Ich zitiere einmal im Wortlaut:
In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen - auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. Die christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte. In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts kam es zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen Philosophen entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen Lehrern des römischen Rechts. In dieser Berührung ist die abendländische Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der Menschheit von entscheidender Bedeutung war und ist. Von dieser vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz, mit dem sich unser Volk 1949 zu den "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" bekannt hat.
Was steht da also nun (ich schreibe im Indikativ, obwohl das Aussagen des Papstes sind und eigentlich in den Konjunktiv müssten, das spart etwas Zeit)?
- Judentum und Islam (ob der Papst mit den "großen Religionen" nun auch Hinduismus und Buddhismus meint, wage ich in dem Zusammenhang sehr schwer zu bezweifeln) haben demjenigen Gebilde, das wir heute "Zivilgesellschaft" nennen, ein "Offenbarungsrecht" auferlegt, das dem göttlichen Erkennungs- und Gerechtigkeitsanspruch folgt.
- Das Christentum dagegen leitet seine juridische Begründung aus Natur und Vernunft ab. Die "Vernunft" nun (die nicht nur Maßstab der Ethik, sondern auch der Gnoseologie - also der Erkenntnis - ist) besteht aus einem "subjektiven" und einem "objektiven" Teil. Aber damit nicht genug: beider Teile Substanz (wiederum aristotelisch verstanden) gründet in der "schöpferischen Vernunft Gottes". Das ist die Seinsunterlage, auf der die menscheneigene Vernunft aufgestellt wird, sogar dann, wenn ein Nicht- bzw. Andersgläubiger oder ein Anhänger der "
docta ignorantia" nach Nicolaus Cusanus diese letzten Gründe entweder nicht anerkennt oder hinterfragt.
- Die "schöpferische Vernunft Gottes" nimmt zunächst einmal eine wichtige Rolle im Kirchendogma ein: sie verweist den neoplatonischen und häretischen (innerkirchlich, versteht sich) (Irr-)Weg des Marcion bzw. der gnosischen Texte bzgl. des Demiurgen in die Ferne. Aber sie erstreckt sich auch auf die Beschaffenheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Wenn diese nun ursächlich in der Substanz des ausgeflossenen göttlichen Seins ihren Ursprung hat, und insbesondere die objektive Vernunft darin, dann ist eine (wenn auch verzerrte) Tendenz zur Ebenbildlichkeit in Gedanke und dem in die Tat umgesetzten Akt unausweichlich. Denn die objektiven Daseinsmodalitäten gehen wiederum in die theologischen Lehren über, i.e. die Seinsgeschichte.
- Mit der anthropologischen Bestimmung endet der Absatz aber noch nicht. Die Kirche steht nun also in der gedachten Kontinuitätslinie der Stoa sowie des kodifizierten Rechts der Römer (warum der Papst gerade hier ansetzt und nicht bei den eigentlich klassischen Quellen wie Solon, erschließt sich mir allerdings auch nicht; wahrscheinlich ging es ihm um die Exemplifizierung des praktischen Rechts im Gegensatz zum eher abstrakten der Griechen). Worauf gründet nun die Stoa ihr Naturrecht? Zenon begründet so: "Das Naturgesetz ist ein göttliches Recht und besitzt als solches die Macht, zu regeln, was Recht ist und Unrecht". Bei Chrysipp heißt es ähnlich: "Ein und dasselbe nennen wir Zeus, die gemeinsame Natur von allem, Schicksal, Notwendigkeit; und das ist auch die Gerechtigkeit und das Recht, die Einheit und der Friede". Der Vordenker dieser Gedanken ist sogar noch Vorsokratiker. Heraklit behauptet: "Es nähren sich alle menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen".
Das Naturrecht ist offensichtlich kein positives Recht, das einen Staat ausmacht, sondern eine genuine Eigenschaft des menschlichen Seins. Begründet sind diese Rechte nun nicht etwa auf den Seinsbestand des Menschen selber (Korrelation nicht mit Kausalität verwechseln!), sondern aufgrund der Nähe, ja sogar Einheit (verstanden als Ein-Heit) mit dem göttlichen Recht und damit wieder seiner Schöpfungskraft vom obigen Absatz. Dass Benedikt XVI. sich nun ausgerechnet dieses Vorbild nimmt (allen Pantheismuseinwänden zum Trotz, die klerikalerseits gestellt werden könnten), ist offensichtlich kein Zufall. Wenn Naturrecht göttliches Recht ist und Theologen das göttliche Recht erklären, dann ist nicht nur positives Recht anthropologisch, sondern auch Naturrecht genuin theologisch begründet.
- Auch der Ausdruck "christliches Mittelalter" kommt nicht von ungefähr. Um die Verbindung von Recht und kirchlicher Tradition aufzuzeigen, erlaube ich mir, Petrus Damiani zu Wort kommen zu lassen: "Rechtsweisung zu geben, steht nur jenem zu, der auf der Lehrkanzel Petri sitzt". Es ging seinerzeit (1045 und folgende) freilich vornehmlich um die innerkirchliche Spannung (Papstschisma, Simonie, Nikolaitismus, die allesamt auch zur weltlichen Schwächung zu führen drohten und auch sollten), aber es ging auch um den Wahrnehmungsanspruch nach draußen hin, um das Drängen der Salier als Unbotmäßigkeit darzustellen. Dieser Anspruch leitet sich sogar von der Bibel selbst ab, genauer aus Lukas 22,32: "Ich aber habe für dich (Petrus) gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder".
Die mittelalterliche Rechtstradition ist kirchlicherseits (aber auch tatsächlich) immer von christlicher Tradition beseelt gewesen. Das fängt mit der ottonischen
clementia, d.h. Milde als Rechtsbegrifflichkeit an, und hört bei der Urkunde Sergius' IV., der dem Grafen Wifred die Martinskirche am Mont Canigouen-Conflent überschreibt, auf.
Zum Islam vielleicht ein andermal mehr.
😀