Nun wissen die Hexenjäger, womit sie es zu tun haben...
Dariya kämpfte mit den Tränen, als der Scheiterhaufen entzündet wurde. Sie hatten beschlossen, sowohl den gefallenen Zeloten als auch den Hund zu verbrennen, denn es erschien ihnen zu gefährlich, die sterblichen Überreste in sylvanischer Erde zu begraben. Zu viele Zombies und Todeswölfe hatten ihnen demonstriert, wie unruhig die Toten – Mensch oder Tier – in diesem verfluchten Land schliefen. Den Zeloten hatte Dariya kaum gekannt, und sie empfand ein etwas schlechtes Gewissen, weil sie mehr um den Hund trauerte. Frido war ein langjähriger Kampfgefährte gewesen, und mehr als einmal hatte er sie vor Gefahren gewarnt und ihr dadurch das Leben gerettet. Frado, sein Gefährte, machte einen ähnlich bedrückten Eindruck: Er hatte sich zu Dariyas Füßen niedergelassen und die Schnauze zwischen die Pfoten gelegt, während sich die Glut des Feuers in seinen braunen Hundeaugen spiegelte.
Es war ein trauriger Morgen. Gerade erst hatte sich die Gruppe von Zacharias getrennt, dessen erneute schwere Verletzung es ihm unmöglich machte, weiter am Kampf teilzunehmen. Ansgar hatte beschlossen, ihn mit dem Fuhrwerk nach Leicheberg zurückzuschicken, begleitet von zweien der Zeloten. In der Stadt gab es einen Bader, der sich gegen angemessene Bezahlung um ihn kümmern würde. Der alte Kämpe hatte sich nur widerwillig in sein Schicksal ergeben, doch er hatte keine Wahl gehabt. Seine Brustverletzung war zu schwer. Sie hatten ihn mit einer Bahre auf den Wagen heben müssen, und seine letzten Worte waren gewesen: „Tut mir einen Gefallen. Tötet diese Bestie!“… womit er das Monstrum meinte, das ihn niedergeschlagen hatte.
Seine Stelle wurde nun von Martin eingenommen, einem jungen Mann aus dem Dorf, der sich in der vergangenen Nacht durch seinen Mut ausgezeichnet hatte. Natürlich war er kein geübter Kämpfer, und es würde Zeit und Mühe kosten, bis er ein Schwert handzuhaben verstand. Vorläufig erhielt er eine Axt und einen Schild, weil damit leichter umzugehen war, und Helmuth und Dariya trainierten ihn abwechselnd. Auch eine Weste und einen Hut aus dem Bestand der Hexenjäger hatte er bekommen, und damit sah er schon fast wie ein Rekrut der stirländischen Staatstruppen aus. Auf den Hut war er in kindlicher Weise stolz, denn einen derartigen Kopfschmuck gab es bei den Dorfleuten nicht. Gegenüber den Hexenjägern blieb er schüchtern, fast unterwürfig. Als Ansgar ihm den Amtseid abgenommen hatte, war er auf die Knie gefallen, und wenn Priester Kettler ihn in die Lehren des Sigmarkults einführte, hörte er gesenkten Hauptes zu und merkte sich jedes Wort. Sein Eifer mochte größer sein als seine Kampfkraft; dennoch respektierten ihn alle und begrüßten seine Rekrutierung. Lediglich die Familie des jungen Mannes war wenig begeistert, denn wahrscheinlich ahnten sie, dass Martin das Dorf mit den Hexenjägern verlassen würde, wenn die Bedrohung vorüber war – vorausgesetzt, sie waren siegreich und er blieb am Leben.
Am Mittag berief Ansgar ein Treffen ein, zu dem nur seine engsten Mitstreiter geladen waren: Dariya, Helmuth und der Priester. Sie trafen sich ein Stück abseits des Dorfes, denn der Inquisitor wollte keine Zuhörer. Man sah ihm an, dass er etwas Ernstes mitzuteilen hatte, das nicht für aller Ohren bestimmt war.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, womit wir es zu tun haben“, eröffnete er seinen Gefährten, als sie sich auf den Mauerresten einer abgerissenen Scheune niedergelassen hatten. „Schon länger hatte ich diesen Verdacht, aber nachdem sich der Anführer unserer Feinde erstmals gezeigt hat, zweifle ich nicht mehr.“
„Ich habe ihn nicht deutlich gesehen“, sagte Dariya. „Er war wie in Schatten gehüllt, und er bewegte sich unnatürlich schnell… nicht wie ein Mensch.“
Ansgar nickte. „Es ist ein Vampir.“
Dem folgte beklommenes Schweigen. Keiner der Anwesenden hatte es je mit einem leibhaftigen Vampir zu tun gehabt. Bei früheren Aufträgen hatten sie es schon mit den verschiedensten Gegnern aufgenommen: Abtrünnigen Magiern, Chaoskultisten, Hexenzirkeln und Ghoulmeuten. Selten hatte es sich um Untote gehandelt, und wenn, dann war in der Regel ein menschlicher Nekromant die Quelle des Übels gewesen. Natürlich wussten alle, was es mit Vampiren auf sich hatte, weil das zur Grundausbildung aller Hexenjäger gehörte, doch dieses Wissen war rein theoretischer Natur.
„Ich wäre jede Wette eingegangen, dass es sich um einen Nekromanten handelt“, sagte der Priester. „Ruchlos und mächtig… aber lebendig. Ist es nicht untypisch für einen Vampir, sich an einem so einsamen Ort mitten im Wald zu verbergen? Würde er nicht ständig Opfer brauchen, deren Blut er aussaugen kann? Aus dem Dorf sind zwar Leute verschwunden, aber nur sehr wenige und über einen Zeitraum von vielen Jahren.“
„Richtig“, bestätigte Ansgar. „Und eben deshalb glaube ich, dass es sich um eine besondere Art von Vampir handelt – eine Art, die äußerst selten ist, und deren Existenz von manchen sogar bestritten wird. Ich selbst hatte Zweifel… bis gestern Nacht.“
„Dann sag uns doch, was du vermutest“, bat Dariya.
Ansgar seufzte. „Das muss ich wohl, damit ihr versteht, womit wir es zu tun haben. Doch ich muss euch warnen: Sprecht mit den anderen nicht darüber – das werde ich selbst tun, falls es sich als notwendig erweist. Bis dahin sollten sie nicht unnötig geängstigt werden. Das Wissen, das ich jetzt mit euch teilen muss, gehört zu den Dingen, die man selbst den Anwärtern unseres heiligen Ordens nur offenbart, wenn es unumgänglich ist. Habt ihr je von den
Necrarch gehört?“
„Das ist ein Name, der mir hier und dort in den alten Schriften begegnet ist“, sagte der Priester. „Aber nirgends wurde erklärt, was sich dahinter verbirgt.“
„Aus gutem Grund. Ihr wisst sicherlich alle, dass man die Vampire nach der Abstammung klassifiziert, in der sie einander durch das scheußliche Ritual des Blutkusses verbunden sind?“
Die drei Zuhörer nickten einträchtig.
„Und ihr kennt die verschiedenen Blutlinien?“
„Einige zumindest“, sagte Dariya, die sich an ihre Lehrstunden erinnerte und ihrem Vater beweisen wollte, dass sie eine aufmerksame Schülerin gewesen war. „Da ist zunächst einmal die Linie der von Carsteins, der einstmals herrschenden Dynastie in Sylvania.“
Ansgar lächelte anerkennend. „Kriegst du sie noch zusammen?“
„Vlad, Konrad, und… Manfred“, memorierte Dariya nach kurzem Nachdenken. „Alle drei bedrängten das Imperium mit Krieg. Aber das war vor vierhundert Jahren, und seitdem hat man nichts mehr von ihnen gehört. Vlad fiel vor den Toren von Altdorf, Konrad in der Schlacht von Grimmmoor und Manfred bei Hel Fenn.“
„Sehr gut“, lobte ihr Vater. „Doch es gibt noch andere Blutlinien. Wenn die uralten Dokumente im Tempel zu Altdorf die Wahrheit berichten, dann entstand der Vampirismus vor Tausenden von Jahren im Wüstenreich Nehekhara, und zwar unter der Ägide einer bösen Königin, deren Name vergessen ist. Ihr Gefolge floh, als sie besiegt wurde, und zerstreute sich über die gesamte Welt. Einige dieser Verfluchten sind namentlich bekannt, zum Beispiel Abhorash, der die Linie der Blutdrachen begründete, oder Ushoran, der Herrscher des untergegangenen Strigos.
Einen Vampir jedoch gab es, über den sehr wenig bekannt ist. Die Sage nennt ihn Wsoran oder Vysoran. Er soll ein großer Magier gewesen sein, und am tiefsten in das verbotene Wissen jenes Großen Verfluchten eingeweiht, dessen Namen wir nie aussprechen.“
Alle wussten, dass von Nagash, dem unsterblichen Meisternekromanten die Rede war.
„Wsoran“, fuhr Ansgar fort, „hatte nur wenige Anhänger, und noch weniger erhielten den Blutkuss von ihm. Man nannte sie die Necrarch, die Meisterzauberer unter den Vampiren. Viele Historiker glauben, sie seien im Lauf der Jahrtausende ausgestorben, und andere bezweifeln, dass es sie jemals gab. Doch was ich in den vergangenen Tagen gesehen habe, passt zu dem Wenigen, was über die Necrarch bekannt ist. Sie sind die seltenste, aber wahrscheinlich die gefährlichste Blutlinie der Vampire. Dabei sind sie weder Kämpfer noch Feldherren, führen keine Kriege und mischen sich nicht in die Geschicke der sterblichen Reiche ein.“
„Was macht sie dann so gefährlich?“, staunte Helmuth.
„Ihre Meisterschaft in der Magie. Sie verbringen ihr endloses Leben damit, die Geheimnisse der Schwarzen Kunst zu studieren, und in dieser Disziplin übertreffen sie andere Vampire ebenso wie alle sterblichen Zauberer, die Anbeter der dunklen Götter eingeschlossen. Sie nehmen nur selten Blut zu sich, denn ihre magischen Fähigkeiten erlauben es ihnen, Jahre oder gar Jahrzehnte ohne Nahrung auszukommen. Tatsächlich versuchen sie, den Blutdurst gänzlich zu besiegen. Doch das heißt nicht etwa, dass sie weniger Schaden anrichten. Wenn sie es nämlich so weit bringen sollten, keine lebenden Opfer mehr zu brauchen, wäre ihr eigentliches Ziel in Reichweite: Die Vernichtung allen Lebens auf der Welt. Die Necrarch verfolgen die Vision des Großen Verfluchten: Sie wollen eine Welt erschaffen, in der es nur noch Untote gibt, und die zu einer kalten, doch immerwährenden Ordnung erstarrt. Um dies zu erreichen, ziehen sie sich an die entlegensten Orte jenseits aller Zivilisation zurück, brüten über uralten Schriftrollen und forschen nach den mächtigsten und verheerendsten Zaubern. Von ihren verdorbenen Horten breiten sich Seuchen und giftige Miasmen aus, um alles Lebendige im Umkreis zu vernichten. Gleichzeitig schützen sie ihre Verstecke durch magische Bannsprüche und Illusionen, sodass sie schwer zu entdecken sind.“
Die Zuhörer schauderten. Es war Dariya, die sich als erste wieder fasste.
„Du glaubst also, dass es ein Necrarch ist, weil er seinen Turm durch einen magischen Bann schützt?“
„Nicht nur deshalb“, sagte Ansgar. „Auch alles andere, was wir gesehen haben, passt dazu. Ein Necrarch ist kein Krieger, wenn auch immer noch stärker und gewandter als jeder Mensch. Er wird sich verborgen halten und seine Diener vorschicken, während er selbst sich eher auf magische Mittel verlässt und nur selten persönlich in einen Kampf eingreift. Meist verfügt er über einen kleinen Kader menschlicher Diener, die er mit einer Mischung aus Autorität, Schmeichelei und magischer Kontrolle gefügig macht. Wir haben solche Diener gesehen: Entstellte, verwachsene und dennoch eindeutig lebende Menschen, die ihrem Meister mit fanatischer Hingabe hörig sind.“
„Und dieses riesige Monstrum?“, warf der Priester ein. „Das aussieht, als wäre es aus Teilen verschiedener Kreaturen zusammengesetzt?“
„Auch das passt zu meiner Vermutung. Die Necrarch sind nämlich nicht nur Magier, sondern auch die Gelehrten und Forscher unter den Vampiren. Sie studieren die Sterne, die Alchemie, die Anatomie und sogar die Medizin, auch wenn sie all ihr Wissen nur für dunkle Zwecke gebrauchen. Es heißt, dass zu ihrer Vision einer leblosen Welt auch neue, von ihnen selbst erschaffene Geschöpfe gehören. Sie flicken sie aus Leichenteilen und Tierkadavern zusammen und erwecken sie mittels Magie zu einer untoten Existenz. Solche Konstrukte vermögen sie ebenso leicht ihrem Willen zu unterwerfen wie ganze Horden von Zombies und Skelettkriegern. All das haben wir gesehen, und es lässt nur den Schluss zu, dass unser Feind ein uralter Schüler des Wsoran ist - einer, der jenen finsteren Turm in Besitz genommen hat und von dort aus seine scheußlichen Kreationen verbreitet.“
Wieder schwiegen alle eine Weile, um das Gehörte zu verarbeiten.
„Wenn es so ist“, setzte Helmuth schließlich an, „wie bekämpfen wir ihn dann?“
„Wir haben einen Vorteil“, sagte Ansgar. „Ein Necrarch liebt die Ruhe und Zurückgezogenheit, in der er sich seinen magischen Studien widmen kann. Er wird seinen Turm nur verlassen, wenn es unbedingt nötig ist. Am Tag wird er in seinem Sarg ruhen und die Verteidigung seinen Dienern überlassen. Er ist wie die Spinne, die in ihrem Netztrichter hockt und nur hervorkommt, wenn sie entweder leichte Beute machen kann oder bedroht wird. Das können wir ausnutzen. Wir müssen ihn in seinem Turm belagern, seine Diener dezimieren und ihm keine Ruhe gönnen. Irgendwann wird er hervorkommen, und auf diesen Augenblick müssen wir hinarbeiten.“
„Aber wie?“, fragte der Priester. „Der Bann, der seinen Turm umgibt, schwächt uns, und meine Gebete vermögen diesen Zauber nicht aufzuheben.“
„Ich weiß. Deshalb müssen wir seine Diener aus dem Bannkreis herauslocken. Einen nach dem anderen müssen wir sie ausschalten, bis nur noch er selber übrig ist. Dann muss er sich stellen, und allein wird selbst
er es nicht mit unserer ganzen Truppe aufnehmen können… das hoffe ich wenigstens.“
„Wir könnten seine Diener aus der Entfernung beschießen“, schlug Dariya vor. „Ich habe in den letzten Tagen ständig trainiert und kann jetzt schneller nachladen als je zuvor. Damit könnten wir sie aus dem Bannkreis herauslocken.“
„Genau daran hatte ich gedacht“, bestätigte ihr Vater. „Und wir müssen es bei Tageslicht tun, damit wir bessere Sicht haben und der Vampir sich vorläufig nicht einmischen kann.“
„Ich kann auch recht gut mit einem Bogen schießen“, ergänzte Helmuth. „Es widerstrebt mir zwar, aus feigem Abstand kämpfen, aber im Moment ist das wohl unsere beste Chance.“
„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Dariya und griff nach ihrer Armbrust.