Besuch beim Bürgermeister
Der Bürgermeister - ein kleiner und etwas korpulenter, doch sehr höflicher Mann - empfing den Inquisitor in seiner Amtsstube, begleitet von Helmuth, Dariya und Martin. Er bot seinen Gästen Wein an und war sichtlich bemüht, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen. Dariya fand sein Verhalten fast ein wenig zu beflissen. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein städtischer Beamter sich den Bevollmächtigten der Kirche gegenüber unterwürfig zeigte, doch dieser Mann überschlug sich geradezu vor Eilfertigkeit.
„Warum habt Ihr mich zu Euch gerufen?“, fragte Ansgar, der offenbar den gleichen Eindruck hatte. „Als wir vor vier Wochen hier ankamen, habt Ihr uns nicht einmal begrüßt, geschweige denn in Euer Haus eingeladen.“
Der Bürgermeister nickte schuldbewusst. „Ich bitte Euch um Verzeihung“, sagte er, „doch Ihr müsst verstehen, dass ich… nun ja… seinerzeit ein wenig besorgt war. Die Ankunft eines Inquisitors in einer Stadt ist selten ein Anlass zur Freude. Viele meiner Mitbürger befürchteten, es würde eine Untersuchung geben: Denunziationen, Verhöre, Anklagen…“
„Gibt es denn etwas in Eurer Stadt, das eine Anklage rechtfertigen würde?“, fragte Ansgar misstrauisch.
„Keineswegs!“, beeilte sich der kleine Mann zu versichern. „Aber sicher wisst Ihr, dass manche Eurer Amtskollegen stets irgendetwas anzuklagen finden. Kurz: Alle hatten Angst. Doch statt hier in der Stadt Untersuchungen anzustellen, seid ihr fortgezogen, und nun kehrt ihr nach einer ganzen Reihe wahrer Heldentaten zurück. Wir erwarteten kaum, Euch lebend wiederzusehen, und erst recht nicht mit derartigen Erfolgen. Stimmt es, was die Leute sagen, dass Ihr einen leibhaftigen Vampir besiegt habt?“
„In der Tat“, bestätigte Ansgar. „Und einige der armen Leute, die unter seinem Schatten lebten, haben sich unseren Reihen angeschlossen.“ Er wies auf Martin und Odo.
„Eben deshalb habe ich Euch rufen lassen“, sagte der Bürgermeister. „Ich sehe wohl, dass Ihr… wenn ich so sagen darf… eine besondere Art von Inquisitor seid. Bitte vergebt mir und meinen Bürgern unser anfängliches Misstrauen. Dass Ihr Euren Edelmut so eindrucksvoll bewiesen habt, ermutigt mich, mit einem… ähm…
Problem an Euch heranzutreten, dass ich vormals nicht zu erwähnen wagte.“
Ansgar verschränkte die Arme und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Sicher wisst Ihr über Ghoule bescheid“, vermutete der Bürgermeister.
„Natürlich! Leichenfresser. Nachkommen blasphemischer Menschen, die sich am Fleisch der Toten vergriffen. Ist
das Euer Problem?“
„Diese Plage ist in Sylvania leider weit verbreitet“, sagte der Bürgermeister. „Dies ist ein armes Land. Es regnet das halbe Jahr über; die Böden sind karg, und die verschlammten Felder bringen wenig Frucht. An vielen Orten gibt es Hungersnöte. Ist es da ein Wunder, dass manche Menschen in ihrer Verzweiflung…“
„Lieber sollten sie verhungern, als sich der Ketzerei des Leichenfraßes hinzugeben!“, beschied Ansgar streng.
„Gewiss, gewiss“, stimmte der Bürgermeister eilig zu. „Und ich versichere Euch, dass so etwas in meiner Stadt nie vorgekommen ist, seit ich dieses Amt verwalte. Unser Stadtfriedhof jedoch wird schon seit Menschengedenken von Ghoulen heimgesucht. Wir glauben, dass sie sich zur Zeit der schrecklichen Vampirkriege dort eingenistet haben. Wie Ihr sicher wisst, wurden damals alle Priester des Morr aus dem Land vertrieben, sodass niemand mehr über die Toten wachte. Seidem wurde mehrmals versucht, die Leichenfresser auszurotten, doch es ist nie gelungen. Der Friedhof, müsst Ihr wissen, liegt ein gutes Stück außerhalb der Stadt und ist sehr groß, da er vor Jahrhunderten zu Zeiten der Schwarzen Pest angelegt wurde. Es gibt dort weitläufige Katakomben, und die Männer, die zu ihrer Säuberung ausgesandt wurden, kehrten nie zurück. Mein Vorgänger schickte sogar ein Petitionsschreiben an den Grafen von Waldenhof und bat um Truppen, um des Übels Herr zu werden. Doch erhielt er, wie ich leider sagen muss, nie eine Antwort.“
Ansgar nickte düster. „Das erstaunt mich nicht. Der Graf von Waldenhof ist zwar offiziell Verwalter von Sylvania, doch es ist bekannt, dass er seinem Amt wenig Ehre macht. Er sitzt bequem in seiner Burg nördlich des Stir und ist froh, wenn er das Land nicht betreten muss.“
„Eben deshalb mussten wir lernen, uns mit der Lage abzufinden“, fuhr der Bürgermeister fort. „Mittlerweile hält sich niemand mehr länger als ein paar Minuten auf dem Friedhof auf, und erst recht ist keiner bereit, die Aufgaben eines Totengräbers zu übernehmen. Man schafft die Leichen zwar dorthin, bedeckt sie aber nur symbolisch mit ein wenig Erde und macht sich dann so schnell wie möglich wieder davon.“
Ansgar runzelte die Brauen. „Wollt Ihr sagen, dass die Toten nicht einmal ordentlich begraben werden? Dass Ihr sie den Ghoulen freiwillig zum Fraß überlasst?“
Der Bürgermeister ließ den Kopf hängen. „Es ist schrecklich, ich weiß. Doch niemand lässt sich bewegen, länger als nötig auf dem Friedhof zu verweilen, nicht für alles Gold in der Stadtkasse.“
„Ihr
füttert diese Ungeheuer also!“, stellte Ansgar fest und legte die Hand auf eine der Pistolen an seinem Gürtel. „Das ist Ketzerei! Sagt mir, was mich hindern sollte, Euch dafür zur Rechenschaft zu ziehen.“
„Bitte, Herr Inquisitor!“, flehte der kleine Mann, „lasst mich erklären! Bereits zu Zeiten meines Vorgängers wurde der Versuch gemacht, die Toten andernorts zu bestatten oder sie zu verbrennen. Man hoffte, die Leichenfresser damit auszuhungern. Doch es erwies sich als verhängnisvoll.“
„Inwiefern?“ Der Inquisitor begann, unruhig auf und ab zu gehen, wobei er den Bürgermeister scharf im Auge behielt. „Sprecht!“
„Die Ghoule begannen, in die Stadt einzudringen“, erklärte der Verhörte, der sich vor Unbehagen und Schuldbewusstsein noch kleiner machte, als er ohnehin schon war. „Als sie keine Leichen mehr bekamen, gingen sie dazu über, Vieh von den Weiden zu stehlen und in Ställe einzudringen, um Ziegen und Schafe zu rauben. Doch es kam noch schlimmer. Ghoule sind zwar feige, doch auch findig; ganz ähnlich wie Ratten. Sie fanden Wege in die Häuser: durch offene Fenster, Kamine oder gar durch Abortgruben. Sie verschleppten wehrlose Kinder, stahlen Säuglinge aus ihren Wiegen! Binnen Kurzem war die ganze Stadt in Aufruhr. Eine Abordnung der Bürger erschien bei meinem Vorgänger und verlangte, man solle um Sigmars Willen zu der früheren Bestattungspraxis zurückkehren. Lieber sollten die Ghoule wieder die Toten fressen, statt sich an lebenden Kindern zu vergreifen. Was hätte mein Vorgänger anderes tun sollen, als dem begreiflichen Anliegen der Menschen stattzugeben? Mehrere Mütter fielen vor ihm auf die Knie und flehten unter Tränen, dieses Grauen zu beenden.“
„Und seitdem fahrt Ihr fort, Eure Toten diesen Bestien zum Fraß vorzuwerfen?“
„So entsetzlich es ist – wir sahen keine andere Möglichkeit“, gestand der Bürgermeister. „Wir haben uns notgedrungen damit abgefunden, dass unseren Leibern die Totenruhe verwehrt ist. Jeder in dieser Stadt weiß, welch schreckliches Schicksal sein Fleisch erwartet, wenn der Geist daraus entflohen ist.“
„Nun verstehe ich, warum Ihr mir all das nicht schon bei meiner Ankunft eröffnet habt“, sagte Ansgar mit finsterer Miene. „Zu recht hättet Ihr befürchten müssen, dass man Euch für diesen Frevel den Prozess macht.“
„Bitte versteht mich doch! Eben Euretwegen haben wir wieder Hoffnung, zum ersten Mal seit Generationen! Ihr habt bewiesen, dass Eure wahre Berufung darin liegt, die Quellen des Bösen zu bekämpfen, statt nur möglichst viele Menschen auf den Scheiterhaufen zu bringen. Ihr könntet diese Stadt retten! Richtet mich, wenn Ihr wollt – doch was würde es nützen? Die Plage würde weiter bestehen; selbst wenn ihr diese ganze Stadt niederbrennen und alle Bürger töten würdet.“
Ansgar kämpfte sichtlich mit seinem Zorn. Noch immer hatte er eine Hand auf den Knauf seiner Pistole gelegt. Es war Dariya, die ihrem Vater unvermutet in den Arm fiel.
„Er hat recht“, sagte sie. „Die Leute haben aus Verzweiflung gehandelt, nicht aus bösem Willen. Wir sollten Ihnen helfen, meinst du nicht?“
„Vermutlich wäre es nicht einmal schwer“, unterstützte sie Helmuth. „Verglichen mit dem, was wir bereits geschafft haben, wäre ein Häuflein Ghoule doch ein Kinderspiel. Solche Kreaturen sind vernunftlose Bestien und tragen nicht einmal Waffen.“
„Ich danke Euch für Eure Fürsprache, edle Jungfer“, sagte der Bürgermeister mit einem demütigen Aufblick zu Dariya. „Doch ich fürchte, dass Euer Kampfgefährte im Irrtum ist. Die Aktivitäten dieser Ghoule lassen vermuten, dass es viele sind… sehr viele… und dass sie kühner und gerissener sind, als diese Kreaturen gewöhnlich zu sein pflegen.“
„Kein Wunder nach Jahrzehnten der Fütterung“, knurrte Ansgar. „Aber ich sehe ein, dass dieses Problem nicht mit dem Scheiterhaufen gelöst werden kann. - Also gut. Wir werden uns der Sache annehmen und Eurem Friedhof einen Besuch abstatten.“
„Ich danke Euch, Herr!“, seufzte der Bürgermeister erleichtert. Offenbar hatte er schon halb und halb mit der sofortigen Verhaftung gerechnet. „Ihr könnt gar nicht ermessen, zu welchem Dank Ihr mich und jeden Bürger dieser Stadt damit verpflichtet! Selbstverständlich könnt Ihr auch weiterhin unentgeltlich in unserem Gasthaus wohnen. Ich werde den Wirt anweisen, Euch mit allem zu versorgen, was Ihr braucht. Ihr sollt das beste Essen bekommen, und der Stadtarzt wird Euch jederzeit zur Verfügung stehen. Auch kann ich Eure Mühen aus der Stadtkasse entschädigen – es ist zwar nicht viel Gold vorhanden, doch wäre ich bereit, alles herzugeben.“
Ansgar winkte ab. „Ein Inquisitor nimmt keine Belohnungen an. Wir tun, was getan werden muss, und wenn es fromme Taten zu vergelten gibt, wird Herr Sigmar für den Lohn sorgen. Wenn Ihr etwas für uns tun wollt, dann macht unsere Absicht in der Stadt bekannt! Vielleicht finden sich ein paar Freiwillige, die den Mut aufbringen, unsere Reihen zu verstärken.“
„Ich werde alles dafür tun“, versicherte der Bürgermeister. „Und lasst mich wissen, wenn ich Euch die Aufgabe noch auf andere Weise erleichtern kann. Jeder Eurer Wünsche wird mir ein Befehl sein.“
Ansgar nickte nur knapp, winkte den Seinen und wandte sich zum Gehen.
* * *
„Es scheint wohl, dass wir noch ein wenig bleiben müssen“, sagte er, als sie das Haus verließen und auf die Straße hinaustraten.
„Nicht allzu lange, denke ich“, sagte Helmuth und klopfte auf das Blatt seiner großen Zweihandaxt. „Mit Ghoulen haben wir es doch schon öfter aufgenommen. Das wird kaum schwerer werden als eine Hasenjagd.“
„Der Bürgermeister scheint es anders zu sehen“, gab Dariya zu bedenken. „Wenn diese Ghoule tatsächlich den Mut haben, in bewohnte Häuser einzudringen, müssen sie ungewöhnlich dreist und stark sein.“
„Wahrscheinlich nur, weil ihnen niemand ernsthaften Widerstand entgegengesetzt hat“, meinte Helmuth zuversichtlich. „Wir sind keine verängstigten Stadtbürger, sondern erfahrene Kämpfer. Ich wette, dass wir das Problem in ein oder zwei Tagen beseitigt haben.“
„Dein Wort in Sigmars Ohr. Wie sollen wir vorgehen?“
„Ghoule verbergen sich gewöhnlich gut“, überlegte Ansgar. „Der Bürgermeister sprach von ausgedehnten Katakomben. Wahrscheinlich haben sie irgendwo dort drinnen ihren Unterschlupf. Aber wir könnten sie herauslocken. Angenommen, wir legen einen Toten auf dem Friedhof ab, wie es hier Brauch ist - natürlich nur einen scheinbaren Toten, der in Wahrheit höchst lebendig ist und seine Waffen griffbereit hat.“
„Ein Lockvogel?“ Helmuth grinste. „Gute Idee! Ich erbiete mich freiwillig, den Scheintoten zu spielen. Und wenn sie kommen, machen wir sie allesamt nieder. Wann soll es losgehen?“
„Heute abend nach Sonnenuntergang“, entschied der Inquisitor. „Ruht Euch noch ein wenig aus. Wir ziehen los, sobald der Nachtwächter seine Glocke geläutet hat.“