Hintermoor, vierzehn Meilen vor Thalheim...
Florian Hirtgruber saß in der hintersten der Bänke, die unter freiem Himmel auf dem Dorfplatz aufgestellt worden waren. Die gesamte Bevölkerung des kleinen Dörfchens Hintermoor hatte sich versammelt. Die Bauern saßen mit ihren Familien und Kindern, Mägden und Knechten auf den Bänken, die sonst nur zur Feier einer Hochzeit oder des Sonnwendfestes aufgestellt wurden. Diesmal aber gab es einen anderen Anlass, und die unerwartete Abwechslung von der Mühsal des Tagwerks war allen hochwillkommen. Einzig Florian – ohnehin ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft – nahm nicht so recht Anteil an all dem Gelächter und den Beifallsbekundungen. Er fand die Schaustellertruppe, die am Morgen überraschend im Dorf eingetroffen war, ein wenig beunruhigend.
Es war keineswegs ungewöhnlich, dass fahrende Gaukler oder Spielleute über Land zogen und hier und dort in den Ortschaften Halt machten, um ihre Künste vorzuführen. Meistens erhielten sie nur Spenden von geringem Wert, oft in Naturalien statt in Münzen, denn die Bauern waren arm. Eine Truppe wie diese jedoch hatte man in Hintermoor noch nie gesehen. Sie war ungewöhnlich reich ausgestattet und verteilte sich auf mehrere große Planwagen, die mit bunten Planen und flatternden Wimpeln geschmückt waren. Sofort war die ganze Dorfgemeinschaft zusammengelaufen; Frauen und Kinder hatten den prächtigen Aufzug mit zahllosen „Ohs“ Und „Ahs“ Bestaunt, und selbst die Männer, die auf den Feldern arbeiteten, hatten ihre Spaten und Rechen sinken lassen und sich auf dem Dorfplatz versammelt.
Die Schausteller hatten ihre Fahrzeuge abgestellt und einen besonders großen Wagen in die Mitte gerückt, dessen Seitenwand sich aufklappen ließ und eine Art Bühne bildete. Darüber stand in leuchtend grüner Schrift:
MEISTER NOSSELGRUN’S FRÖHLICHER KARNEVAL
Der genannte Meister war auf die Bühne getreten und hatte mit weithin hörbarer Stimme ein großes Schauspiel angekündigt. Seltsam war, dass seine gesamte Gestalt in eine knöchellange Robe gehüllt war, die ein launiges Muster aus roten und gelben Rauten zeigte. Zudem trug er eine Clownsmaske mit übertrieben lachendem Mund nebst einer Kapuze, sodass nichts von seinem Gesicht zu sehen war.
„Ihr guten Leute von Hintermoor!“, hatte er gerufen. „Wollet nun Eure geschätzte Aufmerksamkeit unserer bescheidenen Darbietung zuwenden, auf dass Ihr an diesem schönen Tage recht erquicket und ergötzet werdet!“
Dann waren die Schauspieler aufgetreten, auch sie in langen Gewändern und mit Masken. Sie hatten eine lustige Geschichte dargeboten: Einen Schwank, der von der seltsamen Liebe zwischen einem verwachsenen, zwergenhaften Hofnarren und einer ähnlich missgebildeten Hofköchin handelte. Das Stück mit dem Titel „Gnomeo und Ghoulia“ stammte, wie der Meister stolz verkündet hatte, von dem berühmten albionischen Dichter Wilhelm Schüttelspeer und rief ein großes Hallo und Lachsalven unter den Zuschauern hervor. Besonders gelungen fanden alle die Masken: Die männliche Hauptrolle wurde von einem zwergengroßen Darsteller gemimt, der scheinbar ein fehlendes Auge, eine riesige krumme Nase, einen schiefen Mund und eine Art Horn auf der Stirn hatte. Bei seinem Gegenpart war nicht sicher auszumachen, ob es sich tatsächlich um eine weibliche Darstellerin handelte, denn ihr Kopf wurde gänzlich von einer riesigen Perücke verdeckt, und sie sprach mit verstellter Quäkstimme. Das Stück selbst war voller grotesker Einfälle, überraschender Wendungen und Zoten, die nur Erwachsene verstanden – gerade recht für die plumpe und an eintönige Schwerarbeit gewöhnte Bauernschaft. Es wurde geklatscht, gejohlt und viel Bier getrunken, und als beide Protagonisten am Ende den Liebestod starben, weil der König ihnen aufgrund ihrer Hässlichkeit eine Eheschließung verweigerte, gab es ebenso hämischen wie stürmischen Beifall.
Ein weiteres Stück mit denselben Hauptdarstellern hatte sich angeschlossen, betitelt „Der Glöckner von Nuln und die Dame“. Beide traten mit den gleichen Masken auf wie zuvor, und es änderte sich wenig - außer dass diesmal ein stolzer Ritter eingreifen musste, um die Dame zu retten, die von dem buckligen Kirchendiener in den Glockenturm verschleppt worden war. Auch der Ritter war maskiert, aber ein wahrer Hüne von sieben Fuß Höhe, der eine riesige Axt trug.
Zwischen den Schauspielnummern zeigten verschiedene Akrobaten ihre Fähigkeiten. Da gab es einen, der zum nachhaltigen Aufstöhnen des Publikums lebendige Kröten verschlang, während ein anderer äußerst geschickt mit Gegenständen jonglierte, die wie Totenschädel aussehen – wahrscheinlich aus Holz geschnitzt und bemalt. Ein dritter schließlich erweckte gekonnt den Eindruck, als würde er mit seinen eigenen Därmen Seilspringen veranstalten. Die lachenden Bauern rätselten, wie er das wohl anstellte. Die Därme mochten vielleicht von irgendwelchen Tieren stammen, doch die Art, wie der Schausteller durch eine scheinbare Öffnung in seinen eigenen Bauch griff und sie herauszog, versetzte alle in Erstaunen. Es sah ungeheuer echt aus.
Inzwischen ging der Nachmittag dahin, und Florian Hirtgruber verspürte, ganz anders als seine Dorfgenossen, ein wachsendes Unbehagen. Irgendwie fand er die Darstellungen, die seine Nachbarn zu solcher Begeisterung hinrissen, auf eine schwer beschreibbare Weise obszön. Am Unangenehmsten war, dass das Amulett, das er seit Kindertagen um den Hals trug, sich zunehmend heiß und schwer anfühlte. Mit diesem Amulett hatte es eine besondere Bewandtnis. Als Florian noch ganz klein gewesen war, hatte ihn ein schweres Fieber heimgesucht und fast das Leben gekostet. Seine Mutter war so besorgt gewesen, dass sie mit ihm ins weit entfernte Wurtbad gepilgert war, um ihm Wasser aus dem berühmten Shallya-Brunnen einzuflößen. Ob es nun an der wundertätigen Quelle gelegen hatte oder nicht; Florian war genesen. Seine tiefgläubige Mutter war derart dankbar gewesen, dass sie all das wenige Geld, das sie besaß, der Priesterschaft Shallyas gespendet hatte. Zum Dank hatte sie dieses Amulett erhalten: Eine rundum geschlossene silberne Kapsel, in der sich – angeblich – etwas von dem wundertätigen Wasser befand. Florians Mutter freilich hatte dies nicht geholfen, denn sie war früh gestorben. Aber sie hatte ihrem einzigen Sohn das Amulett hinterlassen, dass er seitdem immer bei sich trug. Schon mehrmals war es Florian so vorgekommen, als würde die kleine Silberkugel sich erhitzen und an Gewicht zunehmen, wenn ihm Gefahr drohte. Das war zum Beispiel der Fall gewesen, als er einmal vor dem Betreten eines Waldweges zurückgeschreckt war – um später zu erfahren, dass auf eben jenem Weg nur kurz danach ein Reisender von Tiermenschen überfallen worden war. Ein andermal war die Kugel heiß geworden, als sich ein streunender Hund seiner Hütte genähert und fast die offene Tür erreicht hatte. Ein Nachbar hatte das Tier erschlagen und ihm erzählt, es habe deutliche Anzeichen der tödlichen Hundswut gezeigt.
Auch jetzt war die Kugel heiß und begann ihm unangenehm auf der Haut zu brennen. Florian überlegte, ob er einfach aufstehen und davongehen sollte. Doch niemand sonst entfernte sich: Alle starrten gebannt auf die improvisierte Bühne und erwarteten die nächste Darbietung. Es war fast, als wären die Leute hypnotisiert und stünden unter einer Art Zauber.
„Und jetzt“, rief der Meister, „bevor die Kleinen ins Bett müssen – die Kindervorstellung!“
„Jaaa!“, riefen sämtliche Kinder und klatschten begeistert.
„Ich erzähle euch“, kündigte der Meister an, „das Märchen von Hans und Grete.“
„Das kennt doch jeder!“, rief ein kleiner Junge enttäuscht.
„Aber diesmal erzählen wir es anders“, versprach der Meister, „und ihr dürft mitspielen! Ein braves kleines Mädchen und ein braver kleiner Junge dürfen an der Aufführung teilnehmen. Na – wer möchte?“
„Ich!“, „Ich!“, „Ich!“, schrien diverse Kinder und reckten die Arme.
Tut das nicht!, dachte Florian plötzlich. Ein seltsamer Impuls ergriff ihn, aufzuspringen und sich schützend vor die Kinder zu stellen. Doch am Ende tat er es nicht. Auch ihn hatte der seltsame Bann ergriffen, wenn auch vielleicht nicht so stark wie seine Dorfgenossen. Von diesen erhob kein einziger Einspruch. Auch die Eltern schienen eher stolz statt besorgt, als zwei der Kinder sich von ihnen losmachten und auf ein Zeichen des Meisters zur Bühne stürmten.
„Applaus für die mutigen Kleinen!“, rief der Meister. „Ihr seid nun Hans und Grete. Fasst euch an den Händen!“
Die Kinder taten es.
„Und nun – die Geschichte! Es waren einmal zwei kleine Kinder, die hießen Hans und Grete. Sie gingen in den tiefen Wald, und da es dunkel wurde, verirrten sie sich. Der Wald war so finster und kalt, und sie wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten…“
Hinter der Bühne, im Innern des Wagens, wurde eine Kulisse mit grob gemalten Bäumen hochgeklappt. In der Mitte war etwas wie eine Hütte angedeutet, ebenso grün wie der Wald und mit einer runden Tür versehen.
„Da kamen sie an ein Häuschen. Und das Häuschen war grün wie leckerer Waldmeister und über und über mit Beulen aus Marzipan bedeckt, und die Wände waren rissig, und hinter den Rissen konnten die Kinder leckeres Gelee erkennen, das in dicken Tropfen hervorquoll…“
Die beiden Kinder gingen Hand in Hand auf die Bühne zu und erstiegen das Podest, das vor der Wagenwand abgestellt war. Auch sie, dachte Florian, bewegten sich wie unter einem Bann.
„Und wer, glaubt ihr wohl“, deklamierte der Meister, „mag der Herr dieses schönen Häuschens sein?“
„Die Hexe!“, rief ein Mädchen auf der vordersten Bank.
„Aber nein!“, rief der Meister. „Keine Hexe!“
Die Kulisse wurde zurückgeklappt, und ein dampfender Kessel wurde sichtbar. Hinter dem Kessel saß ein Darsteller, der von Kopf bis Fuß verhüllt war und eine Maske mit aufgemaltem Grinsen trug.
„Es war ein freundlicher alter Mann, der saß über einem Kessel und braute eine gute Suppe. Und die Suppe war ganz grün von Kräutern und braun von Pilzen und gelb von Speck, und sie roch soooo würzig und köstlich! Da fragten die Kinder, ob sie von der Suppe kosten dürften, und der alte Mann war seeehr großzügig und bot ihnen an, so viel davon zu essen, wie sie nur wollten…“
Der verhüllte Darsteller überreichte den Kindern zwei Holzlöffel, und schon beugten sie sich über den Rand der Bühne, um in den Suppentopf zu langen.
Irgendetwas stimmt hier nicht!, dachte Florian zum dritten Mal. Das ist keine gewöhnliche Vorstellung, wie fahrende Gaukler sie abhalten. Ich muss hier weg… wir alle müssen weg…
Er versuchte aufzustehen – und spürte etwas wie einen lähmenden Widerstand, der ihn auf der Holzbank hielt. Die Silberkugel auf seiner Brust versengte ihm mittlerweile fast die Haut. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien, doch seine Kehle gehorchte ihm ebenso wenig wie seine Beine.
„…Und die Suppe war soooo köstlich, dass die Kinder noch tagelang bei dem freundlichen alten Mann blieben, um davon zu essen. Und als sie sich schließlich erinnerten, dass ihre besorgten Eltern auf sie warteten, da war der alte Mann sooo freigiebig, dass er ihnen etwas von der Suppe mitgab, damit sie es ihren Eltern bringen konnten…“
Genau das geschah auf der Bühne: Der vermummte Alte nahm eine Kelle, füllte zwei kleinere Gefäße mit der Suppe und reichte sie den Kindern.
„Und er gab ihnen auch Geschenke mit – schöne Geschenke! Fliiiiegende Geschenke!“
„Geschenke können doch nicht fliegen“, sagte ein Junge unter den Zuschauern altklug.
„Bist du sicher?“, fragte der Meister, zog einen Sack aus seinem Umhang und schüttelte ihn aus. Unglaublicherweise flogen daraus viele kleine Päckchen aus buntem Geschenkpapier hervor, jedes so groß wie eine Faust, geschmückt mit Schleifchen. Sie flatterten durch die Luft und summten dabei, als ob sie lebende Wesen wären.
„Ooooh!“, riefen viele Kinder begeistert, und sofort sprangen einige auf, um nach den flatternden Päckchen zu haschen. Selbst eine Katze, die dem Dorfschmied gehörte, sprang umher und begann die fliegende Beute zu jagen.
„Das ist Zauberei!“, flüsterte jemand ergriffen.
„Keine Zauberei!“, widersprach der Meister. „Es ist alles echt. Überzeugt euch! Esst von der Suppe! Fangt die Geschenke!“
Die beiden Kinder mit den Suppenschüsseln waren inzwischen zu ihren Eltern zurückgekehrt. Diese allerdings betrachteten die grünliche Flüssigkeit mit gerunzelten Brauen – und ebenso die Gesichter ihrer Zöglinge, auf denen sich kränkliche Pusteln gebildet hatten.
Dies ging jedoch in dem allgemeinen Durcheinander unter, denn überall liefen Kinder umher und versuchten, die fliegenden Geschenke einzufangen. Einigen gelang es auch. Die kleinen Kinderhände rissen das Geschenkpapier auf, und nun enthüllte sich, warum die Päckchen fliegen konnten: In jedem einzelnen befand sich eine fette schwarze Fliege, so lang wie ein Daumen, deren Flügel grünlich schimmerten.
„Au! Sie hat mich gestochen!“, wimmerte ein kleiner Junge, ließ das Papier fallen und starrte auf den Stich, der sofort anschwoll und sich schwarz färbte.
Plötzlich verwandelten sich die Begeisterungsrufe in Schmerzgebrüll. Überall schrien Kinder, und die Erwachsenen fuhren erschrocken von ihren Sitzen hoch. Dicke schwarze Fliegen bildeten eine surrende Wolke über der Versammlung.
Auch Florian spürte, wie der Bann ihn plötzlich verließ. Er sprang auf und blickte voll Entsetzen auf das Massaker, das sich vor seinen Augen abspielte. Er sah es nur sekundenlang, doch jede Einzelheit prägte sich ihm ein.
Die Schausteller hatten sich rund um den Wagen versammelt und ihre Kapuzen zurückgestrichen. Nun konnte man erkennen, dass sie keineswegs Masken trugen. Ihre Gesichter waren echt. Der verwachsene Zwerg hatte wirklich den schiefen Mund, das fehlende Auge und das Horn auf der Stirn. Seine Partnerin zog die Perücke vom Kopf, und zum Vorschein kam eine halb zerfressene Ruine von einem Gesicht, mit Löchern in den Wangen, die den Blick auf verfaulte Zähne preisgaben. Der Hüne, der den Ritter gespielt hatte, entblößte eine Schreckensfratze mit kreuz und quer stehenden Meißelzähnen und leeren Augenhöhlen voller Maden. Der Meister aber öffnete seinen Umhang, und heraus quoll ein aufgeblähter Bauch voller Schrunden und Risse, in dessen Mitte sich auf Nabelhöhe ein tentakelbewehrtes Maul öffnete. Überall summten Fliegen – und das letzte, was Florian sah, war die Katze, die eine der Fliegen erbeutet und angeknabbert hatte. Nun lag die Katze tot am Boden, die Augen starr, das Maul aufgerissen und mit grünem Schleim gefüllt.
Florian Hirtgruber fuhr herum und rannte los – fort von diesem Ort des Grauens. Er achtete nicht auf die Richtung, dachte über kein Ziel nach. Er rannte einfach, bis er ein Feld überquert hatte, den nahen Wald erreichte und sich mitten hinein stürzte. Es mochte die gesegnete Silberkugel sein, der er sein Leben verdankte, denn je weiter er sich entfernte, desto mehr kühlte sie sich ab und begann sich wieder anzufühlen wie gewöhnlich. Doch das war ein schwacher Trost. Denn Florian wusste, dass er wahrscheinlich der einzige Überlebende des Dorfes Hintermoor war, in dem er sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte. Keinen seiner Nachbarn würde er je wiedersehen, und es gab keine Heimat, in die er zurückkehren konnte. Er konnte nur rennen – so schnell und so weit fort wie möglich.
Florian Hirtgruber saß in der hintersten der Bänke, die unter freiem Himmel auf dem Dorfplatz aufgestellt worden waren. Die gesamte Bevölkerung des kleinen Dörfchens Hintermoor hatte sich versammelt. Die Bauern saßen mit ihren Familien und Kindern, Mägden und Knechten auf den Bänken, die sonst nur zur Feier einer Hochzeit oder des Sonnwendfestes aufgestellt wurden. Diesmal aber gab es einen anderen Anlass, und die unerwartete Abwechslung von der Mühsal des Tagwerks war allen hochwillkommen. Einzig Florian – ohnehin ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft – nahm nicht so recht Anteil an all dem Gelächter und den Beifallsbekundungen. Er fand die Schaustellertruppe, die am Morgen überraschend im Dorf eingetroffen war, ein wenig beunruhigend.
Es war keineswegs ungewöhnlich, dass fahrende Gaukler oder Spielleute über Land zogen und hier und dort in den Ortschaften Halt machten, um ihre Künste vorzuführen. Meistens erhielten sie nur Spenden von geringem Wert, oft in Naturalien statt in Münzen, denn die Bauern waren arm. Eine Truppe wie diese jedoch hatte man in Hintermoor noch nie gesehen. Sie war ungewöhnlich reich ausgestattet und verteilte sich auf mehrere große Planwagen, die mit bunten Planen und flatternden Wimpeln geschmückt waren. Sofort war die ganze Dorfgemeinschaft zusammengelaufen; Frauen und Kinder hatten den prächtigen Aufzug mit zahllosen „Ohs“ Und „Ahs“ Bestaunt, und selbst die Männer, die auf den Feldern arbeiteten, hatten ihre Spaten und Rechen sinken lassen und sich auf dem Dorfplatz versammelt.
Die Schausteller hatten ihre Fahrzeuge abgestellt und einen besonders großen Wagen in die Mitte gerückt, dessen Seitenwand sich aufklappen ließ und eine Art Bühne bildete. Darüber stand in leuchtend grüner Schrift:
MEISTER NOSSELGRUN’S FRÖHLICHER KARNEVAL
Der genannte Meister war auf die Bühne getreten und hatte mit weithin hörbarer Stimme ein großes Schauspiel angekündigt. Seltsam war, dass seine gesamte Gestalt in eine knöchellange Robe gehüllt war, die ein launiges Muster aus roten und gelben Rauten zeigte. Zudem trug er eine Clownsmaske mit übertrieben lachendem Mund nebst einer Kapuze, sodass nichts von seinem Gesicht zu sehen war.
„Ihr guten Leute von Hintermoor!“, hatte er gerufen. „Wollet nun Eure geschätzte Aufmerksamkeit unserer bescheidenen Darbietung zuwenden, auf dass Ihr an diesem schönen Tage recht erquicket und ergötzet werdet!“
Dann waren die Schauspieler aufgetreten, auch sie in langen Gewändern und mit Masken. Sie hatten eine lustige Geschichte dargeboten: Einen Schwank, der von der seltsamen Liebe zwischen einem verwachsenen, zwergenhaften Hofnarren und einer ähnlich missgebildeten Hofköchin handelte. Das Stück mit dem Titel „Gnomeo und Ghoulia“ stammte, wie der Meister stolz verkündet hatte, von dem berühmten albionischen Dichter Wilhelm Schüttelspeer und rief ein großes Hallo und Lachsalven unter den Zuschauern hervor. Besonders gelungen fanden alle die Masken: Die männliche Hauptrolle wurde von einem zwergengroßen Darsteller gemimt, der scheinbar ein fehlendes Auge, eine riesige krumme Nase, einen schiefen Mund und eine Art Horn auf der Stirn hatte. Bei seinem Gegenpart war nicht sicher auszumachen, ob es sich tatsächlich um eine weibliche Darstellerin handelte, denn ihr Kopf wurde gänzlich von einer riesigen Perücke verdeckt, und sie sprach mit verstellter Quäkstimme. Das Stück selbst war voller grotesker Einfälle, überraschender Wendungen und Zoten, die nur Erwachsene verstanden – gerade recht für die plumpe und an eintönige Schwerarbeit gewöhnte Bauernschaft. Es wurde geklatscht, gejohlt und viel Bier getrunken, und als beide Protagonisten am Ende den Liebestod starben, weil der König ihnen aufgrund ihrer Hässlichkeit eine Eheschließung verweigerte, gab es ebenso hämischen wie stürmischen Beifall.
Ein weiteres Stück mit denselben Hauptdarstellern hatte sich angeschlossen, betitelt „Der Glöckner von Nuln und die Dame“. Beide traten mit den gleichen Masken auf wie zuvor, und es änderte sich wenig - außer dass diesmal ein stolzer Ritter eingreifen musste, um die Dame zu retten, die von dem buckligen Kirchendiener in den Glockenturm verschleppt worden war. Auch der Ritter war maskiert, aber ein wahrer Hüne von sieben Fuß Höhe, der eine riesige Axt trug.
Zwischen den Schauspielnummern zeigten verschiedene Akrobaten ihre Fähigkeiten. Da gab es einen, der zum nachhaltigen Aufstöhnen des Publikums lebendige Kröten verschlang, während ein anderer äußerst geschickt mit Gegenständen jonglierte, die wie Totenschädel aussehen – wahrscheinlich aus Holz geschnitzt und bemalt. Ein dritter schließlich erweckte gekonnt den Eindruck, als würde er mit seinen eigenen Därmen Seilspringen veranstalten. Die lachenden Bauern rätselten, wie er das wohl anstellte. Die Därme mochten vielleicht von irgendwelchen Tieren stammen, doch die Art, wie der Schausteller durch eine scheinbare Öffnung in seinen eigenen Bauch griff und sie herauszog, versetzte alle in Erstaunen. Es sah ungeheuer echt aus.
Inzwischen ging der Nachmittag dahin, und Florian Hirtgruber verspürte, ganz anders als seine Dorfgenossen, ein wachsendes Unbehagen. Irgendwie fand er die Darstellungen, die seine Nachbarn zu solcher Begeisterung hinrissen, auf eine schwer beschreibbare Weise obszön. Am Unangenehmsten war, dass das Amulett, das er seit Kindertagen um den Hals trug, sich zunehmend heiß und schwer anfühlte. Mit diesem Amulett hatte es eine besondere Bewandtnis. Als Florian noch ganz klein gewesen war, hatte ihn ein schweres Fieber heimgesucht und fast das Leben gekostet. Seine Mutter war so besorgt gewesen, dass sie mit ihm ins weit entfernte Wurtbad gepilgert war, um ihm Wasser aus dem berühmten Shallya-Brunnen einzuflößen. Ob es nun an der wundertätigen Quelle gelegen hatte oder nicht; Florian war genesen. Seine tiefgläubige Mutter war derart dankbar gewesen, dass sie all das wenige Geld, das sie besaß, der Priesterschaft Shallyas gespendet hatte. Zum Dank hatte sie dieses Amulett erhalten: Eine rundum geschlossene silberne Kapsel, in der sich – angeblich – etwas von dem wundertätigen Wasser befand. Florians Mutter freilich hatte dies nicht geholfen, denn sie war früh gestorben. Aber sie hatte ihrem einzigen Sohn das Amulett hinterlassen, dass er seitdem immer bei sich trug. Schon mehrmals war es Florian so vorgekommen, als würde die kleine Silberkugel sich erhitzen und an Gewicht zunehmen, wenn ihm Gefahr drohte. Das war zum Beispiel der Fall gewesen, als er einmal vor dem Betreten eines Waldweges zurückgeschreckt war – um später zu erfahren, dass auf eben jenem Weg nur kurz danach ein Reisender von Tiermenschen überfallen worden war. Ein andermal war die Kugel heiß geworden, als sich ein streunender Hund seiner Hütte genähert und fast die offene Tür erreicht hatte. Ein Nachbar hatte das Tier erschlagen und ihm erzählt, es habe deutliche Anzeichen der tödlichen Hundswut gezeigt.
Auch jetzt war die Kugel heiß und begann ihm unangenehm auf der Haut zu brennen. Florian überlegte, ob er einfach aufstehen und davongehen sollte. Doch niemand sonst entfernte sich: Alle starrten gebannt auf die improvisierte Bühne und erwarteten die nächste Darbietung. Es war fast, als wären die Leute hypnotisiert und stünden unter einer Art Zauber.
„Und jetzt“, rief der Meister, „bevor die Kleinen ins Bett müssen – die Kindervorstellung!“
„Jaaa!“, riefen sämtliche Kinder und klatschten begeistert.
„Ich erzähle euch“, kündigte der Meister an, „das Märchen von Hans und Grete.“
„Das kennt doch jeder!“, rief ein kleiner Junge enttäuscht.
„Aber diesmal erzählen wir es anders“, versprach der Meister, „und ihr dürft mitspielen! Ein braves kleines Mädchen und ein braver kleiner Junge dürfen an der Aufführung teilnehmen. Na – wer möchte?“
„Ich!“, „Ich!“, „Ich!“, schrien diverse Kinder und reckten die Arme.
Tut das nicht!, dachte Florian plötzlich. Ein seltsamer Impuls ergriff ihn, aufzuspringen und sich schützend vor die Kinder zu stellen. Doch am Ende tat er es nicht. Auch ihn hatte der seltsame Bann ergriffen, wenn auch vielleicht nicht so stark wie seine Dorfgenossen. Von diesen erhob kein einziger Einspruch. Auch die Eltern schienen eher stolz statt besorgt, als zwei der Kinder sich von ihnen losmachten und auf ein Zeichen des Meisters zur Bühne stürmten.
„Applaus für die mutigen Kleinen!“, rief der Meister. „Ihr seid nun Hans und Grete. Fasst euch an den Händen!“
Die Kinder taten es.
„Und nun – die Geschichte! Es waren einmal zwei kleine Kinder, die hießen Hans und Grete. Sie gingen in den tiefen Wald, und da es dunkel wurde, verirrten sie sich. Der Wald war so finster und kalt, und sie wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten…“
Hinter der Bühne, im Innern des Wagens, wurde eine Kulisse mit grob gemalten Bäumen hochgeklappt. In der Mitte war etwas wie eine Hütte angedeutet, ebenso grün wie der Wald und mit einer runden Tür versehen.
„Da kamen sie an ein Häuschen. Und das Häuschen war grün wie leckerer Waldmeister und über und über mit Beulen aus Marzipan bedeckt, und die Wände waren rissig, und hinter den Rissen konnten die Kinder leckeres Gelee erkennen, das in dicken Tropfen hervorquoll…“
Die beiden Kinder gingen Hand in Hand auf die Bühne zu und erstiegen das Podest, das vor der Wagenwand abgestellt war. Auch sie, dachte Florian, bewegten sich wie unter einem Bann.
„Und wer, glaubt ihr wohl“, deklamierte der Meister, „mag der Herr dieses schönen Häuschens sein?“
„Die Hexe!“, rief ein Mädchen auf der vordersten Bank.
„Aber nein!“, rief der Meister. „Keine Hexe!“
Die Kulisse wurde zurückgeklappt, und ein dampfender Kessel wurde sichtbar. Hinter dem Kessel saß ein Darsteller, der von Kopf bis Fuß verhüllt war und eine Maske mit aufgemaltem Grinsen trug.
„Es war ein freundlicher alter Mann, der saß über einem Kessel und braute eine gute Suppe. Und die Suppe war ganz grün von Kräutern und braun von Pilzen und gelb von Speck, und sie roch soooo würzig und köstlich! Da fragten die Kinder, ob sie von der Suppe kosten dürften, und der alte Mann war seeehr großzügig und bot ihnen an, so viel davon zu essen, wie sie nur wollten…“
Der verhüllte Darsteller überreichte den Kindern zwei Holzlöffel, und schon beugten sie sich über den Rand der Bühne, um in den Suppentopf zu langen.
Irgendetwas stimmt hier nicht!, dachte Florian zum dritten Mal. Das ist keine gewöhnliche Vorstellung, wie fahrende Gaukler sie abhalten. Ich muss hier weg… wir alle müssen weg…
Er versuchte aufzustehen – und spürte etwas wie einen lähmenden Widerstand, der ihn auf der Holzbank hielt. Die Silberkugel auf seiner Brust versengte ihm mittlerweile fast die Haut. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien, doch seine Kehle gehorchte ihm ebenso wenig wie seine Beine.
„…Und die Suppe war soooo köstlich, dass die Kinder noch tagelang bei dem freundlichen alten Mann blieben, um davon zu essen. Und als sie sich schließlich erinnerten, dass ihre besorgten Eltern auf sie warteten, da war der alte Mann sooo freigiebig, dass er ihnen etwas von der Suppe mitgab, damit sie es ihren Eltern bringen konnten…“
Genau das geschah auf der Bühne: Der vermummte Alte nahm eine Kelle, füllte zwei kleinere Gefäße mit der Suppe und reichte sie den Kindern.
„Und er gab ihnen auch Geschenke mit – schöne Geschenke! Fliiiiegende Geschenke!“
„Geschenke können doch nicht fliegen“, sagte ein Junge unter den Zuschauern altklug.
„Bist du sicher?“, fragte der Meister, zog einen Sack aus seinem Umhang und schüttelte ihn aus. Unglaublicherweise flogen daraus viele kleine Päckchen aus buntem Geschenkpapier hervor, jedes so groß wie eine Faust, geschmückt mit Schleifchen. Sie flatterten durch die Luft und summten dabei, als ob sie lebende Wesen wären.
„Ooooh!“, riefen viele Kinder begeistert, und sofort sprangen einige auf, um nach den flatternden Päckchen zu haschen. Selbst eine Katze, die dem Dorfschmied gehörte, sprang umher und begann die fliegende Beute zu jagen.
„Das ist Zauberei!“, flüsterte jemand ergriffen.
„Keine Zauberei!“, widersprach der Meister. „Es ist alles echt. Überzeugt euch! Esst von der Suppe! Fangt die Geschenke!“
Die beiden Kinder mit den Suppenschüsseln waren inzwischen zu ihren Eltern zurückgekehrt. Diese allerdings betrachteten die grünliche Flüssigkeit mit gerunzelten Brauen – und ebenso die Gesichter ihrer Zöglinge, auf denen sich kränkliche Pusteln gebildet hatten.
Dies ging jedoch in dem allgemeinen Durcheinander unter, denn überall liefen Kinder umher und versuchten, die fliegenden Geschenke einzufangen. Einigen gelang es auch. Die kleinen Kinderhände rissen das Geschenkpapier auf, und nun enthüllte sich, warum die Päckchen fliegen konnten: In jedem einzelnen befand sich eine fette schwarze Fliege, so lang wie ein Daumen, deren Flügel grünlich schimmerten.
„Au! Sie hat mich gestochen!“, wimmerte ein kleiner Junge, ließ das Papier fallen und starrte auf den Stich, der sofort anschwoll und sich schwarz färbte.
Plötzlich verwandelten sich die Begeisterungsrufe in Schmerzgebrüll. Überall schrien Kinder, und die Erwachsenen fuhren erschrocken von ihren Sitzen hoch. Dicke schwarze Fliegen bildeten eine surrende Wolke über der Versammlung.
Auch Florian spürte, wie der Bann ihn plötzlich verließ. Er sprang auf und blickte voll Entsetzen auf das Massaker, das sich vor seinen Augen abspielte. Er sah es nur sekundenlang, doch jede Einzelheit prägte sich ihm ein.
Die Schausteller hatten sich rund um den Wagen versammelt und ihre Kapuzen zurückgestrichen. Nun konnte man erkennen, dass sie keineswegs Masken trugen. Ihre Gesichter waren echt. Der verwachsene Zwerg hatte wirklich den schiefen Mund, das fehlende Auge und das Horn auf der Stirn. Seine Partnerin zog die Perücke vom Kopf, und zum Vorschein kam eine halb zerfressene Ruine von einem Gesicht, mit Löchern in den Wangen, die den Blick auf verfaulte Zähne preisgaben. Der Hüne, der den Ritter gespielt hatte, entblößte eine Schreckensfratze mit kreuz und quer stehenden Meißelzähnen und leeren Augenhöhlen voller Maden. Der Meister aber öffnete seinen Umhang, und heraus quoll ein aufgeblähter Bauch voller Schrunden und Risse, in dessen Mitte sich auf Nabelhöhe ein tentakelbewehrtes Maul öffnete. Überall summten Fliegen – und das letzte, was Florian sah, war die Katze, die eine der Fliegen erbeutet und angeknabbert hatte. Nun lag die Katze tot am Boden, die Augen starr, das Maul aufgerissen und mit grünem Schleim gefüllt.
Florian Hirtgruber fuhr herum und rannte los – fort von diesem Ort des Grauens. Er achtete nicht auf die Richtung, dachte über kein Ziel nach. Er rannte einfach, bis er ein Feld überquert hatte, den nahen Wald erreichte und sich mitten hinein stürzte. Es mochte die gesegnete Silberkugel sein, der er sein Leben verdankte, denn je weiter er sich entfernte, desto mehr kühlte sie sich ab und begann sich wieder anzufühlen wie gewöhnlich. Doch das war ein schwacher Trost. Denn Florian wusste, dass er wahrscheinlich der einzige Überlebende des Dorfes Hintermoor war, in dem er sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte. Keinen seiner Nachbarn würde er je wiedersehen, und es gab keine Heimat, in die er zurückkehren konnte. Er konnte nur rennen – so schnell und so weit fort wie möglich.