Carendra erwachte. Es war ein widerstrebendes Erwachen, wie der Aufstieg aus unermesslichen Tiefen schwarzen Wassers. Der Wunsch, in der Ruhe der Leere zu verweilen, war stark und wich nur allmählich dem Auftrieb. Es war, als wäre ihr Körper wie eine Gussform ausgehöhlt und mit geschmolzenem Blei gefüllt. Doch der Vorgang war unaufhaltsam. Langsam driftete sie der Oberfläche entgegen, berührte sie, durchstieß sie.
Sie fand sich auf kaltem Stein liegend, ausgestreckt in vollkommener Dunkelheit. Weit und breit war kein Licht zu sehen, keine brennende Fackel, nicht einmal eine Kerze. Ihre Augenlider flackerten, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Wo war sie? Wo waren ihre Krieger? Wo ihre Dienerinnen?
Sie versuchte sich aufzusetzen. Es war schwerer als erwartet. Fast glaubte sie, ihre eigenen Gelenke wie trockene Äste knirschen zu hören. Wie lange hatte sie schon hier gelegen? Es war beißend kalt, also konnten es eigentlich nur wenige Stunden gewesen sein; andernfalls wäre sie erfroren. Dunkel erinnerte sie sich, geträumt zu haben. Ein seltsamer Traum war es gewesen, in dem sie durch finstere Tunnel und Gewölbe geirrt war, ruhelos, voller Trauer, und zugleich voller Hass. Doch warum nur? Warum?
Beklommen tastete sie ihren Körper ab, soweit ihre steifen Finger es erlaubten. Der Leinenstoff ihrer Kleidung war rau und rissig; die ledernen Aufsätze noch intakt, wenngleich hart und spröde wie nach Jahren ohne Pflege. Ihre nackte Haut fühlte sich seltsam kalt an, als hätte sie die gleiche Temperatur wie die umgebende Leere. Dennoch fror Carendra nicht. Sie konnte überhaupt kein Gefühl in sich entdecken, weder Hitze noch Kälte, weder Hunger noch Durst – nur die Trauer und den bitteren Zorn, dessen Grund sie vergessen hatte.
Erst allmählich stellte sie fest, dass die Dunkelheit nicht mehr undurchdringlich war. Der schwarze Nebel vor ihren Augen verzog sich. Sie konnte sehen, obwohl nirgends eine Lichtquelle auszumachen war. Nackte Wände tauchten aus dem Nichts hervor, hier und dort von modrigen Holzbalken gestützt. Einige der Wände trugen zerschlissene Behänge, auf denen vor Zeiten einmal Bilddarstellungen geprangt hatten. Nun waren sie völlig ausgeblichen und unkenntlich. An eine Wand war eine Lanze gelehnt, daneben ein halb vermoderter Schild. Links von Carendras Ruheplatz stand ein erloschenes Kohlebecken, dessen Kohlen schon lange zu Staub zerfallen waren. Und rechts von ihr…
Plötzlich stürzte die Erinnerung auf sie herein, und ihrer trockenen Kehle entrang sich ein heiseres Stöhnen. Nun wusste sie wieder, wo sie war. Dieser Ort war das Grab: die finstere Kammer unter dem Hügel. Sie erinnerte sich an den Grund ihrer Trauer… und an den Grund ihres Hasses.
Der unbekannte Gott hatte sein Wort gehalten. Er hatte sie wiedererweckt – doch nach wie langer Zeit? Draußen in der Welt mochten Jahre vergangen sein, vielleicht sogar Jahrzehnte. War alles so geschehen, wie die Stimme aus dem Wolkenwirbel ihr versprochen hatte?
Sie wandte sich zur Seite, hoffte zu sehen, was jetzt ihr einziger Gedanke war, hoffte es inbrünstig.
Da lag er neben ihr: König Comran, ihr Geliebter und Gatte, ausgestreckt auf seinem Totenbett. Er trug Rüstung und Helm wie am Tag seiner Grablegung, das Schwert an der Seite.
„Comran!“ Sie hätte erschrecken müssen beim veränderten Klang ihrer eigenen Stimme, doch die Sorge um den Geliebten vertrieb jede andere Empfindung.
Ungestüm warf Carendra sich über ihn, riss den Helm fort – und erstarrte. Was zurückblickte, war nur ein Schädel, überspannt von einer Restschicht pergamentdünner Haut. Die Augenhöhlen waren leer, und die Zähne bleckten aus lippenlosen Kiefern. Das Haar, einst blond und schulterlang, war zu einem Haufen farbloser Spinnfäden zerfallen.
„Comran?“
Vorsichtig umfasste sie seinen Kopf, rüttelte ihn, verharrte in banger Erwartung. Eine Weile geschah nichts. Dann aber glommen in den schwarzen Augenhöhlen zwei rötliche Lichter auf. Ein Zittern lief durch den skelettierten Körper, und der fleischlose Mund öffnete sich. Was herauskam, war nicht mehr als ein Laut, wie eine rostige Kette ihn erzeugt hätte: Ein dumpfes Knirschen ohne Sinn und Artikulation.
Carendra wich zurück, von Schrecken erfüllt. Sie hatte erwartet, seine vertrauten Züge zu sehen, vielleicht gealtert und vom Leiden gezeichnet, doch immer noch die seinen: Die hohe und stolze Stirn, das seelenvolle Nachtblau der Augen, den energisch geschwungenen Mund in seiner Einfassung aus seidigen Bartlocken. Doch nichts von alldem war geblieben. Verzweifelt sagte sie sich vor, dass es vielleicht einige Zeit dauern würde, bis sein Körper sich auf die gleiche Weise regenerierte wie der ihre. Sie glitt von dem Steintisch herab, trat einen Schritt zurück, wartete mit klopfendem Herzen – oder glaubte es zumindest, denn dass ihr Herz nicht mehr schlug, war ihr noch nicht zu Bewusstsein gekommen.
Doch nichts geschah. Der Leichnam ruhte unverändert, die roten Lichter in seinen Augenhöhlen zur Decke gerichtet. Dann ein Knacken: Er hob seine dürren Finger, tastete fahrig in der Luft und fand schließlich den Griff seines Schwertes. Ganz langsam, wie an Fäden gezogen, richtete er sich zu einer sitzenden Stellung auf und drehte den Kopf in Carendras Richtung. Er blickte sie an – doch kein Erkennen lag in seinem Blick.
„Comran?“, flüsterte Carendra betroffen. „Liebster! Hörst du mich?“
Der Skelettkönig verharrte stumm.
„Steh doch auf!“
Er tat es, doch wie ein seelenloser Automat. Unbeholfen schwang er die Beine von dem Steintisch, auf dem er gelegen hatte. Dabei fiel seine Brustplatte herab, landete scheppernd am Boden und entblößte den fleischlosen Rippenkorb. Es war nichts mehr darin: kein Herz, keine Lunge; alle inneren Organe waren verschwunden.
„Nein…“, flüsterte Carendra entsetzt. „Bitte, nein! Es darf nicht sein!“
Erneut wandte er ihr das Gesicht zu, das kein Gesicht mehr war: Eine Ruine aus Knochen und Resten vertrockneter Haut. Dann machte er einen schwankenden Schritt in ihre Richtung.
„Nein!“, wiederholte Carendra lauter.
Sofort erstarrte der Skelettkönig. Offenbar verstand er ihre Befehle – doch nur seine Knochen gehorchten. In seinem Innern war nichts mehr: Kein Blut, kein Gefühl, keine Erinnerung.
Carendra wollte es nicht glauben. Sie heulte auf vor Schmerz. Sie lief zu ihm, schlang die Arme um ihn. Wieder und wieder rief sie ihn beim Namen, drückte und drängte, flehte und schmeichelte, erinnerte ihn an Dinge, die sie einst miteinander getan hatten, und von denen nur er und sie wissen konnten. Doch alles, was sie umfasste, waren seine blanken Knochen, und weder sprach er, noch ließ das fahle Licht in seinen Augen irgendeine Form von Verständnis erkennen.
In diesem Moment begriff Carendra, dass all ihre Hoffnungen vergeblich gewesen waren. Ihr Geliebter würde nicht zu ihr zurückkehren – niemals. Sein Fleisch und seine Seele waren vergangen, und nur noch seine leere Hülle stand vor ihr. Nie wieder würde er sie im Arm halten, nie wieder würde sie sich an seine breite Brust schmiegen und seinen Herzschlag spüren.
Die Erkenntnis traf sie wie der Schlag eines gewaltigen Hammers.
„Großer Rabe!“, schrie sie zur Decke hinauf, über der sich der Grabhügel erhob, und ihre Stimme ließ das Erdreich beben und das Gras unter dem Mond erzittern. „Namenloser Gott! Du hast mich betrogen!“
Es sollte noch einige Zeit dauern, bis sie begriff, dass der Dämon die Abmachung auf seine Weise erfüllt hatte. Nicht die Erneuerung einstigen Glücks hatte er ihr versprochen, sondern
Rache – und die sollte sie bekommen.
Es war ein Fehler gewesen, höheren Mächten zu vertrauen – das sah Carendra nun ein. Sie erinnerte sich an die Warnung, die ein Schamane ihres Stammes ausgesprochen hatte: Die Götter waren launisch. Manchmal gaben sie den Sterblichen, was diese erbaten, doch stets auf unvorhersehbare Weise, und nicht selten zu ihrem Schaden.
Etwas Derartiges musste auch hier geschehen sein. Dass sie selbst von diesem Fluch nicht gänzlich verschont worden war, konnte sie bald feststellen, da zu ihren Grabbeigaben auch ein Spiegel gehört hatte. Die silberne Einfassung war schwarz angelaufen und das Glas von Staub bedeckt, doch als sie es blankwischte und ihr Spiegelbild sah, erkannte sie den Preis, den zu zahlen sie verdammt war. Nicht, dass ihre einstige Schönheit vergangen gewesen wäre: Ihre Züge waren immer noch die gleichen wie am Tage ihres Todes, und auch ihr Haar wallte überreich wie einst. Sie allein, von allen Toten in diesem Hügel, hatte ihren Körper behalten. Ihre Haut jedoch hatte die Farbe von totem Holz angenommen, und ihre Augen waren schwarz geworden wie Onyxe. Eine Totenkönigin war sie nun, und obwohl ihre Gebeine noch immer mit Fleisch und Haut bekleidet waren und nichts von ihren betörenden Formen eingebüßt hatten, wäre jeder lebende Mensch schreiend vor ihr davongelaufen. Unter dieser fahlen Haut strömte kein Blut mehr, und unter den täuschend straffen Brüsten schlug kein Herz.
Allen anderen war weder Haut noch Fleisch geblieben. Sie überzeugte sich davon, als sie durch die dunklen Gänge eilte und ihre Krieger zu sich rief.
„Zu mir! Zu mir! Hört eure Königin!“
Das Höhlensystem, in dessen Mitte sich das Königsgrab befand, war weitläufig und verwinkelt wie ein Labyrinth. Nahezu sechshundert Menschen waren hier bestattet worden, doch keineswegs alle hörten Carendras Ruf. Viele der Toten regten sich überhaupt nicht. Über anderen bildete sich nur eine Wolke aus bläulich schimmerndem Dunst, während die Knochen liegenblieben. Es waren die wenigsten, die sich aufrichteten: Skelettierte Krieger in Rüstungen aus grünfleckiger Bronze, mit schartigen Klingen und zerbeulten Schilden in den Knochenhänden. Offenbar waren sie alle im gleichen Zustand wie der König: Auch in ihren Schädeln glommen schwache Lichter anstelle der Augen, und auch von ihnen schien kein einziger zu wissen, wer er war und wo er sich befand.
Sie waren zurückgekehrt, und sie würden ihrem Befehl gehorchen. Doch alles, was einst an Stolz und Mut, an Selbstbewusstsein und Persönlichkeit in ihnen gewesen war, schien unwiederbringlich verloren. Carendra kommandierte eine Armee seelenloser Toter.
Sie sammelten sich um sie: Gerüstete Skelette in den verschiedensten Stadien des Verfalls, manche mit fehlenden Gliedern oder gespaltenen Schädeln, alle jedoch mit irgendeiner Waffe, mochte sie auch noch so schadhaft sein. Zwei Hauptleuten traten hervor und neigten die Köpfe vor ihr, beide in Reste lederner Schuppenpanzer gehüllt. Selbst einige der bläulichen Wolken hatten sich zu sichtbaren Gestalten verdichtet: Körperlose Geister mit nebelhaften Gliedmaßen und unkenntlichen Gesichtern. Wahrscheinlich waren es diejenigen, deren Körper in der Schlacht so schwer geschädigt worden waren, dass ihre zerbrochenen Knochen sie nicht mehr trugen.
Auch König Comran hatte sich zu ihnen gesellt, und wie alle anderen starrte er auf seine Königin. Er erwartete ihre Befehle. Carendras Herz besaß nicht mehr die Fähigkeit, sich schmerzhaft zusammenzuziehen, doch eine ähnliche Empfindung durchkrampfte ihren toten Körper: Nichts als tiefer Schmerz bewegte sie beim Anblick des für alle Ewigkeit verlorenen Geliebten.
Doch der Schmerz ging in einem anderen Bedürfnis auf: Dem nach Rache. Der Zauber hatte gewirkt, wenn auch nicht auf die erhoffte Weise – und dies bedeutete, dass Feinde nahten. Sie hatten es also tatsächlich gewagt, das uralte Stammland des Königs zu betreten: Die dreisten Diener des Sigmar, dieses dreimal verfluchten Emporkömmlings, der ihre Armee so vernichtend geschlagen hatte.
Zorn war besser als Schmerz, dachte Carendra. Den betrügerischen Gott konnte sie nicht bestrafen – wohl aber jene Feinde, die diese ganze Katastrophe ausgelöst hatten.
Ihr Tod sollte den Zorn kühlen, den Schmerz betäuben, all diesem Schrecken einen Sinn geben.
„Sie sind eingetroffen“, sagte Carendra. „Die Diener unserer Feinde.“ Sie wusste nicht, ob ihre stummen Skelettkrieger sie verstanden; dennoch sprach sie weiter. „Und eingetroffen ist auch der Tag der Vergeltung. Öffnet den Eingang des Hügels und zieht hinaus! Zahlt ihnen heim, was sie euch angetan haben – und was sie
mir angetan haben! Schont keinen von ihnen!“
Einen Moment lang verharrten die Skelette, und die Lichter in ihren Augen glommen trübe. Dann aber setzten sich die beiden Hauptleute in Bewegung und wandten sich dem Tunnel zu, der zum Eingang des Grabhügels führte. Die anderen schlossen sich in Zweiergruppen an, mit rostigem Scheppern ihrer Rüstungen marschierend.
Comran blieb stehen und hielt den Blick auf seine Königin gerichtet.
„Du sollst sie anführen“, sagte Carendra, trat unwillkürlich näher und legte eine Hand an seine kalte Wange. „Und diesmal gehe ich mit dir.“