Der Turm des Necrarch: Eine Kampagne nach Mordheim-Regeln in Sylvania

Hintermoor, vierzehn Meilen vor Thalheim...

F
lorian Hirtgruber saß in der hintersten der Bänke, die unter freiem Himmel auf dem Dorfplatz aufgestellt worden waren. Die gesamte Bevölkerung des kleinen Dörfchens Hintermoor hatte sich versammelt. Die Bauern saßen mit ihren Familien und Kindern, Mägden und Knechten auf den Bänken, die sonst nur zur Feier einer Hochzeit oder des Sonnwendfestes aufgestellt wurden. Diesmal aber gab es einen anderen Anlass, und die unerwartete Abwechslung von der Mühsal des Tagwerks war allen hochwillkommen. Einzig Florian – ohnehin ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft – nahm nicht so recht Anteil an all dem Gelächter und den Beifallsbekundungen. Er fand die Schaustellertruppe, die am Morgen überraschend im Dorf eingetroffen war, ein wenig beunruhigend.

Es war keineswegs ungewöhnlich, dass fahrende Gaukler oder Spielleute über Land zogen und hier und dort in den Ortschaften Halt machten, um ihre Künste vorzuführen. Meistens erhielten sie nur Spenden von geringem Wert, oft in Naturalien statt in Münzen, denn die Bauern waren arm. Eine Truppe wie diese jedoch hatte man in Hintermoor noch nie gesehen. Sie war ungewöhnlich reich ausgestattet und verteilte sich auf mehrere große Planwagen, die mit bunten Planen und flatternden Wimpeln geschmückt waren. Sofort war die ganze Dorfgemeinschaft zusammengelaufen; Frauen und Kinder hatten den prächtigen Aufzug mit zahllosen „Ohs“ Und „Ahs“ Bestaunt, und selbst die Männer, die auf den Feldern arbeiteten, hatten ihre Spaten und Rechen sinken lassen und sich auf dem Dorfplatz versammelt.

Die Schausteller hatten ihre Fahrzeuge abgestellt und einen besonders großen Wagen in die Mitte gerückt, dessen Seitenwand sich aufklappen ließ und eine Art Bühne bildete. Darüber stand in leuchtend grüner Schrift:

MEISTER NOSSELGRUN’S FRÖHLICHER KARNEVAL

Der genannte Meister war auf die Bühne getreten und hatte mit weithin hörbarer Stimme ein großes Schauspiel angekündigt. Seltsam war, dass seine gesamte Gestalt in eine knöchellange Robe gehüllt war, die ein launiges Muster aus roten und gelben Rauten zeigte. Zudem trug er eine Clownsmaske mit übertrieben lachendem Mund nebst einer Kapuze, sodass nichts von seinem Gesicht zu sehen war.

„Ihr guten Leute von Hintermoor!“, hatte er gerufen. „Wollet nun Eure geschätzte Aufmerksamkeit unserer bescheidenen Darbietung zuwenden, auf dass Ihr an diesem schönen Tage recht erquicket und ergötzet werdet!“

Dann waren die Schauspieler aufgetreten, auch sie in langen Gewändern und mit Masken. Sie hatten eine lustige Geschichte dargeboten: Einen Schwank, der von der seltsamen Liebe zwischen einem verwachsenen, zwergenhaften Hofnarren und einer ähnlich missgebildeten Hofköchin handelte. Das Stück mit dem Titel „Gnomeo und Ghoulia“ stammte, wie der Meister stolz verkündet hatte, von dem berühmten albionischen Dichter Wilhelm Schüttelspeer und rief ein großes Hallo und Lachsalven unter den Zuschauern hervor. Besonders gelungen fanden alle die Masken: Die männliche Hauptrolle wurde von einem zwergengroßen Darsteller gemimt, der scheinbar ein fehlendes Auge, eine riesige krumme Nase, einen schiefen Mund und eine Art Horn auf der Stirn hatte. Bei seinem Gegenpart war nicht sicher auszumachen, ob es sich tatsächlich um eine weibliche Darstellerin handelte, denn ihr Kopf wurde gänzlich von einer riesigen Perücke verdeckt, und sie sprach mit verstellter Quäkstimme. Das Stück selbst war voller grotesker Einfälle, überraschender Wendungen und Zoten, die nur Erwachsene verstanden – gerade recht für die plumpe und an eintönige Schwerarbeit gewöhnte Bauernschaft. Es wurde geklatscht, gejohlt und viel Bier getrunken, und als beide Protagonisten am Ende den Liebestod starben, weil der König ihnen aufgrund ihrer Hässlichkeit eine Eheschließung verweigerte, gab es ebenso hämischen wie stürmischen Beifall.

Ein weiteres Stück mit denselben Hauptdarstellern hatte sich angeschlossen, betitelt „Der Glöckner von Nuln und die Dame“. Beide traten mit den gleichen Masken auf wie zuvor, und es änderte sich wenig - außer dass diesmal ein stolzer Ritter eingreifen musste, um die Dame zu retten, die von dem buckligen Kirchendiener in den Glockenturm verschleppt worden war. Auch der Ritter war maskiert, aber ein wahrer Hüne von sieben Fuß Höhe, der eine riesige Axt trug.

Zwischen den Schauspielnummern zeigten verschiedene Akrobaten ihre Fähigkeiten. Da gab es einen, der zum nachhaltigen Aufstöhnen des Publikums lebendige Kröten verschlang, während ein anderer äußerst geschickt mit Gegenständen jonglierte, die wie Totenschädel aussehen – wahrscheinlich aus Holz geschnitzt und bemalt. Ein dritter schließlich erweckte gekonnt den Eindruck, als würde er mit seinen eigenen Därmen Seilspringen veranstalten. Die lachenden Bauern rätselten, wie er das wohl anstellte. Die Därme mochten vielleicht von irgendwelchen Tieren stammen, doch die Art, wie der Schausteller durch eine scheinbare Öffnung in seinen eigenen Bauch griff und sie herauszog, versetzte alle in Erstaunen. Es sah ungeheuer echt aus.

Inzwischen ging der Nachmittag dahin, und Florian Hirtgruber verspürte, ganz anders als seine Dorfgenossen, ein wachsendes Unbehagen. Irgendwie fand er die Darstellungen, die seine Nachbarn zu solcher Begeisterung hinrissen, auf eine schwer beschreibbare Weise obszön. Am Unangenehmsten war, dass das Amulett, das er seit Kindertagen um den Hals trug, sich zunehmend heiß und schwer anfühlte. Mit diesem Amulett hatte es eine besondere Bewandtnis. Als Florian noch ganz klein gewesen war, hatte ihn ein schweres Fieber heimgesucht und fast das Leben gekostet. Seine Mutter war so besorgt gewesen, dass sie mit ihm ins weit entfernte Wurtbad gepilgert war, um ihm Wasser aus dem berühmten Shallya-Brunnen einzuflößen. Ob es nun an der wundertätigen Quelle gelegen hatte oder nicht; Florian war genesen. Seine tiefgläubige Mutter war derart dankbar gewesen, dass sie all das wenige Geld, das sie besaß, der Priesterschaft Shallyas gespendet hatte. Zum Dank hatte sie dieses Amulett erhalten: Eine rundum geschlossene silberne Kapsel, in der sich – angeblich – etwas von dem wundertätigen Wasser befand. Florians Mutter freilich hatte dies nicht geholfen, denn sie war früh gestorben. Aber sie hatte ihrem einzigen Sohn das Amulett hinterlassen, dass er seitdem immer bei sich trug. Schon mehrmals war es Florian so vorgekommen, als würde die kleine Silberkugel sich erhitzen und an Gewicht zunehmen, wenn ihm Gefahr drohte. Das war zum Beispiel der Fall gewesen, als er einmal vor dem Betreten eines Waldweges zurückgeschreckt war – um später zu erfahren, dass auf eben jenem Weg nur kurz danach ein Reisender von Tiermenschen überfallen worden war. Ein andermal war die Kugel heiß geworden, als sich ein streunender Hund seiner Hütte genähert und fast die offene Tür erreicht hatte. Ein Nachbar hatte das Tier erschlagen und ihm erzählt, es habe deutliche Anzeichen der tödlichen Hundswut gezeigt.

Auch jetzt war die Kugel heiß und begann ihm unangenehm auf der Haut zu brennen. Florian überlegte, ob er einfach aufstehen und davongehen sollte. Doch niemand sonst entfernte sich: Alle starrten gebannt auf die improvisierte Bühne und erwarteten die nächste Darbietung. Es war fast, als wären die Leute hypnotisiert und stünden unter einer Art Zauber.

„Und jetzt“, rief der Meister, „bevor die Kleinen ins Bett müssen – die Kindervorstellung!“

„Jaaa!“, riefen sämtliche Kinder und klatschten begeistert.

„Ich erzähle euch“, kündigte der Meister an, „das Märchen von Hans und Grete.“

„Das kennt doch jeder!“, rief ein kleiner Junge enttäuscht.

„Aber diesmal erzählen wir es anders“, versprach der Meister, „und ihr dürft mitspielen! Ein braves kleines Mädchen und ein braver kleiner Junge dürfen an der Aufführung teilnehmen. Na – wer möchte?“

„Ich!“, „Ich!“, „Ich!“, schrien diverse Kinder und reckten die Arme.

Tut das nicht!, dachte Florian plötzlich. Ein seltsamer Impuls ergriff ihn, aufzuspringen und sich schützend vor die Kinder zu stellen. Doch am Ende tat er es nicht. Auch ihn hatte der seltsame Bann ergriffen, wenn auch vielleicht nicht so stark wie seine Dorfgenossen. Von diesen erhob kein einziger Einspruch. Auch die Eltern schienen eher stolz statt besorgt, als zwei der Kinder sich von ihnen losmachten und auf ein Zeichen des Meisters zur Bühne stürmten.

„Applaus für die mutigen Kleinen!“, rief der Meister. „Ihr seid nun Hans und Grete. Fasst euch an den Händen!“

Die Kinder taten es.

„Und nun – die Geschichte! Es waren einmal zwei kleine Kinder, die hießen Hans und Grete. Sie gingen in den tiefen Wald, und da es dunkel wurde, verirrten sie sich. Der Wald war so finster und kalt, und sie wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten…“

Hinter der Bühne, im Innern des Wagens, wurde eine Kulisse mit grob gemalten Bäumen hochgeklappt. In der Mitte war etwas wie eine Hütte angedeutet, ebenso grün wie der Wald und mit einer runden Tür versehen.

„Da kamen sie an ein Häuschen. Und das Häuschen war grün wie leckerer Waldmeister und über und über mit Beulen aus Marzipan bedeckt, und die Wände waren rissig, und hinter den Rissen konnten die Kinder leckeres Gelee erkennen, das in dicken Tropfen hervorquoll…“

Die beiden Kinder gingen Hand in Hand auf die Bühne zu und erstiegen das Podest, das vor der Wagenwand abgestellt war. Auch sie, dachte Florian, bewegten sich wie unter einem Bann.

„Und wer, glaubt ihr wohl“, deklamierte der Meister, „mag der Herr dieses schönen Häuschens sein?“

„Die Hexe!“, rief ein Mädchen auf der vordersten Bank.

„Aber nein!“, rief der Meister. „Keine Hexe!“

Die Kulisse wurde zurückgeklappt, und ein dampfender Kessel wurde sichtbar. Hinter dem Kessel saß ein Darsteller, der von Kopf bis Fuß verhüllt war und eine Maske mit aufgemaltem Grinsen trug.

„Es war ein freundlicher alter Mann, der saß über einem Kessel und braute eine gute Suppe. Und die Suppe war ganz grün von Kräutern und braun von Pilzen und gelb von Speck, und sie roch soooo würzig und köstlich! Da fragten die Kinder, ob sie von der Suppe kosten dürften, und der alte Mann war seeehr großzügig und bot ihnen an, so viel davon zu essen, wie sie nur wollten…“

Der verhüllte Darsteller überreichte den Kindern zwei Holzlöffel, und schon beugten sie sich über den Rand der Bühne, um in den Suppentopf zu langen.

Irgendetwas stimmt hier nicht!, dachte Florian zum dritten Mal. Das ist keine gewöhnliche Vorstellung, wie fahrende Gaukler sie abhalten. Ich muss hier weg… wir alle müssen weg…

Er versuchte aufzustehen – und spürte etwas wie einen lähmenden Widerstand, der ihn auf der Holzbank hielt. Die Silberkugel auf seiner Brust versengte ihm mittlerweile fast die Haut. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien, doch seine Kehle gehorchte ihm ebenso wenig wie seine Beine.

„…Und die Suppe war soooo köstlich, dass die Kinder noch tagelang bei dem freundlichen alten Mann blieben, um davon zu essen. Und als sie sich schließlich erinnerten, dass ihre besorgten Eltern auf sie warteten, da war der alte Mann sooo freigiebig, dass er ihnen etwas von der Suppe mitgab, damit sie es ihren Eltern bringen konnten…“

Genau das geschah auf der Bühne: Der vermummte Alte nahm eine Kelle, füllte zwei kleinere Gefäße mit der Suppe und reichte sie den Kindern.

„Und er gab ihnen auch Geschenke mit – schöne Geschenke! Fliiiiegende Geschenke!“

„Geschenke können doch nicht fliegen“, sagte ein Junge unter den Zuschauern altklug.

„Bist du sicher?“, fragte der Meister, zog einen Sack aus seinem Umhang und schüttelte ihn aus. Unglaublicherweise flogen daraus viele kleine Päckchen aus buntem Geschenkpapier hervor, jedes so groß wie eine Faust, geschmückt mit Schleifchen. Sie flatterten durch die Luft und summten dabei, als ob sie lebende Wesen wären.

„Ooooh!“, riefen viele Kinder begeistert, und sofort sprangen einige auf, um nach den flatternden Päckchen zu haschen. Selbst eine Katze, die dem Dorfschmied gehörte, sprang umher und begann die fliegende Beute zu jagen.

„Das ist Zauberei!“, flüsterte jemand ergriffen.

„Keine Zauberei!“, widersprach der Meister. „Es ist alles echt. Überzeugt euch! Esst von der Suppe! Fangt die Geschenke!“

Die beiden Kinder mit den Suppenschüsseln waren inzwischen zu ihren Eltern zurückgekehrt. Diese allerdings betrachteten die grünliche Flüssigkeit mit gerunzelten Brauen – und ebenso die Gesichter ihrer Zöglinge, auf denen sich kränkliche Pusteln gebildet hatten.

Dies ging jedoch in dem allgemeinen Durcheinander unter, denn überall liefen Kinder umher und versuchten, die fliegenden Geschenke einzufangen. Einigen gelang es auch. Die kleinen Kinderhände rissen das Geschenkpapier auf, und nun enthüllte sich, warum die Päckchen fliegen konnten: In jedem einzelnen befand sich eine fette schwarze Fliege, so lang wie ein Daumen, deren Flügel grünlich schimmerten.

„Au! Sie hat mich gestochen!“, wimmerte ein kleiner Junge, ließ das Papier fallen und starrte auf den Stich, der sofort anschwoll und sich schwarz färbte.

Plötzlich verwandelten sich die Begeisterungsrufe in Schmerzgebrüll. Überall schrien Kinder, und die Erwachsenen fuhren erschrocken von ihren Sitzen hoch. Dicke schwarze Fliegen bildeten eine surrende Wolke über der Versammlung.

Auch Florian spürte, wie der Bann ihn plötzlich verließ. Er sprang auf und blickte voll Entsetzen auf das Massaker, das sich vor seinen Augen abspielte. Er sah es nur sekundenlang, doch jede Einzelheit prägte sich ihm ein.

Die Schausteller hatten sich rund um den Wagen versammelt und ihre Kapuzen zurückgestrichen. Nun konnte man erkennen, dass sie keineswegs Masken trugen. Ihre Gesichter waren echt. Der verwachsene Zwerg hatte wirklich den schiefen Mund, das fehlende Auge und das Horn auf der Stirn. Seine Partnerin zog die Perücke vom Kopf, und zum Vorschein kam eine halb zerfressene Ruine von einem Gesicht, mit Löchern in den Wangen, die den Blick auf verfaulte Zähne preisgaben. Der Hüne, der den Ritter gespielt hatte, entblößte eine Schreckensfratze mit kreuz und quer stehenden Meißelzähnen und leeren Augenhöhlen voller Maden. Der Meister aber öffnete seinen Umhang, und heraus quoll ein aufgeblähter Bauch voller Schrunden und Risse, in dessen Mitte sich auf Nabelhöhe ein tentakelbewehrtes Maul öffnete. Überall summten Fliegen – und das letzte, was Florian sah, war die Katze, die eine der Fliegen erbeutet und angeknabbert hatte. Nun lag die Katze tot am Boden, die Augen starr, das Maul aufgerissen und mit grünem Schleim gefüllt.

Florian Hirtgruber fuhr herum und rannte los – fort von diesem Ort des Grauens. Er achtete nicht auf die Richtung, dachte über kein Ziel nach. Er rannte einfach, bis er ein Feld überquert hatte, den nahen Wald erreichte und sich mitten hinein stürzte. Es mochte die gesegnete Silberkugel sein, der er sein Leben verdankte, denn je weiter er sich entfernte, desto mehr kühlte sie sich ab und begann sich wieder anzufühlen wie gewöhnlich. Doch das war ein schwacher Trost. Denn Florian wusste, dass er wahrscheinlich der einzige Überlebende des Dorfes Hintermoor war, in dem er sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte. Keinen seiner Nachbarn würde er je wiedersehen, und es gab keine Heimat, in die er zurückkehren konnte. Er konnte nur rennen – so schnell und so weit fort wie möglich.
 
MEISTER NOSSELGRUN'S FRÖHLICHER KARNEVAL

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[Zur Info für diejenigen, die es vielleicht nicht kennen: Der "Karneval des Chaos" ist eine Mordheim-Bande, die erstmals im GW-Hobbymagazin "Town Cryer" (Nr. 27 / 2003) vorgestellt wurde. Sie verbreitet, getarnt als Schaustellertruppe, die Gaben ihres Dunklen Gottes. Der Name "Nosselgrun" ist natürlich rückwärts zu lesen.]
 
MEISTER NOSSELGRUN'S FRÖHLICHER KARNEVAL

Anhang anzeigen 311774

[Zur Info für diejenigen, die es vielleicht nicht kennen: Der "Karneval des Chaos" ist eine Mordheim-Bande, die erstmals im GW-Hobbymagazin "Town Cryer" (Nr. 27 / 2003) vorgestellt wurde. Sie verbreitet, getarnt als Schaustellertruppe, die Gaben ihres Dunklen Gottes. Der Name "Nosselgrun" ist natürlich rückwärts zu lesen.]
Alter Falter, du hast den Original Mortheim Karneval!!! Und du baust einen neuen Roman/ Bericht daraus. Besser kann es nicht mehr werden. 🤪🥰😍❤️
 
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Reaktionen: Zanko und MORTOR
Dorf Gablitz am Steinbach, eine Woche später...


„Halt!“, rief ein Soldat in der grüngelben Uniform der Stirländer Staatstruppen.

Helmuth zog die Zügel an und brachte das Fuhrwerk zum Stehen. Die Straße, die über die Steinbachbrücke führte, war mit einem Schlagbaum gesperrt, und zu beiden Seiten standen Wachen. Weitere kamen soeben aus einem reetgedeckten Haus zur rechten, unter ihnen ein Hauptmann mit federgeschmücktem Hut.

Dariya klappte die Wagentreppe herab und stieg aus, gefolgt von Martin, Odo und Ivana.

„Wohin?“, fragte der Hauptmann, der ihnen mit mehreren Soldaten entgegenkam.

„Ich bin Inquisitorin von Hornberg“, sagte Dariya und wies das Siegel des Silbernen Hammers vor. „Wir haben einen wichtigen Auftrag und müssen nach Norden.“

„Hier geht es nicht weiter“, sagte der Hauptmann. „Diese Straße ist gesperrt, ebenso wie jeder andere Weg ins Steinbachtal. Anweisung von Großinquisitor Hutter.“

„Ich weiß“, sagte Dariya. „Wir wurden zu seiner Unterstützung ausgesandt.“

Der Hauptmann zögerte kurz. Er tauschte einen Blick mit seinen Begleitern; dann machte er einem von ihnen ein Zeichen. Der Mann lief zu dem Haus und verschwand eilig im Eingang.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Martin.

„Wir haben strikte Anweisung, niemanden hier durchzulassen“, erklärte der Hauptmann.

„Auch nicht die Inquisition?“

„Die Inquisition ist bereits hier“, entgegnete der Hauptmann und wies auf den Eingang des Hauses.

Ein Mann trat heraus, den Dariya sofort wiedererkannte. Er mochte etwa im gleichen Alter sein wie Odo, war jedoch viel größer und von beeindruckender Statur. Er trug einen weiten Ledermantel und einen schwarzen Hut mit Totenkopfemblem. Ein Waffengürtel mit zwei Pistolen klirrte an seiner Hüfte, als er gemessenen Schrittes näher kam. Sein Gesicht wirkte wie eine steinerne Maske, abgesehen von den blitzenden dunklen Augen und dem eisenfarbenen Knebelbart.

„Sieh da!“, sagte er, als er sich vor den Besuchern aufbaute und Dariya erblickte. „Das jüngste Kind der Inquisition. Ich erinnere mich an Euch. Was tut Ihr hier, Jungfer von Hornberg? Habt Ihr Euch verlaufen?“

„Keineswegs“, sagte Dariya. „Der Kurfürst bat uns, Euch zu unterstützen.“

„Ich brauche keine Unterstützung“, sagte Barnabas Hutter, „schon gar nicht von einem naseweisen Mädchen vom Lande. Ihr habt noch viel zu lernen, wenn Ihr meint, Ihr müsstet Euch in Angelegenheiten von dieser Tragweite einmischen. Hier geht es um das Schicksal einer gesamten Provinz! Womöglich um das Überleben des Imperiums.“

„Das ist mir bewusst“, sagte Dariya und bemühte sich um einen ebenso festen Ton wie ihr Gegenüber. „Eben deshalb sind wir hier. Jeder meiner Leute ist bereit, sein Leben zu wagen, um dem Ursprung dieses Unheils auf die Spur zu kommen. Dazu aber müssen wir den Steinbach überqueren.“

„Ihr haltet Euch wohl für besonders mutig.“ Der Großinquisitor zog spöttisch einen Mundwinkel hoch. „Glaubt wohl, Ihr könntet Euch einen Namen machen, indem Ihr etwas wagt, das jeder vernünftige Mensch als Selbstmord betrachten würde. Aber Ihr habt keine Ahnung, was Euch hinter dieser Brücke erwartet. Tut Euch selbst einen Gefallen und kehrt um, bevor ich Euch davonjagen lasse.“

Dariya schluckte. Für einen Moment erwog sie, kleinbei zu geben. Barnabas Hutter war Großinquisitor, persönlicher Vertrauter des Großtheogonisten und einer der mächtigsten Männer des Imperiums. Welchen Sinn hatte es, sich auf einen Streit mit ihm einzulassen?

Ihr Zögern wurde allerdings von Ivana beendet, die sich energisch vordrängte.

Davonjagen wollt Ihr uns?“, fragte sie empört. „Wir sind wegen der hilflosen Menschen hier, die jenseits dieses Flusses einer furchtbaren Seuche ausgeliefert sind. Wer sonst wird versuchen, sie zu retten? Ihr vielleicht?“

Der Großinquisitor musterte die grimmige Kämpferin von Kopf bis Fuß. „Wer ist diese Frau?“, fragte er niemand Bestimmten. „Und wer hat ihr beigebracht, so mit einem Großinquisitor zu sprechen?“

„Meine Gefährtin ist… ein wenig aufbrausend“, sagte Dariya im verzweifelten Bemühen, die Situation zu entschärfen. „Bitte vergebt ihr. Es ist nur der Eifer für die heilige Sache, der manchmal mit ihr durchgeht.“

„Ich war schon immer dagegen, Frauen als Hexenjäger zu berufen“, sagte Hutter. „Sie wissen einfach nicht, wo ihr Platz ist.“ Er streckte die behandschuhte Hand aus und griff nach dem kleinen Kästchen, das Ivana an einem Lederband um den Hals trug. „Was ist das? Ein Talisman?“

„Eine Reliquie“, zischte Ivana zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Und wenn Ihr versucht, Sie mir wegzunehmen, werde ich Euch daran hindern; Großinquisitor oder nicht!“

„Soso.“ Hutter schien keineswegs erbost, sondern eher befriedigt. „Ihr habt also etwas zu verbergen.“ Er machte den Soldaten ein Zeichen, und sofort traten zwei Hellebardenträger vor und richteten ihre Waffen auf die Kriegernonne. Ivanas Hände fuhren automatisch zu den Griffen ihrer beiden Äxte.

„Ivana – nicht!“, flüsterte Dariya warnend und legte ihr eine Hand auf den Arm.

„Dann wollen wir doch mal sehen…“ Hutter zog das Lederband über Ivanas Kopf und nahm das Kästchen an sich. Ivana zitterte vor Wut, beherrschte sich aber mühsam. Der Großinquisitor öffnete die Schatulle und erblickte den Fingerknochen, der auf ein Stück roten Samt gebettet war. Auf der Innenseite des Deckels befand sich eine Inschrift.

Sankt Bertha“, las Hutter laut. „Wie interessant! Wenn ich mich nicht irre, hieß so die letzte Matriarchin jenes ketzerischen Ordens, der sich die Schwesternschaft des Sigmar nannte.“

Die Hexenjäger erschraken. Bislang war es ihnen stets gelungen, Ivanas Herkunft geheimzuhalten. Doch einem Großinquisitor vom Schlage Barnabas Hutters rühmte man nicht umsonst einen untrüglichen Scharfblick nach.

„Habt Ihr etwas dazu zu sagen?“, fragte er.

Ivanas Augen flammten, doch sie blieb stumm.

Hutter wandte sich an den Hauptmann der Soldaten. „Diese Person trägt die Reliquie einer Ketzerin bei sich. Nehmt sie und ihre irregeleiteten Begleiter fest! Allesamt.“

„Das könnt Ihr nicht tun!“, protestierte Dariya. „Ich bin eine Inquisitorin!“

„Ihr wart eine Inquisitorin“, versetzte Hutter kühl. „Jetzt seid Ihr nichts weiter als die Komplizin einer Hexe.“

Die Soldaten traten näher und umringten die Gruppe mit gesenkten Hellebarden. Einige zögerten allerdings, und man sah ihnen an, dass sie den Befehl ihres Herrn nur halbherzig ausführten.

„Ihr habt den Großinquisitor gehört!“, bellte der Hauptmann ungeduldig. „Festnehmen!“

Dariya war bereits drauf und dran, sich zu ergeben. Sollte Hutter sie doch festsetzen lassen – er würde Schwierigkeiten bekommen, wenn er versuchte, eine Kollegin anzuklagen. Der Kurfürst war auf ihrer Seite, und eine offizielle Untersuchung würde ihre Unschuld erweisen. Heikel konnte die Sache allenfalls für Ivana werden, doch Dariya war entschlossen, sich mit allen Mitteln schützend vor ihre Kameradin zu stellen. Die gesamte Gruppe konnte unter Eid bezeugen, dass die Sigmarschwester ein Muster an Rechtgläubigkeit und zudem eine wahre Heldin war, der viele ihr Leben verdankten.

„Leistet keinen Widerstand!“, flüsterte sie ihren Gefährten zu. „Was kann er schon tun, außer uns für ein paar Tage festzuhalten?“

„Verbrennen wird er uns!“, schrie Ivana – und machte erneut jeden Verständigungsversuch zunichte, indem sie überraschend zugriff und dem Inquisitor das Kästchen mit der Reliquie aus der Hand riss. Mit der anderen Hand packte sie eine ihrer Äxte und wandte sich drohend gegen die Soldaten. „Zurück mit Euch, im Namen unseres Herrn Sigmar!“

Die Männer wichen zurück. Sie mochten altgediente Soldaten und Veteranen mancher Schlachten sein, doch der Anblick Ivanas, die mit blitzenden Augen und gesträubtem weißem Haar wie eine leibhaftige Banshee dastand, versetzte sie in abergläubische Furcht.

„Auf den Wagen, schnell!“, rief Helmuth vom Kutschbock herab.

Barnabas Hutter zog eine seiner Pistolen – doch er hatte nicht mit Ivanas schnellen Reflexen gerechnet. Überraschend schlug sie zu und traf die Schusswaffe, die in hohem Bogen durch die Luft flog und im Gras abseits der Straße landete. Hutter prallte zurück, offenbar derart fassungslos über den unerwarteten Angriff, dass er für einen Moment zu keiner Reaktion fähig war.

„Haltet sie auf!“, brüllte der Hauptmann.

Doch es war bereits zu spät. Die Hexenjäger sprangen auf den Wagen, und Martin zog Dariya mit sich, die keine Gelegenheit mehr bekam, die Situation auf diplomatischem Weg zu retten. Ivana deckte den Rückzug, und Helmuth ließ die Peitsche knallen.

„Das werdet Ihr bereuen!“, keuchte Hutter, zog seine zweite Pistole und zielte auf Dariyas Rücken. Ohne Zögern zog er den Abzug durch – doch die Waffe blockierte und gab nur ein trockenes Klicken von sich. Im nächsten Moment stürmten die Pferde los, und das Fuhrwerk rasselte geradewegs auf den Schlagbaum zu.

Es war ein Segen, dass der schwere Kriegswagen von allen Seiten gut geschützt war. Mehrere Armbrustbolzen zischten ihm nach, blieben aber in den massiven Seitenwänden stecken. Der Wagen nahm Fahrt auf, brach glatt durch den Schlagbaum und polterte über die Brücke, bevor die Soldaten ihn aufhalten konnten. Zwar rannten einige mit gezogenen Waffen hinterdrein, doch am Ende der Brücke machten sie Halt – diese Grenze wagte keiner von ihnen zu überschreiten.

„Was nun, Herr?“, fragte der Hauptmann, als das Fuhrwerk sich mit hoher Geschwindigkeit entfernte. „Wir können sie doch nicht verfolgen, oder?“

„Oh doch, das werden wir!“, sagte Barnabas Hutter zitternd vor Wut. „Diese Ketzer werden ihrer gerechten Strafe nicht entkommen, beim Schweif des Kometen!“

„Aber… werden sie nicht ohnehin sterben, wenn sie in die Sperrzone eindringen?“

„Wahrscheinlich. Doch das genügt mir nicht!“, knirschte Hutter. „Ich will diese unverfrorene Göre auf dem Scheiterhaufen sehen.“ Wütend hob er die Pistole, die versagt hatte, zog mehrmals kräftig den Abzug durch – und plötzlich zündete das Schießpulver. Das Unglück wollte es, dass ein junger Soldat genau in der Schusslinie stand. Der Mann stieß einen überraschten Seufzer aus und blickte ungläubig auf das Loch in seiner Brust. Dann sank er tot zu Boden.

„Himmel, Hölle und Häretiker!“, fluchte Hutter. „Hat sich denn heute alles gegen mich verschworen? - Räumt diese Sauerei weg!“, fuhr er die Soldaten an, als wäre es ihre Schuld gewesen, und wies auf den Toten. „Und stellt eine Mannschaft zusammen für die Verfolgung! Ich will einen überdachten Wagen, gepanzerte Zugpferde, zwanzig Musketen und eine Kanone. Treibt ein paar Heilkundige auf, nur zur Sicherheit, und möglichst auch einen Priester. Bis heute Abend will ich die Truppe marschbereit haben!“
 
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