Staffel IV: Herdenherz
Bewährungsmission
Dariya fühlte sich recht beklommen, als sie den Palast von Wurtbad betrat. Ein Diener führte sie zum Amtszimmer des Kurfürsten, klopfte und meldete den Besuch.
„Nur herein!“, rief eine freundliche Stimme.
Der Diener verschwand und bedeutete Dariya, einzutreten. Sie tat es und fand sich in einem großen, überraschend einladenden Raum mit holzgetäfelten Wänden und schweren Samtvorhängen vor den Fenstern. Kerzen verbreiteten ein heimeliges Licht. Kurfürst Alberich Haupt-Anderssen, ein Mann um die Sechzig mit üppigem Bart und kaum gelichtetem Haar, erhob sich aus einem reich geschnitzten Stuhl und kam der Besucherin entgegen. Dariya wollte sich verbeugen, doch er hinderte sie daran, indem er mit beiden Händen ihre rechte umschloss.
„Da seid Ihr ja, meine liebe! Ich freue mich, Euch endlich persönlich kennenzulernen. Euer Vater hat mir viel von Euch erzählt. Bitte lasst mich sagen, dass ich sein trauriges Schicksal von ganzem Herzen bedaure. Ich habe ihn sehr geschätzt.“
Dariya staunte. Sie hatte bereits gehört, dass der Kurfürst als Kavalier alter Schule galt, aber mit einem derartig warmen Empfang hatte sie nicht gerechnet. Verlegen murmelte sie ihren Dank.
„Vor allem betrübt mich“, fuhr der Kurfürst fort, „dass es mein Auftrag war, der zu dieser Tragödie führte. Allerdings habt Ihr Euch auch in Abenteuer gestürzt, die ich mir nicht träumen lassen konnte. Mir hätte es vollauf genügt, wenn Ihr nach der Vernichtung jenes Necrarch-Vampirs sogleich zurückgekommen wärt.“
„Das wollten wir auch“, sagte Dariya, „aber dann verirrten wir uns im Nebel und gerieten mitten in die Spukhügel.“
„Ich weiß, ich weiß. Ich hörte bereits das Meiste. Eure Abenteuer sind ja zum Stadtgespräch geworden. - Bitte setzt Euch doch.“
Sie nahmen zu beiden Seiten des Tisches Platz, auf dem eine Landkarte ausgebreitet war.
„Ich hatte gehofft“, sagte Dariya zögerlich, „vielleicht etwas über meine Bewerbung zu erfahren.“
„Natürlich“, sagte Haupt-Anderssen. „Ein hochrangiger Vertreter der Inquisition ist gestern angereist. Ich habe bereits mit ihm gesprochen, denn die Kirche wünschte eine Stellungnahme von mir. Man weiß, dass ich mit Eurem Vater gut bekannt war, und dass es mein Auftrag war, der Euch nach Sylvania führte. Seid versichert, dass ich Euch für die angestrebte Position wärmstens empfohlen habe.“
„Ich bin gar nicht sicher, ob das in meinem Sinne ist“, gab Dariya zu. „Ich versprach meinem Vater, sein Lebenswerk fortzusetzen. Doch ob ich dazu wirklich bereit bin, kann ich selbst noch nicht sagen. Wer ist denn der Bote, mit dem Ihr gesprochen habt?“
„Er… ist hier“, sagte der Kurfürst etwas verlegen und wies in eine Ecke des Raums.
Dariya erschrak. Aus dem Schatten hinter einem Wandschrank trat ein Mann, der offenbar schon die ganze Zeit über dort gestanden hatte, ohne seine Anwesenheit zu verraten. Er war eine beeindruckende Erscheinung: Ganz in Schwarz gekleidet, mit brokatbesetztem Wams und geschlitzten Puffärmeln, die Brust mit mehreren Orden behängt, das hagere Gesicht von priesterlicher Strenge. Er trug einen schwarzen Spitzbart mit grauen Strähnen darin und einen Hut, wie er bei Inquisitoren üblich war, jedoch mit goldener Quaste und einem aufgestickten Totenschädel – Symbol für die heilige Pflicht der Inquisition, allen Unbußfertigen den Tod zu bringen.
„Darf ich vorstellen…“ Der Kurfürst wies auf den Fremden. „Seine Exzellenz Thietmar von Holst, Ordenssekretär der Templer des Sigmar und Bevollmächtigter des Großtheogonisten.“
Der Mann nahm sich keine Zeit für eine Grußformel. Stattdessen hob er ein gesiegeltes Schriftstück und senkte den Blick auf die Zeilen.
„Jungfer Dariya von Hornberg?“, fragte er mit einer scharfen Stimme, der man eine jahrzehntelange Praxis in peinlichen Verhören anmerkte.
Dariya fuhr von ihrem Stuhl hoch. Einem so hohen Würdenträger hatte sie noch nie gegenübergestanden. In ihrer Aufregung versuchte sie, sich auf die korrekte Anrede zu besinnen. „Zu Euren Diensten, Exzellenz.“
„Das Heilige Offizium hat Eure Bewerbung zur Kenntnis genommen“, sagte von Holst und sah von dem Pergament auf. Er musterte Dariya von Kopf bis Fuß mit kritischem Blick. Offensichtlich war er kein Mann, der sich mit langen Einleitungen oder gar mit Höflichkeiten aufhielt.
„Wie Ihr Euch vielleicht denken könnt, gibt es gewisse Vorbehalte gegen Eure Ernennung – vor allem Eure Unerfahrenheit. Im ganzen Imperium gibt es derzeit nur vier weibliche Inquisitorinnen, und alle haben zuvor mindestens zehn Jahre lang bei anderen Inquisitoren Dienst getan. Die jüngste war bei ihrer Ernennung sechsunddreißig. Und Ihr seid…“
„Neunzehn seit Kurzem“, sagte Dariya beschämt. „Exzellenz, es ist mir klar, dass mein Ansinnen ungewöhnlich erscheinen muss. Doch ich erfülle damit den Wunsch meines Vaters. Er nahm mir in seiner Todesstunde das Versprechen ab, seine Nachfolge anzutreten; also musste ich es versuchen. Ob ich wirklich dazu geeignet bin… und ob ich es wirklich will…“ Sie verstummte.
„Ihr seid Euch also nicht sicher“, folgerte von Holst. Sein Gesichtsausdruck blieb unergründlich. „Schade! Andererseits nämlich brauchen wir dringend neue Inquisitoren. Zu viele sterben in Ausübung ihres Dienstes – wie Euer Vater.“
„Das heißt“, fragte der Kurfürst, „Ihr würdet eine Ernennung in Erwägung ziehen?“
„Unter gewissen Bedingungen“, schränkte der Ordenssekretär ein. „Bisher hat Frau von Hornberg noch keinen Einsatz in Eigenverantwortung geleitet. Das Heilige Offizium schlägt daher eine Bewährungsmission vor: eine besondere Aufgabe, von deren Erfüllung die Entscheidung abhängig gemacht werden soll.“
Der Kurfürst blickte Dariya an. „Was haltet Ihr davon, meine liebe?“
Dariya besann sich. „Nun… vielleicht ist das wirklich eine gute Idee“, meinte sie. „Es könnte auch mir bei der Entscheidung helfen. Irgendwie muss ich mir ja darüber klarwerden, ob ich mir diese Verantwortung wirklich zutraue.“
„Na wunderbar“, sagte der Kurfürst zufrieden und wandte sich wieder an den Ordensmann. „Was für eine Aufgabe wäre es denn?“
„Das steht noch nicht fest“, sagte von Holst. „Es wird sich gewiss etwas finden.“
„Mit Verlaub, Exzellenz – ich wüsste da etwas“, hakte der Kurfürst ein. „Es ist eine Angelegenheit, in der ich ohnehin die Hilfe der Inquisition erbitten wollte.“
Von Holst verschränkte die Arme. „Sprecht.“
„Es handelt sich um einen Wachturm“, erklärte der Kurfürst und tippte auf einen Punkt jener Landkarte, die stets einen Teil seines Schreibtischs bedeckte. „Ganz an der südlichen Grenze meines Landes. Ihr wisst sicher, dass solche Wachtürme überall an den Grenzen stehen und meist eine nahe Ortschaft beschützen. Sie sind nicht nur die erste Verteidigungslinie im Kriegsfall, sondern dienen auch zur Abschreckung gegen Goblinbanden, Tiermenschen-Plünderer und ähnliche Störenfriede. Die Wachmannschaften sind klein, in der Regel nur ein Dutzend Männer. Sie leben für ein ganzes Jahr in ihrem Turm; erst zu Neujahr kommt eine Ablösung. Ein Versorgungswagen bringt ihnen monatlich Nahrungsvorräte.“
Von Holst nickte. Auch Dariya waren diese Tatsachen im Wesentlichen bekannt.
„Dieser Turm nun“, fuhr der Kurfürst fort, „liegt nahe einem Dorf namens Hunewald. Bislang war das eine eher ruhige Gegend. Kürzlich aber gab es einen Angriff von Tiermenschen, bei dem mehrere Dörfler getötet wurden. Die Überlebenden gingen zum Turm, um die Soldaten zu benachrichtigen und Hilfe zu erbitten. Doch es stellte sich heraus, dass der Turm verlassen war. Alle zwölf Mann der Besatzung waren spurlos verschwunden.“
Dariya runzelte die Stirn. „Offenbar wurde keine Kampfspuren gefunden“, mutmaßte sie. „Denn wenn es ein Überfall gewesen wäre, hättet Ihr doch sicher Staatstruppen geschickt.“
„Ihr denkt bereits wie eine Inquisitorin – ausgezeichnet“, lobte der Kurfürst. „In der Tat gab es keine Spuren eines Kampfes. Gerade Tiermenschen hinterlassen in der Regel deutliche Spuren: Hufabdrücke, Haare, verwüstetes Mobiliar, beschmierte Wände. Doch es fand sich nichts dergleichen. Zudem waren alle Fenster und Türen des Turms unversehrt. Nichts ließ auf ein gewaltsames Eindringen schließen.“
„Die Männer haben den Turm also aus eigenem Antrieb verlassen“, folgerte Dariya. „Vielleicht, weil sie die Gefahr ahnten und das Dorf beschützen wollten?“
Doch der Kurfürst schüttelte den Kopf. „Das Unheimlichste habe ich noch gar nicht erwähnt. Im Turm befanden sich nämlich auch noch sämtliche Waffen, Uniformen und sonstige Ausrüstung der Wachmannschaft. Wenn sie den Turm verlassen hätten, müssten sie es quasi nackt getan haben. Im Übrigen gibt es eine strenge Dienstvorschrift, wonach auch im äußersten Notfall mindestens drei Mann im Turm zurückbleiben müssen.“
„Das ist in der Tat sehr verdächtig“, meinte der Ordenssekretär. „Gut möglich, dass verbotene Magie im Spiel ist.“
„Das glaube ich auch“, sagte der Kurfürst. „Und mir liegt persönlich viel an der Aufklärung dieses Vorfalls. Es untergräbt die Moral der Truppe, wenn solche Dinge passieren und die Quelle des Übels nicht gefunden wird. Was meint Ihr, Exzellenz – wäre das eine geeignete Aufgabe für Frau von Hornberg?“
Von Holst überlegte nicht lange. „Einverstanden“, sagte er, zog ein weiteres Pergament hervor und legte es auf den Tisch. Offenbar war es ein vorbereitetes Dekret, denn er griff – ohne um Erlaubnis zu fragen - nach einer Feder des Kurfürsten, um es schwungvoll zu unterschreiben. Dann überreichte er das Schriftstück an Dariya.
„Dieses Edikt ermächtigt Euch, den Titel Beauftragte der Inquisition zu führen“, sagte er. „Auf Widerruf, wie sich versteht! Noch seid Ihr keine Inquisitorin, und Eure Vollmachten sind beschränkt.“
„Ich danke Euch, Exzellenz“, sagte Dariya, die das Pergament ehrfürchtig entgegennahm.
„Eine endgültige Entscheidung wird getroffen, wenn Ihr zurück seid – und wenn alle ketzerischen Elemente, die in diese Angelegenheit verwickelt sein mögen, restlos vernichtet sind. Habt Ihr verstanden?“
Dariya nickte.
„Das wäre dann wohl alles“, sagte von Holst, verbeugte sich knapp in Richtung des Kurfürsten und wandte sich um. Ohne ein Abschiedswort verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Der Kurfürst atmete hörbar aus. „Puh… das ist doch recht glimpflich abgelaufen. Ich hatte schon schwierigere Verhandlungen mit den hohen Herren. Deshalb wollte ich auch, dass dieses Treffen in meiner Gegenwart stattfindet. Ich hoffte, Ihr würdet Euch dann nicht allzu eingeschüchtert fühlen.“
„Ich danke Euch“, sagte Dariya. „Das war sehr zuvorkommend.“
„Fühlt Ihr Euch dem Auftrag gewachsen?“
„Ich denke schon… ich hoffe es wenigstens.“
„Was mich betrifft; ich habe volles Vertrauen in Euch“, sagte der Kurfürst. „Euer Vater hat oft von Euch erzählt, und er war sehr stolz auf Euch.“
Dariya unterdrückte eine Träne. Die Trauer war noch allzu frisch.
„Seid guten Mutes“, sagte Haupt-Anderssen. „Fahrt nach Hardenburg und lasst Euch von dort den Weg zum Dörfchen Hunewald weisen. Die Reise dürfte eine ganze Woche dauern, aber Ihr könnt das Fuhrwerk nehmen, das ich Euch für den Einsatz in Sylvania gab. Am besten richtet Ihr Euch in dem Wachturm ein, der jetzt leer steht; dann könnt Ihr gleich vor Ort nach Spuren suchen. Befragt auch die Leute im Dorf! Vielleicht hat jemand etwas Aufschlussreiches gesehen.“
„Werde ich tun“, versprach Dariya.
„Nun denn…“ Der Kurfürst lehnte sich zurück und lächelte aufmunternd. „Viel Erfolg!“
Bewährungsmission
Dariya fühlte sich recht beklommen, als sie den Palast von Wurtbad betrat. Ein Diener führte sie zum Amtszimmer des Kurfürsten, klopfte und meldete den Besuch.
„Nur herein!“, rief eine freundliche Stimme.
Der Diener verschwand und bedeutete Dariya, einzutreten. Sie tat es und fand sich in einem großen, überraschend einladenden Raum mit holzgetäfelten Wänden und schweren Samtvorhängen vor den Fenstern. Kerzen verbreiteten ein heimeliges Licht. Kurfürst Alberich Haupt-Anderssen, ein Mann um die Sechzig mit üppigem Bart und kaum gelichtetem Haar, erhob sich aus einem reich geschnitzten Stuhl und kam der Besucherin entgegen. Dariya wollte sich verbeugen, doch er hinderte sie daran, indem er mit beiden Händen ihre rechte umschloss.
„Da seid Ihr ja, meine liebe! Ich freue mich, Euch endlich persönlich kennenzulernen. Euer Vater hat mir viel von Euch erzählt. Bitte lasst mich sagen, dass ich sein trauriges Schicksal von ganzem Herzen bedaure. Ich habe ihn sehr geschätzt.“
Dariya staunte. Sie hatte bereits gehört, dass der Kurfürst als Kavalier alter Schule galt, aber mit einem derartig warmen Empfang hatte sie nicht gerechnet. Verlegen murmelte sie ihren Dank.
„Vor allem betrübt mich“, fuhr der Kurfürst fort, „dass es mein Auftrag war, der zu dieser Tragödie führte. Allerdings habt Ihr Euch auch in Abenteuer gestürzt, die ich mir nicht träumen lassen konnte. Mir hätte es vollauf genügt, wenn Ihr nach der Vernichtung jenes Necrarch-Vampirs sogleich zurückgekommen wärt.“
„Das wollten wir auch“, sagte Dariya, „aber dann verirrten wir uns im Nebel und gerieten mitten in die Spukhügel.“
„Ich weiß, ich weiß. Ich hörte bereits das Meiste. Eure Abenteuer sind ja zum Stadtgespräch geworden. - Bitte setzt Euch doch.“
Sie nahmen zu beiden Seiten des Tisches Platz, auf dem eine Landkarte ausgebreitet war.
„Ich hatte gehofft“, sagte Dariya zögerlich, „vielleicht etwas über meine Bewerbung zu erfahren.“
„Natürlich“, sagte Haupt-Anderssen. „Ein hochrangiger Vertreter der Inquisition ist gestern angereist. Ich habe bereits mit ihm gesprochen, denn die Kirche wünschte eine Stellungnahme von mir. Man weiß, dass ich mit Eurem Vater gut bekannt war, und dass es mein Auftrag war, der Euch nach Sylvania führte. Seid versichert, dass ich Euch für die angestrebte Position wärmstens empfohlen habe.“
„Ich bin gar nicht sicher, ob das in meinem Sinne ist“, gab Dariya zu. „Ich versprach meinem Vater, sein Lebenswerk fortzusetzen. Doch ob ich dazu wirklich bereit bin, kann ich selbst noch nicht sagen. Wer ist denn der Bote, mit dem Ihr gesprochen habt?“
„Er… ist hier“, sagte der Kurfürst etwas verlegen und wies in eine Ecke des Raums.
Dariya erschrak. Aus dem Schatten hinter einem Wandschrank trat ein Mann, der offenbar schon die ganze Zeit über dort gestanden hatte, ohne seine Anwesenheit zu verraten. Er war eine beeindruckende Erscheinung: Ganz in Schwarz gekleidet, mit brokatbesetztem Wams und geschlitzten Puffärmeln, die Brust mit mehreren Orden behängt, das hagere Gesicht von priesterlicher Strenge. Er trug einen schwarzen Spitzbart mit grauen Strähnen darin und einen Hut, wie er bei Inquisitoren üblich war, jedoch mit goldener Quaste und einem aufgestickten Totenschädel – Symbol für die heilige Pflicht der Inquisition, allen Unbußfertigen den Tod zu bringen.
„Darf ich vorstellen…“ Der Kurfürst wies auf den Fremden. „Seine Exzellenz Thietmar von Holst, Ordenssekretär der Templer des Sigmar und Bevollmächtigter des Großtheogonisten.“
Der Mann nahm sich keine Zeit für eine Grußformel. Stattdessen hob er ein gesiegeltes Schriftstück und senkte den Blick auf die Zeilen.
„Jungfer Dariya von Hornberg?“, fragte er mit einer scharfen Stimme, der man eine jahrzehntelange Praxis in peinlichen Verhören anmerkte.
Dariya fuhr von ihrem Stuhl hoch. Einem so hohen Würdenträger hatte sie noch nie gegenübergestanden. In ihrer Aufregung versuchte sie, sich auf die korrekte Anrede zu besinnen. „Zu Euren Diensten, Exzellenz.“
„Das Heilige Offizium hat Eure Bewerbung zur Kenntnis genommen“, sagte von Holst und sah von dem Pergament auf. Er musterte Dariya von Kopf bis Fuß mit kritischem Blick. Offensichtlich war er kein Mann, der sich mit langen Einleitungen oder gar mit Höflichkeiten aufhielt.
„Wie Ihr Euch vielleicht denken könnt, gibt es gewisse Vorbehalte gegen Eure Ernennung – vor allem Eure Unerfahrenheit. Im ganzen Imperium gibt es derzeit nur vier weibliche Inquisitorinnen, und alle haben zuvor mindestens zehn Jahre lang bei anderen Inquisitoren Dienst getan. Die jüngste war bei ihrer Ernennung sechsunddreißig. Und Ihr seid…“
„Neunzehn seit Kurzem“, sagte Dariya beschämt. „Exzellenz, es ist mir klar, dass mein Ansinnen ungewöhnlich erscheinen muss. Doch ich erfülle damit den Wunsch meines Vaters. Er nahm mir in seiner Todesstunde das Versprechen ab, seine Nachfolge anzutreten; also musste ich es versuchen. Ob ich wirklich dazu geeignet bin… und ob ich es wirklich will…“ Sie verstummte.
„Ihr seid Euch also nicht sicher“, folgerte von Holst. Sein Gesichtsausdruck blieb unergründlich. „Schade! Andererseits nämlich brauchen wir dringend neue Inquisitoren. Zu viele sterben in Ausübung ihres Dienstes – wie Euer Vater.“
„Das heißt“, fragte der Kurfürst, „Ihr würdet eine Ernennung in Erwägung ziehen?“
„Unter gewissen Bedingungen“, schränkte der Ordenssekretär ein. „Bisher hat Frau von Hornberg noch keinen Einsatz in Eigenverantwortung geleitet. Das Heilige Offizium schlägt daher eine Bewährungsmission vor: eine besondere Aufgabe, von deren Erfüllung die Entscheidung abhängig gemacht werden soll.“
Der Kurfürst blickte Dariya an. „Was haltet Ihr davon, meine liebe?“
Dariya besann sich. „Nun… vielleicht ist das wirklich eine gute Idee“, meinte sie. „Es könnte auch mir bei der Entscheidung helfen. Irgendwie muss ich mir ja darüber klarwerden, ob ich mir diese Verantwortung wirklich zutraue.“
„Na wunderbar“, sagte der Kurfürst zufrieden und wandte sich wieder an den Ordensmann. „Was für eine Aufgabe wäre es denn?“
„Das steht noch nicht fest“, sagte von Holst. „Es wird sich gewiss etwas finden.“
„Mit Verlaub, Exzellenz – ich wüsste da etwas“, hakte der Kurfürst ein. „Es ist eine Angelegenheit, in der ich ohnehin die Hilfe der Inquisition erbitten wollte.“
Von Holst verschränkte die Arme. „Sprecht.“
„Es handelt sich um einen Wachturm“, erklärte der Kurfürst und tippte auf einen Punkt jener Landkarte, die stets einen Teil seines Schreibtischs bedeckte. „Ganz an der südlichen Grenze meines Landes. Ihr wisst sicher, dass solche Wachtürme überall an den Grenzen stehen und meist eine nahe Ortschaft beschützen. Sie sind nicht nur die erste Verteidigungslinie im Kriegsfall, sondern dienen auch zur Abschreckung gegen Goblinbanden, Tiermenschen-Plünderer und ähnliche Störenfriede. Die Wachmannschaften sind klein, in der Regel nur ein Dutzend Männer. Sie leben für ein ganzes Jahr in ihrem Turm; erst zu Neujahr kommt eine Ablösung. Ein Versorgungswagen bringt ihnen monatlich Nahrungsvorräte.“
Von Holst nickte. Auch Dariya waren diese Tatsachen im Wesentlichen bekannt.
„Dieser Turm nun“, fuhr der Kurfürst fort, „liegt nahe einem Dorf namens Hunewald. Bislang war das eine eher ruhige Gegend. Kürzlich aber gab es einen Angriff von Tiermenschen, bei dem mehrere Dörfler getötet wurden. Die Überlebenden gingen zum Turm, um die Soldaten zu benachrichtigen und Hilfe zu erbitten. Doch es stellte sich heraus, dass der Turm verlassen war. Alle zwölf Mann der Besatzung waren spurlos verschwunden.“
Dariya runzelte die Stirn. „Offenbar wurde keine Kampfspuren gefunden“, mutmaßte sie. „Denn wenn es ein Überfall gewesen wäre, hättet Ihr doch sicher Staatstruppen geschickt.“
„Ihr denkt bereits wie eine Inquisitorin – ausgezeichnet“, lobte der Kurfürst. „In der Tat gab es keine Spuren eines Kampfes. Gerade Tiermenschen hinterlassen in der Regel deutliche Spuren: Hufabdrücke, Haare, verwüstetes Mobiliar, beschmierte Wände. Doch es fand sich nichts dergleichen. Zudem waren alle Fenster und Türen des Turms unversehrt. Nichts ließ auf ein gewaltsames Eindringen schließen.“
„Die Männer haben den Turm also aus eigenem Antrieb verlassen“, folgerte Dariya. „Vielleicht, weil sie die Gefahr ahnten und das Dorf beschützen wollten?“
Doch der Kurfürst schüttelte den Kopf. „Das Unheimlichste habe ich noch gar nicht erwähnt. Im Turm befanden sich nämlich auch noch sämtliche Waffen, Uniformen und sonstige Ausrüstung der Wachmannschaft. Wenn sie den Turm verlassen hätten, müssten sie es quasi nackt getan haben. Im Übrigen gibt es eine strenge Dienstvorschrift, wonach auch im äußersten Notfall mindestens drei Mann im Turm zurückbleiben müssen.“
„Das ist in der Tat sehr verdächtig“, meinte der Ordenssekretär. „Gut möglich, dass verbotene Magie im Spiel ist.“
„Das glaube ich auch“, sagte der Kurfürst. „Und mir liegt persönlich viel an der Aufklärung dieses Vorfalls. Es untergräbt die Moral der Truppe, wenn solche Dinge passieren und die Quelle des Übels nicht gefunden wird. Was meint Ihr, Exzellenz – wäre das eine geeignete Aufgabe für Frau von Hornberg?“
Von Holst überlegte nicht lange. „Einverstanden“, sagte er, zog ein weiteres Pergament hervor und legte es auf den Tisch. Offenbar war es ein vorbereitetes Dekret, denn er griff – ohne um Erlaubnis zu fragen - nach einer Feder des Kurfürsten, um es schwungvoll zu unterschreiben. Dann überreichte er das Schriftstück an Dariya.
„Dieses Edikt ermächtigt Euch, den Titel Beauftragte der Inquisition zu führen“, sagte er. „Auf Widerruf, wie sich versteht! Noch seid Ihr keine Inquisitorin, und Eure Vollmachten sind beschränkt.“
„Ich danke Euch, Exzellenz“, sagte Dariya, die das Pergament ehrfürchtig entgegennahm.
„Eine endgültige Entscheidung wird getroffen, wenn Ihr zurück seid – und wenn alle ketzerischen Elemente, die in diese Angelegenheit verwickelt sein mögen, restlos vernichtet sind. Habt Ihr verstanden?“
Dariya nickte.
„Das wäre dann wohl alles“, sagte von Holst, verbeugte sich knapp in Richtung des Kurfürsten und wandte sich um. Ohne ein Abschiedswort verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Der Kurfürst atmete hörbar aus. „Puh… das ist doch recht glimpflich abgelaufen. Ich hatte schon schwierigere Verhandlungen mit den hohen Herren. Deshalb wollte ich auch, dass dieses Treffen in meiner Gegenwart stattfindet. Ich hoffte, Ihr würdet Euch dann nicht allzu eingeschüchtert fühlen.“
„Ich danke Euch“, sagte Dariya. „Das war sehr zuvorkommend.“
„Fühlt Ihr Euch dem Auftrag gewachsen?“
„Ich denke schon… ich hoffe es wenigstens.“
„Was mich betrifft; ich habe volles Vertrauen in Euch“, sagte der Kurfürst. „Euer Vater hat oft von Euch erzählt, und er war sehr stolz auf Euch.“
Dariya unterdrückte eine Träne. Die Trauer war noch allzu frisch.
„Seid guten Mutes“, sagte Haupt-Anderssen. „Fahrt nach Hardenburg und lasst Euch von dort den Weg zum Dörfchen Hunewald weisen. Die Reise dürfte eine ganze Woche dauern, aber Ihr könnt das Fuhrwerk nehmen, das ich Euch für den Einsatz in Sylvania gab. Am besten richtet Ihr Euch in dem Wachturm ein, der jetzt leer steht; dann könnt Ihr gleich vor Ort nach Spuren suchen. Befragt auch die Leute im Dorf! Vielleicht hat jemand etwas Aufschlussreiches gesehen.“
„Werde ich tun“, versprach Dariya.
„Nun denn…“ Der Kurfürst lehnte sich zurück und lächelte aufmunternd. „Viel Erfolg!“