1.) Wiederkehr:
Scaevola starrte wie jeden Tag zur selben Zeit aus dem runden Bullauge. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von der kalten, tödlichen Leere des Alls. In seinem Blickfeld lag eine runde, grün- blaue Kugel. Jeden Tag, wenn er das Aussichtsdeck der
Friedliche Reise, einem Transportschiff, betrat, war diese Kugel größer geworden.
Und mit ihr war sein Schicksal immer unausweichlicher vor ihn getreten. Er seufzte und achtete nicht auf die unweigerlich fragenden Blicke der anwesenden Schiffsbesatzung um ihn herum. Es hatte sich herumgesprochen, dass da jeden Tag um dieselbe Zeit sich ein Leutnant der imperialen Garde auf diesem Deck einfand, und durch das Bullauge auf den weiten Raum vor ihnen starrte. Manchmal stand er da und berührte das kalte Panzerglas des Bullauges, manchmal seufzte er sogar. Doch heute tat Scaevola, den anderen Anwesenden keinen dieser Gefallen, sondern blieb einfach stumm. In einem kurzen Anflug von Belustigung fragte er sich, wer von der Schiffsbesatzung wohl darauf gewettet hatte. Innerlich konnte er die Matrosen verstehen. Der Dienst war eintönig. Alles was anders war, war besser.
Scaevolas Gedanken kehrten zu ihm zurück, er blickte auf seinen Chronometer und ihm fiel ein, dass er zu diesem Zeitpunkt eigentlich erwartet wurde. Als ihm dies bewusst wurde, drehte er sich so forsch um, dass die anwesenden Schiffsmitglieder ihre Arbeit unterbrachen und ihn verdutzt ansahen. Ohne der Kugel im Ausguck noch einen letzten Blick zu würdigen, marschierte Scaevola mit hallenden Schritten aus dem Deck hinaus zu seiner Bestimmung.
Dies war sein großer Tag. Seine Uniform war gewaschen, gebügelt und jeder Knopf auf Hochglanz poliert worden. Seine Untergebenen wussten, dass er in diesen Dingen keinen Spaß kannte. Seit seiner Kindheit hatte man ihm eingebläut, dass es diese Kleinigkeiten waren, die einen von der Masse abhoben. Und ebenso war er sich seit seiner frühesten Jugend der Tatsache bewusst, dass er mehr war, als ein gewöhnlicher Mensch. Heute würde er endlich die Anerkennung erfahren, die ihm seit langem zustand. Er würde die Belohnung für seine Taten empfangen. Die gerechte Auszeichnung für all den Verzicht, die erlebte Unsicherheit, die Gefahr, der er sich hatte stellen müssen. Seine Blicke schweiften über die Tribüne ob sie nicht doch gekommen wären.
Aus dem Haus seines Vaters war zwar die Nachricht gekommen, dass dessen Gesundheitszustand keine weiten Reisen erlauben würde, aber er hoffte dennoch ihn heute zu sehen. Wenn er ehrlich war, war es die Möglichkeit ihm vor versammelter Menschenmenge zu zeigen, was er geleistet hatte, die ihn so emotional werden ließ. Er blickte auf seine blank polierten Schuhe, bevor er das Fußende der Treppe zur aufgebauten Tribüne betrat, wobei er weiter Zuversicht und gute Laune ausstrahlte. Vielleicht waren sie ja bereits oben und saßen! Die in ihm keimende Hoffnung ließ ihn schnell die niedrigen Stufen erklimmen, bis er letztendlich oben stand. Sein Blick schweifte über die Menge, allesamt Angehörige der Oberschicht von Nova Autria in ihren edelsten Gewändern, hohe Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Militär samt Anhang. Doch er konnte bis jetzt nicht die vertrauten Gesichter ausfindig machen. Eine Stimme drang an sein Ohr.
„Schön sie zu sehen, General. Willkommen zu Hause, Reinhardt!“
Sein Blick folgte den Worten zu ihrem Ursprung und erfassten den auf ihn zueilenden Marschall Terentius Varro Klaren. Klaren war ein Mann, der knapp an der 2 Meter-Marke vorbeischrammte. Einsachtundneunzig um genau zu sein. Er hatte, wie viele Angehörige des Militärs einen athletischen Körper, wobei seinen Muskeln nicht zu offensichtlich in das Auge des Betrachters fielen. Das einst volle rostbraune Haar befand sich auf einem erbarmungslosen Rückzug, und die ergrauten Schläfen zeugten ebenfalls vom fortgeschrittenen Alter des Marschalls. Doch Generalleutnant Reinhardt Montecuccoli, Kommandant des 4. Garderegimentes, wusste aus miteinander verbrachten Nahkampfübungen von früher, wie zäh Klaren immer noch war. Seine Begleitung stellte in punkto Ausstrahlung jedoch selbst Klaren in den Schatten.
Dieser Riese war sogar noch einen Kopf größer, als der ohnehin schon hünenhafte Klaren. Überhaupt wirkte seine ganze Statur so, als wäre ein Mensch zu einem Titan geworden. Die Rüstung, die seinen gigantischen Körper einhüllte war in vier farbliche Bereiche geteilt, wobei das rechte obere und das linke untere Viertel weiß, und die anderen beiden in einem satten Blau-Ton, lackiert waren. Seine hohe Stirn umrahmten vier silberne Metallbolzen, die in seinen Schädel gerammt waren. Einzige farbliche Abweichungen waren das gelb lackierte linke Kniegelenk, sowie der ebenfalls gelbe Imperiumsadler, der auf seinem Brustpanzer prangte und die gesamte Breite ausfüllte. Auf der linken Schulterklappe, die einem Normalsterblichen auch als Helm hätte dienen können, prangte ein verkehrtes, blaues Omega in einem weißen Kreis vor weißen Flügeln.
Selbst wenn Montecuccoli noch nie einen Vertreter dieser Spezies gesehen hätte, wäre es ihm spätestens jetzt klar gewesen, wer sich ihm gegenüber befand. Vor ihm stand ein erwählter Krieger des Adeptus Astartes, ein Space Marine. Das Abzeichen kannte er bereits seit seiner Kindheit, als ihm noch sein Vater Geschichten von diesen mysteriösen, elitären Kriegern erzählt hatte. Er hätte es aus dem Gedächtnis heraus aufzeichnen können. Dieser Hüne war ein Mitglied des Ordens der
Sons of Guillaume. Jener Orden, der mit dem legendären Ullrich von Horn dereinst die verhassten Ketzer aus dem System gejagt hatte. Montecuccoli schlug eiligst die Stiefel zusammen, als der Marschall vor ihm stand und salutierte zackig.
„Melde mich gehorsamst! Herr Marschall!“
Sein Salut wurde von Klaren mit einer kurzen Geste erwidert.
„Wie gesagt, willkommen zu Hause, Reinhardt! Erlauben sie mir, sich einander vorzustellen. Das ist…“
„Sergeant Quitillian von der zweiten Kompanie der
Sons of Guillaume. Es freut mich, sie hier zu treffen. Die Leistungen ihrer Einheiten waren in den letzten Tagen der Hauptgesprächsstoff“.
Der Space Marine bot Montecuccoli seine Rechte gepanzerte Hand zum kameradschaftlichen Gruß an. Montecuccoli zögerte zuerst als er die Größe der angebotenenen Hand sah, doch dann legte er seine Hand in die des Space Marine. Der Druck war fest, doch Montecuccoli war überrascht von der Feinfühligkeit der mit Servomotoren verstärkten Panzerfinger, die genau die richtige, und vor allem, schmerzfreie Dosierung fanden. Dennoch war er froh, dass seine intakte Hand nach einigen Augenblicken wieder losgelassen wurde.
„Danke sehr. Was führt sie eigentlich in diesen Sektor Sergeant?“, stellte er eine Frage, die ihm seit dem ersten Anblick des Kriegers auf der Zunge gelegen war.
„Ich bin wegen Nachschub hier“, antwortete Quintillian mit einem schelmischen Zwinkern. Die
Sons of Guillaume hatten seit ihrem „Engagement“ vor über 6000 Jahren das Recht, hier Nachschub für ihren Orden zu bekommen. Meist waren dies jugendliche Gangmitglieder aus den beiden Makropolen. Etwas, dass immer außerhalb der Erfahrungen und Erlebnisse Montecuccolis stattgefunden hatte. Ein Leben, dass genauso auf einen anderen Planeten hätte stattfinden können, dachte der junge General während er in die eisenharten Augen des Astartes blickte.
„Und aus welcher Welt stammen sie, wenn ich fragen darf, Sergeant?“ Quintillian beantwortete die Frage des Marschalls Klaren wieder mit einem deutlich sichtbaren Anflug von Humor in der Stimme.
„Ein alter Mann wie ich, kann sich daran nicht mehr so genau erinnern!“ Der Sergeant spielte damit auf die Gerüchte an, dass Space Marine quasi als unsterblich galten. Der Witz ging eindeutig nach hinten los, da alle Anwesenden von der Gestalt des Space Marine zu eingeschüchtert waren, um darüber zu lachen.
„Also ich finde, dass sie sich gut gehalten haben“, versuchte der Marschall den kurzen peinlichen Moment zu überbrücken.
Zu schmeichlerisch, sogar für meinen Geschmack. Und ich bin da schon einiges gewohnt, urteilte Montecuccoli. Für ihn war dieser Pseudo- Smalltalk nur nebensächlich. Während sich Klaren weiter angeregt mit dem Sergeant unterhielt, suchten Montecuccolis Augen weiterhin die Anwesenden auf den Tribünen ab. Schließlich musste er sich resigniert eingestehen, dass sie wirklich nicht gekommen waren. Er folgte wortlos der Einladung des Marschalls Platz zu nehmen, da die ersten Fanfaren ertönt waren. Vor ihnen erstreckte sich die große Hauptstraße von Quellstadt. Hinter ihrer provisorischen Tribüne befanden sich die zentralen Verwaltungsgebäude der Makropole, einschließlich der Kurie, dem Tagungsort der Ständeversammlung. Montecuccoli nahm neben anderen Generälen seinen Platz in der vordersten Reihe ein, während die Trompeten weiter anschwollen und damit den Lärm der jubelnden Menschenmassen, die die Straße säumten, zu übertönen versuchten.
Scaevola fügte sich in den Rhythmus ein. Klack – linker Fuß. Klack – rechter Fuß. Er spürte, wie seine Einheit verschmolz, gleichzeitig beim Gehen leicht nach rechts und links wippte. Wie der Arm sich gestreckt vor und zurück bewegte, und er ließ sich selbst in die Synchronie der Kompanie fallen. Vor ihnen marschierte das 1. Bataillon in voller Stärke. Tausende Füße, die simultan mit ihren eisenverstärkten Stiefeln den Boden erzittern ließen. An den Rändern seines Blickfeldes nahm er die ungezählten Menschen wahr, die ihnen zuriefen, applaudierten und kleine Fahnen schwenken. Er sah Kinder mit strahlenden Augen, die von ihren Vätern auf die Schultern gehoben wurden, damit sie mehr vom Spektakel sehen konnten. Scaevola war nicht zum Feiern zu Mute, und damit war er wohl heute auf diesem Planeten die Ausnahme. Es gab für ihn wenig Grund dazu. Ja, er hatte den Alptraum des Krieges hinter sich!
Vorerst zumindest. Doch es gab noch etwas anderes, und das überrascht ihn am meisten. Er hatte gehofft, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch hier, an diesem vertrauten Ort, überkamen ihn die Erinnerungen, wie eine Welle, die sich ungestüm an einer Steilküste brach. Mit äußerster Anspannung schob Scaevola diese tobenden Gefühle zur Seite. Hier und jetzt waren weder der richtige Zeitpunkt, noch der richtige Ort für seine Vergangenheitsbewältigung. Außerdem hatte er ohnehin noch andere Sorgen.
Denn wenn er ehrlich war, und er war Realist genug, wusste er, dass der nächste Feldzug schon praktisch hinter der nächsten Türe auf sie wartete. Nach allem was er bereits gesehen hatte, war Frieden nicht gerade ein Rohstoff, der in diesem Universum im Überfluss vorhanden war. Deshalb gönnte er den Bewohnern von Nova Autria diese Parade und die darauf folgenden Festivitäten. Er war zumindest froh, dass es hier eine unbeschwerte Freude und ein ruhiges Leben gab, der anderswo nicht selbstverständlich war.
Vor ihm bog jetzt der erste Teil des Regimentes in die Hauptstraße ein, und der Jubel und die Militärmusik schwoll noch mehr an. Riesige Banner mit dem imperialen Adler hingen von den Frontseiten einiger Makropoltürme herab, und buntes Konfetti rieselte sanft auf die Häupter der marschierenden Kompanien. Das Regiment zog nun seine Kompanien weit auseinander, damit sie einzeln den Ehrenmarsch durch den breiten Korridor zwischen der bereitgestellten Ehrenkompanie und der Tribüne vollziehen konnten. Vor ihnen hatte bereits das 8. Regiment dieses Ritual hinter sich gebracht und seinen Standort für den weiteren Teil der Parade bezogen. Scaevolas Kompanie setzte sich, gemäß ihre Reihenfolge, als vierte in Bewegung. Links von ihnen gab ein Offizier einen Befehl, und die Ehrenformation hob in synchroner Vorgehensweise ihre Exerzierwaffen und präsentierte sie, sodass die ziselierten Silberbeschläge von Magazin und Lauf im Sonnelicht funkelten. Auf einem riesigen Bildschirm erschien nun exakte Bezeichnung von Scaevolas Einheit, IV. Autrianisches Garderegiment; 2. Bataillon; 4. Kompanie, sowie eine Zusammenfassung ihrer Leistungen im Krieg. Währendessen kam die Tribüne immer näher.
„Kompanie – Augen Rechts!“
Auf seinen Befehl bewegten sich die Hälse von hundertfünfzig Gardisten simultan in die befohlene Richtung und blickten auf das Zentrum der Tribüne, wo sich die Anwesenden von ihren Sitzen erhoben hatten.
Zuerst erblickte er General Montecuccoli, der ihm kurz zunickte.
Im Zentrum standen der Gouverneur
Erzherzog Ullrich von Wellersheim, sowie rechts davon Marschall Klaren mit einem riesigen Space Marine. Die Zivilisten applaudierten höflich, während die Militärs salutierten, als er seinen gezogenen Exerzierdegen in einer Ehrenbezeugung auf die Tribüne richtete. Er realisierte, dass er dabei direkt auf Montecuccolis Hals zielte, und senkte den Degen ein wenig.
„Dies ist unsere vierte Kompanie des vierten Regiments. Wenn sie so wollen, unsere Gardisten innerhalb der autrianischen Garde.“, erklärte Klaren beiläufig dem Space Marine, der das sich ihm bietende Spektakel mit einigem Interesse verfolgte.
„Ist diese Truppengattung normalerweise nicht auf mehrere Kompanien in Truppstärke verteilt?“, wollte Quintillian wissen.
„Normalerweise ja. Wir befolgen hier aber die taktischen Anweisungen Ullrich von Horns, der eine Zusammenfassung der Spezialeinheiten bevorzugt hat.“
Vor ihnen marschierte eine weitere Kompanie in ihrer Paradeuniform, blaue Hosen, weiße Jacken, an ihnen vorbei, und Klaren unterbrach das Gespräch und salutierte, bis die letzte Reihe an ihnen vorbei war.
Quintillian überblickte die bereits versammelten Einheiten und stellte dann eine ihm sich aufdrängende Frage.
„Sind eigentlich alle Gardeeinheiten hier versammelt?“
„Ja, für die Parade sind alle auf Septemtriones stationierten Regimenter angetreten“, Klaren registrierte die Sorgenfalte auf der Stirn des Space Marine.
„Keine Sorgen“, versuchte er zu beschwichtigen, „was soll den heute schon passieren?“