Kurfürst Alberich Haupt-Anderssen ging unruhig in seinem Amtszimmer auf und ab. Eigentlich wartete er noch nicht lange, dennoch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor. Schon mehrmals hatte er den Kammerdiener draußen vor der Tür daran erinnert, er solle die Gäste, sobald sie ankämen, unverzüglich hereinlassen. Immer wieder setzte er sich kurz und überflog zum wiederholten Mal den Brief, der seit dem gestrigen Tag auf seinem Schreibtisch lag. Dann erfasste ihn wieder die Unruhe, und er setzte seinen nervösen Rundgang fort.
Als er draußen endlich Stimmen hörte, wartete er nicht darauf, dass der Diener die Tür öffnete. Er ging selbst hin und bat die Besucher herein.
„Danke für Euer rasches Erscheinen!“, begrüßte er die so dringlich erwarteten Gäste. „Bitte setzt Euch.“
Diese Einladung konnte nicht von allen befolgt werden, denn gegenüber dem Tisch stand nur ein einziger Stuhl. Dariya setzte sich, während ihre Begleiter sich in einem lockeren Halbkreis aufstellten.
Sie hatten sich nur wenig verändert. Dariya, mittlerweile vierundzwanzigjährig, unterschied sich eigentlich nur durch das Siegel des Silbernen Hammers, das sie als Inquisitorin auswies, von ihrem früheren Selbst. Nur wer sie lange kannte und genau hinsah, mochte einige Zeichen fortgeschrittener Reife erkennen: Ihr Ausdruck war ernster, der Mund ein wenig schmaler, ihre Haltung aufrechter und strenger. Sie trug den Hut ihres Vaters, geschmückt mit einer blauen Feder, dazu ihre Lederrüstung und einen dunklen Mantel mit den Insignien ihres Standes.
Helmuth war vor Kurzem vierzig geworden, aber immer noch in der Blüte seiner Kraft und womöglich stattlicher denn je. Er trainierte ausdauernd und war sehr stolz auf seine körperliche Konstitution. Sogar eine gewisse Eitelkeit war seit einigen Jahren an ihm zu beobachten: Er stutzte sauber seinen Bart und achtete sehr auf seine Kleidung, die derjenigen eines stirländischen Landsknechts ähnelte. Wer ihn länger kannte, wusste sehr wohl, welches Ereignis diesen Sinneswandel veranlasst hatte: Es war der Eintritt Ivanas in die Gruppe gewesen.
Die Sigmarschwester hatte sich vielleicht am wenigsten von allen verändert. Sie wirkte alterslos wie stets mit ihrem Gesicht von kalter Schönheit, ihrer blassen Haut und den etwas stechenden hellblauen Augen. Ihr weißblondes Haar trug sie noch immer offen, und wie stets bildete es einen grellen Kontrast zu ihrer schwarzen Lederkleidung.
Odo, inzwischen über sechzig, war noch immer rüstig und kraftvoll. Mit seinem kahlen Schädel und dem wallenden Bart sah er zuweilen einem Zwerg nicht unähnlich. Nur seine Beweglichkeit hatte etwas abgenommen, weshalb er Schild und Schwert schon vor längerer Zeit gegen eine Hellebarde eingetauscht hatte. Diese Waffe erforderte weniger Schnelligkeit und war besser dazu geeignet, Gegner im Kampf auf Abstand zu halten.
Martin, der ehemalige Bauernsohn aus Sylvania, war endgültig erwachsen geworden. Seinen jungenhaften Charme hatte er behalten, doch die jahrelangen Kampfübungen hatten ihm eine kräftigere Statur und geschmeidige Beweglichkeit verliehen. Bei vielen Einsätzen, besonders in abgelegenen Gegenden, zog er die Aufmerksamkeit der einheimischen Frauen auf sich, die selten einen so schönen jungen Mann gesehen hatten. Er allerdings hatte nur Augen für Dariya.
Was schließlich den Kurfürsten betraf, so begann man ihm sein Alter anzusehen – besonders an diesem Tag, da ihn offenbar ernste Sorgen plagten. Er schloss die Tür, nahm seufzend hinter seinem Schreibtisch Platz und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, bevor er das Gespräch eröffnete.
„Ich bitte um Euer Verständnis“, sagte er, „wenn ich mich nicht mit Höflichkeiten aufhalte. Wir haben etwas sehr Ernstes zu besprechen – und als Allererstes muss ich Euch alle um die strengste Geheimhaltung bitten. Kann ich mich darauf verlassen?“
Die Hexenjäger nickten einträchtig.
Der Kurfürst griff nach dem Brief, der offen auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. „Es handelt sich um ein Geschehnis, das mich bereits seit Wochen beunruhigt. Ich habe mir alle Mühe gegeben, es vor der Öffentlichkeit zu verbergen, um keine Panik auszulösen. Deshalb erfahrt auch Ihr erst heute davon. Kennt Ihr die Stadt Thalheim am Oberlauf des Stir?“
„Ja“, sagte Dariya. „Wir waren schon einmal dort, allerdings nur auf der Durchreise. Eine hübsche kleine Stadt mit einem Flusshafen, hauptsächlich von Händlern und Fischern bewohnt.“
Der Kurfürst nickte bitter. „Sie existiert nicht mehr. Oder… zumindest nur noch als Ruinenfeld.“
„Was?“, staunte Helmuth. „Wie konnte das geschehen? Ich habe von keinem Krieg in dieser Gegend gehört.“
„Nein“, bestätigte der Kurfürst. „Kein Krieg. In der Stadt ist vor einigen Wochen eine Seuche ausgebrochen – und zwar eine, wie man sie seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hat. Augenzeugen berichten, dass die Betroffenen bei lebendigem Leib verfaulen. Das Schlimmste ist, dass sie nicht in ihren Betten bleiben, sondern von einer unerklärlichen Unruhe erfasst werden und auf die Straßen hinausgehen, wo sie ziellos umherwanken. Wenn sie auf andere Menschen treffen, versuchen sie diese zu umarmen und erbrechen sich auf ihre Kleidung, als wollten sie die Arglosen absichtlich und bewusst mit ihrer Krankheit infizieren. Das tun sie so lange, bis sie buchstäblich auseinanderfallen, weil ihre verrottenden Beine sie nicht mehr tragen. Der Tod tritt innerhalb weniger Tage, manchmal sogar binnen Stunden ein. Die Bevölkerung von Thalheim wurde nahezu ausgerottet.“
Er machte eine Pause, um diese Neuigkeit wirken zu lassen. Die Hexenjäger warfen einander erschrockene Blicke zu. Das zeitweise Auftreten von Seuchen war nicht ungewöhnlich im Imperium; die Schilderung der Symptomatik allerdings ließ alle schaudern.
„Weiß man irgendetwas über die Ursache?“, fragte Dariya betroffen.
„Nein“, sagte Haupt-Anderssen. „Aber da sich die Krankheit erschreckend rasch ausbreitet, habe ich bereits vor zehn Tagen eine Nachricht nach Altdorf senden lassen, um den Imperator und auch das Heilige Offizium zu informieren. Der Großtheogonist glaubt, dass ein Hexer für die Seuche verantwortlich sein könnte, zumal Thalheim nahe der Grenze zu Sylvania liegt. Er hat einen Großinquisitor geschickt, um die Sache zu untersuchen – unter strenger Geheimhaltung, wie sich versteht.“
„Wen hat er geschickt?“, fragte Dariya, die inzwischen viele ihrer Berufskollegen zumindest vom Sehen kannte.
„Barnabas Hutter.“
Diese Nachricht löste neues Erschrecken bei den Hexenjägern aus. Nur Dariya kannte ihn persönlich, und auch dies nur aus einem sehr kurzen Gespräch anlässlich ihrer offiziellen Ernennung im Offizium zu Altdorf. Eigentlich konnte man es kaum ein Gespräch nennen, denn es war bei einem knappen Willkommensgruß und einem skeptischen Blick geblieben, den der allgemein gefürchtete Hutter seiner jungen Kollegin zugeworfen hatte. Die anderen Hexenjäger kannten ihn nur aus Erzählungen, doch das genügte. Sein Ruf eilte ihm voraus. Hutters allgemein bekanntes Motto lautete: Besser, zehn Unschuldige brennen zu lassen, als dass ein einziger Hexer am Leben bleibt.
„Ich hatte keinen Einfluss auf diese Entscheidung“, erklärte der Kurfürst. „Doch ich bat Hutter, mir zumindest zu berichten. Das hat er getan: Gestern bekam ich diesen Brief von ihm, überbracht von einem Meldereiter, der halb wahnsinnig vor Angst war. Er weigerte sich, mit einer Antwort in die Unglücksregion zurückzukehren. Ich musste ihn ins städtische Asyl einweisen lassen.“
„Und was schreibt Hutter?“, fragte Dariya.
Der Kurfürst seufzte und senkte den Blick auf den Brief. „Er berichtet, dass Thalheim nicht mehr zu retten war. Als er dort ankam, war bereits die halbe Bevölkerung erkrankt, und überall auf den Straßen liefen schrecklich entstellte Seuchenopfer herum. Hutter war überzeugt, dass ein Hexer hinter all dem stecken müsse, doch er konnte keinen Verdächtigen ausfindig machen. Also beschloss er, kurzerhand die gesamte Stadt in einen Scheiterhaufen zu verwandeln. Er ließ die Stadttore von außen schließen und die Dächer mit Brandpfeilen entzünden. In der Stadt gab es eine kleine Garnison mit einem Schießpulverdepot. Das Depot fing Feuer, explodierte und legte die halbe Stadt in Trümmer. Den Rest besorgte das Feuer…“ Der Kurfürst schüttelte fassungslos den Kopf. „Von Thalheim sind nur noch Ruinen übrig. Nahezu alle Bewohner der Stadt, ob krank oder gesund, dürften den Flammen zum Opfer gefallen sein.“