Willkommiget auf der Scheibenwelt - Diskussionen rund um diese!

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Ich hatte mir zwar nicht erhofft, unter solchen Umständen dieses mittlerweile doch betagte Thema aus der Versenkung zu holen, doch schien es nur angemessen und redlich, es zu tun.

Doch wollen wir nicht in febrilen Zuständen verharren, sondern darin den Aufbruch sehen: ich für meinen Teil habe mir mal "Dodger" zugelegt und vorgenommen, meinen Liebling "Guards! Guards!" in Bälde wieder durchzuarbeiten. Und selbstredend bin ich gespannt, was uns mit "The Shepherd's Crown" hinterlassen wird, "Raising Steam" war meines Erachtens schon besser als einige der Vorgänger, obschon aus bekannten Gründen nach wie vor nur eine Silhouette vergangener Größe. Was haben die Herren sich an entsprechender Lektüre bereitgelegt, welche Leseerfahrungen sind in den letzten Jahren hinzugekommen?
 
Ich habe zuletzt auch angefangen die neuen Bücher in Englisch zu lesen (als erstes jetzt "Raising Steam", "The Shepherd's Crown" wird dann das nächste), weil mir der neue Übersetzer für die Scheibenwelt nicht gefiel (haben wir ja damals auch drüber diskutiert). Allerdings hatte ich vorher schon mit der Long Earth Reihe in Englisch begonnen. Da gefiel mir der zweite Teil nicht so sehr, weshalb ich recht lange gewartet habe nun den dritten zu lesen, der hat mich aber wieder gefesselt. Wie es mit der Reihe weiter geht wird sich zeigen. Der vierte Teil erscheint bald, wurde also garantiert mit Terry gemeinsam beendet, da die Reihe aber fünf Teile umfassen soll, muss wohl Stephen Baxter den fünften Teil alleine anfangen/beenden (je nachdem ob sie schon daran gearbeitet haben).
 
Ich habe - ohne es zu wissen - ungefähr da aufgehört, die Bücher zu kaufen, als der neue Übersetzer dran war (ab Unsichtbare Gelehrte?). Mein Kumpel, der einiges in Sachen Schweibenwelt aufzuholen hatte, hat sie mir dann zum Lesen überlassen und ich bin gerade bei Rising Steam mit dem wenig vielsagenden deutschen Titel: Toller Dampf voraus ... schon klar. Das letzte war Steife Briese. Nicht dass es schlecht war, aber irgendwie hat es bei mir nicht mehr den Funken Scheibenwelt gezündet, den die vorherigen noch inne hatten.

Da bei der Eisenbahn wieder Feucht dabei ist, habe ich geistig mit den Augen gerollt und dachte nur - okay der ist ganz gut, aber schon wieder? Wobei mich der Name seiner Freundin doch immer wieder schmunzeln läßt. Wortspiele at its best.

Bei der Rand-Lektüre fehlt mir nur noch Das Mitternachtskleid - Tiffany ist ein netter Sidekick.
 
Nunmehr bin ich auch dazu gekommen, "Dodger" durchzulesen. Abseits des nicht abzuschüttelnden, schrecklichen Alpdrucks, der mich wahrscheinlich von nun an beim Lesen jedes seiner Bücher verfolgen wird, hat es mir doch sehr gefallen. Sowohl die Handlung als auch die (kaum konturierte) Moral kommen ziemlich leichten Fußes daher, was mir in Anbetracht der letzten Scheibenweltbücher, die doch einen Hang zur moralinsauren Kritik hatten, wie eine willkommene Abwechslung schien. Pratchett erwähnt in seiner schließenden Note am Ende des Buches zwar, dass er Henry Mayhews "London Labour and the London Poor" eine Ehrbezeugung erweisen wollte - also schon eine gewisse gesellschaftliche oder besser: humanistische Position mit dem Schreiben seines Romans verbindet -, das hat allerdings in der Regel mehr beschreibenden als missionarischen Charakter. Vielmehr kann sich der Leser über die üblichen Bildungsbrosamen freuen (lange habe ich nicht mehr den Namen Boudicca gelesen!) und über das plastisch vor seinen Augen entstehende, fiktionalisierte London zur Hälfte des 19. Jahrhunderts, ohne deplatzierte Belehrungen über sich ergehen lassen zu müssen.

Das Ende ist nach meinem Empfinden (ohne Ereignisse vorwegzunehmen) etwas überhastet und auch konstruiert, das scheint mir allerdings ein weiterer Beleg dafür zu sein, dass es mehr um die Charakterstudien, das pfiffige Parlando einiger erstaunlich starker Dialogpartner und die teils gewohnt wunderschönen Sprachbilder geht denn um das überwölbende Erzählkonzept. Gewiss keines seiner insgesamt stärksten Bücher, aber alles in allem eine für mich angenehme Überraschung und vermutlich eines seiner besten Spätwerke. Unaufdringlicher, lockerer Stil, bestens dazu geeignet, auch mal nur ein Kapitel nebenher zu lesen. Bekommt eine Empfehlung! Nun geht's wieder an "Guards! Guards!". :happy:
 
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Es gehört hier zwar nicht wirklich hinein, mir ist's allerdings ein Bedürfnis, (ebenfalls verspätet) würdevoll den Hut für Harry Rowohlt zu lüpfen - scheint kein gutes Jahr für Sprachvirtuosen zu sein.

Wie dem auch sei: ich arbeite mich gerade wieder durch die Romane der Stadtwache, und abseits der irritierenden Momentaufnahme, dass Vetinari und ein momentan amtierendes Regierungsoberhaupt womöglich eine geometrische Figur teilen*, ist mir beim erneuten Durchlesen noch einmal bewusst geworden, wie sehr ich den Erstling "Guards! Guards!" liebe. Interessanterweise scheinen die Meinungen bei Scheibenwelt-Enthusiasten in dieser Hinsicht weit auseinander zu gehen. Was mir an GG auch und nachgerade im Vergleich zu späteren Büchern so gelungen scheint, ist der eher indirekte Zugriff auf politische Belange einerseits und die sprühende Humanität andererseits.

Es darf, denke ich, als ausgemacht gelten, dass die Romane der Stadtwache in ihrer Essenz die politischsten Romane Pratchetts sind. Das hängt zum einen mit dem Schauplatz zusammen (Ankh-Morpork als größte und diversifizierteste Stadt der Scheibenwelt), zum anderen mit der entsprechenden Spiegelung dieser Verhältnisse bei der Truppe, und zu guter Letzt an Sam Vimes, der entschiedene Ansichten über die Natur des Menschen und dessen Streben in der Gesellschaft hat. In diesem Spannungsfeld werden etliche Themen beleuchtet: Republikanische Staatsformen contra Royalismus, allgemeine Korrumpierbarkeit durch Macht, Vorurteile gegenüber Minderheiten, Standesdünkel bis in eugenische Untiefen hinein, Kriegstreiberei/Zunutzemachen (vermeintlich) patriotischer Propaganda usw. usf. Wie wir ja im Laufe der letzten Seiten schon herausgestellt haben, ist Pratchett im zunehmenden Alter dabei nicht milder, sondern schärfer geworden. Teils mangelt es schmerzlich an Subtilität, stattdessen kommen plakative, teils schon missionarische Aussagen zustande, die schrill auf irgendein Unrecht hinweisen.

GG nun ist werkgeschichtlich an früher Stelle, und in einer interessanten Übergangs- oder "Sattelzeit" (Koselleck) verhaftet. Es ist einerseits nicht mehr krampfhaft in der zotigen Aufarbeitung resp. Dekonstruierung von althergebrachten Fantasy-Klischees à la Fritz Leiber verhaftet, andererseits hat sich auch noch nicht die scharfe satirische Stimme der späteren Werke manifestiert. Hinzu kommt, dass Pratchett zu diesem Zeitpunkt noch selbst nicht wusste, dass die Stadtwache sich zu einer seiner wirkmächtigsten Reihen mausern sollte - entsprechend liegt der Fokus auch nicht auf Vimes, sondern auf Carrot, durch dessen Augen wir Ankh-Morpork erfahren. Dann und wann hallt das Echo des ganz frühen Pratchetts noch nach (s. den ganzen Klamauk um die Chance von eins zu einer Million), tendentiell besetzt GG allerdings ein Graufeld.

Das kommt nach meinem Dafürhalten der Darstellung der conditio humana ungemein zugute. Es wird zwar in aller Offenheit kommentiert, dass der Mensch bei sich ändernder Großwetterlage von der Standhaftigkeit eines Schilfrohrs im Sturme ist, doch geschieht diese Schilderung nicht ohne Sympathie zu den so entlarvten Subjekten. Freilich ist es für sich genommen erschütternd, mit welcher Beschwingtheit Überzeugungen über Bord geworfen werden, auf der anderen Seite zeigt sich allerdings der ausgemachte Pragmatismus der Bewohner A.-M.s: man hatte schon schlimmere Regenten als ein garstiges Schuppenviech, und überhaupt wäre das eine passable Zurschaustellung der eigenen Stärke. Der Leser ertappt sich selbst dabei, dass auch er beschrieben wird, eben als echtes menschliches Wesen mit all seinen inneren Konflikten und Abwägungen zwischen Ideologien und Komfortabilitäten. Zwar wird die Stoßrichtung ersichtlich, doch liegt genügend Verständnis für die zugrundeliegende Situation vor, als dass man sich nicht belehrt fühlte.

Daran mangelt es mir dann in späteren Werken doch ein wenig. In "Jingo" z.B. werden Lord Rust und seine Mitputschisten wie törichte Idioten dargestellt, die von antiquierten Ehrvorstellungen zehren und bereitwillig Massaker auf allen Seiten in Kauf nehmen, um dies durchzusetzen. Damit soll nicht gesagt werden, dass solches Verhalten eo ipso unrealistisch oder undenkbar wäre, doch bleibt die Motivation vergleichsweise plump. Auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sind schwer entwirrbare Knäuel geflochten worden, die pragmatische, ehrbezogene, genealogische wie religiöse Motive gleichermaßen enthielten, teils als Zeremoniell, teils als formale Bekundung des Machtanspruchs, teils aus echter Überzeugung. Solche Karikaturen von erzählerischen Stolpersteinen wie eben Lord Rust (richtiggehende Antagonisten sind das ja nun beileibe nicht) sind insofern etwas betrüblich, als man weiß, dass Pratchett durchaus in der Lage ist, Tiefe auch bei Widersachern herzustellen.

Das sind selbstverständlich nur relative Bemerkungen, mir gefallen auch die späteren Romane (abseits der allerletzten) ausgezeichnet, mir schien eine Ehrenrettung GGs allerdings angemessen. Was sagen die Herrschaften dazu?


*Übrigens keine Raute, bedeutete es doch, dass Daumen und Zeigefinger von derselben Länge wären.**
**Hierbei handelt es sich um eine humorlose Adnote von demselben Menschenschlag, dessen Gehörgang erfolglos beim Klang von "Indominus Rex" versucht, die Morphologie des Worts in "Indomitus Rex" umzuformen, wie es sich gehört.***
***Gleichwohl es eine herrliche marxistische Pointe darstellt, dass der grundbesitzlose König - in Raserei versetzt - schwächlichen postheroischen Menschlein aufzeigt, wo der kreidezeitliche Hammer hängt.