17. Vorgeheim, mittags.
Wir verließen Leicheberg am Morgen nach einer ereignislosen Nacht und schlugen eine Straße ein, die weiter nach Osten führte. Hier wurde es nun erst richtig unheimlich – und das, obwohl die Sonne gerade aufgegangen war. Richtig hell wurde es nicht, denn der Himmel war von einem Horizont zum anderen mit dichten Wolken bedeckt. Links der Straße erhoben sich die fahlen Umrisse der Heulenden Hügel, zwischen deren Hängen dichter Nebel stand; auf der rechten Seite lag der dunkle Schatten eines dichten Waldgebiets, das von den Einheimischen Ghoulwald genannt wird. Wir begegneten keinem Menschen, nicht einmal einem Bauernkarren oder einem fahrenden Händler.
Einmal hörten wir ein unheimliches Geräusch aus dem Wald. Es klang, als pirschte etwas Großes, Massiges parallel zu uns zwischen den Bäumen voran, doch es blieb im Schatten und zeigte sich nicht. Unsere Pferde scheuten erschrocken, und dann war ein dunkles Knurren oder Grollen zu hören. Alle packten ihre Waffen, und auch ich hob meine Armbrust. Nach einem Augenblick angespannter Stille entfernte sich das Geräusch und verschwand in den Tiefen des Waldes.
Es war diese Begegnung, die meinen Vater bewog, die Straße bei der nächsten Gelegenheit zu verlassen. Ein Pfad führte nach Süden in den Wald, kaum mehr als eine halb überwucherte Schneise zwischen den Bäumen. Die drei Zeloten bekamen es nun doch mit der Angst, und einer von ihnen protestierte, da aus eben dieser Richtung das unheimliche Geräusch gekommen war. Doch Vater bestand auf der Abzweigung; schließlich war es unser Auftrag, die erste unmittelbare Bedrohung zu verfolgen, auf die wir stießen. So rumpelte nun unser Fuhrwerk in den Wald hinein, und die Schneise war so eng, dass Blätter und Zweige die Seitenwände streiften und die Pferde nur im Schritt gehen konnten, weil Baumwurzeln und Gebüsch sich über den Weg zogen.
Vor zwei Stunden kamen wir dann in dem kleinen Dorf an, wo wir seitdem lagern. Eigentlich kann man es ebensowenig ein Dorf nennen wie Leicheberg eine Stadt: Es besteht aus ganzen drei Bauernhöfen inmitten einer weitläufigen Lichtung. Als wir es vor uns auftauchen sahen, glaubten wir, nun endgültig das Ende der Welt erreicht zu haben, denn die Häuser boten einen so ärmlichen und verfallenen Anblick, dass wir im ersten Moment nicht an lebende Bewohner glaubten. Erschrockene Schreie belehrten uns eines Besseren: Zerlumpte Gestalten fuhren von ihrem Tagwerk in Feld oder Garten auf, starrten uns entsetzt an und flüchteten in ihre Häuser. Einige magere Hunde kläfften wie verrückt, und als unser Fuhrwerk hielt, scheuchte es einen Schwarm Hühner auf, die gackernd davonstoben.
(Bildquelle: Pixabay)
Es dauerte längere Zeit, bis wir die Dorfbewohner bewegen konnten, aus ihren Verstecken zu kommen. Der Priester stieg vom Wagen und versprach mit lauter Stimme in Sigmars heiligem Namen, dass niemandem ein Leid geschehen würde. Helmuth nahm spontan etwas von unseren Vorräten heraus und bot es den Bauern an. Vater hielt sich einstweilen zurück, denn er rechnete damit, dass der Anblick eines Inquisitors die Einheimischen erst recht einschüchtern würde. Doch nach und nach kamen sie aus ihren Hütten: Zuerst ein älterer Mann, dann eine Gruppe Jüngerer, zuletzt die Frauen, die ihre mageren Kinder fest an den Händen hielten.
Am Ende waren es Helmuth und ich, die das Vertrauen der Leute gewannen; vielleicht, weil wir am wenigsten bedrohlich wirkten. Der alte Mann stellte sich als der Dorfälteste vor, und von ihm erfuhren wir, warum seine Leute uns mit so großer Angst begegneten. Man mag es kaum glauben, aber diese Menschen leben derart isoliert, dass sie noch nie im Leben Fremde gesehen haben; zumindest keine, die anständige Kleider, Rüstzeug und Waffen tragen und auf einem Wagen wie dem unseren fahren. Die drei Familien leben seit Jahrhunderten auf diesem winzigen Fleck mitten im Wald, und ihr einziger Kontakt besteht zu einem sechs Meilen entfernten Nachbardorf, mit dem sie die heiratsfähigen Frauen austauschen, um dem Fluch der Inzucht zu entgehen. Als wir dem Alten eröffneten, dass wir aus Stirland kämen, runzelte er die buschigen Brauen und offenbarte, dass er diesen Namen noch nie gehört hatte. Er wusste nichts von der Welt draußen, nicht einmal von den größeren Orten Sylvanias, nichts von Kurfürsten, Verwaltern, Priestern oder der Kirche. Als wir von unserem Auftrag erzählten, machte er große Augen. Zwar schien er zu wissen, dass sein Heimatland zum Imperium gehörte, doch von diesem großen Reich hatte er überhaupt keine Vorstellung. So zeigte er sich vollkommen überzeugt, unser Imperator heiße Magnus und wohne irgendwo weit im Westen in einem schwebenden Palast aus Elfenbein. Wir hatte alle Mühe, uns das Lachen zu verbeißen und ihm die Wahrheit begreiflich zu machen. Bei Sigmar, der Kurfürst hatte recht: Die Menschen in diesem Land sind wahrlich Vergessene und Verlorene, selbst im Vergleich mit den ländlichsten und abgeschiedensten Orten in Stirland. Ich konnte die Leute nur bemitleiden, erst recht, als sie uns nach und nach neugierig umdrängten und ich ihre traurigen Gestalten sah: Männer in zerlumpter Kleidung, denen die Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben stand; verhärmte Bäuerinnen in fleckigen Kittelschürzen; hohlwangige, unterernährte Kinder. Nicht wenige litten an Grind oder anderen Hautkrankheiten, und viele kratzten sich ständig, offenbar infolge Flohbefalls.
Am Ende konnten wir so viel Vertrauen herstellen, dass der Dorfälteste uns in sein Haus lud. Es war das einzige Steinhaus im Dorf, auch wenn die Steine wirkten, als wären sie bereits vor Jahrhunderten vermauert und nie gepflegt worden. Das reetgedeckte Dach hatte kahle Stellen, die notdürftig mit Brettern gedeckt worden waren. Der einzige Innenraum besaß einen Boden aus gestampftem Lehm und bestand aus wenig mehr als einer Feuerstelle und niedrigen Bänken an allen Seiten, die zum Sitzen und wahrscheinlich auch zum Schlafen dienten.
Mit einem bedeutungsvollen Wink machte Vater mich auf die Fenster- und Türrahmen aufmerksam, die über und über mit Knoblauch, Heckenrosen und geschnitzten Amuletten behangen waren. Kein Zweifel: das Böse war an diesem gottverlassenen Ort nicht fern. So brachte er bald das Gespräch darauf und erfuhr, dass die Dorfbewohner sich vor allem Möglichen zu fürchten hatten, auch wenn sie nur wenig davon in ihrem seltsamen Dialekt benennen konnten.
„Menschenfresser“, raunte der Alte und hob seine dürren Arme zu einer bedrohlichen Geste. „Sie kommen aus dem Wald und suchen nach den Toten… und rauben manchmal auch Lebende.“
„Ghoule.“ Vater nickte. „Und die Knoblauchknollen an den Türen und Fenstern? Wofür sind die?“
„Geister“, erwiderte der Alte. „Viele Geister. Manche heulen und schreien bloß in den Wäldern. Aber manche kommen auch bei Nacht ins Dorf. Niemand bleibt draußen, wenn die Sonne untergeht. Alle Türen werden verschlossen, und wir beten zu den Göttern um Schutz.“
„Zu welchen Göttern?“, fragte unser Priester argwöhnisch. Offenbar wollte er sichergehen, dass wir es nicht mit Häresie zu tun hatten.
„Allen“, sagte der Dorfälteste. „Besonders zu der weißen Flamme.“ Und damit wies er auf ein scheinbar uraltes, holzgeschnitztes Schild, das in stark verblasster weißer Farbe den zweischweifigen Kometen darstellte.
„Weiße Flamme?“ Priester Kettler runzelte die Stirn. „Das ist das Zeichen Sigmars! Sag mir nicht, dass du nicht weißt, wer Sigmar ist.“
„Ich bin nur ein armer, unwissender Bauer!“, beteuerte der alte Mann. „Ich weiß nicht, wie man die Götter nennt. Meine Vorfahren haben dieses Zeichen immer verehrt, aber keiner wusste zu erklären, was es bedeutet.“
Kettler seufzte und tauschte einen Blick mit meinem Vater. „Da haben wir aber eine Menge nachzuholen. Diese Leute müssen den wahren Glauben lernen, wenn ihre Seelen gerettet werden sollen.“
„Lasst gut sein, Kettler“, beschwichtigte Vater zu meiner Erleichterung. Offenbar war er hinlänglich überzeugt, dass wir es hier mit den ärmsten aller Hinterwäldler zu tun hatten, deren religiöse Ignoranz einzig der isolierten Lage ihres Wohnorts geschuldet war. „Erzähl mir mehr über das Böse, das hier umgeht“, verlangte er stattdessen von dem Dorfältesten. „Was habt ihr gesehen? Was könnt ihr mit eigenen Augen bezeugen?“
Statt einer Antwort erhob sich der Älteste mühsam, ging hinüber zu einem der fest geschlossenen Fenster, löste zwei morsche Riegel und öffnete es. Durch den unverglasten Ausschnitt konnten wir den jenseitigen Wald sehen, und zwischen den Bäumen, vielleicht eine halbe Meile entfernt, den dunklen Umriss einer Turmruine.
„Das Böse kommt von dort“, erklärte der Alte. „Von dem schwarzen Turm im Wald.“
„Was ist das für ein Turm?“, fragte mein Vater. „Erzähl mir davon.“
„Einst wohnte dort der Baron, dem dieses Dorf fronpflichtig war. Mein Großvater hat mir davon erzählt, doch auch er wusste es nur von seinem Großvater. Es muss mehr als hundert Jahre her sein. Der Baron starb ohne Erben… oder vielmehr: Er verschwand eines Tages, und seitdem stand der Turm leer und verfiel. Niemand wagte sich in seine Nähe, denn alle glaubten, dass es dort spukt.“ Der Alte unterbrach sich, um wieder zu seinem Sitzplatz zu wanken und sich mit knirschenden Gelenken darauf niederzulassen. „Doch der Turm ist nicht mehr verlassen. Seit einigen Jahren schon kann man in der Nacht Lichter sehen, die aus den Fenstern scheinen… flackernde, gespenstische Lichter. Manchmal hört man auch Schreie von dort, und sie klingen nicht, als stammten sie von menschlichen Wesen. Dann begannen Tiere zu verschwinden: Ziegen, Schweine, einmal sogar eine Kuh. Irgendjemand schleppte sie im Dunkel der Nacht davon. Stets hörten wir die Hunde winseln und jaulen, als hätten sie furchtbare Angst. Auch ein Kind ist verschwunden, und letztes Jahr verschwand der junge Frederick, als er in der Dämmerung noch hinausging, um Wasser vom Brunnen zu holen. Seine jüngere Schwester wollte ihn zurückhalten, doch es gelang ihr nicht. Sie sagte, er habe einen ganz glasigen Blick gehabt und sich wie unter einem Bann bewegt.“
„Und ihr glaubt, dass all dies mit dem Turm zu tun hat?“, forschte Vater weiter.
„Das glauben wir, denn am Morgen nach jedem Verschwinden fanden wir Spuren, die in den Wald hineinführten, immer in Richtung des Turms. Mal waren es nur Schleifspuren, aber einmal fand mein ältester Sohn auch Fußabdrücke… von etwas Großem, größer als ein Mensch, mit vier klauenförmigen Zehen.“ Er schauderte.
„Damit dürfte der Fall klar sein“, sagte Vater und wandte sich an unsere Truppe. „Wir haben gefunden, was wir suchten: Den ersten greifbaren Verdacht auf einen Ort, der gesäubert werden muss. Dies wird unser Auftrag sein.“
„Geht nicht dorthin!“, warnte eine alte Frau, die bislang stumm in einer Ecke gekauert hatte und nun erschrocken auffuhr. „Es wäre euer Tod! Der schwarze Turm verschlingt jeden, der ihm zu nahe kommt. Wenn man sich ihm nähert, spürt man eine seltsame Schwäche am ganzen Leib, und der Blick trübt sich wie von Nebel.“
„Woher weißt du das, Frau?“, fragte Vater scharf. „Warst du dort?“
„Ich?“ Die Frau machte ein entsetztes Gesicht. „Um aller Götter Willen, nein! Aber es wird so erzählt. Ich weiß es von meiner Mutter, und diese wusste es von ihrer Mutter.“
„Wir werden sehen, ob an diesen Gerüchten etwas dran ist“, beschied Vater knapp. „Nicht selten wird der wahre Schrecken noch durch Aberglauben vermehrt.“
„Ihr wollt also wirklich dorthin gehen?“, fragte der Dorfälteste, ebenfalls mit Grauen im Blick, aber auch mit einer Spur von Hoffnung. „Glaubt ihr denn, dass ihr das Böse besiegen könnt?“
„Ihr wisst wenig, alter Mann“, entgegnete Vater. „In zivilisierteren Gegenden der Welt verfügt man über Waffen, von denen ihr keine Vorstellung habt. Waffen aus Stahl, Waffen des Geistes, Waffen des Glaubens. Ich bin ein Inquisitor, und das bedeutet, dass es mein Amt ist, das Böse in jeglicher Form aufzustöbern und auszumerzen. Alle meine Gefährten besitzen Erfahrung in solchen Dingen, und unser Priester beherrscht mächtige Bannsprüche. Wenn das nicht hilft…“ Er zog eine seiner Pistolen, die von den Dorfleuten mit großen Augen bestaunt wurde. „…dann tut es auch eine Silberkugel.“
„Oder ein Pfeil mit silberner Spitze“, fügte ich hinzu und klopfte auf meine Armbrust.
Vater warf mir einen stolzen Seitenblick zu, bevor er sich wieder an die Dorfleute wandte.
„Also schöpft Hoffnung! Wir werden zu jenem Turm gehen und, was immer dort lauert, stellen und bekämpfen. Morgen früh brechen wir auf - wenn ihr gewillt seid, uns für die Nacht Obdach zu geben."
"Mein Haus ist Euer Haus", erklärte der Alte demütig. "Wir haben wenig zu essen und können Euch kaum etwas anbieten außer Hirsebrei, doch sollt Ihr in Ehren unsere Gäste sein."
Das genügte Vater, und er gab Helmuth und Zacharias Anweisung, unser Gepäck vom Wagen zu laden.
In der Nacht werden wir Wachen aufstellen. Sigmar gebe, dass bis morgen früh alles ruhig bleibt...