Herzog von Ebbstein im Range eines Generals von nun an Ihnen allen vorstehen wird. Er muss sich nicht von höfischen Intrigen ablenken lassen, weil er keinerlei Ambitionen am Hofe selbst hat und außerdem ist er mit der Führung von Armeen vertraut. Ihr alle, meine Herren, solltet von seiner Erfahrung lernen.“
Der Hahn sackte in sich zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. Gemurmel machte sich im Raum breit und von Ebbstein selbst versuchte zu verdauen, was er gerade gehört hatte. Er sollte die Verantwortung für den ganzen Militärapparat des Averlands übernehmen. Ja, er hatte schon Armeen geführt, aber meistens hatte es sich dabei um kleine Streitmächte gehandelt, bei denen die Logistik leicht zu bewältigen war. Die Streitkräfte des ganzen Fürstentums – und wer mochte überhaupt noch sicher sagen, wie groß diese nach dem Krieg gegen das Chaos überhaupt waren – waren ein ganz anderes Kaliber. Zunächst müsste man überhaupt alle Soldaten und Einheiten erfassen, die noch existierten. Der Fürst lenkte ihn von weiteren Gedanken ab, indem er wieder das Wort ergriff:
„Aber meine Herren. Bitte beruhigt Euch. Ich kann Eure Begeisterung verstehen, aber es ist schon spät und ich bitte um Rücksicht auf mein Alter. Für heute reicht es. Ich entlasse alle Anwesenden.“
Die meisten blieben stehen, doch als die Flügeltüren des Saals sich öffneten und der Herold eintrat, löste sich die Versammlung doch zügig auf. Als letztes gingen der Fürst und der Herzog. Leitdorf verließ mit von Ebbstein als letztes den Raum.
„Lass uns noch etwas zu uns nehmen. Die Reise war sicher anstrengend. Ich erkläre dir dann alles.“, sagte Leitdorf. Die alten Freunde gingen zu den Privaträumen des Statthalters.

Tillmann von Ebbstein rieb sich die müden Augen mit der Rechten. Eine kräftige Suppe und ein fetter Eintopf hatten zwar gut getan, ihn aber auch noch schläfriger gemacht. Beide Männer hatten sich in mächtigen Ledersesseln am Feuer niedergelassen und die Pfeifen angesteckt. So hatten sie eine Weile verbracht, bis Wendelin anfing zu reden:
„Es ist nicht einfach. Für viele mächtige Personen hier ist der Krieg schon vorbei und alles gewonnen. Und jeder will jetzt ein Teil des Kuchens abhaben. Mehrere entfernte Ableger der Leitdorfs erheben Anspruch auf die kurfürstliche Würde, die Grenzen sind nur sicher, weil Zwerge sie bewachen und bis heute ist die Ordnung nur in der näheren Umgebung Averheims wirklich wieder hergestellt und gesichert. Mal von den plündernden Deserteuren und versprengten Kriegsbanden des Erzfeindes abgesehen, stören auch Kulte der dunklen Götter den Wiederaufbau und die Wiederherstellung der Staatsmacht, wo sie nur können. Sie schüren Panik und Unmut, morden nachts, entführen Kinder und verunreinigen des Nachts die Plätze mit unheiligen Symbolen. Ich habe diese Sache einem guten Mann anvertraut. Das Polizeiwesen ist sehr gut und arbeitet effektiv gegen diese Bedrohung. Jetzt würde ich das Heereswesen ebenfalls in fähige Hände legen wollen. Ich kann mich dann besser um die wesentlichen Staatsaufgaben kümmern. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du diesen Auftrag annimmst. Dir stehen dann natürlich auch ein Gehalt und eine Pension zu. Wir beide wissen natürlich, dass es dir darauf nicht ankommt, aber ich erwähne es trotzdem. Geld kann nie schaden und immerhin davon haben wir zurzeit nicht zu wenig. Was uns fehlt, sind fähige Leute. Die guten Männer sind alle gefallen und jetzt schlage ich mich mit diesen Sandkasten-Offizieren herum. Ich könnte schwören, dass die Hälfte meines Stabs kein Bier in einer Kneipe bekäme und sich zwei Drittel noch nicht rasieren müssen. So schlimm ist es.“
Dann schwiegen sie wieder lange. Tillmann antwortete irgendwann:
„Ich brauche schriftliche Vollmachten und freie Hand bei der Wahl der Offiziere und Ausbilder. Ich werde deine heißblütigen kleinen Hauptmänner schon beschäftigen können, aber man braucht auch Leute, die anpacken können.“
„Ist es nicht eine praktische Sache, dass ich dir alle Unterlagen und Vollmachten schon in dein Büro habe bringen lassen?“
Beide lachten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Tillmann erhob sich und musste erst einmal überlegen, wo er sich befand. Nach einigen Minuten stellte er fest, dass er sich in der kurfürstlichen Burg zu Averheim aufhielt. Sein Wohnraum war dezent dekoriert und roch nach Blumen, die eine gute Seele auf das Fensterbrett gestellt hatte. Er war ein harter Soldat und hatte sich viele Würden verdient, aber sein Herz ging auf, wenn er Blumen sah. Sie hatten etwas Unverwüstliches an sich. Man konnte sie heraus reißen, zertreten oder abschneiden. Sie konnten am Frost eingehen oder in der Sonne vertrocknen und trotzdem wuchsen immer wieder welche nach. Sie versinnbildlichten für ihn das Imperium.
Tillmann riss sich von seinen Gedanken los und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Tagewerk. Er hatte sich viel vorgenommen. Er wollte die kasernierten Streitkräfte begutachten und gegebenenfalls neue Soldaten mustern. Außerdem stand ein Treffen mit dem Großmeister vom Orden des Schwarzen Bären an. Die Sache war heikel. Der Orden hatte schwere Verluste im Krieg gegen das Chaos erlitten, aber in der Regel gaben Ritterorden nur ausgesprochen ungern Schwächen zu. Er musste aber die genaue Stärke aller Streitkräfte im Averland kennen. Hier war sein diplomatisches Geschick gefragt. Erschwert wurde die Angelegenheit vor allem dadurch, dass der Orden vor allem für seine Trunkenbolde bekannt war und die konnte man nicht zu den ausgewiesenen Vernunftmenschen zählen.
Zunächst war aber die Begutachtung der Staatstruppen wichtiger. Er stand auf, wusch sich und wählte aus seinem Gepäck eine stattliche Uniform in den Landesfarben. Sie war nicht mehr neu, aber in einem tadellosen Zustand, weil Tillmann sie immer nur zu offiziellen Anlässen getragen hatte. Dann verließ er seinen Wohnraum. In dem davor liegenden Arbeitszimmer wartete bereits ein junger Offizier. Er schlug die Fersen zusammen und salutierte. Tillmann erwiderte den Gruß und streckte dem Mann dann die Hand entgegen. Dieser überlegte einen Moment, ergriff sie dann aber und stellte sich vor:
„Freiherr Friedrich von Aggenheim. Gehöre zum Stab. Bin Euch zugeteilt. Würde mich freuen, wenn ich Euch als Adjutant dienen dürfte.“
„Ich erinnere mich an Euch, Friedrich. Sie waren gestern Abend auch anwesend.“
Der Freiherr bestand den Test. Obwohl Tillmann ihn beim Vornamen genannt hatte, zeigte er keinerlei Empörung darüber. Das musste nichts heißen. Er konnte auch einfach nur zu diszipliniert sein, um seine Gefühle zu zeigen, aber es war immerhin besser, als wenn es ihn offensichtlich aufbrachte. Seinen ersten Soldaten hatte er also schon.

Tillmann hatte ein kurzes Frühstück zu sich genommen und ritt nun in Begleitung seines neuen Adjutanten zur Kaserne der Stadt. Freilich gab es mehrere, kleinere Wachstuben, in denen Soldaten ihren Dienst verrichteten und die Stadtwache zählte ohnedies nicht zu den kasernierten Truppen, aber der neue General hatte alle Männer unter Waffen zur dritten Stunde auf den Kasernenhof befohlen. Bis jetzt hatte Tillmann keinerlei Erwartungen gehegt, hoffte aber, dass der Zustand der Streitkräfte nicht zu desolat wäre.
In der Färbergasse mussten sie anhalten. Vor ihnen mühte sich ein Gespann damit ab, eine schwere Kanone zur Kaserne zu schaffen, doch Friedrich von Aggenheim erwies sich als ein findiger Lotse und leitete Tillmann durch eine Seitengasse. Der Junge hatte Tillmann schon durch die Wahl der Pferde imponiert. Der junge Falbe, auf dem er ritt, war ein Prachtkerl und ließ sich durch die städtische Unruhe nicht verunsichern.
So umgingen sie den Transport und erreichten die Kaserne noch vor dem Geschütz. Tillmann vermerkte sich die Kanone auf der Habenseite, stellte aber fest, dass sie von einem privaten Fuhrunternehmen herbei geschafft wurde, dass von einigen Söldnern bewacht wurde. Doch man musste mit dem zufrieden sein, was man hatte, in diesen Zeiten.
Sie ritten durch ein hohes Tor auf den Kasernenhof. Die meisten Soldaten schienen schon lange anwesend zu sein und hatten die Zeit offenbar mit Würfelspielen oder Gesprächen vertrieben. Nun begann ein wildes Durcheinander, in dem Unteroffiziere ihre Soldaten anfauchten und versuchten, möglichst schnell die Reihen zu ordnen. Höhere Offiziere waren nicht auszumachen, wenn man einmal von Graf von Rabbe und zwei weiteren Stutzern absah, welche Tillmann letzte Nacht bei der Konferenz im Saal kurz gesehen hatte. Wenn er es nicht genau gewusst hätte, wäre der Herzog zur Annahme gelangt, dass von Rabbe das Unheil auf dem Kasernenhof amüsierte. Feixend unterhielt sich der junge Adelige mit seinen Begleitern und dachte nicht daran, für Ordnung zu sorgen. Ganz offensichtlich gehörte das aber zu seinen Aufgaben.
Ein kräftiger Feldwaibel mit schwarzem Vollbart kam auf Tillmann zu, salutierte und meldete sein Regiment. In der allgemeinen Unordnung konnte der Herzog tatsächlich die geordneten Reihen ausmachen, die der Feldwaibel ihm demonstrierte. Am der schlichten, aber stolzen Fahne erkannte er das Regiment als die Merfelder Jagdspeere.
„Das alte Blaue“, entfuhr es Tillmann erleichtert.
Der bärbeißige Feldwaibel sah zu ihm auf. Er blinzelte verkniffen, da das Sonnenlicht ihn blendete und raunte ein heiseres:
„Jawohl, Herr General.“
Ein weiterer Unteroffizier trat hervor und meldete, dass die Averheimer Wallschützen nun bereit seien. Tillmann quittierte die Meldung, indem er sein Pferd ein paar Schritte nach vorne tänzeln ließ, den Hut zog und den Schützen zurief:
„Wohlan, Männer! Ich bin stolz, euch hier sehen zu dürfen!“
Die Schützen sahen sich erst verwirrt untereinander an, dann erhob sich lauter Jubel und auch sie schwenkten ihre Hüte und Kappen.
„Die Heidecker Klingen stehen zu Ihren Diensten, Herr General!“, verkündete ein weiterer Unteroffizier. Die Heidecker waren Tillmann bekannt und er hatte in mehreren Schlachten ihre Tatkraft zu schätzen gelernt. Er lies sein Pferd auf die Soldaten zutraben und ritt dann ihre Reihen entlang, wendete das Tier und rief:
„Drauf und dran!“, was die Heidecker mit der Parole: „Klingen voran!“, beantworteten. Begeistert johlten die Soldaten und schlugen mit den Schwertern auf ihre Metallschilde. Der Lärm übertönte fast die Stimme eines weiteren Unteroffiziers. Der Mann trug eine prächtige Rüstung und einen Vollvisierhelm. Er öffnete ihn und meldete:
„Die Lengenfelder Rossschinder, Herr General.“
Tillmann hatte nicht die leiseste Ahnung, was sich hinter diesen Namen verbarg, da aber nur ein Regiment aus Lengenfeld anwesend war, musste es wohl ein Haufen junger Hellebardenträger sein. Die milchgesichtigen Kerle waren noch nicht von der allgemeinen Begeisterung ergriffen worden, aber ihr neuer General wusste genau, was den Burschen fehlte. Der ihnen zustehende Respekt seitens ihrer erfahrenen Kameraden.
Mit ernster Mine ließ Tillmann sein Reittier im perfekten Altdorfer Hofschritt auf die Reihen zu schreiten. Drei Pferdelängen vor der Standarte hielt er und stieg ab. Ohne Befehl eilte sofort der Feldwaibel des Regiments hinter ihm heran und ergriff die Zügel des Pferdes. Dann baute sich der General vor den Hellebardenträgern auf, schlug die Hacken zusammen und salutierte. Sofort taten es die jungen Männer es ihm nach. Dann stieg er wieder in den Sattel, doch nicht, bevor er dem stolzen Feldwaibel die Hand geschüttelt hatte.
Tillmann hatte es perfekt arrangiert. Die Spannung hielt weiter an und kein Wort wurde gesprochen. Er ließ sein Pferd antraben, sein Adjutant bewegte sich hinter ihn und sie näherten sich von Rabbe und seinen Begleitern. Doch hinter ihnen suchte sich die Begeisterung langsam neue Bahnen aus den Kehlen der einfachen Soldaten. Erst vereinzelt, doch dann immer lauter riefen sie. Kein unartikulierter Jubel, nein, dazu hatte sein Auftritt vor den Hellebardenträgern zu sehr gewirkt, erschallte. Diesmal riefen sie nur ein Wort: Ebbstein.


„Hallo, Toddward.“, säuselte die Stimme eines kräftigen Mannes und ließ Toddward Mehltau aufschauen. Der kleine, drahtige Gauner sah den Mann an und verfluchte sein Pech. Von dem Tag an, als seine Mutter ihn mit diesem Namen auf die Welt gebracht hatte bis hin zu diesem Augenblick war er immer wieder vom Pech verfolgt gewesen. Er zog Unglück offensichtlich an. Dieses neuerliche Aufkeimen seines ständigen Wegbegleiters quittierte er mit einem herzlichen:
„Oh, Scheiße!“, bevor er sich zur Flucht wandte.
Er sprang los, warf zwei Fischkörbe um und frohlockte, weil dieses Hindernis sicher seinen Verfolger aufhalten würde, bog um eine Ecke und krachte geradewegs in eine weitere, kräftige Gestalt.
„Toddie, wo willst du denn auf einmal hin?“, fragte sein zweiter Häscher und packte ihn am Arm. Mit den geübten Händen eines Leuteschinders drehte der Halsabschneider ihm den Arm auf den Rücken und schob Toddward vor sich her, zurück in die Gasse. Dort wartete bereits der andere Mann und ermahnte ihn:
„Toddward, das ist aber nicht sehr höflich, einfach Fersengeld zu geben, wenn alte Freunde zu Besuch kommen.“
Die Stimme des Mannes war immer noch honigsüß und freundlich, aber das machte dem armen Toddward noch viel mehr Angst, als wenn der Mann ihn mit rasselndem Grollen gedroht hätte.
„Ich hatte dich gar nicht erkannt, Stilett.“, versuchte Toddward sich heraus zu reden. Es erschien ihm aber zwecklos.
„Wir wollten nur noch mal vorbei schauen und nachfragen, ob es dir gut geht, Toddie.“, erklärte Prügel, wie man den rohen Schlächter hinter ihm nannte.
„B – b – bestens, aber ich habe viel zu tun, wisst ihr? Geschäfte.“, stammelte Toddward, während er versuchte, sich zu Prügel umzudrehen. Dieser hielt ihn aber weiter eisern fest, was Toddward zu der Vermutung kommen ließ, dass Prügel ohnedies mit seinen Pranken nichts anderes konnte. Stilett war zwar ebenso breitschultrig, wie sein Kumpan, aber er hatte seinen Namen nicht zufällig erhalten. Während Prügel meistens mit seinen Fäusten arbeitete und damit ebenso tödlich war, wie andere mit Mordwerkzeugen, zog Stilett eine Misericordia vor. Allein diese Waffenwahl zeichnete ihn schon als einen hinterhältigen Meuchler aus.
„Die Geschäfte laufen also zurzeit gut?“, nahm Stilett den Faden wieder auf.
„Kann mich nicht beklagen. Heuer wollen die komischsten Leute die seltsamsten Gegenstände. Neulich wollte doch so ein Pinkel neun nachtblaue Kerzen. Das ist nicht nur sehr teuer, nein, das ist auch noch kaum zu kriegen.“
„Aber doch nicht für dich, Toddie.“
„Natürlich nicht. Wollt ihr mich beleidigen?“, krähte der Kleine, als hätte er für einen Moment seine Angst vergessen. Dann fing er sich aber wieder und fragte:
„Aber deshalb seid ihr beide doch nicht zu mir gekommen, oder? Meine bescheidenen Geschäfte sind für Herren von eurem Format doch vollkommen uninteressant.
„Stimmt.“, pflichtete Prügel ihm bei.
Toddward atmete erleichtert auf.
„Aber…“, ergänzte Stilett, indem er die Stimme erhob und damit Toddwards Erleichterung jäh und gnadenlos hinweg fegte, „… wir haben ein nicht zu unterschätzendes Interesse an deinen Kunden. Toddi, erzähl doch mal, wer wollte denn diese Kerzen haben?“
„Ja, meint ihr denn, dass die Kunden direkt zu mir kommen? Lauf ich hier mit einem Bauchladen durch die Stadt oder biete meine Waren auf dem Flaschsmarkt feil?“, ereiferte sich der kleine Gauner, „Die schicken entweder ihre Leute oder hinterlegen einen Brief in meinem toten Briefkasten an der…ähm.“
„Nur zu. Sprich dich aus.“, zischte Prügel und verstärkte seinen Griff. Toddward ächzte und beeilte sich, seine Karten auf den Tisch zu legen:
„Der ist an der kleinen Hafenmauer. Genau zwischen der dritten und vierten Laterne ist ein nicht ausgeleuchteter Bereich. Nur einen Schritt breit, aber vollkommen ausreichend, wenn man nicht zu groß ist, um dort nachts ungesehen hin zu gelangen. Aber der Kunde, den ihr sucht, hat einen Mittelsmann geschickt. Haltet euch doch an den, wenn ihr mehr wissen wollt!“
„Und wo finden wir den Kerl?“, wollte Stilett wissen.
Toddwards Mund verzog sich zu einem Grinsen und er antwortete:
„Na, was wäret ihr nur ohne mich? Also, der Mittelsmann holt die Ware am Rüsttag ab. Ich treffe mich mit ihm hinter der „Schwarzen Fahne“, direkt südlich vom Schreiber-Kontor. Nachts natürlich.“
„Na, siehst du, Toddie? Das war doch alles nicht so schwierig, oder?“, fragte Stilett süffisant, blaffte dann aber: „Und nun verschwinde von hier!“
Nachdem sich Toddward hastig aus dem Staub gemacht hatte, warteten die beiden Halsabschneider noch ein paar Augenblicke, dann verließen auch sie die Gasse. Als sie schweigend einige Straßen hinter sich gebracht hatten, sagte Stilett:
„Wenn das stimmt, wissen wir auf jeden Fall, dass er nicht dazu gehört.“
Prügel bestätigte dies durch ein Nicken, gab aber zu bedenken:
„Allerdings wäre es bedeutend einfach, wenn es hier nur einen Schmuggler für derlei kultischen Bedarf geben würde. Das sollten wir mal angehen.“
„Das besprechen wir später. Jetzt lass uns noch was zu Essen besorgen. Ich hab heute noch gar nichts zu mir genommen.“
Die beiden Männer betraten den Laden einer Backstube. Prügel bat höflich um einen halben Laib saures Brot, Stilett gab sich nicht weniger manierlich und fragte nach einem hellen Weizenmehlbrot. Die junge Frau hinter dem Ladentisch bediente sie zügig und rechnete ab. Sie wirkte abwesend. Als Stilett bezahlte, trafen sich kurz ihre Blicke. Der Straßenräuber zuckte innerlich zusammen, denn er erkannte die Frau wieder. Schnell wandte er sich ab und verließ den Laden. Prügel folgte ihm.
„Ich gehe jetzt zurück zum Gerber-Viertel. Dort kenne ich auch noch ein paar Leute, die vielleicht was wissen. Was machst du?“
„Ich sag dem Chef bescheid.“, antwortete Stilett einsilbig.
Prügel war schon auf dem Weg, als er immer noch vor der Backstube stand. Er hoffte, dass die Frau ihn nicht auch erkannt hatte, doch ehrlicherweise musste er sich eingestehen, dass in ihm irgendwo der Wunsch aufflackerte, dass sie es doch getan hatte.
Schließlich wandte er sich auch ab und versuchte den ablenkenden Gedanken bei Seite zu schieben.
„Bleib bei der Sache, Karl.“, ermahnte er sich selbst.
 
Zuletzt bearbeitet:
Tillmann zügelte sein Pferd nur einen Schritt vor dem ebenfalls berittenen Grafen von Rabbe. Friedrich hielt sich hinter ihm. Der Graf nahm ihn erst nicht wahr und lachte wieherend auf.
„Graf von Rabbe, auf ein Wort.“
Das Grinsen des jungen Mannes gefror, als er sich ihm zuwandte.
„Sie wünschen, Herr General?“
Die Betonung des Wortes General ließ keinen Zweifel an seiner Geringschätzung gegenüber Tillmann zu.
„Ihr seid Hauptmann in dieser Armee. Als solcher ist es Eure Aufgabe, die Männer zu disziplinieren und zu motivieren. Ich habe Euch vorgemacht, wie das geht. Morgen erwarte ich, dass die Soldaten auch trainiert werden.“
Der Graf brachte nur ein eisiges: „Jawohl, Herr General.“, hervor.
„Mir scheint, dass der Drill hier ziemlich nachgelassen hat. Einige der Männer scheinen Fett angesetzt zu haben und andere kommen nicht einmal mit ihrer Ausrüstung richtig zurecht. Ich finde es äußerst beklagenswert, dass Ihr und Eure Offizierskameraden diese Missstände nicht schon längst erkannt und behoben haben. Eine Armee, die nicht kämpfen kann, ist so gut, wie gar keine Armee. Ich zolle es einfach den äußeren Umständen, dass Ihr Eure Pflichten so sträflich vernachlässigt habt, aber bitte lasst es nicht nochmals soweit kommen. Guten Tag.“
„Guten Tag, Herr General.“, knirschte von Rabbe, dann wandten er und seine Begleiter die Pferde und ritten vom Kasernenhof.
Tillmann wandte sich wieder Friedrich zu:
„Friedrich, wann treffe ich mich mit dem Großmeister des Orden des Schwarzen Bären?“
„In zwei Stunden, Herr General.“
„Sehr gut, dann werden wir uns noch in der Waffenkammer umsehen.“
Als er sich wieder nach vorne drehte, bemerkte er einen Mann undefinierbaren Alters, der mit spöttischen Grinsen im Schatten des Torbogens stand und seinen Blick immerzu zwischen den sich entfernenden Adeligen und Tillmann schweifen ließ. Er drehte sich dabei sehr ungelenk mit dem ganzen Körper. Schließlich sah die hagere Gestalt nur noch ihn an und blickte dabei wissend über seine Brillengläser hinweg.
Tillmann beschloss, dem Kerl keine weitere Beachtung zu schenken und ließ sich von Friedrich zur Waffenkammer führen.

Karl hatte den Leiter der Staatsbewahrung nicht angetroffen, aber ihm war gesagt worden, dass er ihn in seinem Büro im Kasernenturm finden würde. Also hatte sich Karl dorthin begeben und traf dort zufällig schon im Kasernenhof auf seinen Vorgesetzen. Es überraschte den Agenten, dass er hier so viele Soldaten antraf, die Exerzierübungen vollzogen. Weniger überraschend fand er allerdings den schlechten Zustand der Truppe. Die Uniformen waren zwar alle neu und dem averländischen Reichtum entsprechend ausstaffiert und auch an Waffen mangelte es nicht, aber abgesehen von vereinzelten Veteranen sah er nur junge Burschen. Die Regimentsfahnen waren alt und berühmt, aber es handelte sich trotzdem um Neugründungen oder wieder aufgefüllte Truppen. Der Krieg gegen das Chaos hatte zu viele Menschenleben gefordert und kurz nach der Wahrheit starben in einem Krieg eben immer die Soldaten. Und da man seine Stärke nicht ausspielen kann, ohne die Stärksten an die Front zu schicken, waren natürlich auch die besten Kämpfer des Landes gefallen. So sah man auf dem Kasernenhof nicht ein Mitglied der Großschwerter von Averheim. Karl hatte nichts mehr von ihnen gehört, seitdem der Krieg auch in den Osten des Imperiums getragen worden war. Ein fatalistisches Gefühl beschlich ihn, als er über das Vorzeige-Regiment der Stadt nachdachte. Sein Bruder hatte bei den Großschwertern gedient. Jetzt war er wahrscheinlich tot.
Abgesehen vom Mangel an Veteranen, mangelte es den Burschen auch an körperlicher Ausbildung. Viele von ihnen war das gemütliche Stadtleben anzusehen. Bei einigen zeichneten sich Bauchansätze ab, andere hatten ein Doppelkinn oder Mondgesichter.
„Die werden schon, Karl.“, hörte er hinter sich eine vertraute Stimme.
Er drehte sich um und begrüßte mit einem Händedruck den Hohen Direktor der kurfürstlichen Staatsbewahrung, Johann Edgar Hubert.
„Herr Hubert, wir haben möglicherweise einen weiteren Kult ausgemacht.“
Der Direktor lächelte immer noch. Er lächelte immer auf eine Art, wie ein Großvater die Bemühungen seiner Enkelkinder belächelte, die zwar ernsthaft und aufrichtig, nie aber ausreichend sein würden.
„Das besprechen wir vielleicht besser in der Kammer.“

„Ich will mich ja nicht beklagen. Jetzt ist es vorteilhaft für uns, dass hier so viele Waffen lagern, aber hätte man die nicht an die Front schicken müssen, als der Krieg noch herrschte?“, fragte Tillmann, als er die langen Reihen überfüllter Waffenständer abschritt. Friedrich mühte sich hinter ihm damit ab, die Listen des Quartiermeisters mit den Beständen abzugleichen.
„Nun, es gab wohl zu viele.“, antwortete der rothaarige Adjutant.
Tillmann runzelte die Stirn, drehte sich dann um und fragte:
„Friedrich, wie viele Schlachten habt Ihr schon erlebt.“
„Äh…“
„Was meint Ihr? Wie viele Angriffe eines Regiments feindlicher Ritter hält dieser Speer wohl auf?“
„Nun, wenn man die Waffe ordentlich in Schuss gehalten hat und pfleglich mit ihr umgeht…“
„Einen, Friedrich. Ich habe selten erlebt, dass nach einer Schlacht noch mehr als die Hälfte aller Stangenwaffen zu gebrauchen waren. Natürlich, das Blatt oder die Spitze könnt ihr abnehmen und mit einem neuen Schaft versehen, aber dazu braucht man zumindest etwas Zeit. Verliert man die Schlacht, kann man dankbar sein, wenn genügend Ersatzwaffen vorhanden sind.“
„Ich verstehe, Herr General. Anscheinend waren die Verwalter des Nachschubs mit dieser Tatsache nicht vertraut.“
„Zweifelsohne. Ich habe fast den Eindruck, dass hier einige Offiziere nicht ihrer Pflicht nachkommen oder schlicht überfordert sind. Warum haben wir keine Armbrüste?“
Der plötzliche Themenwechsel überraschte Friedrich und der Adjutant begann sofort hektisch die Inventarliste durchzublättern.
„Äh… haben wir. Seht hier.“, sagte er und hielt Tillmann die Liste hin, ohne das dieser sie zur Kenntnis nahm.“
„Vergesst die alberne Liste, Friedrich. Wir wollen nicht wissen, was da sein sollte, sondern was tatsächlich da ist. Und hier gibt es eindeutig keine Armbrüste.“
„Aber Musketen.“, erklärte Friedrich.
„Welch ein Glück. Das löst aber unser Problem nicht. Die Herstellung von Armbrüsten ist deutlich zeitaufwendiger. Wo bekommen wir jetzt Armbrüste her?“
Tillmann dachte einen Moment nach, dann wies er Friedrich an:
„Notiert bitte, dass ich mich später noch um das Problem kümmern werde. Wir sollten uns jetzt zum Ordenshaus der Ritter des Schwarzen Bären aufmachen.“
Die beiden Männer saßen bereits wieder im Sattel, als Tillmann wieder den schelmischen Mann unbestimmten Alters bemerkte. Er zügelte das Pferd und fragte:
„Sagt mal, wer ist dieser Kauz? Der dort vorne gerade mit diesem Schurken spricht.“
Friedrich schaute in die angewiesene Richtung, dann wurde er blass, beugte sich zum General hinüber und flüsterte:
„Das ist der Direktor der kurfürstlichen Staatsbewahrung. Und der Mann bei ihm gehört sicherlich zu seinen Mitarbeitern. Das sind ganz gefährliche und brutale Leute und der Direktor führt über jeden hier eine Akte, über den Hochadel sogar Bücher. Wenn Ihr heute Nacht eine Küchenmagd verführen würdet, stünde es Morgen in seiner Akte über Euch.“
Tillmann verzog das Gesicht und sah Friedrich skeptisch an. Dieser lief rot an, als im dämmerte, was er da gerade gesagt hatte:
„Ich meinte… also, wenn Ihr…“, stammelte der junge Mann
„Das meinte ich gar nicht. Aber er hat eine Akte über mich? Hat Euch das die Küchenmagd erzählt, die Ihr verführt habt?“
„Woher wisst Ihr… ich meine, wie kommt Ihr auf den Gedanken, ich würde mich mit Gemeinen abgeben, Herr General?“
Tillmann grinste wissend, gab sich aber unbekümmert und sagte nur:
„Wieso nicht? Die sind da unten auch nicht anders gebaut, als die Damen unseres Standes.“
Die Farbe schoss förmlich wieder in Friedrichs Gesicht.
Ohne ein weiteres Wort trieb Tillmann sein Pferd voran. Ein Kauz unbestimmbaren Alters und ein Straßenschläger sahen ihm nach.

Esther hatte gerade den Laden abgeschlossen. Es war inzwischen Abend geworden, ihre Eltern hatten sich in die über der Backstube liegende Wohnung zurück gezogen. Sie wollte noch zwei Brotlaibe ausliefern und dann auch nach Hause gehen. Die Mutter hatte ihr zwar angeboten, die Nacht bei ihnen zu bleiben, aber Esther hatte abgelehnt.
Es dämmerte bereits und auf den Straßen hielten sich kaum noch Leute auf. Sie passierte eine große Straße und kürzte dann durch eine namenlose Gasse den Weg ab. Höchstens zwei nicht allzu beleibte Menschen hätten hier neben einander Platz gefunden. Die Gasse führte die ganze Straße hinter den Läden der Kleinwarenhändler entlang. Hier konnte man allerlei nützliche Dinge für den Haushalt erwerben, aber im Moment wunderte sich Esther nur darüber, dass sie die Gasse im Zwielicht immer als wesentlich länger empfand, als bei Tage. Plötzlich stand ein Mann am Ende der Gasse. Seine hohe Gestalt zeichnete sich im letzen Licht deutlich ab. Esther verlangsamte ihre Schritte, dann blieb sie stehen. Sie hoffte, dass der Mann sich wieder entfernen würde, aber er blieb regungslos stehen. Die junge Frau beschloss daher, den Weg wieder zurück zu gehen und den Umweg über die bewachten und beleuchteten Straßen in Kauf zu nehmen.
Du übertreibst, sagte sie zu sich, aber der Schrecken der letzen Nacht steckte noch zu tief in ihren Gliedern. Trotzdem kam sie sich feige vor, denn es erschien ihr zu unwahrscheinlich, dass sie zweimal hinter einander überfallen werden könnte.
Sie war so sehr damit beschäftigt, sich selbst zu schelten, dass sie erst jetzt bemerkte, wie ihr vom anderen Ende der Gasse ein weiterer Mann entgegen kam. Panik stieg in ihr auf, aber es gab keinen Ausweg. Hoffnung keimte in ihr auf, dass alles nur ein Zufall sein könnte, aber der Mann hatte sie nun erreicht und indem er vor ihr stehen blieb, wurde Esther klar, dass sie um ihr Leben fürchten musste. Der Mann war offensichtlich ein Schurke. Ein dreckiger und abgerissener Mantel lag auf seinen Schultern und bedeckten teilweise ein einfaches Wollhemd, das irgendwann einmal weiß gewesen sein musste. Die schlichte Leinenhose war an den Knien mehrmals geflickt worden und links war es wohl nie ganz gelungen. Selbst das kurze Stechschwert wirkte ramponiert und schlecht verarbeitet.
„Hallo, Schätzchen. Es gibt da jemanden, der mit dir sprechen möchte.“, erklärte ihr der Mann ohne weitere Umschweife. Sein zernarbtes Gesicht legte beim Sprechen verfaulte Zähne frei.
„Ich… bitte, mein Herr, tut mir nichts an, ich kann euch Brot geben. Das ist alles, was ich bei mir trage.“, flehte Esther, doch der Mann lachte nur und raunte dann:
„Aber wir wollen doch gar nicht deine Habe. Wir wollen dich. Da kannst du dich nur schlecht heraus reden.“
Darauf hin ließ Esther die Brote fallen, fuhr herum und rannte los. Die Sinnlosigkeit ihres Handelns ging ihr erst auf, als sie am Ende der Gasse mit dem anderen Mann zusammen stieß, während der zweite gemächlich die Gasse herunter schlenderte. Der andere Angreifer war deutlich größer und bulliger als der erste. Er trug trotz der kühlen Nacht nur ein gestreiftes Seemannshemd ohne Ärmel und eine knielange Hose. Seine Füße steckten in einfachen Teerschuhen. Es handelte sich offensichtlich um einen Matrosen. Durch den Zusammenstoß hatte Esther aber schnell heraus gefunden, warum der Mann wohl nicht froher. Borstige Haare bedeckten seine langen Armee und seine breiten Handrücken.
„Du siehst doch, dass das keinen Sinn macht. Wir wollen dir doch gar nichts tun. Noch nicht.“, meldete sich die Stimme des anderen aus der Dunkelheit der Gasse. Esther wandte sich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Tränen rannten über ihr Gesicht und sie flehte um Gnade. Als das nicht half, rief sie nach den Göttern und dann wurde schlagartig ihr Bitten erhört. Hinter dem behaarten Riesen tauchte auf einmal ein fast ebenso großer Mann auf, legte dem Matrosen seinen kräftigen Unterarm um den Hals und brach ihm mit einem kräftigen Ruck das Genick, noch bevor er reagieren konnte. Der andere Straßenräuber schrie vor Wut auf. Inzwischen war ein zweiter Mann am Gassenzugang erschienen. Während der größere die Leiche des Matrosen zur Seite zerrte, sprang der andere auf Esther zu, schob sie bei Seite und schoss mit einer kurzläufigen Pistole in die Dunkelheit. Deutlich weiter entfernt in der Gasse war ein Schmerzensschrei zu hören. Der Schütze senkte seine Waffe und trat dann an Esther heran. Sie klammerte sich sofort an ihn und ließ ihren Tränen nun vollends freien Lauf. Der Mann ließ dies über sich ergehen und sagte dann mit einer Stimme, die ihr wage bekannt vorkam:
„Ihr solltet Euch eine andere Beschäftigung suchen. Das backen scheint heuer ein ausgesprochen gefährlicher Beruf zu sein, wenn wir Euch schon zum zweiten Mal retten müssen.“
 
Zuletzt bearbeitet:
General Herzog Heinrich II. Tillmann von Ebbstein saß in seinem Wohnraum in einem hohen Ledersessel vor dem Kamin und kaute auf seiner Pfeife herum. Der Tabak war längst aufgeraucht, aber er empfand die Pfeife auch so als sehr beruhigend. Sein Treffen mit dem Großmeister war ausgesprochen ernüchternd gewesen. Zwar war der Ritter sichtlich bemüht, ihm seine Unterstützung zu versichern, aber der Orden hatte noch größere Verluste im Kampf gegen den Erzfeind erlitten, als Tillmann angenommen hatte. Und die meisten, verbliebenen Ritter hielten sich in der Grenzfestung beim Nachtfeuerpass auf. Kurzfristig war da also keine Hilfe zu erwarten.
„Ein Unbill wirft mich nicht zurück. Mich nicht. Das ist nur ein Ärgernis. Reiterei bekommen wir auch auf anderem Weg.“, murmelte er bei sich.
„Wie meinen, Herr General?“, fragte Friedrich, der sich an den kleinen Sekretär im Wohnraum gesetzt hatte, um die Inventarlisten der Waffenkammer zu editieren.
Tillmann hatte ihn gebeten, sich dort nieder zu lassen, da er dem jungen Mann nicht zumuten wollte, im unbeheizten Arbeitszimmer seinen Pflichten nachzukommen.
Der General reagierte zunächst nicht und sagte dann etwas deutlicher:
„Unwichtig, mein Junge. Wie weit seid Ihr?“
„So gut wie fertig, Herr General, aber ich wollte noch die Inventarlisten der Artillerie für Morgen vorbereiten.“
„Nicht mehr heute, Friedrich. Wir müssen Morgen sehr früh aufstehen. Vielleicht sollte ich den Statthalter bitten, meinen Stab zu vergrößern.“
„Herr General, mit allem nötigen Respekt, aber das würde mich kränken. Ich schaffe die Arbeit.“
„Geht jetzt trotzdem schlafen.“
Als Friedrich nach einigen Augenblicken dann seine Feder nieder legte und sich erhob, sah Tillmann nur noch einmal kurz auf. Der junge Mann salutierte eilig und verließ dann das Zimmer. Der General sprach ihn nicht auf die unförmige Beule unter seinem Mantel an. Er konnte sich eh denken, dass es sich dabei um die Inventarlisten der kurfürstlichen Artillerie handelte. Er blieb noch einen Moment sitzen, nachdem sein Adjutant ihn verlassen hatte und lachte dann trocken auf. Einen eifrigen Burschen hatte man ihm da zugeteilt.

„Du kannst sie nicht nach Hause bringen. Wir verpassen unseren… Termin.“, erklärte Ludwig sachlich, aber Karl war nicht überzeugt.
„Ihre Eltern wohnen hier in der Nähe und sie wurde jetzt schon zum zweiten Mal überfallen. Das kann doch kein Zufall sein.“
„Ich bitte dich. Jede Frau, die hier nach Einbruch der Dunkelheit entlang geht, muss mit einem Überfall durch solche Halsabschneider rechnen.“
„Aber doch nicht um diese Zeit! Die tauchen doch erst ein paar Stunden später auf, wenn die Wachen schon etwas müder sind. Die haben sie gezielt gesucht. Ich bringe sie ja nur zu ihren Eltern. Du gehst vor und triffst dich wie geplant mit unseren Leuten. Ich übernehme dann auch die Rückendeckung. Dann bin ich in jedem Fall rechtzeitig da und bin in einer sekundären Position.“
Ludwig war zwar offensichtlich nicht sehr glücklich mit diesem Vorschlag, gab aber schließlich nach:
„Also gut, ich teile dann die Jungs ein und übernehme das Kommando. Für die ganze Mission und nicht nur so lange! Dafür werde ich die Sache auch im Bericht nicht erwähnen. Wir sagen einfach, dass ich mich in der Gegend besser auskenne. Das ist nicht einmal so unwahr.“
Karl schlug Ludwig dankend auf die Schulter und sagte:
„Das werde ich dir nicht vergessen.“
Dann begab er sich zur Bäckerin, lächelte sie aufmunternd an und bedeutete ihr, aufzubrechen. Ludwig sah ihnen nach und murmelte:
„Das hoffe ich. Aber wenn das schief geht, werde ich es dir auch nie vergessen.“

Ludwig erreichte nur kurze Zeit später das Schreiber-Kontor am Hafen, umrundete es und passierte dann eine breite Straße. Er passierte sodann einige leerstehende Holzbaracken, die im Winter an Seefahrer vermietet wurden. Er betrat eine Einmündung und stand dann vor der „Schwarzen Fahne“. Der Agent schaute sich um, stellte aber nur fest, dass er allein war, dann betrat er den Schankraum. Dieser war schon gut gefüllt, obwohl es noch sehr früh war. Andererseits hatte Toddward ihnen nicht gesagt, wann er seinen Kunden erwartete. Wahrscheinlich, weil er es selbst nicht wusste. Ludwig setzte sich direkt neben der Tür an einen Tisch und musterte die anderen Gäste. Ihm selbst hatte offensichtlich niemand Beachtung geschenkt. Er sah Toddward mit einigen anderen Halunken an einem Tisch würfeln, aber von seinen Helfern hatte er keinen entdeckt. Er erhob sich also wieder und steuerte den Durchgang zur Garküche an, die ebenfalls vom Wirt der „Fahne“ betrieben wurde. Dort herrschte emsiges Treiben, denn die Schauerleute aßen gerne nach der Arbeit, bevor sie sich dem Alkohol hingaben. Ludwigs Ziel war der Hinterausgang. Diesen passierte er und wäre beinah mit jemandem zusammen gestoßen.
„Grüß dich, Menschling.“, begrüßte ihn der andere mit einer Stimme, die sich anhörte, als würden Steine aneinander reiben. Vor ihm stand Himbi Helmeson, ein Zwerg, der aus einem ihm nicht bekannten Grund ebenfalls für die Staatsbewahrung arbeitete. Ludwig wusste, dass der Zwerg eine persönliche Vereinbarung mit Hubert hatte, in der es nicht nur, aber auch um ein stattliches Auskommen ging. Da er aber wusste, dass der Zwerg durch einen Eid an den Direktor selbst gebunden war, genügte es ihm, um die Loyalität des anderen nicht in Frage zu stellen. Himbi war eine beeindruckende Erscheinung. Er trug meistens ein knielanges Kettenhemd, das ihn aber anscheinend in keiner Form behinderte. Er hatte lange vor seiner Zeit im Dienste des Kurfürsten ein Auge und ein Bein verloren, was ihn aber auch nicht nennenswert zu beeinträchtigen schien.
„Ich hab alles dabei. Wie sieht dein Plan aus?“, fragte der Zwerg.
Ludwig war immer wieder von der unverblümten Direktheit des kleinen Volkes überrascht.
„Lass uns erst auf die anderen warten.“, antwortete er.
„Die sind schon da.“, verkündete eine Stimme aus der Dunkelheit und drei weitere Gestalten lösten sich aus den Schatten. Ludwig erkannte sie sofort. Obwohl sie seine Untergebenen waren, bewunderte er sie insgeheim. Er war ursprünglich Soldat bei den Kürassieren gewesen, als Hubert ihn überraschend für die Staatsbewahrung abwarb. Eine ungewöhnliche, aber nicht unmögliche Karriere. Dass er ab und an inkognito als Prügel in den Straßen unterwegs war, gehörte zu den normalen Aufgaben eines Agenten, aber die drei Mitstreiter, die sich nun lose um ihn versammelt hatten, lebten ihre Rolle auf der Straße jeden Tag. Es waren keine unter Drohungen oder durch Amnestieversprechen angeworbene Verbrecher, sie waren ganz normale Kinder anständiger Familien gewesen, bevor sie in den Staatsdienst eintraten und nun aus Pflichtbewusstsein unter dem Bodensatz des Landes verkehrten. Sie lebten unter der ständigen Bedrohung, dass ihre Identität entdeckt werden könnte und sie von aufgebrachten Kleinkriminellen ermordet oder ihre Familien verschleppt werden würden. Und trotzdem gingen sie ohne zu fragen mit aller Konsequenz ihren Aufgaben nach, begingen sogar selbst Verbrechen, wenn ihre Tarnung das erforderte.
Da war Leonile, eine aschblonde Schönheit, von der er nur wusste, dass sie ursprünglich aus Grenzstadt stammte. Obwohl sie in anderer Kleidung eher wie eine brave Kleinbürgerin gewirkt hätte, war sie die erfolgreichste Agentin, die Hubert im Untergrund beschäftigte. Das war gleichbedeutend damit, dass sie auch die tödlichste war. Für jeden Toten hatte sie eine Kerbe in ihre exotische Wurfkeule geritzt, die sie auch jetzt am Gürtel trug. Neben ihr stand in einem langen Mantel gehüllt ein drahtiger Kerl namens Bebut. Er war ein Messerkämpfer und Meuchler, ging aber vor allem den Aufgaben nach, in dem Heimlichkeit erfordert wurde. Für die heutige Mission würde er eine Schlüsselrolle spielen. Das galt hingegen nicht für Estoc. Er war ein Schwertkämpfer und war unter den averheimer Kriminellen als Leibwächter und Schuldeneintreiber verschiedener Verbrecherkönige bekannt.
„Dann sind wir ja vollzählig.“, bemerkte Ludwig und wollte gerade die Aufgaben verteilen, als Estoc ihn unterbrach:
„Wo ist Stilett?“
„Kommt später. Ich habe das Kommando. Also folgender Plan: Bebut, du bleibst hier in der Gasse und versuchst, so viel wie möglich vom Verkaufsgespräch mitzubekommen. Himbi ist gleich bei dir, aber da oben.“, erklärte Ludwig und wies mit dem Finger auf einen Holzverschlag, der an die „Fahne“ angebaut worden war.
„Wenn irgendwas schief geht, kannst du Bebut von dort aus helfen.“
Der Zwerg brummte eine Zustimmung und nahm seine Armbrust von den Schultern, Bebut nickte sparsam.
„Gut.“, setzte Ludwig seine Ausführungen fort, „Estoc, du gehst in den Schankraum und setzt dich direkt neben die Tür. Wenn Toddward wieder rein kommt, gehst du vorne raus und schließt dich uns an. Das sind in dem Falle Leonile und ich. Wir warten gegenüber. Der Kunde kann nur wieder zur Gasse heraus kommen, wenn er nicht über die Häuserdächer klettern will. Sollte Stilett auftauchen, wird er dir drinnen Gesellschaft leisten. Noch Fragen?“
Alle verneinten und begaben sich zu den ihnen zugewiesenen Positionen. Leonile und Ludwig gingen mit Estoc wieder durch die Küche in den Schankraum, achteten aber dabei auf einen vernünftigen Abstand. Als sie den Raum durchquerten, um zur Tür zu gelangen, schaute Ludwig noch einmal unauffällig zu Toddward, aber der schien ihn immer noch nicht bemerkt zu haben. Während Estoc sich gleich neben der Tür auf jenen Platz niederließ, an dem auch Ludwig vorher gesessen hatte, gingen die anderen hinaus auf die Straße und postierten sich in einem Hauseingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Alles war vorbereitet und jetzt kam der anstrengende Teil der Arbeit: das Warten.

Karl erreichte mit Esther die Bäckerei ihrer Eltern. Sie blieben vor der Hintertür stehen und Karl nahm beruhigt zur Kenntnis, dass die junge Frau inzwischen nicht mehr weinte. Sie sah ihn aus ihren großen Augen an, die er schon in der letzten Nacht bewundert hatte. Im Licht einer nahen Laterne konnte er nun aber auch sehen, dass sie smaragdgrün waren. Neben ihrer Nase befand sich tatsächlich ein kleines Muttermal. Sie war wunderschön und Karl drehte sich unwillkürlich zur Seite, damit er sie nicht weiter anstarrte. Sie kicherte.
„Sehe ich so zerschunden aus?“, fragte sie mit einer Stimme, die sein Herz aufgehen ließ.
„Nein.“, presste er zwischen den Zähnen heraus, fing sich dann und ergänzte: „Ich will nicht unhöflich erscheinen. Es ist unpassend. Wir stehen hier vor der Tür zur Wohnung Eurer Eltern. Was sollen die Nachbarn denken?“
„Nun, wahrscheinlich nicht sehr viel, denn die schlafen um diese Zeit.“, erklärte sie belustigt. Sie schien den Schock des neuerlichen Überfalls schnell verwunden zu haben.
Die junge Frau schloss die Tür auf.
„Ich danke Euch für meine erneute Rettung, Karl Eisenhut.“, sagte sie und Karl verbeugte sich knapp mit einem Kopfnicken. Das nutzte sie aus, gab ihm einen zaghaften Kuss, drehte sich um und verschwand hinter der Tür, die gleich darauf wieder verschlossen wurde. Karl blieb wie vom Blitz getroffen stehen.
 
Zuletzt bearbeitet:
„Da kommt jemand.“, bemerkte Ludwig trocken. Er drehte sich zu Leonile herum und spürte auf einmal ihre Lippen auf seinen. Sie schlang seine Arme und das linke Bein um ihn, beendete dann ihren Kuss und presste sich an seine Brust.
„Ähm…“, machte er.
„Jetzt werde nicht prüde, Mann. Ist ein bisschen auffällig, wenn wir hier herumlungern und die Straße angaffen, oder?“, zischte sie und beobachtete schielend den Neuankömmling über Ludwigs Schultern hinweg. Er selbst konnte folglich gar nichts sehen, was ihn sehr störte, aber sie hatte offensichtlich recht, denn die Gestalt nahm keinerlei Notiz von ihnen. Ludwig hatte bis dahin eigentlich immer die Rückendeckung übernommen, die nun aber Estoc inne hatte und es war ihm nun sehr peinlich, dass er bei der Beschattung beinahe einen so großen Fehler gemacht hätte.
„Jetzt mach dir mal keine Sorgen.“, erklärte Leonile belustigt, die seine Gedanken erraten hatte, „Jeder fängt mal klein an. Was meinst du, wie viele mir schon durch die Lappen gegangen sind, weil sie mich entdeckt haben?“
Ludwig war die Situation sehr unangenehm und daher zischte er nur:
„Du kannst mich jetzt wieder los lassen, oder? Der müsste doch längst in der Gasse sein.“
Sie tat es nicht, grinste stattdessen und antwortete:
„Ja, der fällt jetzt in Bebuts Aufgabenbereich.“
Dann küsste sie ihn wieder und Ludwig schossen gleich mehrere Gedanken durch den Kopf. Hatte der Mann kehrt gemacht, weil er etwas bemerkt hatte? Hatte Toddward sie verraten? War der vermeintliche Kunde ein gedungener Attentäter und hatte gerade Bebut ermordet?
„Weshalb war das jetzt?“, fragte er, als sie von ihm ließ.
„Das war nur, um deine Nerven zu beruhigen. Hätte jetzt nicht gedacht, dass dich solche Zuwendungen noch nervöser machen. Na ja, zumindest deine Bewegungen weiter südlich lassen darauf schließen, dass es nicht völlig umsonst war.“
Ludwig verstand die Anspielung zwar nicht, aber das klare Lachen der Frau ließ ihn erröten. Sie machte sich über ihn lustig und Ludwig kämpfte den Drang nieder, sie in die nächste Regentonne zu schuppsen. Ihre Schönheit und das herzliche Lachen unterstützen ihn dabei allerdings.
„Na, komm schon, Großer. So schlimm war es doch nicht, oder?“, fragte sie, wobei sie ihm mit der Faust an die Brust stieß. Dann ging sie einen Schritt an ihm vorbei und konzentrierte sich wieder auf die Gasseneinmündung, welche hinter die „Fahne“ führte.
Es vergingen noch einige Minuten, in denen sie schweigend ihrer Aufgabe nachgingen. Dann verließ die Gestalt wieder die Gasse. Ludwig fluchte innerlich. Karl war immer noch nicht da. Das ganze ging zu schnell. Mit einem Mann weniger war die Aufgabe bedeutend schwieriger. Nun musste Bebut allein die Spitze übernehmen und Estoc weiterhin in der Reserve bleiben. Dieser verließ nur wenige Augenblicke mit Himbi die Schenke. Beide kamen zu ihnen herüber, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass Toddwards Kunde schon weit genug entfernt war. Aus dem Augenwinkel nahm Ludwig Bebut war, der gerade aus der Gasse geschlichen kam. Seine fließenden Bewegungen hatte er nur bemerken können, weil der Messerkämpfer das so wollte. Es war sein Signal, dass er der finsteren Gestalt jetzt folgte.
„Wo ist Stilett?“, fragte Estoc erneut.
„Immer noch nicht da.“, zischte Ludwig und ihm wurde klar, dass zumindest den Krieger die verzwickte Situation ebenso störte.
„Wir machen es so: Himbi, du bleibst jetzt in der „Fahne“ und behältst Toddward im Auge. Estoc, du folgst uns auf etwa einhundert Schritt Abstand, wir hängen uns an Bebut. Noch Fragen.“
Alle schüttelten den Kopf und Ludwig machte sich mit der Frau auf den Weg. Als sie aus der Gasse bogen, sah Ludwig, wie Estoc ihnen nach schlenderte.
„Wo lang jetzt?“, flüsterte Leonile, doch Ludwig bemerkte am Ende der Straße nochmals Bebut, der ihnen kaum merklich zuwinkte.
„Da entlang. Etwas zügiger, damit wir sicheren Kontakt halten können.“, gab Ludwig nicht minder leise zurück. Sie hatten besonders weiche Schuhe mit dünnen Ledersohlen an den Füßen, die ihnen das Schleichen auch bei einer schnellen Gangart erleichterten. Ludwig hasste diese Dinger zwar, weil er jedes Steinchen durch die Sohlen spüren konnte, dass ihm in den Fuß piekte, aber der Zweck heiligte eben die Mittel.
Die beiden Agenten schafften es, mit Bebut mitzuhalten, der wiederum den geheimnisvollen Kunden Toddwards erfolgreich weiter verfolgte. So ging es einige Zeit durch die engen Straßen des Armenviertels, das am Hafen angrenzte, bis die Gegend schließlich besser wurde. Kleine Krämerläden säumten nun die breiteren Straßen und hier und da sah man Blumenkästen unter den Fenstern der ersten Etagen.
Während dieser Zeit saß Himbi in der „Fahne“ und beobachtete Toddward. Dieser blieb nicht mehr sehr lange, erhob sich und verließ die Schenke. Der Zwerg wartete noch einen Augenblick, warf dann ein paar Kupfermünzen auf den Tisch und folgte dem Schieber.
Draußen war er aber nur wenige Schritte gegangen, als hinter ihm jemand rief:
„Schnappt euch den Kurzen!“
Himbi fuhr herum, hatte die Axt bereits in der Hand und sah mehrere Angreifer auf sich einstürmen. Es waren gewöhnliche Halsabschneider mit Totschlägern, Langdolchen und billig verarbeiteten Kurzschwertern, die man gut unter den Teerjacken verbergen konnte, die sie trugen. Der Zwerg grunzte verächtlich, war sich seiner Lage aber bewusst. Er war zäher und stärker als die meisten Menschen und hatte deutlich mehr Masse, aber gegen eine Übermacht war der Kampf immer schwierig. Der erste Angreifer ging allerdings zu übereifrig ans Werk, stolperte und fiel mehr oder weniger in die Axt des Zwerges. Der zweite war dicht hinter ihm und hieb mit einem Totschläger nach Himbi, der aber geschickt auswich, sich um die eigene Axt drehte, wobei sein blonder Bart eine seltsame Bahn zog und dem Schläger mit einem rückhändigen Hieb das Bein unterhalb des Knies abschlug. Kreischend umklammerte der Mann den Stumpf und ging zu Boden. Im Vorbeigehen schlitzte der Zwerg ihm die Kehle auf. Die übrigen Angreifer gingen nun mit deutlich weniger Eifer an ihre Aufgabe, hielten Abstand und begannen damit, Himbi zu umzingeln. Dieser zischte einen Fluch in seiner Muttersprache, der eine anständige Dame in Ohnmacht hätte fallen lassen und bezichtigte die Angreifer der Feigheit. Dann spürte er einen Schlag, der ihn an der Schulter traf, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Ein Wurfmesser steckte in seinem Kettenhemd. Verächtlich zog der Zwerg es heraus und betrachtete das Blut an der Klinge. Dann schleuderte er es ungelenk den Angreifern entgegen. Ein schepperndes Geräusch verriet ihm, dass er nicht getroffen hatte. Als wäre es ein Signal gewesen, stürmten mehrere Angreifer frontal auf ihn zu. Dem ersten trieb Himbi seine Axt in den Bauch, doch anstatt sich von ihm abzuwenden stürzte der Sterbende sich auf den überraschten Zwerg und riss ihm fast die Axt aus den Händen. Zerrend befreite er sie im letzen Moment von der Schweinerei aus Eingeweiden, unverdautem Essen und Blut, die sich zu seinen Füßen ausbreitete und parierte knapp den Schlag eines Kurzschwertes und lenkte den Schwertträger an sich vorbei, so dass dieser auf der breiter werdenden Lache aus Blut und Innereien ausglitt und stürzte. Rücklings trieb er ihm die Axt in die Schulter, riss sie aber gleich wieder heraus. Die anderen Angreifer wichen nun wieder etwas zurück, doch dann wurde Himbi schwer am Hinterkopf getroffen, fuhr herum und hieb nach dem Halsabschneider hinter ihm, dieser hatte sich aber schon wieder zurück gezogen. Seine zwergische Konstitution hielt ihn auf den Beinen, aber ein Mensch wäre nach diesem Treffer schon besiegt gewesen. Himbi wurde aber gewahr, dass er den Kampf so nicht gewinnen konnte und sah sich nach einem Ausweg um. Der Eingang zur Schenke wäre eine Möglichkeit gewesen, wollte aber nicht riskieren, dass der tödliche Kampf sich in die Schenke verlagerte. Das wäre frevelhaft. Während er noch nach einem Ausweg suchte, krachte ein Pistolenschuss und einer der Angreifer sank schreiend zu Boden. Seine Kameraden sahen sich verwirrt um, als ein weiterer Schuss den nächsten Schläger im Gesicht schlag. Er kam nicht einmal dazu, einen Schrei von sich zu geben. Aus der Dunkelheit heraus stürmte ein Mann heran schlitzte im Vorbeihuschen einen weiteren Schergen den Hals auf und postierte sich neben dem Zwerg. Durch die neuerlichen Verluste war die Zahl der Angreifer nun deutlich reduziert worden, was die übrigen dazu veranlasste, den Kampf abzubrechen.
„Verflucht, Menschling!“, grollte der Zwerg, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass keine Gefahr mehr bestand, „Du bist viel zu spät.“
„Um dich zu retten hat es doch gereicht.“, schnauzte Karl zurück.
„Vollkommen unwichtig. Die anderen Menschlinge sind schon hinter dem Ziel her. Aber ohne dich sind sie nur mit einem Mann an der Spitze.“
Karl ging nun auf, was der Zwerg meinte und nun bereute er, dass er sich so viel Zeit gelassen hatte. Himbi schnaubte, spie aus und stapfte dann zu dem Mann, den er an der Schulter verwundet hatte.
„Heda, Menschling, warum wolltet ihr mich töten?“, brüllte er, aber der Mann starrte ihn nur an. Erbost hielt der Zwerg ihm die Axt an den Hals und wiederholte bedrohlich zischend seine Frage. Der Mann begann hysterisch zu lachen und kreischte:
„Der Wandler hat es befohlen und er wird euch alle bekommen. Die Welt wird in Blut und Feuer versinken und neu auferstehen. Gewandelt durch unseren Meister. Ihr leeren Hüllen, die im Auftrag der Sigmarjünger handelt, seht ja nicht einmal, wie vor euren Augen der Wandel vollzogen wird.“
Himbi legte den Kopf zur Seite. Er hatte gelernt, unter den Menschen eine Vielzahl an Beleidigungen hinzunehmen, da die menschliche Rasse ohnehin sehr leichtfertig mit Worten umging, aber einen Sigmarjünger hatte ihn noch nie jemand gescholten. Doch bevor der Zwerg reagieren konnte, zuckte der Schurke nach vorn und trieb den eigenen Hals in die Klinge des Zwerges. Mit großen Augen sah Himbi zu, wie der Mann glucksend zurück sank und starb.
„Ich glaube wir sind aufgeflogen, Menschling.“, erklärte Himbi in Karls Richtung. Dieser starrte an das andere Ende der Gasse und bestätigte:
„Das glaube ich allerdings auch.“
Vom Ende der Gasse näherten sich drei ihm gut bekannte Gestalten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ludwig und Leonile bogen um eine weitere Straßenecke. Sie waren nun schon einige Meilen hinter Bebut her geschlichen und hatten zuletzt eine ausgesprochen vornehme Gegend erreicht. Nun blieben beide wie angewurzelt stehen.
„Sackgasse.“, raunte Leonile.
Ludwig stemmte neben ihr die Hände in die Hüfte und glotzte ratlos gegen die elegante Häuserwand. Mehrere Etagen ragten hier die Häuser in die Höhe. Unmöglich, dass hier jemand so schnell nach oben klettern könnte. Andererseits war Bebut zuletzt über die Dächer gesprungen und gelaufen, um Toddwards Kunden im Auge zu behalten. Vielleicht war er auf der anderen Seite wieder herunter geklettert? Nein. Dann wäre der Verfolgte vorher ja auch über die Dächer gestiegen. Oder er war abgestürzt? Nein. Bebut stürzte nicht einfach irgendwo ab.
„Verdammt noch mal.“, grollte Ludwig, während Leonile die Haustüren untersuchte.
„Alle verschlossen.“, sagte sie schließlich.
Ludwig fluchte weiter, dann hörten sie hinter sich Estoc heran traben.
„Was ist los?“, fragte der Schwertkämpfer und die anderen beiden sahen ihn wortlos an. Leonile schaute schließlich weg und Ludwig schüttelte den Kopf.
Estoc verzog das Gesicht und atmete hörbar aus.
„Und wo ist er Bebut?“, fragte er dann erneut.
„Wir wissen es nicht.“, gab Ludwig knapp zurück, „Hier können wir nichts mehr ausrichten. Markieren und zurück zur Fahne. Wir formieren uns neu und kommen Morgen wieder.“
„Vielleicht“, ergänzte Estoc, „hat sich Bebut bis dahin auch gemeldet.“
Bei diesen Worten sahen sich Leonile und Ludwig an. Er wollte etwas sagen aber sie riss die Augenbrauen hoch und legte einen Finger auf den Mund. Ludwig kam zu dem Schluss, dass sie recht hatte. Man musste die Hoffnung des Kriegers nicht unbegründet zerschlagen und vielleicht hatte er ja recht und sie hatten Bebut einfach nur aus den Augen verloren. Er gab sich jedenfalls aufrichtige Mühe, es ebenfalls zu glauben.
Er ging zu einer Häuserwand und malte ein kleines Kreidekreuz an den Sockel des Gebäudes, dann gingen sie zurück zur Fahne.

Der nächste Morgen war noch nicht angebrochen, als Friedrich von Aggenheim durch lautes Gepolter vor seiner Tür geweckt wurde. Er fiel buchstäblich aus dem Bett, raffte sich auf und stürmte zur Tür. Als er sie aufgerissen hatte, blinzelte er in das Gesicht des Generals von Ebbstein. Der grinste ihn an und erklärte:
„Heute beginnt der Drill. Seid Ihr soweit? Am besten zieht Ihr Euch etwas Leichtes an. Eine Leinenhose und ein weites Hemd sind perfekt. Und keine Reitstiefel. Die werden Euch umbringen.“
„Äh…“, brachte Friedrich nur hervor. Dann starrte er seinen immer noch grinsenden Vorgesetzten an, drehte sich um und rannte zurück in sein Zimmer. Er sammelte schnell die passenden Kleidungsstücke an und zog sich um, als ihm aufging, dass der General alles durch die offene Tür sehen konnte. Er sackte in sich zusammen, seufzte und beschloss dann, dass es jetzt eh zu spät war, bekleidete sich und war schon auf dem Weg zur Tür, als der General noch sagte:
„Vergesst die Unterlagen zur Artillerie nicht, Friedrich.“
„Oh.“, machte dieser nur. Er wollte eigentlich gar nicht wissen, woher sein Vorgesetzter das wusste, griff sich das Papierbündel und trabte dann zur Tür, wo sich der General schon in Bewegung setzte.
Friedrich stolperte verschlafen zur Hoftür des Nebengebäudes hinaus, in der der Stab – also nur der General und er – untergebracht waren. Zwei Pagen hielten ihre Pferde bereit. Die Halbstarken wirkten keineswegs wacher, als der Adjutant sich fühlte. Es war immer noch stockfinster.
„Glaubt mir, Friedrich, wenn wir das hinter uns haben, werdet Ihr Euch gleich viel besser fühlen.“, versprach Tillmann, der sich bereits in den Sattel geschwungen hatte.
Sodann preschten sie zum eigens für sie geöffneten Tor des Palasthofes hinaus. Friedrich hing noch immer etwas ungelenk im Sattel, ermahnte sich aber selbst, endlich seine Haltung zu finden. Dies gelang ihm aber erst, als sie das Kaiser-Frederick-Tor erreichten. Zu seiner Verwunderung war es bereits geöffnet worden und als sie es passierten, salutierten die Wachsoldaten. Die Pferde trabten nun etwas langsamer auf das Agbardenfeld zu, auf dem sich alle kasernierten Streitkräfte der Stadt versammelt hatten, die gerade keinen Dienst hatten. Während die Soldaten alle unbewaffnet in Reih und Glied standen, hatten sich die jungen Offiziere etwas abseits lose positioniert, allesamt beritten und in ihren besten Uniformen. Allerdings – stellte Friedrich fest – trugen sie eigentlich immer prunkvolle Uniformen, unabhängig von der Gelegenheit. Er selbst kam aus einer weniger wohlhabenden Familie und es war ihm oft unangenehm, sich nicht so herausputzen zu können, aber heute war es besonders schlimm. Nur in einfache Hauskleidung gehüllt, ritt er zu ihnen hinüber, während sie eine Reihe bilden, der er sich anschloss.
„Schau mal, Fritz. Der Alte hat sich ja richtig fein gemacht, für seine Soldaten.“, raunte der Offizier neben ihm.
Friedrich kochte innerlich, unterdrückte seine Wut aber. Nicht nur, dass sie ihn immer von oben herab behandelten, jetzt ätzten sie auch gegen den General – und das hinter seinem Rücken. Dieser ritt gerade auf die nun stramm stehenden Soldaten zu, passierte zweimal ihre Linie und rief dann:
„Guten Morgen, Männer! Heute beginnt es also. Heute könnt ihr den Leuten endlich wieder zeigen, dass ihr echte Soldaten des Imperiums seid! Wollt ihr das?“
Ein vielstimmiges Ja war zu hören.
„Sehr gut. Motivation ist ein guter Anfang. Aber das kann ich besser! Hier ist die Aufgabe! Wir alle werden die Stadtmauer umrunden. Wir beginnen hier und laufen der Sonne folgend. Nun, die werden wir freilich einholen, aber Sinn der Sache ist, dass sich das Feld bis zur Brücke einigermaßen aufgelockert hat. Sonst müsst ihr noch anstehen, um das Ziel zu erreichen. Ich werde hier eine Sanduhr aufstellen. Der erste, der hier wieder entlang kommt, wird die Uhr anhalten und ab dann ist unser Ziel, dass der letzte genau diese Zeit erreicht. Außerdem habe ich hier einen Geldbeutel mit zehn blanken Goldkronen. Diejenigen, welche die ersten zehn Plätze belegen, werden eine dieser Münzen erhalten und heute Abend genug Zeit, um diese auch auszugeben!“
Jubel entbrannte, als der General seine Rede beendet hatte. Neben Graf Leonhard von Rabbe sagte ein Offizier:
„Es ist unglaublich. Der verordnend den Soldaten eine solche Schinderei und die Tölpel bejubeln ihn.“
Von Rabbe sah seinen Nebenmann finster an, der darauf hin schwieg. Aber er hatte recht und sprach nur das aus, was die Adeligen um von Rabbe alle dachten. Er selbst äußerte sich aber nicht, da sich von Ebbstein der Gruppe näherte.
„Guten Morgen, die Herren.“, grüßte er, was mit einem einheitlichen:
„Guten Morgen, Herr General.“, bedacht wurde.
„Ihr seid alle wenig zweckmäßig gekleidet, wenn ich es so ausdrücken darf.“
„Herr General?“, fragte ein besonders junger Offizier.
„Nun, für den Lauf. Mit den Soldaten. Was sollen die Männer denn denken, wenn ihre Offiziere weniger gut trainiert sind, als sie selbst? Am besten legt Ihr erst einmal diesen ganzen Tand ab. Ein imposantes Auftreten ist gut, aber hier wird Euch das alles nur behindern. Aber wie ich sehe haben sie mehrheitlich wenigstens auf schweres Schuhwerk verzichtet. Die Fußbekleidung ist entscheidend. Nehmt Euch aber zukünftig ein Beispiel an meinen Stabsoffizier. Er ist vorbildlich gekleidet. Meine Herrn.“
Dann wendete er sein Pferd und ritt zu den Soldaten zurück. Die Offiziere gafften ihm fassungslos nach.

Tillmann atmete immer noch schwer, hatte sich aber wieder aufgerichtet. Er war bislang ausgesprochen zufrieden mit der Ausdauer seiner Soldaten. Sechs Läufer hatten es vor ihm ins Ziel geschafft. Darunter waren immerhin drei Feldwaibel gewesen. Hinter ihm hatte sich allerdings eine Lücke aufgetan. Erst hundert Schritte hinter ihm war ein weiterer einfacher Soldat ins Ziel gekommen, dann folgte eine Gruppe aus einem Soldaten und zwei Offizieren, die sich alle mächtig ins Zeug legten. Als sie näher kamen, erkannte Tillmann, dass es sich bei den Offizieren um von Rabbe und seinen Adjutanten Friedrich handelte. Die Soldaten feuerten johlend ihren Kameraden an, der sich tatsächlich kurz vor dem Ziel noch absetzen konnte. Den zehnten Platz machten also die beiden Hauptleute unter sich aus. Es war sehr knapp. Beide hielten sich nebeneinander, aber im letzten Moment gelang es Friedrich, sich vor den Grafen zu schieben. Während ein Feldwaibel auf einer Liste die Reihenfolge der Männer notierte, begab sich der General zu den beiden Hauptmännern. Er warf Friedrich die Goldkrone zu und registrierte, wie der Graf den Adjutanten mit unverhohlenem Zorn anfunkelte. Er ließ die Sache unkommentiert, beschloss aber, die Angelegenheit im Auge zu behalten.
Nachdem auch der letzte Soldat ins Ziel gekommen war, verkündete Tillmann, dass diese Läufe nun jeden zweiten Tag stattfinden würden. An den anderen Tagen setze er Waffenübungen an. Dann verkündete er die Namen der ersten zehn, verteilte die restlichen Goldmünzen und gab den neun anderen Männern für den kommenden Abend frei. Schließlich ordneten die Soldaten sich wieder regimentsweise und marschierten durch das Tor zurück zur Kaserne. Tillmann ritt in Begleitung von Friedrich den Soldaten voran. Als sie das Stadttor erneut passierten, ging in ihrem Rücken die Sonne auf.
Sie hatten die Kaserne noch nicht erreicht, als ihnen auffiel, dass irgendetwas nicht stimmte. Eine Menschenmenge hatte sich vor der Kaserne versammelt, abseits standen einzelne Gruppen, die mit entsetzter Mine ins Leere starrten oder hysterisch miteinander diskutierten. Die Bürger gingen auch nicht auseinander, als sie sich ihnen näherten, obwohl Friedrich nach Leibeskräften schrie, man solle den General passieren lassen. Tillmann sprang schließlich fluchend vom Pferd und drängelte sich durch die Menschenmenge. Als er sie hinter sich gelassen hatte, blieb er ruckartig stehen. Vor dem Kasernentor lag ein Mann. Ein Kreis aus Kerzen war um ihn herum aufgestellt worden. Der Elende war mit Schnitten, Brandmalen und Blutergüssen übersäht. Seine Finger waren allesamt gebrochen, die Fuß- und Zehennägel heraus gerissen worden. Dort, wo seine Augen hätten sein müssen, waren nur leere Höhlen. Blasse Soldaten standen auf der anderen Seite und starrten auf die leblose Gestalt.
„Drängt die Leute zurück!“, blaffte Tillmann sie an. Das diente vor allem als Vorwand, um die armen Kerle abzulenken. „Und ruft einen Arzt!“
Friedrich und Feldwaibel Rothhaar, der Anführer der Speerträger, erschienen neben ihm. Während der Adjutant wie vom Blitz getroffen stehen blieb, hockte sich Rothhaar neben der Gestalt nieder und griff an den Hals des Geschundenen. Dann sah er auf und raunte:
„Nichts mehr zu machen, Herr General. Der ist schon ein paar Stunden tot.“ Dann sprang der Unteroffizier angewidert auf und fluchte unschicklich:
„Verdammte Teufel! Dreimal verfluchter Mutantenabschaum!“
Erst dann wurde ihm gewahr, dass das halbe Stadtviertel zuhörte, schaute verstohlen zur Menschenmenge hinüber, doch der Schaden war bereits angerichtet. Tillmann verzog das Gesicht zu einer bitteren Grimasse, die den Feldwaibel vor Scham rot anlaufen ließ.

Ludwig erwachte und rieb sich die Augen. Sie brannten und er konnte fühlen, dass sie geschwollen waren. Zu wenig Schlaf, diagnostizierte er. Was sie letzte Nacht noch alles gemacht hatten, wusste er nicht mehr. Estoc und Himbi hatten darauf bestanden, noch ein paar einschlägige Treffpunkte der Gruppe abzusuchen, aber Erfolg war ihnen verwehrt geblieben. Also waren sie in die „Fahne“ zurück gekehrt und hatten sich zwei Zimmer genommen. Sie wollten möglichst zusammen bleiben, um schnell einsatzbereit zu sein. Die Männer hatten sich das eine Zimmer geteilt und das andere Leonile überlassen. Daher war Ludwig überrascht, als er feststellte, dass die Frau neben ihm lag. Schlagartig war er hellwach, richtete sich ruckartig auf, was die Frau zu einem erwachenden Seufzer veranlasste. Beruhigt stellte er fest, dass er noch seine vollständige Kleidung trug, während ihr Körper bis zum Hals von der Decke verborgen wurde. Er ließ sich wieder nach hinten fallen und starrte die Decke an. Dann erhob er sich und bemerkte, dass er in seinen Stiefeln geschlafen hatte. Er zuckte mit den Achseln, ging zur Wasserschüssel und wusch sich ausgiebig das Gesicht.
Ludwig ließ Leonile zurück, die noch nicht ganz erwacht war und verließ das Zimmer. Von der Galerie aus sah er seine Kameraden unten im Schankraum sitzen, stellte aber fest, dass Estoc fehlte. Sie schienen die ganze Nacht dort verbracht zu haben. Zwerg und Mensch hingen in ihren Stühlen und schliefen. Karl hatte seinen Kopf auf die Tischplatte gebettet und der Zwerg seinen in den Nacken gelegt. Er schnarchte lauthals. Ludwig musste unwillkürlich lachen und machte sich dann an den Abstieg. Er hatte die Treppe noch nicht verlassen, als die Tür aufgerissen wurde. Der müde Wirt sah kurz auf, dann widmete er sich wieder dem Bierhumpen, den er mit einem Handtuch bearbeitete. Ludwig erkannte in dem eintretenden Schwertkämpfer seinen Kumpan Estoc. Er sah blass und erschöpft aus. Offensichtlich war er gerannt. Der baumlange Krieger sah Ludwig an, dann starrte er auf den Boden vor sich. Schließlich sagte er: „Sie haben Bebut gefunden.“

„Achtung!“, schnauzte der Wachsoldat, Ludwig und Karl zuckten zusammen und standen stramm. Graf Eugen von Rabbe trat ein. Sein Gesicht war krebsrot und seine Züge verrieten, dass er ausgesprochen ungehalten war.
Langsam umrundete er die beiden reglos dastehenden Männer, ging dann zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf dem Stuhl nieder. Er tippte nachdenklich mit den Fingern auf die Tischplatte, dann atmete er schaubend aus.
„Eisenhut, Ihr seid erledigt. In diesem Kurfürstentum werdet Ihr nichts mehr. Wegen Eurer Unfähigkeit ist ein herausragender Agent, ein besserer, als Ihr es jemals sein werdet, nicht nur getötet sondern aufs grausamste entehrt worden. Ferner hat dieser Tod Unruhe in der Stadt verursacht, für die Ihr euch ebenfalls verantworten müsst. Euch wird der letzte Sold noch ausbezahlt, das Kurfürstentum überlässt Euch außerdem ein Schwert. Mögt Ihr es niemals wieder benutzen.“
Karl schluckte und starrte von Rabbe an, der ihn aber keines Blickes würdigte.
„Was Euch angeht, Tekow, Ihr habt Glück. Mehrere Würdenträger haben dafür plädiert, Euch umgehend des Landes zu verweisen. Ihr seid schließlich Ausländer. Herr Geheimrat Hubert hat aber beschlossen, dass mit Euch noch etwas anzufangen ist. Ihr werdet daher zurück versetzt zu ihrer alten Einheit. Ab jetzt sind sie wieder bei den Kürassieren.“
Die beiden schlugen die Hacken zusammen und verließen das Büro. Draußen sahen sie sich kurz in die Augen. Ludwigs Mine war wie versteinert. Karl drehte sich schließlich um und marschierte aufrecht durch den Gang zur Pforte. Erst als er sich auf der Straße befand und einige Schritte zwischen sich und dem kurfürstlichen Palast gebracht hatte, ließ er missmutig die Schultern sinken.

„Till, ich brauche deine Männer.“, erklärte der Statthalter. Mit eingefallenem Gesicht saß der alte Mann in einem Sessel, eine Decke über den dünnen Beinen und starrte zum Fenster hinaus. Er schien um Jahre gealtert.
„Ein Ritualmord vor der Kaserne… bei Sigmar, das Volk wird all sein Vertrauen in uns verlieren.“
„Wendelin, die Armee ist für so was nicht geeignet. Das sind Soldaten. Wenn wir sie hier von der Leine lassen, ihnen Aufgaben der Stadtwache übertragen, dann gibt das wesentlich mehr Unruhe, als wir ohnehin schon bekommen werden.“
„Till, wir müssen diesen Kultisten mit gezogenem Schwert entgegen treten und ihnen zeigen, dass wir uns so nicht mitspielen lassen. Wir haben hier in unserer Stadt eine offene Flanke!“
Tillmann wusste, dass er seinen Freund nicht würde umstimmen können. Er hielt es für ausgesprochen unangebracht gegen nervöse Bürger mit der geballten Macht des Imperiums vorzugehen, aber vielleicht würde es ja seinen Nutzen haben.
„Graf Adolf von Rabbe hat nach den Hexenjägern schicken lassen.“
„Er hat was?!“, donnerte Tillmann, doch sein Freund hob die Hand.
„Beruhig dich. Ich habe ihn darum gebeten. Wir werden mit der starken Präsenz des Imperiums gegen die Kultisten vorgehen und sie aus dieser Stadt tilgen. Averheim, nein, das ganze Averland muss wieder frei werden von dieser widerlichen Brut.“
„Wendelin, die Hexenjäger, das sind Fanatiker. Die werden wahllos jeden vor den Richter zerren, der ihnen nicht passt. Das kann keine Lösung unseres Problems sein!“
„Wenn ein paar Unschuldige dabei sterben sollten, so ist das der Preis, den wir in diesem Krieg zahlen müssen. Der arme Mann, den sie da geopfert haben, war auch unschuldig. Und nun geh bitte. Ich will nicht länger diskutieren.“
Tillmann blieb noch einen Moment im Raum stehen, doch dann wandte er sich ab und ließ seinen alten Weggefährten mit seiner Verbitterung allein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kapitel: Jäger und Großschwerter

Der Regen prasselte rauschend auf die umliegenden Felsen. Der Jäger schlich langsam auf seine Beute zu. Jede Muskelfaser seines Körpers war gespannt. Er konnte die Spannung der Sehne in seinem Bein spüren, auf dem sein Gewicht ruhte. Und die andere in seiner Hand. Die Beute war arglos. Sie weidete sich selbst an ihrer eigenen Beute und fühlte sich vollkommen sicher. Der Jäger wendete seinen Blick kurz nach links und sah seinen Gefährten. Auch er war angespannt. Der Regen fiel langsamer, die Beute schien fast unbeweglich. Dann schlugen die Jäger zu.
Der erste Nordmann zuckte von seinen Kumpanen unbemerkt zusammen und fiel mit einem gedämpften Grunzen zur Seite und auch den Tod des zweiten Mannes bemerkten die Barbaren nicht. Er sackte auf seinem struppigen Pferd zusammen und blieb stumm. Erst als der Anführer einen Befehl brüllte, der durch einen Treffer zu einem kümmerlichen Gurgeln verkam, sprangen die Wilden mit gezogenen Waffen auf und spähten durch den Regen in den Wald. Hagen zog sich die Kapuze vom Kopf und erhob sich. Nun war es wichtig, dass seine Schützen und er von den kruden Männern auch entdeckt wurden. Alle Schützen ließen ihre Pfeile gleichzeitig von der Sehne schnellen. Leider hatten sich Reichart und Kurt das gleiche Ziel ausgesehen, aber sein eigener Pfeil und der Schuss von Konrad trafen jeweils einen Nordmann. Drei weitere Barbaren gingen tödlich getroffen zu Boden. Der Rest der Bande konnte nun die Richtung ausmachen, aus der die Pfeile gekommen waren und stürmte die Böschung empor. Die vier Schützen wandten sich um und ergriffen die Flucht. Während seine drei Begleiter so schnell rannten, wie sie konnten, achtete Hagen darauf, dass die Verfolger ihn immer noch sehen konnten, bevor er hinter dem nächsten Hügel verschwand. Schließlich wurde der Wald lichter und die Barbaren erkannten, dass die Waldläufer nun keinen Vorteil mehr haben würden. Konrad, Reichart und Kurt hatten den Waldsaum gerade passiert, Hagen schloss nun mit großen Sätzen zu ihnen auf, während die Barbaren mit kurzen, schweren Schritten hinter ihnen her stürmten. Hagen begann zu keuchen und seine Seite machte sich bemerkbar. Er war vor einigen Wochen verwundet worden und noch nicht vollständig erholt. Erleichtert nahm er wahr, dass seine Kameraden angehalten hatten und sich zu ihm umdrehten. Kurt schoss einen schnellen, aber ungezielten Pfeil ab, der einen Barbaren am Oberschenkel streifte und ihn gegenüber seinen Kumpanen zurückfallen ließ. Auch Hagen erreichte nun die imaginäre Linie riss sich den Bogen von den Schultern. Die anstürmende Horde war nun nur noch weniger als zweihundert Schritt entfernt. Die Männer schossen wieder gezielt, nur Hagen selbst verzog seinen Schuss, als er sich vor Atemnot übergeben musste und darüber kurz zusammen zuckte. Er spürte die Wärme seines Mageninhaltes über seine Brust streifen, versuchte sich aber wieder zu konzentrieren. Einen Pfeil konnte er den Angreifern noch entgegen schicken, dann ließ er den Bogen fallen und zog sein Kurzschwert aus der Scheide. Seine Freunde zogen Beile und andere Schlagwerkzeuge. Hagen nahm seine Kampfhaltung ein und wartete auf den Aufprall, der nie kommen sollte.
Der Boden schien aufzureißen, als Grasmatten und Mäntel bei Seite geworfen wurden und sich Männer aus dem Gras erhoben. Sie trugen schwarz-gelbe Uniformen und schwangen lange, zweihändige Schwerter. Hagen war immer wieder überrascht, wie sich diese Soldaten beinahe perfekt tarnen und dabei im Angriff eine so gute Figur abgeben konnten, aber sie taten es. Die überrumpelten Barbaren bekamen gar keine Gelegenheit, auf diese plötzliche Bedrohung zu reagieren, denn die Elitesoldaten mähten ohne Gegenwehr mit dem ersten Treffen mehr als die Hälfte der Nordmänner nieder. Der Angriff kam ins Stocken und der zornige Mut der Wilden schien zu schwinden. Ihr Zögern läutete ihren endgültigen Untergang ein.

Hagen lehnte an einem Baum und blinzelte in die Sonne, als er einen Mann näher kommen sah. Es war Ulrich, einer der Großschwerter. Als er den Schützen erreicht hatte, sprach er den Sitzenden an:
„Wie geht es der Seite?“
„Erholt sich.“, gab Hagen knapp zurück.
„Lothar will mit allen Anführern sprechen. Gibt wohl was Neues.“
Der Bogenschütze blieb noch einen Moment sitzen, dann erhob er sich mit gequältem Gesichtsausdruck, hielt sich die Seite und folgte dann dem Veteran.
Sie passierten eine Reihe niedriger Zelte, die hinter einem halbrunden Wall aus Erde aufgestellt worden waren. Die Zeltreihen waren sternförmig um ein Lagerfeuer angeordnet, um das sich mehrere Soldaten versammelt hatten. Neben Lothar, dem ranghöchsten Soldaten im Lager, stand ein Mann in schwerer Rüstung. Er hatte seinen Helm abgenommen und trug ihn unter dem Arm. Die beiden Kämpfer unterhielten sich. Als Hagen und Ulrich das Feuer erreicht hatten, wandte sich Lothar an die versammelten Unteroffiziere und eröffnete seine Ansprache:
„Männer, unsere Aufgaben hier werden jetzt vom ehrenwerten Orden des Schwarzen Bären übernommen. Die Ritterschaft hat sich neu formiert und wir können jetzt in die Heimat abrücken. Grenzstadt und seine Umgebung wird jetzt von anderen gesichert. Ihr habt alle hervorragend gekämpft und dem Imperium in seiner dunkelsten Stunde treu gedient. Heute Abend wird die Miliz offiziell von allen Pflichten entbunden und aufgelöst. Der Sold wird dann ausgezahlt. Die Staatstruppen werden die Nacht hier verbringen und Morgen in aller Frühe den Marsch nach Averheim antreten. Sigmar beschütze Euch, meine Herren.“
Unter den Soldaten breitete sich Gemurmel aus. Der alte Samuel kam von der anderen Seite des Feuers herüber zu Hagen und sagte:
„Ich hätte ja nicht erwartet, dass wir diese Geschichte hier überleben würden. Dann sind wir nun wohl frei, was, mein Junge?“
„Scheint so. Sagen wir es ihnen.“, gab Hagen knapp zurück. Dann schickte er sich an, die Versammlung zu verlassen.
Hagen schritt wieder die Zeltreihe ab, bis er zu denen kam, die seine Schützen und er bewohnten. Er wusste selbst nicht, was er davon halten sollte. Sie kämpften nun schon mehrere Jahre zusammen und die meisten von ihnen hatten ohnehin alles verloren. Familien, Höfe und Felder waren wegen des Kriegs im Norden schutzlos den allgegenwärtigen Bedrohungen durch Grünhäute, Wegelagerer und Tiermenschen preisgegeben worden. Sie hatten bei ihrer Rückkehr ins Averland viele Dörfer zerstört oder entvölkert vorgefunden. Kaum ein Tag verging, an dem sie nicht am Horizont dicke, schwarze Qualmwolken aufsteigen sahen. Hagen fühlte sich leer. Er hatte seine Frau und Kinder schon vor dem Krieg gegen das Chaos durch einen Überfall von Tiermenschen verloren und ihm war der Eintritt in die Armee wie eine Erlösung vorgekommen. Sie hatte ihm wieder eine Aufgabe und ein Ziel gegeben.
Er erreichte die Zelte.

„Und was wirst du jetzt machen?“, fragte Kurt.
Hagen hatte seinen Leuten alles erklärt und sich dann zurück gezogen, bevor die Angelegenheit zu persönlich werden konnte. Aber Kurt war ein guter Kampfgefährte, der schon mehrere Jahre mit ihm zusammen von Schlachtfeld zu Schlachtfeld gezogen war.
„Ich werde weg gehen.“
„Weg gehen? Was soll das heißen? Wir alle werden weg gehen.“
„Nein, Kurt. Ich werde wieder in die Berge gehen und jagen. Felle verkaufen, in Einsamkeit leben. Ich habe das alles hier so satt. Viele Menschen auf einen Haufen bedeuten zwangsläufig, dass sie sich streiten und bekriegen. Allein bin ich besser dran.“
„Das klingt traurig.“
Sie schwiegen eine Weile, ließen sich an einem Baum nieder und stopften ihre Pfeifen. Dann fragte Hagen:
„Und was wirst du machen?“
„Ich bleibe wohl dabei.“
„Bei der Armee? Sie lösen die Miliz auf. Du kannst nicht dabei bleiben.“
„Es gibt auch Bogenschützen beim Tross. Jäger. Ich glaube, dass mir das gefallen würde. Ich würde gern einmal Averheim sehen. Wir waren Jahre lang auf namenlosen Schlachtfeldern, haben kleine Dörfer verteidigt und auf Feldern kampiert. Ich möchte Städte sehen, Hagen. Und die Armee zieht nach Averheim. Das wäre doch ein schöner Anfang.“
„Die Armee.“, wiederholte Hagen und schaute über die Zeltreihen. „Kurt, das ist keine Armee, das ist nur noch ein Haufen vernarbter Veteranen und Kriegsinvaliden. Ich bezweifle, dass es in Averheim viel besser aussieht. Aber finde es heraus.“
Wieder schwiegen sie, als Kurt über Hagens Worte nachdachte. Der bärtige Riese entgegnete schließlich:
„Wenn es mir nicht gefällt… wenn ich auch wieder allein sein möchte… würde dich meine Anwesenheit stören?“
„Nein. Du gehörst ja praktisch zur Familie. Ich hinterlasse dir einen Brief beim alten Kasper in Grenzstadt, falls du nachkommen möchtest.“
Sie saßen noch einige Zeit zusammen und rauchten ihre Pfeifen, dann erhoben sie sich schwerfällig und zogen sich in ihre Zelte zurück. Die anderen Bogenschützen feierten, sangen Lieder und tranken Bier. Sie freuten sich, denn mit ihrer Entlassung verbanden sie die Hoffnung auf Frieden. Hagen konnte diese Einschätzung mit seinen Kameraden nicht teilen und versank in Schwermut, bis ihn der Schlaf übermannte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Feldwaibel Rothhaar stand mit einigen Soldaten am Nulner Tor und beobachtete den aus der Ferne näher kommenden Wagenzug. Der träge Zug aus Ochsen- und Pferdekarren war ein schrecklicher Anblick. Asketische Zeloten schwangen Weihrauchfässer und sangen mit rasselnden Stimmen Lieder. Auf den Wagen waren Käfige, Pranger, und Zwinger mit Kampfhunden verstaut worden. Schweigsame Männer in schlichter Kleidung saßen unter schweren Kapuzenmänteln auf den Böcken der Wagen. Entwurzelte Prediger ritten auf struppigen Ackergäulen zwischen den Wagen und Pilgern umher und trugen Psalmen aus schweren Folianten vor.
Rothhaar spie einen Klumpen Kautabak aus. Seine Männer standen gleich hinter ihm und er grunzte:
„Alles was Recht ist. Das sind mal verdammt viele. In Ordnung, Jungs. Passt auf, dass ihr nicht flucht oder über Frauen redet, wenn die Kerle da in der Nähe sind. Die haben schon aus geringeren Gründen arme Teufel verbrannt.“
Es dauerte nicht mehr lange, da erreichte der Zug die Stadt. Nur wenige Wagen – meist Planwagen, aber auch eine Reisekutsche – passierten das Tor, die anderen formierten sich auf einer freien Wiese vor der Stadt zu einer Wagenburg. Sogleich begannen die Kutscher und Zeloten mit dem Aufbau eines Lagers. Durch den von den Wagen aufgewirbelten Staub nährte sich eine Kolonne Ritter dem Tor, die Rothhaar vorher nicht gesehen hatte. Vor Überraschung wäre ihm beinahe ein Fluch heraus gerutscht, er beherrschte sich aber. Der Unteroffizier erkannte, dass es sich bei den Rittern nicht um Mitglieder des lokalen Ordens handelte. Sie trugen polierte, beinahe silberne Rüstungen mit roter, goldener und schwarzer Verzierung. Ihre langen Lanzen waren mit Wimpeln geschmückt. Vorweg ritt ein stattlicher Mann mit einer wahrlich aufwendig verzierten Rüstung. Stahlblaue Augen fixierten Rothhaar durch das geschlossene Visier seines Kesselhelms. Offensichtlich handelte es sich um den Anführer der Ritter. Die Kolonne machte vor dem Tor halt und der Anführer öffnete sein seinen Kampfschutz.
„Heda, Soldat!“
„Zu Euren Diensten, Herr.“, antwortete Rothhaar und nahm sofort Haltung an. Seine Soldaten taten es ihm gleich. Der Stahläugige hatte grimmigem Gesicht und seine kantigen Züge erinnerten den Soldaten an eine andere wichtige Persönlichkeit.
„Melde Deinem Obersten, dass der Orden vom Blute Sigmars eingetroffen ist. Ich erwarte umgehend eine Audienz.“
„Ja, Herr.“, bestätigte Rothhaar knapp, salutierte und wollte sich gerade den Befehl weitergeben, als ihm eine Frage einfiel:
„Herr, verzeiht mir meine Unwissenheit, aber wen soll ich melden lassen?“
Stahlauge sah verächtlich auf den Soldaten herab und der bärbeißige Unteroffizier fühlte sich weniger wohl in seiner Haut, als wenn er einer Orkhorde allein gegenüber gestanden hätte. Dann erklärte der Ritter aber schließlich:
„Melde deinem Herrn dies: Es verlangt ihn zu sprechen der Großmeister des Ordens vom Blute Sigmars, Hans Leitdorf.“

Toddward kam japsend zum Stehen. Schon wieder Pech. Er hatte sich zu viel angemaßt. Der Hinterhalt, den er für Stilett, Prügel und deren Spießgesellen ausgeheckt hatte, war gründlich schief gelaufen. Nun musste er die Stadt verlassen. Grundsätzlich kein Problem, denn er hatte auch noch ein paar Geschäfte in Nuln am laufen. In dieser Nacht würde er sich dorthin absetzen. Aber im Moment war sein vordringlichstes Problem das Erreichen des Hafens. Und er war sich sicher, dass dieser gemeine Hund Estoc ihn verfolgte. Er hatte ihn kurz gesehen, als der Schwertkämpfer zu nah aufgeschlossen hatte. Nach der nächsten Biegung war Toddward sofort losgerannt, aber wahrscheinlich konnte sich selbst ein geistloser Irrer wie Estoc ausmalen, wo er hin wollte. Das kleine Boot, das er für eine unverschämte Summe bekommen hatte, lag ganz am Ende des Westanlegers, so dass niemand es mehr aufhalten könnte, wenn es erst einmal los gemacht worden wäre. Dummerweise war das Boot aber so auch nur schwierig zu erreichen. Estoc musste sich im Grunde nur am richtigen Anleger postieren und Toddward hätte keine Chance mehr, an das Boot heran zu kommen.
Der Gauner hatte den Hafen nun erreicht und beobachtete ihn genau. Zu seiner Überraschung war Estoc weit und breit nicht zu sehen. Toddward atmete erleichtert auf, als ihm aufging, dass der Schwertkämpfer wohl noch dümmer war, als er vermutet hatte. Vorsichtig schlich er weiter, nutzte Fässerstapel und Hauseingänge als Deckung, erreichte dann den Westanleger und rannte los. Etwa vierzig Schritte Weg aus schmalen Holzplanken lagen zwischen ihm und der Freiheit. Er war sich sicher, dass keiner der hiesigen Verbrecher ihn bis nach Nuln folgen würden. Er rannte so schnell er konnte. Nur noch zwanzig Schritte. Aus dem Augenwinkel sah er etwas heran rasen. Blitzschnell. Der Gegenstand stieß schmerzhaft in sein Knie, durchschlug es fast vollständig. Toddward spürte, wie sein Kniegelenk übel zerschunden wurde, er stürzte und schlitterte noch einige Schritte, dann blieb er liegen. Die Schmerzen waren unerträglich. Er beschloss daher, einen Moment auszuruhen und sich dann zum Boot zu schleppen. Er wusste nicht, was ihn getroffen hatte, aber einer genaueren Betrachtung wollte er sich erst auf dem Boot und in Sicherheit unterziehen.
Schwere Schritte näherten sich. Sie waren deutlich hörbar und kamen langsam auf ihn zu. Panik überkam ihn, weil er sie genau kannte. Sie waren unregelmäßig, weil sein Häscher eine Beinprothese trug. Schritt – Tock – Schritt – Tock. Es näherte sich ein Mann mit einem Holzbein. Sein langsames Tempo konnte er sich erlauben, stellte Toddward entsetzt fest, denn er kam ohne sein rechtes Bein im Kriechen nur unerträglich langsam voran. Oh, welche Grausamkeiten das Leben für ihn doch bereit hielt. Anderen hätte man einfach aus dem Hinterhalt eine tödliche Wunde zugefügt, aber nicht Toddward. Nein, ihn quälte man immer nur mit Schmerzen und einer dünnen Flamme der Hoffnung, die zurzeit in Form eines kleinen Kahns Gestalt angenommen hatte. Es war aber unerheblich, stellte er fest, diesen Gedanken weiter nachzuhängen, denn mit Entsetzen stellte er fest, dass die Schritte nicht mehr zu hören waren. Da sein schlimmes Knie nicht viel mehr zu ließ, raffte Toddward sich halb herum und lag nun beinahe auf dem Rücken. Er konnte nur wenige Schritte entfernt den garstigen Zwerg ausmachen, den er schon als Verfolger vermutet hatte. Bei ihm handelte es sich um den einzigen Holzbeinträger aus Stiletts verfluchter Bande. Noch mehr verfluchte er aber im Geiste die unfähigen Idioten, die es nicht geschafft hatten, den Zwerg umzubringen.
„Nun, mein Junge,“, grollte der Zwerg, „werde ich dir ein Geheimnis verraten.“
Mit diesen Worten spannte er seine Armbrust und legte an:
„Kraft der mir vom Direktor der Staatsbewahrung anvertrauten Möglichkeit, dich abzumurksen, wirst du trauriger Abschaum jetzt Bekanntschaft mit deinen dunklen Göttern machen.“
„Aber… ich bin kein Kultist! Das waren nur…“
Die Armbrust warf ihr Geschoss nach vorne und drang in die Brust des Kriminellen ein, der entsetzt auf den Bolzen starrte, welcher ihm aus der Brust ragte.
„Nur… Geschäfte…!“, stammelte er, dann sagte er zuckend nach hinten, da seine Arme nicht mehr die Kraft hatten, ihn zu stützen.“
Der Zwerg ließ wieder den grausamen Klang seiner Schritte ertönen, trat neben Toddward und beugte sich zu ihm herab. Dann raunte er:
„Schau in mein Gesicht, Menschling, und dann sage mir, ob dich irgendetwas zu der Annahme verleiten könnte, dass mich deine Erklärungen interessieren würden.“
Dann erhob er sich wieder, wandte sich ab und stapfte davon. Den sterbenden Mann ließ er wimmernd zurück.

„Was ist los?“, verlangte General von Ebbstein von seinem Adjutanten zu wissen, der mit von Rabbe zusammen vor dem Eingang zum großen Rittersaal stand.
„Die Familie ist da.“, höhnte von Rabbe, Friedrich griff aber sofort ein und erklärte:
„Hans Leitdorf ist in der Stadt und hat beim Statthalter um ein Gespräch gebeten. Man sagt, dass auch Rufus Leitdorf bald hier eintreffen wird.“
„Und da melden die sich nicht an?“, empörte sich Tillmann.
Das ganze erschien ihm ungeheuerlich. Wenn alle Leitdorfs sich einfach so mit dem Statthalter trafen, würde man seinem alten Freund wohl Vetternwirtschaft unterstellen können. Das ganze könnte zu einem ausgewachsenen Bürgerkrieg führen. Rufus Leitdorf war einer der Anwärter auf den Kurfürstenthron und mit Großmeister Hans Leitdorf, seinem Onkel, hatte er einen starken Verbündeten, der ihn mit militärischer Schlagkraft ausstattete, die keine lokale Macht in Averland widerstehen könnte. Die beiden könnten sogar soweit gehen und ihren Verwandten absetzen, um Rufus eigenmächtig zum Kurfürsten zu ernennen. Freilich, er müsste sich dann noch vom Kaiser bestätigen lassen, aber das wäre dann nur noch Formsache. Die Streitkräfte, die Tillmann zur Verfügung standen, hätten der Hausmacht der Leitdorfs nur wenig entgegenzusetzen. All das ging dem General durch den Kopf, als er sich wieder zu den beiden Männern umdrehte:
„Sie beide kommen mit mir. Dieser Komödie muss ein Ende gesetzt werden.“
Dann marschierte er mit strammem Schritt zum Kartensaal. Er passierte die verdutzten Wachen und stieß die Tür auf. Flankiert von einem nervösen Friedrich und einem bitter grinsenden Grafen von Rabbe stürmte er in den Raum, in dem der Statthalter an einem Tisch mit einem Ritter saß. Die Verwandtschaft war beiden Männern anzusehen, auch wenn der Ritter seinem Bruder, dem Kurfürsten deutlich ähnlicher sah. Nein, er war ihm beinahe aus dem Gesicht geschnitten.
„Till.“, begrüßte der Fürst ihn freundlich, „Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet. Hatten wir eine Besprechung angesetzt?“
„Nein,“, antwortete der General tonlos, „aber ich wusste nicht, dass Ihr Besuch habt, mein Herr.“
„Nicht so förmlich, Till. Das ist Familie. Hans. Hans Leitdorf.“
„Der Großmeister ist mir bekannt, mein Fürst.“
Hans Leitdorf erhob sich langsam. Er war etwas größer als Marius und ihm fehlte der Wahnsinn in seinen Augen. Bei ihm war es Fanatismus. Nicht unbedingt besser, aber deutlich berechenbarer. Der Großmeister streckte Tillmann die Hand entgegen, der sie ergriff. Es war keinerlei Aufrichtigkeit in dieser Geste. Leitdorf sagte nichts und setzte sich wieder. Das Schweigen lag wie Blei in der Luft.
Der Statthalter unterbrach es durch ein Räuspern und erklärte:
„Nun, Hans, ich denke, dass wir uns dann in ein paar Tagen noch einmal unterhalten, wenn Rufus auch hier ist.“
Hans nickte lächelnd und weidete sich am Blick des Generals, dann verließ er den Raum. Erst jetzt bemerkte Tillmann den Ritter, der die ganze Zeit regungslos in einer Ecke gestanden hatte. Seine schwere Rüstung klapperte, als er seinem Meister folgte.
Als sich das Geräusch entfernt hatte, fuhr Tillmann herum:
„Das kannst du nicht tun! Wenn du Rufus Leitdorf hier empfängst, dann sieht das doch so aus, als würdest du ihm die Macht übertragen wollen.“
„Hälst du mich für einen Narren, Till?“
Die Stimme des Fürsten war ruhig. Er saß regungslos in seinem Sessel und starrte die Wand an.
Tillmann leckte sich nervös die Lippen, dann bedeutete er Friedrich und von Rabbe mit einem Wink, den Saal zu verlassen. Beide schlugen die Hacken zusammen führten den stummen Befehl aus. Erst als sich die Tür geschlossen hatte, nahm der General das Gespräch wieder auf:
„Das tue ich nicht.“
„Gut. Rufus wird die Macht nicht von mir übertragen bekommen, er wird sie verlangen. Und weil Hans ihn unterstützt, habe ich nichts, was ich ihm entgegnen könnte. Wir haben keine Männer, um sie in einem sinnlosen Kampf gegen unsere Landsleute zu verlieren. Ich wollte, dass du mir eine Armee aufstellst, die unser Land gegen Orks und andere böse Wesen verteidigt. Ich wollte uns aber nicht in eine Situation bringen, in der wir Partei ergreifen müssen gegen unsere Landsleute. Gegen meine Familie!“
„Ich fürchte, dass wir das tun müssen.“, antwortete Tillmann und trat direkt neben seinen alten Freund.
„Ja, das werden wir, aber wir werden nicht gegen sie kämpfen. Rufus soll nichts bekommen. Du wirst dich mit deiner Armee absetzen und ihre Schlagkraft erhalten. Das Land ist entscheidend. Wenn Averland im Bürgerkrieg versinken sollte, dann muss es irgendwen geben, der hier für Ordnung sorgt. Ich möchte daher, dass du dich um diese Angelegenheit kümmerst. Räume die Schatzkammern. Alles, was du nicht mitnehmen kannst, werde ich verbrauchen, um die Nahrungsvorräte der Stadt aufzufüllen.“
Tillmann nickte. Damit hatte er nicht gerechnet, aber der Plan klang plausibel und er hatte Verbindungen und Mittel, um ihn umzusetzen. Es gab aber einen Schwachpunkt. Er konnte seinen Offizieren hier nicht trauen. Karrieristen. Wenn die Machtverhältnisse im Umbruch lägen, würde keiner von ihnen auf der falschen Seite stehen wollen. Einstweilen müsste er die Sache wohl verheimlichen. Die Frage war nur, ob sie sich verheimlichen ließe.
 
Zuletzt bearbeitet:
Karl schob den Becher mit dem Handrücken von sich, um ihn auffüllen zu lassen. Er entschied aber, die Sache etwas langsamer angehen zu lassen. Er hielt sich nun seit drei Tagen im „Kahlen Heinrich“ auf und ertrank seine Tatenlosigkeit. Hier war er Stilett und die wenigsten Gäste wagten es, ihn auch nur anzusehen. Wenn er nüchtern war, spielte er um Geld, damit er den Alkohol und den Aufenthalt bezahlen konnte. Eine trostlose Angelegenheit, wie er fand, aber es gab nichts, was ihn dazu antrieb, seine Lage in irgendeine Richtung zu verändern. An diesem Abend war der Schankraum wieder gut gefüllt. Der Bodensatz der Gesellschaft breitete sich hier aus. Söldner aus Tilea, Räuberbarone aus den Grenzgrafschaften, Schläger, Huren und Halsabschneider der örtlichen Unterwelt, aber auch einige Wohlhabende, die das Abenteuer der Ruchlosigkeit suchten und dabei von nervösen Leibwächtern beschützt wurden bildeten die vielfältige Kundschaft des „Heinrichs“. Karl hasste sie alle. Er stand über ihnen, denn er war ein Mann des Rechts. Er hatte Verbrecher und Kultisten gejagt und Feinde des Fürstentums zur Strecke gebracht. Das war seine Arbeit und sein Leben und er wollte nichts anderes. Aber nun war er am Ende. Er war gescheitert und sein Lebenssinn war vergangen.
„Stilett!“, rief eine rasselnde Stimme durch den Lärm, den die Gäste verursachten. Mit trüben Augen drehte sich Karl um und sah einige Schritte entfernt einen Mann, der ihm bedeutete, zu ihm herüberzukommen. Träge erhob sich Karl von seinem Barhocker und drängelte sich durch die Massen. Der Mann war ein Tileaner in schlichter Kleidung. Ein struppiger Schnauzbart und eine grobe Narbe auf der Stirn prägten sein Gesicht. Sein Reikisch hatte einen starken Dialekt:
„Stilette, Sie wollen spiele, eh?“, fragte er grinsend und ließ ein paar Würfel in einen Lederbecher fallen.
Karl sah erst den Mann, dann den Becher an, versuchte sich die Trunkenheit aus dem Schädel zu schütteln und nickte dann wortlos. Der Tileaner drehte sich um und steuerte auf einen schmalen Gang zu. Der „Kahle Heinrich“ verfügte über viele kleine Hinterzimmer, in denen die Kunden spielen oder delikateren Vergnügen nachgehen konnten. Eines der Zimmer betrat der Tileaner und Karl folgte ihm. Allerdings waren bereits andere Gäste anwesend. Mit einem Schlag war Karl wieder nüchtern.

„Und deshalb werden die Streitkräfte verlegt.“, schloss Friedrich von Aggenheim seine kurze Rede vor den anderen Offizieren, „Die genauen Pläne werdet Ihr in den nächsten Tagen erhalten, meine Herren.“
Er grüßte knapp und dann verließ er den Saal. Die ganze Zeit über hatte Leonhard von Rabbe mit einem sarkastischen Grinsen die Rede verfolgt. Nun setzten sich die Offiziere zusammen an einen Tisch. Von Rabbe wunderte sich, dass ihnen der Raum für ein konspiratives Gespräch gegeben wurde, aber vielleicht hatte General von Ebbstein die Situation auch einfach nur falsch eingeschätzt.
„Für wen halten die uns denn eigentlich?“, höhnte sogleich Baron Ernst von Finkengran, kaum das von Aggenheim den Raum verlassen hatte.
„Ja, für wen denn, Finkengran?“, fragte Konrad Leithdorf herausfordernd. Leithdorf war ein Offizier, der nur zähneknirschend akzeptiert wurde. Bemerkenswert an ihm war vor allem sein Name. Der alte Marius Leitdorf hatte es für besonders unterhaltsam befunden, eine Familie mit der Ehre zu betrauen, seinen Hof zu beliefern, die einen beinahe identischen Namen hatte, wie seine kurfürstliche Familie ihn trug. Leitdorf, ein launischer und von Emotionen geleiteter Herrscher, hatte diese Familie vollends mit seiner Gunst beehrt und sie mit umfassenden Geldmitteln und auch einigen Offizierspatenten versorgt. Der junge Konrad war einer von ihnen und hatte sich einen gewissen Ruf bei der Bekämpfung von Wegelagerern und Grünhautbanden verdient. Aber seine Familie blieb das, was sie war. Bürgerlich und ohne Adelsstand. Allerdings waren etliche Familien der adeligen Offiziere bei den Leithdorfs verschuldet.
Von Finkengran gehörte allerdings nicht zu diesen Schuldnern, aber er hatte eine andere Schwachstelle. Er ging offenen Konfrontationen gerne aus dem Weg. Andere würden es eher als Feigheit bezeichnen. Daher antwortete er auch nicht und beließ es bei einem vernichtenden Blick. Mehr traute er sich nicht zu, weil neben Leithdorf sein ständiger Schatten saß. Hauptmann Josef Gregor Kaßen war ein Mann von noch niederem Stand als Leithdorf. Seinen Rang verdankte er ebenfalls einer Laune des alten Kurfürsten. In einem kleinen Gefecht gegen einen Grenzgrafen – es ging um irgendein Ehrenhändel – war Marius Leitdorf äußerst unzufrieden mit der Arbeit seiner Hauptleute, dass er kurzerhand den nächstbesten Soldaten, der ihm über den Weg lief, zum Hauptmann ernannte. Kaßen war dieser Soldat und er hatte seine Sache sehr gut gemacht. Er genoss vor allem die absolute Zustimmung der einfachen Soldaten, während die anderen Offiziere einen gesunden Abstand zu ihm wahrten. In einigen Duellen hatte er ausgesprochen erfolgreich geschlagen, auch wenn seine Kampfweise eher der eines Kneipenschlägers als jener eines Edelmanns entsprach. Kaßen war ein gemeiner Hund. Selbst wenn man ihrer beider unadelige Herkunft berücksichtigte, so war die enge Freundschaft zwischen ihm und Leithdorf ausgesprochen befremdlich.
„Ich denke, dass sich unser guter Freund von Finkengran schlicht beleidigt fühlt. Wir alle haben doch davon gehört, dass die Leitdorfs hier alles übernehmen werden und da will doch keiner von uns auf der falschen Seite stehen.“, versuchte Freiherr August-Eberhard zu Sollgrad zu beschwichtigen, sprach damit aber auch das aus, was in den Köpfen der meisten Männer vorging.
„Welche Seite ist denn die falsche?“, wollte Leithdorf nun wissen.
„Das sollte wohl klar sein, Leithdorf!“, polterte Gustav-Armin Graf von Sonntaal, „Ihr glaubt doch wohl nicht, dass von Ebbstein sich mit einem Ritterorden anlegen kann. Der greise Herzog ist doch ohnehin unfähig. Wir sitzen hier in der Stadt herum, obwohl wir jetzt handeln könnten.“
„Jeder mag dazu eine Meinung haben, aber es steht wohl außer Frage, dass wir alle uns für eine Seite entscheiden müssen. Graf von Rabbe? Welche Seite wählt Ihr?“, versuchte Sollgrad erneut, die Wogen zu glätten.
Von Rabbe überlegte einen Moment, ohne seinen spöttischen Gesichtsausdruck abzulegen. Dann antwortete er:
„Meine Freunde, ich selbst verstehe mich als einen schlauen Menschen. Ich bin schlau, wie ein Fuchs. Das trifft aber leider nur auf eine Minderheit meiner Standesgenossen zu. Das bedeutet, dass ich einer Minderheit angehöre. Wie etwa ein Halbling. Und wie die Halblinge es auch tun, fahre ich besser, wenn ich mich nicht beklage und schweige. Ich habe mich entschieden, aber ich werde meine Entscheidung nicht verkünden, denn ich bin mir sicher, dass wir uns hier nicht einigen werden. Und so würde ich mich ja in jedem Fall meinen zukünftigen Feinden jetzt schon offenbaren. Das würde doch sehr meinem füchsischen Naturell widersprechen.“

Der Tileaner grinste immer noch. Am Tisch saß ein gut gekleideter Mann, flankiert von zwei Schlägern. Auch sie trugen hervorragende Kleidung. Karl kannte den Mann. Er war ebenfalls aus Tilea und führte hier eine gut organisierte Bande. Weit jenseits der sechzig Jahre wirkte Vittorio Ricatone eher wie ein belesener Advokat, doch er war ein gefährlicher Mann. Hubertus hatte ihn nie belangt, weil die Geschäfte Ricatones eine gewisse Stabilität innerhalb der Unterwelt brachten. Die Banden gingen sich nicht auf offener Straße an die Kehle, solange der tileanische Patriarch sie alle im Griff hatte. Fast jede andere Bande schuldete ihm irgendeinen Gefallen oder musste auf seine Nachsicht hoffen, weil sie seinen Leuten unterlegen waren.
Der Patriarch war schlank und hoch gewachsen. Ein dünner Oberlippenbart verzierte sein weises Gesicht. Sein Haar war einst schwarz gewesen, nun hatte es eine silberne Farbe angenommen. Er hatte die Finger seiner Hände vor sich auf dem Tisch zusammengelegt und musterte Karl mit graublauen Augen. Dann erhob er das Wort:
„Karl, setzen Sie sich.“
Karl fielen zwei Dinge auf. Zum einen benutzte der Patriarch das wesentlich modernere „Sie“ als Anrede, zum anderen – und das war wesentlich erschreckender – kannte er Karls Namen.
Karl ließ sich aber nichts anmerken und folgte der Einladung des Südländers.
„Nun, Karl, ich habe von Ihrer Lage gehört und kann diese so gar nicht gutheißen. Ihr ganzes Talent und Ihr so gut gepflegter Tarnname… all das wüsste ich ungern verschwendet.“
„Ich danke Ihnen für diese Worte, Herr Ricatone.“
„Es ist mir eine Ehre, Karl. Und weil Sie so ein ehrenhafter Mann sind, wollte ich Ihnen einen Gefallen tun. Ohne Gegenleistung. Vielleicht nur mit der Option, Sie bei Zeiten auch um einen Gefallen bitten zu dürfen.“
„Ich verstehe nicht, Herr Ricatone.“
„Doch, ich glaube schon, dass Sie das tun. Ich möchte, dass Stilett sich meiner Familie anschließt. Und ich möchte, dass Sie sich auch meiner Familie anschließen.“
Karl schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Sein Leben würde wieder einen Sinn bekommen, aber wäre er dann noch besser, als der ganze Abschaum, den er früher so unerbittlich gejagt hatte? Andererseits hatte er nicht das Gesetz, das Gesetz hatte ihn verstoßen und Ricatone war ein Ehrenmann. Das war Hubertus zwar auch, nicht aber Eugen von Rabbe.
„Ich gehöre Ihnen, Herr Ricatone.“
 
Zuletzt bearbeitet:
„Auf wen können wir uns verlassen, Friedrich?“, fragte der General seinen Adjutanten.
„Kaßen und Leithdorf sind auf unserer Seite. Bei einigen anderen bin ich mir nicht sicher, aber die Mehrheit der Hauptleute wird sich wohl für den bequemeren Weg entscheiden und – mit Verlaub – das ist nicht unser Weg.“
„Und mit den beiden seid Ihr Euch sicher?“
Friedrich dachte einen Moment lang nach, antwortete dann aber knapp:
„Ja. Ganz eindeutig ja.“
„Gut. Dann sollen die beiden Herren uns reichen. Leithdorf soll Euch beim Verfassen der Depeschen helfen, Kaßen schickt Ihr bitte zu mir.“
„Jawohl, Herr General.“
Das kurze Gespräch hatte auf dem langen Gang vor dem Kaminzimmer stattgefunden, in der sich Tillmann und sein alter Freund Wendelin das erste Mal nach seinem Eintreffen unterhalten hatten. Nun hatten sie sich wieder dort verabredet. Der General betrat den Raum, der Statthalter war bereits anwesend. Er sah schon seit einigen Tagen übermüdet und kränklich aus. In dicken Decken gehüllt saß er vor dem Kaminfeuer. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er seinen Freund erblickte.
„Till, was wird nur aus uns? Ich habe heute mit Hubertus zusammen zu Mittag gegessen. In der Stadt geht es drunter und drüber. Die Hexenjäger sorgen für Unruhe und Verbrecherbanden nutzen die Unordnung für ihre Zwecke. So habe ich mir das alles nicht vorgestellt.“
„Noch könnte uns die Unruhe vielleicht helfen, aber ich fürchte, dass sie vor allem deiner Familie in die Hände spielt. Hans Leitdorf wird die Hexenjäger schon zum Abzug bewegen, wenn er ihrer überdrüssig ist. Und dann wird es Rufus sein, der hier für Ruhe gesorgt hat. Das wird ihm beim Volk beliebt machen.“
„Das Volk regiert aber nicht. Wir haben die Armee. Wenn wir ihre Schlagkraft erhalten und dem Zugriff Rufus’ entziehen können, dann wird er sich nicht lange halten. Ohne Armee ist er machtlos.“
„Ich weiß nicht, über welche Mittel er selbst verfügt, aber einige Söldner wird er wohl aufbringen können. Ich gebe dir aber recht, eine ganze Armee wird er so nicht aufstellen können. Wenn er allerdings die Stadt übernimmt, kann er auf den Staatsschatz zugreifen.“
„Es muss dein wichtigstes Ziel sein, diesen von hier fort zu schaffen. Du musst ihn irgendwie überlisten und ein sicheres Versteck finden. Wenn du ihn aus der Stadt geschafft hast, ist schon viel gewonnen. Allerdings kooperiert Rufus wohl inzwischen mit der hiesigen Unterwelt. Allzu viel Zeit haben wir nicht mehr. Wie sieht es mit der Moral der Truppen aus?“
„Die Soldaten sind zu allem bereit. Viele haben zwar noch nie gekämpft, unorganisierten Mobs sind sie aber allemal überlegen. Die Hauptleute machen mir aber Sorgen. Einige könnten zu Rufus überlaufen. Ich bin mir sogar bei manchen sicher, dass sie das in jedem Fall tun werden. Wir haben aber schon ausgelotet, wer sicher zu uns hält.“
„Wie viele?“
„Auf unserer Seite? Nun, drei. Aber für das Unternehmen, was ich ins Auge gefasst habe, reicht es.“
„Hmm.“, machte der Statthalter, dann sank er in seinen Sessel und schloss die Augen. Nach einer kurzen Pause sagte er dann:
„Ich lasse dir freie Hand. Schütze mir mein Averland. Und tue alles, was dafür notwendig ist.“

Friedrich von Aggenheim und Konrad Leithdorf saßen in der Schreibstube des Adjutanten und warteten auf den General. Beide schwiegen angespannt. Schließlich trat der General ein, woraufhin beide Männer aufsprangen und salutierten. Von Ebbstein nickte, dann reichte er Friedrich eine Schlanke Ledermappe. Dieser öffnete sie und sah dann seinen Vorgesetzten an.
„Die erste Nachricht schickt Ihr nach Talabheim, die zweite nach Stirland. Es ist sehr wichtig, dass die erste so schnell wie möglich losgeschickt wird. Sendet zwei Kuriere, die unterschiedliche Wege nutzen. Ebenso gilt das für die Nachricht nach Stirland. Und jetzt kommt das Entscheidende. Die dritte Nachricht schickt Ihr mit nur einem Reiter und mit geringer Heimlichkeit zu meinem Gut Adlerbann. Sucht Euch den Mann gut aus, denn seine Mission ist sehr gefährlich. Sie muss scheitern. Die Nachricht soll dem Feind in die Hände fallen. Weist diesen Boten gut ein. Er soll nicht zu viel riskieren und gegebenenfalls die Nachricht verlieren. Er kann sich absetzen, aber nicht zu früh. Sagt ihm das. Und richtet ihm meine Empfehlung aus.“
„Jawohl, Herr General.“
Dann wandte sich von Ebbstein an Hauptmann Leithdorf:
„Konrad, willkommen in unserer kleinen Gruppe. Ich hoffe, dass wir Euren Ansprüchen gerecht werden.“
Dann reichte er ihm die Hand, die der junge Offizier ohne zu zögern ergriff.
„Ich danke Euch für diese Möglichkeit, Herr General.“
„Herr General.“, mischte sich Friedrich ein, „Hauptmann Kaßen wartet in ihrem Büro.“
„Natürlich. Danke. Leithdorf, weitermachen.“

In der Höhle war es kalt. Er hatte ein Feuer gemacht, aber es schnell zu einer niedrigen Glut herunter brennen lassen, damit der Rauch ihn nicht erstickte. Er lag nah am Feuer unter seiner Decke. Trotzdem war es kalt. Die Feuchtigkeit der Höhle und das regnerische Wetter waren dafür verantwortlich. Nahe am Weltenrand kam es oft zu Regen. Die kleinen Höhlen, welche die Ausläufer des massiven Gebirges durchzogen, waren meistens unbewohnt. Man traf hier nur selten auf wirklich bedrohliche Tiere, aber gelegentlich trieben sich Grünhäute und Wegelagerer hier herum. Meistens nichts, womit ein erfahrener Jäger nicht zu recht käme, aber im Schlaf konnte jeder überrascht werden. Er kannte Jäger, die nachts sogar die Schlafdecke über die Glut zogen, so dass sie mit der Wärmequelle unter ihr lagen. Das war zwar effektiv, aber ausgesprochen gefährlich. Im Schlaf konnte man sich leicht in die Glut wälzen oder die Decke konnte sich entzünden. Die Natur um die Höhle herum wachte. Ein Käuzchen war zu hören und der kleine Bach hinter der Höhle rauschte unermüdlich und unbeeindruckt von der nachtschlafenden Zeit. Die Büsche des nahen Hains schienen in ständiger Bewegung zu sein. Tiere schlichen durch das Unterholz und der Wind ließ schwere Äste knarren oder dünne Zweige rascheln. Doch unvermittelt durchzog ein gänzlich unnatürlicher Laut die Nacht. Hagen war sofort hellwach.

Friedrich ging durch einen schmalen Gang des Wachhauses am Kaiserturm. Die hölzernen Dielen protestierten unter den schweren Stiefeln, die er trug und kündigten sein Kommen für alle Soldaten in der Wachstube hörbar an. Offensichtlich hatte aber keiner von ihnen mit einem Hauptmann gerechnet. Die Soldaten – allesamt Kürassiere – sprangen von ihren Hockern auf, wobei ihre matten Rüstungen schepperten. Die Männer starrten gerade aus, die Hände an den Hosennähten. Der Hauptmann schritt hinter den Männern die Reihe ab, da sie alle am Tisch gesessen hatten. Dann umrundete er den Tisch und stand ihnen gegenüber. Fünf Soldaten waren anwesend. Er sah den ersten an. Klein, untersetzt, kaltäugig und vernarbt.
„Name?“, fragte von Aggenheim nachdrücklich.
„Kracht! Lukas!“, antwortete der Mann lautstark.
Friedrich ging einen Schritt weiter und betrachtete den nächsten Soldaten. Schlank, groß, glatt rasiert und mit weichen Zügen versehen. Er wiederholte seine Frage.
„Banner! Kuno!“
Ein Schritt weiter stand Friedrich vor einem kräftigen Soldaten mittlerer Größe. Seine Haut war von einer blassen Bräune. Pechschwarze Augen lagen wie Kohlen in den Höhlen und dominierten sein kantiges Gesicht. Schwarz-graues Haar fiel dünn und glatt auf seine Schläfen. Er versuchte, das Haupthaar mit einem Riemen zu bändigen, aber einige Strähnen hatten sich seinen Bemühungen sehr erfolgreich widersetzt.
„Tenkow?“, fragte der Offizier.
„Herr Hauptmann?“, gab der Mann zurück.
„Ihr seid abkommandiert. Der General persönlich braucht Euch.“

General von Ebbstein betrat sein Büro. Der Hauptmann, der dort auf einem schmalen Sessel gewartet hatte, schoss in die Höhe und salutierte.
„Herr General!“
Hauptmann Kaßen war Durchschnitt. Er war nicht besonders kräftig, nicht schlank, nicht groß, nicht klein. Sein Haar, straßenköterblond, war kurz herunter geschnitten. Zumindest das unterschied ihn von seinen Kameraden, die zumeist lange Locken trugen. Seine Uniform war – wie bei den Hauptleuten üblich – nach eigenen Vorgaben in Auftrag gegeben worden, aber auch sie wirkte dabei durchschnittlich. Von Ebbstein versuchte zu ergründen, was den Mann so besonders machte, dass viele andere Offiziere ihn kannten und sogar fürchteten. Tillmann von Ebbstein sah dem Mann in die Augen. Sein blasses, sommersprossiges Gesicht wurde von einer kleinen Nase bewohnt, die dort irgendwie unscheinbar und verloren wirkte. Die tiefblauen Augen saßen tief in den Höhlen. Seine Stirn war hervorstechend. Über seinen Augen thronten weit vorragende Knochen, auf denen dunkle Augenbraun lagen. Durch diese dominierende Stirn wirkte es, als würde Kaßen permanent die Stirn runzeln.
„Josef. Wie geht es Euch?“, fragte von Ebbstein und reichte dem Hauptmann die Hand. Dieser nahm sie an, neigte sich etwas nach vorn und sagte:
„Bestens, Herr General. Hoffe, um Euch ist es ähnlich bestellt.“
Tillmann musste grinsen.
„Ja, durchaus, aber es gibt viel zu tun und – mit Verlaub – ein nicht unwesentlicher Teil meiner Aufgaben stützt sich auf die Annahme Eurer Loyalität.“
„Dann, Herr General, sollten diese Aufgaben zu bewältigen sein.“
„Hervorragend. Nehmt bitte Platz.“

Leithdorf stand am Fenster der Schreibstube, Friedrich saß hinter seinem Schreibtisch, Ludwig Tenkow stand kerzengerade in der Mitte des Raums. Es war still. Nur die Feder des Adjutanten kratzte auf einem Dokument. Schließlich legte Friedrich die Feder bei Seite und sah den Soldaten vor sich an.
„Tenkow, Ihr ward bei der Staatsbewahrung?“
„Ja, Herr Hauptmann.“
„Und vorher bei den Kürassieren?“
„Ja, Herr Hauptmann.“
„Und wie ich sehe, seid Ihr dort auch wieder gelandet. In Eurer Funktion als Soldat der Reiterei sollt Ihr eine heikle Aufgabe erfüllen. Ihr sollt eine Nachricht nach Adlerbann bringen. Wisst Ihr, wo das liegt?“
„In der Nähe des Passes, Herr Hauptmann.“
„Richtig. Nördlich davon, um genau zu sein. Hier sind Euer Passierschein und Euer schriftlicher Befehl. Hauptmann Leithdorf wird Euch zur Kaserne begleiten.“
„Herr Hauptmann.“
Ludwig salutierte schneidig, wandte sich dann dem anderen Hauptmann am Fenster zu und schlug die Hacken zusammen.
„Tenkow, rührt Euch. Lasst uns die Sache etwas weniger förmlich angehen.
Die beiden Männer begaben sich zu Fuß zur Kaserne der Kürassiere. Auf dem Weg unterließ Leithdorf es nicht, laut zu plaudern, regelmäßig die Posttasche abzuklopfen und möglichst in der Mitte der Straße zu laufen. Neugierige Blicke streiften das ungleiche Paar allerorten. Der polternde Hauptmann und ein sichtlich unsicherer Soldat. Sie erreichten die Kaserne und betraten den Stall. Dort wartete bereits ein gesatteltes Pferd. Pistolen waren am Sattel gehalftert und zwei Taschen mit Vorräten. Ludwig wollte gerade aufsitzen, als Leithdorf auf einmal ganz leise wurde, den Untergebenen bei den Schultern packte und nah an sich zog. Er zischte:
„Hört mir gut zu, Mann. Ihr wisst gar nicht, wie gefährlich die Sache wird. Ihr werdet bereits hier verfolgt werden. Seid Euch aber sicher, dass Ihr spätestens in der Wildnis überfallen werdet. Ich kann Euch nicht sagen, wie dieser Überfall ablaufen wird, aber wenn es soweit ist, sorgt dafür, dass die Räuber das bekommen, was sie wollen. Diese Nachricht. Verliert sie, übergebt sie ihnen, aber sorgt dafür, dass sie ihnen in die Hände fällt.“
Wenn Ludwig Tenkow überrascht war, konnte Leithdorf ihm dies nicht ansehen. Der Soldat sagte nur:
„Jawohl, Herr Hauptmann.“, und schwang sich in den Sattel.
„Herr Hauptmann.“
„Bleibt am Leben, Tenkow. Ach und… Der General richtet Euch seine Empfehlungen aus.“
Ludwig nickte knapp, dann trieb er das Pferd hinaus auf die Straße.
Von einem Fenster im zweiten Stockwerk der Kaserne aus beobachtete von Rabbe, wie Leithdorf in den Kasernenhof trat und dem sich entfernenden Boten nachsah.
 
Zuletzt bearbeitet:
„Auf! Auf mit euch, Ihr Gesindel!“
Die Stimme des Unteroffiziers erfüllte den Schlafsaal. Milchgesichtige Soldaten richteten sich träge von ihren Lagern auf und rieben sich die Augen.
„In die Uniformen! Wir gehen auf Manöver! Nachtmarsch mit Tross! Fahne bleibt eingerollt! Abteilungen melden sich bei ihren Gruppenführern!“
Schlaftrunken erhoben sich vereinzelt die Soldaten und suchten nach ihren Uniformen. Andere brauchten länger, um den Befehl zu realisieren, aber nach weniger als zehn Minuten standen sechzig Soldaten des Kurfürstentums Averland im Kasernenhof, die Hellebarden und Musketen in den Händen. Zwei Trosswagen hatten sich ebenfalls im Hof eingefunden. Die Wagen. Feldwaibel Donald Garz, ein baumlanger Kerl von vierzig Jahren stand vor den Soldaten, flankiert vom Regimentsmusiker und dem Fahnenträger. Seine Hellebarde, ein wuchtiges Biest mit langem Widerhaken wirkte im Fackelschein noch bedrohlicher. Er hatte die Angewohnheit, seine Waffe meistens in die Seite seiner Rüstung zu stemmen, wodurch sie weit über ihn und seine Kameraden heraus ragte. So stand er da und wies seine Soldaten ein. In Viererreihen marschierten sie zum Tor hinaus durch die schlafende Stadt. Dem Hauptregiment folgten der Tross und dann die Abteilungen.
Sechzig Soldaten konnten sich nicht leise bewegen, das wusste Garz selbst, aber seine Leute waren sehr diszipliniert oder sehr müde. Sie sprachen kaum und nur das Klappern der Ausrüstung und das gleichmäßige Aufschlagen der Schuhe waren zu hören. Er war stolz auf seine Truppe. Gerade einmal elf erfahrene Soldaten – ihn selbst eingeschlossen – dienten im Regiment. Bei den Abteilungen sah es nicht viel besser aus. Der Krieg gegen den Erzfeind hatte einfach sehr hohe Opfer gefordert, aber durch den ernsthaften Drill, den die Unteroffiziere aufrechterhalten hatten, waren die Fehler der höheren Offiziere immerhin eingedämmt worden. General von Ebbstein war die Rettung gewesen, das hatten Garz und seine Kameraden sofort gemerkt. Er erinnerte sich noch, dass sie am Abend zuvor einen Brief aufgesetzt hatten, in dem sie um ihre Entlassung baten. Doch von Ebbstein war rechtzeitig aufgetaucht.
Garz, vollbärtig und braunhaarig, war eigentlich ein gebürtiger Stirländer, war aber seiner Frau nach Averheim gefolgt. Sie und ihre Töchter waren sein ganzer Stolz und sein Rückzugspunkt. Immer, wenn es seine Pflichten zuließen, blieb er über Nacht in ihrem Haus. Auch hier hatte von Ebbstein viel geleistet. Er hatte seinen Adjutanten angewiesen, den Wachturnus so einzurichten, dass die Männer mit Familie bevorzugt behandelt wurden und weniger Wache halten mussten. Seinen Kameraden hatte Garz erklärt, dass der General auch Stirländer sei und deshalb ein gesundes Verständnis für Familienbande habe.
Heute musste er mit seinen Männern aber auf Manöver. Am Nachmittag vorher hatte es den ersten spätsommerlichen Regen gegeben. Weicher Nieselregen, den man nicht fühlte, der einen aber doch schnell durchnässte. Er war das Signal für die Bauern, mit der Ernte zu beginnen. Das bedeutete, in wenigen Stunden, noch vor Sonnenaufgang, würden ihnen die ersten Feldarbeiter begegnen. Das könnte zu Störungen führen, weil der Tross sehr schwerfällig war. Zunächst war ihr Ziel aber ein kleiner Wald nord-östlich der Stadt.
Die Kolonne war noch etwa eine Meile vom Wald entfernt. Sie waren zunächst der alten Zwergenstraße gefolgt, dann nach Norden, Richtung Aver über einen breiten Feldweg marschiert. Der Wald lag in einem Tal, das von sanften Hügeln umgeben war. So kam es, dass Feldwaibel Garz erst jetzt den Schein einer Fackel am Waldrand bemerkte. Er ließ die Truppe sofort anhalten. Garz verbrachte einige Minuten damit, über die Sache nachzudenken. Möglicherweise hatte er gerade eine Schmugglerbande aufgeschreckt, die Waren über den Aver nach Stirland einschiffen wollten.
„Schickt mir mal einer die Anführer der Abteilungen her.“, brummte er und ein nahestehender Soldat eilte los, um den Befehl auszuführen. Wenige Augenblicke später näherten sich ein greiser Musketenschütze und ein eleganter Fechter dem Unteroffizier.
„Donald?“, fragte der Fechter, während der Schütze seine schwere Muskete abstellte und sich auf die Waffe stützte.
„Da ist wer im Wald. Und da sollen wir hin.“
„Das ist schlecht.“, erklärte der Alte.
„Wir machen es so.“, sagte Garz nach einer kurzen Pause, „Ich gehe mit ein paar von meinen und euren Jungs vor. Hans, du kommst mit, Peter übernimmt solange das Kommando. Wir gucken einfach mal.“
„Das ist gut.“, antwortete der Schütze knapp, drehte sich um und kam gleich danach mit drei weiteren Schützen wieder. Die Männer trugen ihre Waffen vor sich und schirmten die Lunten mit den behandschuhten Rechten ab.
Garz wählte je fünf Schwertkämpfer aus der Abteilung und fünf seiner Hellebardenträger aus. Sie verließen den Weg und schlichen geduckt und weit ausgefächert durch das hohe Gras einer Weide. Der Feldwaibel wünschte sich in dem Moment, er hätte ein paar Jäger oder Halblinge unter seinem Kommando, aber es musste auch so gehen. Für solche Manöver waren seine Soldaten allerdings beim besten Willen nicht ausgerüstet.
Als sich die Männer dem Waldrand näherten, ließ Garz sie lautlos anhalten. Er signalisierte Hans, dem Anführer der Schützen, dass seine Leute sich bereithalten sollten. Dann schlich er mit zwei Schwertkämpfern weiter.
Die Fackel wurde von einem Reiter gehalten. Er sah sehr elegant aus, trug aber einen weiten Umhang mit Kapuze, so dass man seine Identität nicht ausmachen konnte. Neben dem Reiter standen zwei weitere Pferde. Die Kameraden des Reiters waren abgesessen und unterhielten sich offensichtlich. Doch auch sie waren nicht genau zu erkennen. Garz gab einem seiner Begleiter mit flinken Bewegungen seiner Hände wortlose Anweisungen, woraufhin der Kämpfer sich wieder zurück schlich. Dann betrat er mit dem anderen Soldaten den Lichtkreis der Fackel.
„Guten Abend, die Herren.“, rief er, während er seine Hellebarde auf sie richtete. Der Schwertkämpfer hatte seinen Schild gehoben und das Schwert zum Schlag bereit. Er hielt den Berittenen in Schach.
„Darf man fragen, was sie hier zu so später Stunde umtreibt?“
Einer der beiden Männer ging einen Schritt auf den Feldwaibel zu, worauf hin dieser sich versteifte und seine Waffe fester griff. Der Verhüllte blieb sofort stehen und hob die Hände beschwichtigend.
„Bleibt stehen und antwortet!“, schnauzte Garz, was den Reiter zusammenfahren ließ. Erst jetzt bemerkte er, dass der Mann eine Pistole gezogen hatte. Der Schwertkämpfer duckte sich etwas tiefer hinter seine Schutzwaffe. Doch in dem Moment traten weitere Männer in den Lichtkreis. Hans und seine Schützen, mit angelegten Waffen, betraten die Szenerie.
„Wir wollen doch nicht, dass das hier hässlich wird, oder?“, fragte der alte Schütze, „Hässlich können meine Kerls hier nämlich besonders gut. Die Pistole runter oder deine Spießgesellen sehen gleich, was du zum Abendbrot hattest.“
Der Reiter steckte seine Waffe in den Gürtel zurück und hob seine leere Hand, während der Mann, der auf Garz zugekommen war, seine Kapuze herunter nahm.
„Guten Abend, Feldwaibel. Schön, dass Ihr es einrichten konntet.“
Die Soldaten sahen sich verblüfft an, dann senkten sie die Waffen.


Hagen ächzte leise, denn seine Seite begann wieder zu pochen. In der Rechten trug er seinen Bogen, den er schnell bespannt hatte. Mit der Linken hatte er hastig nach ein paar Pfeilen gegriffen. Seine Kleidung hatte er ohnedies nicht abgelegt, war also sofort bereit zum Aufbruch. Das unpassende Geräusch hatte sich noch zweimal wiederholt. Hagen hielt plötzlich an, hockte sich auf den Boden und lauschte. Es dauerte einen Moment, bis er nicht mehr seinen Herzschlag hörte. Nun wurde es deutlicher. Hagen hörte vieles und ein Bild formte sich vor seinen inneren Augen. Er sah einen Reiter. Männer mit Hunden. Schusswaffen. Der Reiter wurde gejagt. Von Männern zu Fuß.
Hagen schlug eine neue Richtung ein und erreichte den Rand des Waldes. Tatsächlich stand er am Rand eines steil abfallenden Tals, dass eine Lichtung bildete und vom Wald vollständig umschlossen wurde. Ein Hohlweg kreuzte das Tal. Diesen hatte der Reiter offensichtlich genommen, als seine Häscher ihm aufgelauert hatten. Durch die enorme Steigung des Weges konnte der Reiter nur wenig Kapital aus seinem Reittier schlagen. Seine Pistolen krachten und rissen einen Hund zu Boden, der sich dem Pferd genähert hatte. Die anderen Tiere beließen es bei wildem Gebell. Offenbar waren es keine ausgebildeten Tiere. Auch die Verfolger stellten sich nur wenig geschickt an. Ihre offensichtlichen Vorteile nutzten sie kaum, aber dann stürzte das Pferd. Die Wegelagerer fielen mit Messern und Knüppeln über den Reiter her, der aber sofort wieder auf den Beinen war, zwei weitere Pistolen in den Händen. Die Räuber umringten ihn, doch keiner wagte den ersten Schlag, wohlwissend, dass der Schütze die ersten beiden Angreifer wohl mit in sein Grab reißen würde.
Hagen erreichte die Szenerie von Osten aus und stand damit am Waldsaum, von dem aus das Tal steil abfiel. Er beeilte sich.

„Junge, wir werden dir nichts antun, wenn du uns gibst, was wir wollen.“, raunte einer der Wegelagerer mit rasselnder Stimme. Er gab sich offenbar Mühe, vertrauenserweckend zu klingen, was ihm aber beim besten Willen nicht gelingen wollte.
„Es wäre wohl hilfreich, wenn ihr Witzfiguren mir sagen würdet, was ihr haben wollt.“, blaffte Ludwig zurück.
„Das, was du da in deiner Posttasche hast.“, keifte ein altes Narbengesicht mit hoher Stimme und der erste Redner ergänzte nun kalt:
„Ich hab es mir anders überlegt. Wir werden dir doch was antun. Mehr als zwei kannst du von uns nicht töten und was willst du tun, wenn diese zwei einfach nur Hunde sind? Das sind mir die Köter allemal wert.“
„Du hast nur noch zwei Hunde.“, stellte ein anderer fest.
„Sag ich ja.“, schnauzte der erste wieder, „Zwei Hunde für die Nachricht. Das klingt doch gut.“
„Zwei Hunde und du.“, korrigierte der andere.
Die Räuber drehten sich um. Dort stand ein Mann in der Kleidung eines Jägers, den Bogen gespannt und auf den Wortführer der Bande gerichtet. Langsam umrundete der Jäger die Räuber, bis er neben Ludwig stand.
„Ei, ei, ei.“, machte das Narbengesicht. „So viel Gesellschaft.“
„Mein Vorschlag.“, ergriff Ludwig das Wort, „Ich gebe euch die Tasche mit der Nachricht und der werte Herr mit dem formidablen Bogen und meine Wenigkeit empfehlen uns, während ihr lesen lernt.“
„Weiß nicht, Kumpel.“, sagte der Anführer der Räuber, „Dein Kumpel da, den mag ich nicht.“
Schlechte Karten, dachte Ludwig. Er hatte gewusst, dass es nicht leicht sein würde, lebend aus so einer Sache zu kommen. Die Räuber waren trainiert. Manche trugen noch zerschlissene Uniformsteile. Einer hatte eine Hose in den Farben Stirlands, ein anderer ein Hemd in denen der berühmten Flusspatrouille. Es kamen oft Deserteure aus dem armen Stirland in das reiche Averland. Er wusste, dass diese Männer nicht leicht einzuschüchtern waren.
Eine unerträgliche Stille trat ein, dann nickte der Anführer unvermittelt einem anderen Räuber zu, der riss seinen Arm hoch, in seiner Hand blitzte etwas auf – dann schlugen plötzlich zwei Pfeile in seiner Brust ein. Das Wurfmesser entglitt seiner Hand, als der Verbrecher verwirrt auf die Geschosse starrte, die aus seinem sterbenden Körper ragten.
„He-da! Ihr verdammten Hurenböcke!“, meckerte eine Stimme und mit geschultertem Bogen trat ein Halbling aus dem Schatten heran. „Ihr habt nicht echt geglaubt, dass der da allein kommt, oder?“, fragte der kleine Kerl und wies mit dem Daumen auf den anderen Jäger. Der Hauptmann der Räuber wurde sichtlich nervös. Er konnte sich ausrechnen, dass dort mindestens noch ein Schütze in der Dunkelheit lauerte, aber so, wie der Halbling sich gebarte, waren es wohl sogar noch mehr.
„Nun gut, mein Freund,“, wandte er sich wieder an Ludwig, „bevor die Sache hier zu hässlich wird, würde ich dein Angebot gerne annehmen. Wirf mir die Tasche rüber.“
Ludwig tat es, der Wegelagerer sah hinein, dann nickte er und die drei anderen zogen sich in die Dunkelheit zurück. Kaum waren sie außer Sicht, gaben sie sich mühe, möglichst leise und schnell aus dem Tal zu gelangen. Sie sprachen erst, als sie sich vergewissert hatten, dass es keine Verfolger gab. Der Jäger eröffnete das Gespräch:
„Fips! Was machst du denn hier?“
„In der Armee war es nun doch recht langweilig und da haben wir den Haufen verlassen. Gekündigt.“, antwortete der Halbling.
„Was genau bedeutet in dem Falle „Wir“?“, wollte der Jäger wissen, doch dann waren sie schon da. Im Grau des langsam beginnenden Morgens konnte Ludwig vier Gestalten ausmachen. Sie waren allesamt gekleidet, wie der erste. Dabei waren ein Hüne, der viel zu ungeschickt für einen Bogen wirkte und ein alter Mann, der ein breites Grinsen im Gesicht trug. Zwischen den beiden stand ein junger Bursche, dessen Züge so weich waren, dass er eher an den Hof in Altdorf gepasst hätte. Der letzte Mann war etwa so alt wie Ludwig selbst. Bartstoppeln und ein wirres Narbengeflecht verunstalteten sein Gesicht. Das kurzgeschorene Haar zeigte erste Spuren von Silber.
Die Männer begrüßten sich ausgelassen, aber selbst dabei machten sie kaum Geräusche. Nach einiger Zeit polterte Ludwig aber dazwischen: „Wer in Sigmars Namen seid ihr Leute eigentlich?!"

Tillmann begrüßte Garz, der immer noch keine Worte gefunden hatte. Hauptmann Leithdorf und der Adjutant des Generals verbargen sich hinter den anderen Gestalten.
„In einfachen Worten, Garz, das ist kein Manöver. Ich werde Euch nun über einen ausgesprochen heiklen Plan aufklären. Es geht um den Staatsschatz. Wir müssen ihn in Sicherheit bringen. Wir haben ihn ein Stück weiter des Weges in einigen Wagen versteckt. Getarnt sind die Ladungen als Schurwolle. Nur falls jemand fragt. Die Fahrer sind ausgesuchte Agenten der Staatsbewahrung. Von dieser Sache wissen nur die wenigsten. Auch die Agenten wissen nicht, was sie da eigentlich durch die Lande fahren. Und sie werden es auch nicht erfragen. Vertraut niemanden, bis Ihr Euer Ziel erreicht. Das Ziel kennt nur Hauptmann Leithdorf. Er ist hier der Kommandierende.“
„Ja… Jawohl, Herr General!“, grunzte Garz.
„Und noch was… Euch wird wahrscheinlich niemand folgen. Ich würde ja niemals einen Familienvater auf eine gefährliche Mission schicken, wenn ich andere schicken könnte, oder? Das ist Eure Versicherung, Feldwaibel.“
„Sehr schlau, Herr General.“, bestätigte Garz, schwieg dann aber, weil er nicht zu vertraulich werden wollte. Tillmann erkannte das und grinste einnehmend.
„Ganz nebenbei werde ich mit Hauptmann Kaßen für eine angemessene Ablenkung sorgen.“, ergänzte er und zwinkerte. Dann drehte er sich um und ging zu Leithdorf, der inzwischen sein Pferd bestiegen hatte.
„Hauptmann! Rückt aus!“, schrie er, schwang sich dann selbst in den Sattel und ergänzte: „Und viel Glück. Hoffen wir, dass es nicht gebraucht wird.“
„Grüßen Sie Josef von mir. Und passen Sie auf, dass er nichts Dummes tut.“, antwortete der Hauptmann, dann schüttelten sie sich die Hand und der General ritt mit seinem Adjutanten in die Nacht hinaus. Kaßen rief einen Befehl und die inzwischen versammelten Truppen setzten sich in Bewegung.
 
Zuletzt bearbeitet: