40k Jenseits des Imperiums

So, weiterer Teil.
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Jenseits des Imperiums liegt das Grauen!
Scaevola erwachte mit diesem Gedanken, der in seit der Ankunft auf diesem Planeten nicht mehr losließ. Er erhob sich mühsam und setzte sich aufrecht hin. Langsam kamen Orientierung und Erinnerungsvermögen wieder. Er blickte kurz aus dem Fenster, um seinen noch stoßweise gehenden Atem zu beruhigen. Nach einigen Augenblicken richtete er seinen Blick wieder ins Abteil. In die Abteiltür war ein kleiner Monitor eingebaut. Er fuhr mit der Hand darüber und der Bildschirm erwachte surrend zum Leben. Zuerst zeigte er den Status des Zuges. Mit einer gewissen Befriedigung registrierte Scaevola, dass er bald sein Ziel erreichen würde. Etwas erregte jedoch seine Aufmerksamkeit. Der Bildschirm hatte währenddessen auf eine Übertragung der planetaren Nachrichten umgeschaltet. Scaevola holte vor Überraschung tief Luft, als er eine Person in der Ständeversammlung erkannte.
Konnte es möglich sein, dachte er sich und stellte die Lautstärke höher. Mit regem Interesse verfolgte er nun die dargebotenen Szenen auf dem Monitor.

Ein beständiges Klopfen versuchte Herr über den angeschwollenen Lärmpegel zu werden.
„Mein Herren! Ich bitte sie, die Würde unseres Hauses zu respektieren!“ Der Ordnungsruf des Vorsitzenden zeigte keinerlei Wirkung. Noch immer schrieen sich die zwei gegenüber stehenden Lager in der Ständeversammlung, Beleidigungen an den Kopf. Am Rednerpult stand der Anführer der bürgerlichen Fraktion und betrachtete die Szene mit einer gewissen Belustigung.

Hinter ihm saßen auf einer Erhöhung der Vorsitzende, sowie rechts davon der Gouverneur Ullrich von Wellersheim, dessen führende Berater und Regierungsmitglieder wie ein Rattenschwanz hinter ihm standen. Ullrich von Wellersheim war ein Mann von kleinerer Statur, dass genaue Gegenteil des Äußeren seines Vorfahren Ullrich von Horn. Obwohl böse Zungen behaupteten, dass er nie müde wurde, seine Abstimmung hervorzuheben, so entfernt sie auch sein mochte. Der Gouverneur nahm nicht an den lautstarken Protestrufen der Adelspartei teil, welche die Rede unterbrochen hatten. Sein hochroter Kopf zeigte jedoch, dass die Äußerungen bei ihm ebenfalls massiven Ärger hervorgerufen hatten. Inzwischen war es dem Vorsitzenden wieder gelungen, etwas Ruhe herzustellen, damit der Redner fortfahren konnte.

„… und ich bleibe dabei, dass es eine Schande ist. Unsere derzeitige Regierung ist nicht im Stande, die soziale Not auch nur annähernd in den Griff zu bekommen. Es ist soweit, dass wir private Organisationen bedürfen, wie der Gemeinschaft fürsorglicher Menschen, um diejenigen zu ernähren, die eine völlig verfehlte Politik an den Rand der Armut gebracht hat.“

„Die meisten dieser Armen leben aber in den von ihnen kontrollierten Städten“, unterbrach ihn Graf Wenden schreiend, der sich, wie andere Adelige, wieder von seinem Sitz erhoben hatte. Geschrei erhob sich wieder und der Vorsitzende hatte erheblich mehr Mühe, wieder Ruhe herzustellen.
„Deshalb.“ Lautstarke Proteste der Adeligen unterbrachen ihn, und der Vorsitzende musste Graf Wenden einen Verweis erteilen, bis der Anführer der Bürgerlichen fortfahren konnte. „Deshalb stelle ich im Namen meiner Fraktion einen Misstrauensantrag gegen Gouverneur von Wellersheim und sämtliche Mitglieder seines Regierungskabinetts.“
Die Szenen, die nun folgten, waren ein weiterer Beweis dafür, dass die Ständeversammlung Nova Autrias sich in ein Tollhaus verwandelt hatte. Dem Vorsitzenden kostete es erhebliche Mühe, um auch nur das Mindestmaß an Ordnung wiederherzustellen. Dennoch musste er beinnahe in sein Mikrofon brüllen, da beide Seiten sich gegenseitig mit lautstarken Zwischenrufen beflegelten.

„Gemäß Paragraph 4 der Verfassung wird der Antrag nun durchgeführt. Kommen wir nun zur Abstimmung“, schloss der Vorsitzende ab, bevor der Beitrag aus der Ständeversammlung ausblendete. Scaevola sah die Statistik mit den Ergebnissen. Der Antrag war durch die Mehrheit der Adeligen abgelehnt worden, aber die Mehrheit war denkbar knapp. Doch Scaevola ging anderes durch den Kopf, als Tagespolitik. Er hatte den Redner sofort wieder erkannt.
Wie lange war es her? Eine Ewigkeit, auf jeden Fall. Es war Cassius gewesen, der so eloquent am Redepult stand und sich nun ein kleines Lächeln genehmigte, da seine Rede solch einen Erfolg zeigte. Einst war er der charismatische Anführer der Studentenbewegung gewesen, in der er sich auch Scaevola selbst so engagiert hatte. Dann war es zu dem Vorfall gekommen. Er war zur Garde geschickt worden, Cassius hatte aufgrund seiner Familie ein einträglicheres Los bekommen. Dennoch überraschte es Scaevola, ihn als Anführer der Opposition wiederzusehen. Bevor er jedoch weiter über den Verlauf des Schicksals nachdenken konnte, hielt der Zug an seinem Ziel an. Scaevola packte seine Tasche und stieg aus.



Keinen Zweifel! Sie sieht noch genauso aus, wie am Tag meines Abschieds!
Diese Gedanken gingen Lohner durch den Kopf, als er sie zum ersten Mal wiedersah. Sie trug ihr Haar zwar ein wenig länger, aber er hätte sie auch mit einer Perücke und anderer Haarfarbe wiedererkannt. So oft hatte er ihr Gesicht während des Krieges vor sich gesehen. Die Hoffnung sie wiederzusehen, hatte ihm geholfen, das alles durchzustehen. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, und er blieb stehen und betrachtete sie einfach. Sein Herz raste, als sie ihn endlich erblickte. Die junge Frau erstarrte, als würde sie einen Geist erblicken.
Dann kam sie auf ihn zu.
Für Lohner schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen, bis sie vor ihm stand. Er musste sich in Erinnerung rufen, sie nicht bloß anzustarren und endlich etwas zu sagen. All die großen Phrasen und Sätze, die er sich vorher ausgedacht hatte, schienen nun vergessen. Sein Mund fühlte sich so trocken an, seine Kehle war heiser.
„Hallo“, stammelte er. Unfähig, mehr zu tun oder zu sagen.
„Schön dich zu sehen, Richard“, antwortete sie und umarmte ihn dabei. Es war offensichtlich, dass zumindest sie nicht so gelähmt war.
„Was ist das?“, fragte sie, als sie sein Mitbringsel, dass er hinter dem Rücken versteckt hatte, berührte.
„Äh, ich hielt das für ein gutes Geschenk.“
Sie lachte wieder. Zumindest war es ein gutes Zeichen! Lohner hatte sich zuerst geärgert. Er hatte Blumen mitgebracht, nur um feststellen zu müssen, dass sie in einem Blumengeschäft arbeitete! Dennoch schien sie sich über das Präsent zu freuen, als er ihr es hastig überreichte.
„Wo gehen wir hin?“ Wieder eine Frage. Aber eine, auf die Richard Lohner gehofft hatte.
„Ich kenn da ein Restaurant in der Stadt. Ein Major aus dem 2. Bataillon meines Regimentes hat mir einen Tipp gegeben. Können wir?“
„Gleich! Ich mach noch den Laden zu.“ Richard hatte damit kein Problem. Schließlich hatte er auf diesen Moment Jahre gewartet.




  • „Die Politik ist wie eine Schlangengrube. Selbst als die Größte aller Schlangen, ist die Überlebenschance gering.“
Kriegerphilosoph Scipio auf die Frage, warum er sich aus der Politik heraushalte

Die Musik drang aus dem Ballsaal herüber. Aber sie war nicht zu laut, sodass die in lockeren Grüppchen stehenden Menschen sich normal Unterhalten konnten. Montecuccoli stand mit einem Glas Wein in der Hand am Rand und beobachtete die Menschen. Die Meisten kannte er seit seiner Kindheit, sie gehörten, wie er selbst, alle zu den oberen Zehntausend des Planeten. Früher hatte ihn diese Zurschaustellung von Prunk und Macht beeindruckt. Doch der Krieg hatte seine Prioritäten geändert. Nicht dass sich alles gewandelt hätte. Er hatte immer noch seinen Willen, genau wie die Anwesenden, nach Ruhm und Macht zu streben. Er war sich selbst gegenüber ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass er genauso nach Macht strebte. Doch ohne die geringste Scham war sich gleichermaßen sicher, dass er diesen Menschen weit überlegen war. Vor sich sah er nur degenerierte, dekadente Weichlinge. Montecuccoli bezweifelte, dass auch nur einer der Ballgäste sich jemals in einer extremeren Situation als einer gesellschaftlichen, arrangierten Treibjagd befunden hätte. Während der letzten Jahre hatte Montecuccoli Männer kennen gelernt, die er für befähigter hielt, einen Planeten zu regieren. Zum Teil überraschte ihn dieser Sinneswandel noch immer. Er verachtete nun die Spitzen der Gesellschaft, die er früher so bewundert hatte. Und er bewunderte Männer aus dem einfachen Volk, die er früher verachtet hatte. Sein Blick schweifte durch den Raum, und er erblickte Marschall Klaren.

Lassen wir das Spiel beginnen! Festen Schrittes marschierte Montecuccoli auf sein Ziel zu. Klaren hatte ihn ebenfalls gesehen, und entließ gerade seinen Gesprächspartner mit einer höflichen Floskel.
„Herr Marschall!“
„Hallo Reinhardt! Wie gefällt Ihnen der Ball?“ Als Montecuccoli nicht sofort antwortete, fuhr er weiter fort. „Schon gut, Sie müssen sich wohl erst wieder akklimatisieren!“ Dann zog er ihn ein wenig beiseite um einen leiseren Ton anzuschlagen.
„Im Vertrauen mein Sohn, Sie müssen wieder lernen, ihre Gefühle besser zu verbergen. Sie sind hier nicht mehr auf Mitanni Sigma. Hier benötigen Sie mehr Diplomatie um ihre Zukunft zu sichern. Und Ihnen steht, wenn ich das so offen sagen darf, eine glänzende Zukunft vor sich. Sehen Sie, Sie sind jetzt schon Divisionskommandant, und wer weiß, was die Zukunft noch bringen kann.“ Montecuccoli verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Marschall Klatren war offenbar bereit, ihn zu protegieren. Doch dafür verlangte er sicher einen Gegengefallen. Und dann kam er auch schon. Beiläufig, im höflichen Plauderton, fragte ihn Marschall Klaren: „Da fällt mir ein, haben sie schon einen Nachfolger bestimmt?“
Montecuccoli nickte. Er hatte verstanden.



Seine Augen ruhten nur auf ihr, während sich beide zum Rhythmus der Musik bewegten. Nach dem Essen hatte sie ihn, trotz sanftem Widerstand seinerseits, auf die Tanzfläche geschleppt. Obwohl Lohner Tanzen nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählte, genoss er den Moment. Es machte ihn Freude wieder Musik zu hören. Wie lange hatte er darauf verzichtet? Auf jeden Fall zu lang, beschloss er, während sie sich leicht umschlungen umkreisten. Die gesamte Fläche war voll mit Menschen, das Licht flutete in kurzen Schüben den Raum, und das Knattern von Waffen drang leise an sein Ohr.
Das Knattern von Waffen?
Lohner blinzelte, weil sich die Situation so abrupt verändert hatte. Er öffnete die Augen und fand sich auf dem Schlachtfeld wieder. Das kurze Aufblitzen waren die Geschütze der Artillerie, die Musik war verstummt. Rings um ihn lagen Leichen und Verwundete, und das charakteristische Pfeifen erfüllte die Luft ebenso, wie hunderte umhersausende Leuchtspurgeschosse. Er konnte den Pulverdampf, sowie den süßlichen Gestank von verbranntem Fleisch, riechen. Rings um ihn war Tod und Verderben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihn erwischte. Eine Hand berührte leicht seine Schulter.
„Alles in Ordnung mit dir, Schatz?“
„Ich, ich denke nicht…“, keuchte Lohner der sich auf der Tanzfläche wieder fand. Livia sah ihn mit ihren großen Augen sorgenvoll an. Erst jetzt registrierte er, dass er nur stoßweise atmen konnte. Livia half ihm von der Tanzfläche, und an ihren Tisch zu kommen. Erst da bemerkte er, wie sie ihn genannt hatte. Freude durchströmte ihn, während er gleichzeitig mit seiner Atmung und den Bildern in seinem Inneren rang, die ungehemmt seinen Geist bestürmten.
 
So, so. Ich bin auf dem aktuellen Stand.

Montecuccoli ist ein sehr interessanter Charakter, und seine weitere Entwicklung in dieser Geschichte für mich überhaupt nicht absehbar. Dementsprechend einen kleinen Applaus meinerseits an diese exzellent entwickelte Figur.
Dass es diesmal mit dem Chaos losgeht (wie viele dumme Wortspiele mir dazu einfallen...) ist wohl der Natur von 40K geschuldet. Denn Chaos geht immer und bedarf auch keine besonderen Erklärung, was die nun auf einer imperialen "Kernwelt" verloren haben. Soll jetzt nicht als negative Kritik herüberkommen, aber da sind wir Autoren nunmal von der Natur des Fluffs her eingeschränkt. Mich würde mal interessieren, ob du dir überhaupt Gedanken zu einem anderen Gegner gemacht hast, oder das Chaos eben sofort da war?

Hat Scaevola PTBS oder sowas? Für einen Mann in seiner Position nicht gerade optimal. Noch kann ich über die Umsetzung und die Aktionen der Figur Scaevola in dieser zweiten Geschichte nicht jubeln. Der Grundtenor seiner "Kriegsmüdigkeit" lässt diese Abschnitte der Geschichte leider zu sehr Eintönigem (ver)kommen. Etwas mehr Motivvielfalt in seiner Perspektive wäre aus Sicht deiner Leser wünschenswert. Mir ist übrigens der Teil mit seinem ehemaligen Studentenkollegen nicht entfallen und ich bin nach Veröffentlichung weiterer Teile auch bereit diese Kritik dann zurückzunehmen. Momentan aber noch nicht.

Paragraph 4 der Verfassung regelt die Parlamentsordnung? Was für eine Verfassung soll das denn sein (Entschuldige, ich studiere Rechtswissenschaft und kann das nicht unkommentiert lassen). Der Anfang einer Verfassung beschreibt entweder Grundrechte (wäre in 40k ziemlich abstrus) oder Staatsorganisationsprinzipien (Republik oder Königreich/ Zentralistisch oder Föderalistisch etc.). Parlamentsgesetz oder besser noch Geschäftsordnung würden an der Stelle des Textes deutlich besser passen. Oder meinetwegen einen höherziffrigen Paragraphen der Verfassung (im deutschen GG steht auch was über Organisation der staatlichen Organe, aber weiter hinten und allgemein gehalten).
Dies ist allerdings Kleinkrammeckerei^^.


Abseits davon ist es auch weiterhin ein Vergnügen deine Werke zu lesen. Der Übergang in eine neue Geschichte verläuft flüssig und da der Lesegenuss von Teil 1 noch nicht lange zurückliegt, hat mein subjektives Empfinden deiner Geschichte (bzw. der Geschichte um die Figur Scaevola) keinen Abbruch erfahren.


Und jetzt noch der übliche Forenmüll:

Guter Teil. Wann geht's weiter😛:lol:.
 
@Sarash- Anwalt wird er, der feine Herr :dry:
Dazu kann man nur sagen:
Bart: Wenn ich einmal groß bin, möchte ich Anwalt werden wie Sie.
Lionel Huts: Großartig, wenn die Welt etwas braucht, dann sind das noch mehr Anwälte.

So, den Fehler hab ich gefunden und korrigiert (ich hab natürlich nur die Verfassung der Ständeversammlung gemeint, nicht der planetaren Regierung)
Werde mir Mühe geben, Scaevola mehr Tiefe zu verleihen (PTBS hat er, oder doch nicht?). Monti ist auch, wie bereits erwähnt, einer meiner Lieblinge. Macht mir riesigen Spaß, seine Abenteuer zu erzählen (und da hab ich noch einiges im Peto)
Guter Teil. Wann geht's weiter😛:lol:
Tja, da sind wir beim Hauptproblem "Gejammer über private/berufliche/sonstige Auslastung im realen Leben". Der Witz ist, die gesamte Geschichte gibt es schon in der 1. Fassung. Nur so kann und will ich sie nicht auf euch loslassen (weil ich mich dann für Flüchtigkeitsfehler, s.o., in Grund und Boden geniere). Wenn sich aber jemand zum Lektorieren finden würde, könnte ich den Ausstoß erhöhen.
 
Scaevola lag in seinem alten Bett und fragte sich, ob all das real sein konnte. Selbst in seinen positivsten Vorstellungen hätte er sich diesen Tag nicht erträumen können. Er war aus dem Zug gestiegen und durch das Städtchen seiner Vorväter gegangen. Immer noch dieselben soliden Steinhäuser mit kleinen Vorgärten die sich an die breite, baumbesäumte Allee schmiegten. Forstheim, Verwaltungssitz des gleichnamigen Komitats war ein kleines Städtchen mit knappen 25 000 Einwohnern. Scaevola merkte erst jetzt, wie sehr er diesen Ort vermisst hatte. In seiner frühen Jugend hatte er Forstheim als provinzielles Nest betrachtet, und seinen Umzug kaum erwarten können.

Doch seine Meinung hatte sich geändert, hatte er nun doch genug Makropolen gesehen. Von außen beeindruckend und strahlend, doch je näher man ihnen kam, umso mehr zeigten sie ihr verfaultes Inneres. Die Bewohner dieses Ortes konnten ihr Leben in Sicherheit und Ruhe genießen, ein Umstand, der in größeren Ballungszentren nicht die Norm war. Diese Gedanken beschäftigten Scaevola, während die Straße weiter zum Schloss entlang marschierte, wo sich das Heim seiner Familie befand. Die Leute auf der Straße blickten ihn ein wenig skeptisch an. Vielleicht weil sie ihn nicht erkannten, vielleicht, weil sie es taten. Er konnte es ihnen in beiden Fällen nicht verdenken.
Schließlich erreichte Scaevola das Schloss.
Der alte Graf hatte das Anwesen im alten Stil belassen. Scaevola konnte sich noch daran erinnern. Als er noch ein zehnjähriger Junge gewesen war, hatte viele andere Adelige protzige Neubauten errichtet. Der alte Graf hatte dies abgelehnt, was sehr für den alten Herrn sprach. Wie jedes Mal musste Scaevola auch heute eingestehen, dass ihn die schlichte Eleganz des gräflichen Besitzes beeindruckte. Es sagte viel über die Linie der Montecuccolis von Forstheim aus. Zeitlos schön, einfach und dennoch stilvoll, stark aber trotzdem freundlich gehalten, erhob sich das mehrstöckige Anwesen. Eine Natursteinfassade im Cottage-Stil, wirkte der Sitz des Grafen wie eine Burg aus prä-imperialen Zeiten. Efeu und Rosenstöcke schmiegten sich an die Außenwände an, wurden aber durch regelmäßige Pflege an wildem Ausufern gehindert. Eine perfekte Symbiose aus Natur und menschlicher Schöpfungskraft.
Zu seinem Erstaunen hatte sich das Seitentor durch seinen Genschlüssel immer noch öffnen lassen. Scaevola hatte zuerst vermutet, dass man schlichtweg vergessen hatte, seine Gensequenz aus der Autorisierungsliste zu streichen. Er war mit einem wild schlagenden Herz zu seinem Geburtshaus, das in den linken Seitenflügel eingebaut war, gegangen. Eigentlich hatte er nur einen Blick darauf werfen wollen. Doch seine Mutter hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie war plötzlich aus der Tür getreten und hatte ihn sofort wieder erkannt. Bevor er noch irgendetwas tun oder sagen konnte, war sie auf ihn zu gerannt, und hatte ihn umarmt. Bis jetzt hatten sie nur über Kleinigkeiten geredet. Weder über den Tod seines Vaters, noch über den Vorfall. Aber Scaevola wusste, dass sie früher oder später nicht darum herum kamen.

Jenseits des Imperiums liegt das Grauen!
Scaevola zuckte, als dieser Gedanken wieder in seinen Geist flutete. Er konnte es einfach nicht abstellen. Er wusste auch nichts mit dieser Information anzufangen. Und vor allem schaffte er es einfach nicht, irgendeinen Zusammenhang mit seiner gegenwärtigen Situation zu erkennen! Er lag hier in einem wohlig warmen und behaglichen Bett. Nach langer Zeit schien es endlich wieder nach oben zu gehen. Für die Probleme, vor denen er so lange geflüchtet war, schien es nun zumindest eine Möglichkeit zur Lösung zu geben. Und …
Jenseits des Imperiums liegt das Grauen!
Es machte keinen Sinn! Was sollte das?
„Das fehlte noch“, murmelte Scaevola vor sich hin, „jetzt auch noch wahnsinnig zu werden hat gerade noch gefehlt.“
Jenseits des Imperiums liegt das Grauen!
Der Gedanke schien sich nicht abzustellen, so sehr er es auch probierte. Er spürte, wie seine Hände leicht zu zittern begannen. Ein schlechtes Omen. Es war Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Zeit für eine Tasse Tee.



Sein Opfer hatte keine Ahnung.
Noch immer hatte sein Gegner ihn nicht bemerkt. Und Scaevola betete, dass dies auch die nächsten Sekunden so bleiben mochte. Der Ork drehte mit einem Grunzen den Kopf leicht zur Seite, und Scaevola erstarrte in der Bewegung. Hatte ihn die feindliche Wache entdeckt? Mehre bange Herzschläge wartet Scaevola voller Ungewissheit, bis sich der Blick des Gegners wieder nach vorne wandte. Er robbte weiterhin auf den Orkwachposten zu, der ihm immer noch den Rücken zeigte. Seine Handflächen strichen über den rauen Plastibeton der beschädigten Straße. Auch seine Knie spürten durch den Stoff seiner Uniform den Boden, und sie schmerzten jedes Mal, wenn sich herumliegende Splitter in sein Fleisch bohrten. Hätte er seine übliche Rüstung angehabt, wären ihm diese unangenehmen Erfahrungen sicher erspart geblieben. Aber diese Mission verlangte Schnelligkeit und Heimlichkeit gleichermaßen, wodurch er ohne seine bewährte Plattenrüstung auskommen musste.

Scaevola hielt die Spezialwaffe bereit. Eine Laserpistole mit integriertem Schalldämpfer, wie sie die imperiale Armee für solche Mission verwendete. Langsam kam er in die notwendige Reichweite um einen sicheren Schuss abzugeben. Mit einem Hauch von Nervosität, richtete sich Scaevola auf, und ging dann in gebückter Haltung weiter. Seine Augen waren auf das Ziel gerichtet.
Vielleicht hatte er ihn deshalb übersehen.
Sein rechter Fuß stieß gegen etwas, das bei der Berührung zusammenzuckte. Ein Schatten am Boden bewegte sich und Scaevola sah das Aufblitzen von Metall. Scaevola handelte instinktiv. Blitzschnell ließ er sich auf den Körper fallen und zückte sein Messer.

Seine rechte Hand suchte den Mund und umfasste ihn, direkt unter dem Nasenansatz. Das Messer in der linken Hand stieß unterhalb der Rippen in den Gegner. Im Todeskampf umschlungen lagen beide Gestalten am Boden in der Dunkelheit der Schatten.
Scaevola ignorierte den Schmerz, seines Ellbogens, den der Aufprall verursacht hatte, und widerstand dem Impuls seine rechte Hand zurückzuziehen. Sein Messer kämpfte ein wenig gegen den Widerstand auf Haut und Gewebe, bis es die äußersten Schichten durchdrang und dann leichter in den Körper eindrang. Der Feind hatte erhebliche Schmerzen, doch aufgrund von Scaevolas Hand, drangen nur gedämpfte Laute aus seinem Mund. Scaevola hörte sie umso deutlicher, und sie waren schrecklich. Dieses Röcheln und die erstickten Schreien setzten ihm zu.
Es war die Essenz des Tötens. Ein Handwerk blutiger Art, das einem nahe gehen musste. Authentisch und grausam zugleich Es war ein Grund gegen den Krieg an sich.
Er erhöhte den Druck seiner linken Hand und drehte die Klinge, die nun in der Bauchgegend die inneren Organe schnitt und zerfetzte. Dann war es vorbei. Die Grillen zirpten leise, während ein Leben gewaltsam in aller Stille beendet wurde. Keine zwanzig Meter entfernt schritt die feindliche Wache weiter, das eigentliche Ziel, die nichts von dem tragischen Ereignis mitbekommen hatte.

Mitgenommen richtete sich Scaevola auf und blickte auf die Gestalt herab. Und zu seinem Entsetzen konnte er sie erst dann identifizieren.
Es war ein Mensch!
Sehr wahrscheinlich ein Sklave, dünn und ausgemergelt, der mit einer Kette an einem Pflock festgebunden war. Das aufblitzende Metall war keine Waffe, sondern diese Kette gewesen. Das Bild dieses unschuldigen Toten brannte sich in diesem Augenblick in Scaevolas Gedächtnis. Schemenhaft sichtbar lag da vor ihm zusammengekrümmt wie ein ungeborener Fötus, während sich neben ihr eine dunkle Flüssigkeit ausbreitete.

So fand ihn seine Mutter in der Küche, während sich neben ihm eine Lache aus Tee am Boden bildete.



Er war ein Meister seiner Zunft und dieser Auftrag würde die Krönung sein. Mit geübten Bewegungen huschte er von Schatten zu Schatten. Das Wachsystem des Palastes machte seinem Namen alle Ehre, war ihm aber bei weitem nicht gewachsen. Für ihn war es ein Leichtes gewesen, sich in das Sicherheitsnetz einzuhacken, und um an die Pläne des Gebäudes zu kommen. Die beiden toten Wachen vor dem Gemach bewiesen es. Die Anspannung in seinem Körper stieg, während er sich bedächtig sich seinem Ziel näherte. Er musste sich zwingen, vor Überraschung nicht tief Luft zu holen, als er die riesige, schlafende Gestalt zum ersten Mal sah. Ein neuraler Impuls ließ die tödliche Klinge geräuschlos aus der rechten Faust herausfahren. Langsam näherte er sich seinem Opfer, dessen Züge so friedlich im Schlaf aussahen.
Zuerst registrierte er nicht, was passiert war.
Erst nachdem er Luft holen wollte, wurde ihm klar, dass etwas falsch lief. Eine riesige Faust umklammerte mit tödlicher Präzision seinen Hals und hob seinen gesamten Körper hoch, sodass seine Füße in der Luft baumelten. Er wollte mit seiner Waffe zuschlagen, doch etwas hielt mit unmenschlicher Kraft seinen Arm davon ab.

„Mein Freund“, sagte eine Stimme mit tiefem, vollem Tenor. Eine Stimme die durch Mark und Bein ging. „Mein Freund, wenn du das nächste Mal versuchst, einen Space Marine umzubringen, solltest du dich vorab besser informieren. Eines meiner Organe, der cataleptische Knoten um genau zu sein, lässt mich schlafen und meine Umgebung dennoch beobachten. Aber das ist eine Information mit der du nichts mehr anfangen wirst.“
Dann verstärkte sich der Druck um seinen Hals, und ihm wurde schwarz vor Augen.



Montecuccoli beschlich dieses unangenehme Gefühl, dass es einfach dafür noch viel zu früh war. Seine Augen brannten aus Protest dafür, dass sein Körper einfach zu wenig Schlaf bekommen hatte. Diese eintönige Stille machte es außerdem auch nicht einfacher, seine Müdigkeit zu überwinden. Er hatte zwar schon seit dem Eintreffen der Nachricht seinen zweiten Becher Kaffein geschlürft, aber er wusste, dass er sein normales Tagespensum heute überschreiten würde. Die letzten Reste der Nacht webten einen halbdurchsichtigen Schleier, der alles in ein Halbdunkel legte. Seine Schritte hallten durch den Gang, als er forschen Schrittes seinem Ziel zustrebte. Automatische Sensoren, eingebaut in die kunstvollen Fresken, registrierten ihn und öffneten die Tore. Montecuccoli betrat einen weiten, runden Raum, der in helles Licht getaucht war. In der Mitte befand sich ein kreisrunder Tisch aus edlem, dunklem Holz, doch die Mehrzahl der Anwesenden hatte noch nicht Platz genommen, sondern stand in einer kleinen Gruppe beisammen. Scaevola erkannte sie sofort an ihrer Statur. Gouverneur Wellersheim, Marschall Klaren, Sergeant Quintillian, sowie andere hochrangige Vertreter des Imperiums auf Nova Autria. Sie waren alle, wie er der Nachricht entnehmen konnte, versammelt. Klaren löste sich aus der Gruppe und ging auf Montecuccoli zu.

„Reinhard! Wir bedauern, sie zu so später Stunde aus ihrem verdienten Schlaf zu reißen. Aber kürzlich vorgefallene Ereignisse machen dieses Treffen unumgänglich! Können wir ihnen eine kleine Erfrischung anbieten? Vielleicht Kaffein?“
Montecucolli lehnte mit einer kleinen Geste ab. Und begrüßte schnell die restlichen Versammelten, wobei er erst jetzt die ebenfalls noch anwesenden Space Marine Krieger registrierte, die sich im Hintergrund des Raumes aufhielten. Etwas verwundert nahm er nach einer kurzen Anweisung durch den Gouverneur Platz. Dieses Treffen schien auf jeden Fall ein gewisses Maß an Spannung zu bieten. Wellersheim ergriff sogleich das Wort, wobei sein gekünstelt wirkender Adelsakzent sofort zur Geltung kam.

„Meine Herren! Ich fasse mich kurz, Wir sind hier, weil sich vor knapp drei Stunden ein Attentatsversuch zugetragen hat. Dem Imperator sei Dank, wurde er jedoch vereitelt. Ich habe dem Palastkommandanten sofort befohlen die Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken. Außerdem habe ich sie hier hergerufen, damit wir die weiteren Schritte besprechen.“
„Wenn sie erlauben, Gouverneur“, unterbrach ihn Marschall, der sich dabei erhob und weiterredete, nachdem ihm Wellersheim mit einem Nicken seine Zustimmung bedeutet hatte. „Der Attentäter drang im Ostflügel des Palastes ein, und umging dabei mehrere Sicherheitssysteme.“ Klaren bediente einen Knopf, der in ein Steuerelement vor seinem Platz eingebaut war, worauf in einer hololithischen Projektion einen Grundriss des Palastes erschien. Alle Blicke folgten der rot markierten Linie, die sich durch die Palastebenen schlängelte, und die den Weg des Attentäters symbolisierte.
„Und welches Ziel hatte dieser Eindringling?“, wollte Montecuccoli wissen.
„Verzeihen sie, Reinhard. Wir hatten dies schon besprochen, bevor sie gekommen waren. Aber vielleicht wäre auch ein Anderer mehr befugt, über diese Thema zu sprechen.“
Montecuccoli folgte dem Seitenblick Klares zu Sergeant Quintillian. Dieser schien zuerst überhaupt nicht zu reagieren und immer noch dem Echo der letzten Worte zu lauschen. Doch dann setzte er an, wobei seine volle Stimme die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf ihn fokussierte.
„Heute Nacht wurde mein Schlafquartier von einem Eindringling aufgesucht. Ich muss zugeben, dass er ein gewisses Maß an Geschicklichkeit bewies. Aber meine Sinne hatte ihn schon vor der Türe registriert.“
„Moment mal! Sie haben ihn durch die Türe wahrgenommen?“, stammelten Klaren, vor Überraschung fast sprachlos, wobei er sich wieder erhob.
„In der Tat. Als er die Türe öffnete, spürte ich den leichten Luftzug. Zum Verhängnis wurde dem Attentäter aber der Blutstropfen, der beim Herausfahren seiner Klinge auf den Boden fiel?“
„Sie hörten im Schlaf das Fallen eines Tropfen?“, fragte der immer noch ungläubige Marschall. Quintillian nickte und zeigte bei seinem breiten Grinsen seine makellosen Reihen aus weißen Zähnen.
„Ich bin Adeptus Astartes! Die weise Voraussicht des Imperators befähigt Meinesgleichen zu diesem und noch mehr.“ Dabei zwinkerte er Montecuccoli zu und grinste wieder schelmisch. Montecuccoli konnte sich, trotz der ernsten Lage, ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. Er hatte auf Mitanni Sigma schon gesehen, wozu Space Marines in der Lage waren. Stellungen, an denen sich ganze Regimenter die Zähne ausgebissen hatten, konnten von einer Handvoll dieser riesigen Elitekrieger eingenommen worden. Sein Regiment hatte einmal sogar einen verletzten Space Marine geborgen, der mehrere Verwundungen erlitten hatte, von denen jede einzelne den sofortigen Tod bei einem normalen Menschen verursacht hätte. Doch der eben geschilderte Bericht des Sergeanten nötige sogar ihm Respekt ab. Geweckt durch das Geräusch eines fallenden Blutstropfens! Er konnte Klaren seine Überraschung nicht verdenken, der noch nie einen dieser Krieger in Aktion gesehen hatte.

Währendessen hatte sich Gouverneur Wellersheim erhoben und seine beiden Hände zu Zeichen des Schweigens erhoben.
„Danken wir dem Imperator für diese Fähigkeiten seines Dieners. Doch das Problem bleibt bestehen. Erstens, wie konnte er eindringen und wer hat ihn geschickt? Zweitens, was tun wir? Klaren?“
„Der Attentäter ist in sicherem Gewahrsam. Aber die Verhörspezialisten sagen, dass er mit einer psionischen Gedankenbarriere versehen ist. Sie tun ihr Bestes, aber es ist unwahrscheinlich, dass wir auf diesem Weg etwas über die Drahtzieher erfahren werden.“
„Und was sind ihre Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheit?“
„Wir werden auf jeden Fall ein anderes Sicherheitsschema verwenden und die Patrouillen verstärken. Das Adeptus Arbites sowie die lokale Miliz wird in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Was denken sie, Reinhard?“
Das war es also. Ich sollte herkommen, um seine Sichtweise zu bestätigen. Kluger Schachzug, er will sichergehen, dass ich ein Team- Player bin, dachte sich Montecuccoli. Bedächtig wählte er seine folgenden Worte:
„Ich stimme ihnen zu, was ihre Vorgehensweise betrifft, Sir. Vielleicht sollten wir aber doch die Garde einberufen.“
„Nein, auf keine Fall!“, winkte Gouverneur von Wellersheim ab. „Die Männer sind gerade aus dem Krieg zu ihren Familien zurückgekehrt. Das kann sich meine Regierung politisch nicht leisten. Und nur um es noch mal zu bestätigen. Was wir heute besprochen haben, ist streng vertraulich. Kein Wort nach Außen! Klaren, setzen sie ihre Pläne um. Aber ohne die Garde. Gönnen wir den Männern die Ruhe, die uns heute verwehrt geblieben ist.“ Mit diesen Worten entließ Wellersheim die Runde, während draußen bereits ein neuer Tag sich seinen Weg bahnte. Der blutrote Morgen warf vorausahnend seine folgenschweren Schatten.



3.) Alte Muster

Das zweite Erwachen war bei weitem angenehmer. Dafür gab es mehrer Gründe. Scaevola lag in seinem Bett, anstatt auf dem kalten Fußboden. Außerdem war sich auch nicht mehr der klebrige Rest von Tee auf seinem Gesicht. Dennoch gab es trotz all dieser an sich positiven Gründe, wenig Grund für eine fröhliche Stimmung. Er hatte nicht gewollt, dass ihn seine Mutter gestern Nacht so gefunden hatte. Um ehrlich zu sein, er hätte sich selbst auch nicht so finden wollen. Diese Szenen aus dem Krieg gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er hatte gehofft, dass die räumliche Trennung von Mitanni Sigma etwas verändert hatte, aber die letzten Tage hatten ihn eines Besseren belehrt.

„Man kann vor dem Krieg fliehen. Aber man kann ihm nicht entrinnen“, murmelte er, während er sich die Kleider anzog. Aus der Küche drangen die vertrauten Geräusche eines zubereitenden Frühstücks, als Scaevola die Steintreppe herunter schritt. Er versuchte nicht, das Grinsen aus seinem Mund zu bannen. Er hieß es vielmehr willkommen, hatte er doch so lange auf diese Geräusche verzichten müssen. Aus der Küche drangen ebenfalls die angenehmen Stimmen eines gedämpften Gesprächs. An der Tür angekommen, sah Scaevola, dass es sich um seine Mutter und seinen zweiten Bruder Andros handelte. Sie saßen am großen Holztisch bei einer Tasse Kaffein und unterbrachen gerade ihr Gespräch, als er eintrat.„Guten Morgen“, sagte seine Mutter und reichte ihm eine Tasse Tee. Nach all den Jahren hatte sie nicht vergessen, dass er kein Kaffein- Trinker war.
Vermutlich, weil Mütter so etwas nie vergessen werden, dachte sich Scaevola und setzte sich an den Tisch. Er blickte über die Fläche und ein Stich ging ihm ins Herz. Früher war der große Tisch immer gedrängt voll mit Leuten gewesen. Sein Vater, seine Mutter, und er mit seinen beiden Brüdern. Meistens waren auch noch Freunde dabei gewesen. Er hatte sich dabei nie eines Gefühls von Enge erwehren können. Nun, als er die verwaisten Sitze sah, vermisste er die Enge eines überfüllten Esstisches. Soviel hatte sich geändert, seitdem er zu den Sternen gereist war. Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Warum bist du hier?“, sagte jemand mit einem deutlich hörbaren Unterton von Zorn und Hass.
„Bitte … Keinen Streit jetzt. Freuen wir uns doch, dass er wieder da ist.“, versuchte seine Mutter flehentlich zu vermitteln. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt war, wie Andros Körpersprache zeigte.
„Mutter! Ich denke nicht daran, ihm auch nur irgendetwas zu geben. Es ist seine Schuld, dass diese Schande über unsere Familie gekommen ist. Wir waren glücklich, und nun sie uns doch an“. Dabei zeigte Andros mit seiner Hand auf die leeren Plätze des Tisches. Eine Geste, die keiner weiteren Worte bedurfte. Doch Andros schien noch nicht sein ganzes Pulver verschossen zu haben. Er stand von seinem platz auf und streckte seinen Finger drohend in Scaevolas Gesicht.
„Du bist ein Schandfleck, Meinetwegen hättest du dort bleiben können, wo der Pfeffer wächst!“
Dies war nicht der erste Streit, den Scaevola in seiner Familie erlebt hatte. Normalerweise hätte ebenso laut wie sein Bruder geschrieen. Nach etlichen Minuten wäre einer der beiden aus dem Raum gegangen, und irgendwann hätten sich dann beide bei einander entschuldigt. So hätte es sich vor Mitanni Sigma zugetragen. Scaevola blieb scheinbar gelassen sitzen und sagte mit eiskalter Stimme:
„Nimm deinen Finger aus meinem Gesicht.“
„Wieso? Was will denn der große Soldat sonst tun“, spottete sein Bruder, in völliger Verkennung der Lage. „Ich denke nicht daran, auch nur …“

Das nächste Geräusch an das sich Scaevola erinnerte, war ein unterdrücktes Würgen, begleitet von einem hysterischen Kreischen. Er sah zu seiner ausgestreckten rechten Faust, die sich in einem eisernen Griff um den Hals seines Bruders befand. Andros Gesicht lief bereits blau an, während er verzweifelt, aber vergeblich versuchte. Luft zu bekommen. Scaevolas Mutter stand neben ihnen und versuchte verzweifelt, den tödlichen Griff zu lösen und schrie Scaevola beständig an, ihren Sohn loszulassen.
Erst jetzt ging ihm auf, was er gerade im Begriff war zu tun!
Der Schreck verschaffte ihm wieder die Kontrolle über sich selbst, und er ließ seinen Bruder los. Andros griff sich an seine Kehle und sank zu Boden, während er tief Luft einsog. Seine Mutter kniete unter Tränen neben ihm. Scaevola stand einfach da, und versuchte die letzten Momente zu verarbeiten. Die Wände stürzten auf ihn ein, wie Scham und sein Schuldbewusstsein. Es wurde so eng, dass er befürchtete, selbst keine Luft mehr zu bekommen. Unfähig irgendetwas zu sagen, stolperte Scaevola aus dem Haus. Seine einzigen Gedanken waren, nur möglichst weit weg zu kommen.
 
Sein Weg hatte Scaevola nicht weit geführt. Die Endstation war ein heruntergekommenes Lokal in einer dunklen Seitengasse. Es besaß eine der üblichen, fast schäbig wirkenden Inneneinrichtungen, für die Autrias Kaffeinstuben so berühmt waren, und die Touristen mit Charme verwechselten. Ein einzelner, gelangweilt wirkender Kellner in schwarzem Frack und nicht mehr so blütenweißem Hemd hielt die Stellung und sein Tablett wie ein Schutzschild, das nur ja keiner der Gäste auf die Idee käme, ihn mit einer Bestellung zu belästigen. Der Rauch lange konsumierter Lho-Stäbchen hing unter der Decke, wo ein Kronleuchter ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Vor sich stand seine bisherige Ausbeute, alles in allen drei geleerten Gläsern. Für die fünfzehn Minuten, die er erst hier war, kein schlechter Durchschnitt. Doch es war bei weitem nicht genug, um das bereits Geschehene zu vergessen. Er hob seine Hand, und der Kellner kam offensichtlich widerwillig herbei. Das Gesicht des Kellners war eine Maske aus Höflichkeit, welche die Langeweile jedoch nicht vollends verbergen konnte.
„Noch einen! Und etwas stärkeres dazu, damit das Glas nicht so alleine ist:“
„Jawohl, der Herr Major! Wir hätten da einen Amasec, Jahrgang 690. Der ist allerdings nicht ganz billig.“
„Lassen sie das Bezahlen meine Sorge sein“, erwiderte Scaevola mit einem Knurren in der Stimme, worauf der Kellner möglichst schnell das Weite suchte, und kurz darauf hurtig das Bestellte brachte. Scaevola nahm einen tiefen Schluck vom Amasec und spürte, wie der Alkohol seine Kehle hinunter rannte. Er wunderte sich, wie der Kellner darauf kam, ihn mit einem militärischen Rang anzusprechen. Doch dann fiel ihm ein, dass autrianische Kellner berühmt-berüchtigt für ihren Umgang mit Gästen waren. Und den seltsamen Brauch, jede Person mit Brille als „Professor“, und jede Person mit einem Schnurrbart als „Oberst“ zu bezeichnen. Da war Major noch vergleichsweise harmlos.

Doch etwas stimmte nicht mit ihm, erkannte Scaevola.
Scaevola nahm noch einen weiteren, langen Schluck, während er sich wieder und wieder mit den Geschehnissen der letzten Stunde konfrontierte.
Es waren keine angenehmen Bilder, soviel war sicher.
Langsam kamen die Erinnerungen, und was Scaevola da sah, beschämte ihn zutiefst. Obwohl das Wort Scham oder Schuld bei weitem nicht ausreichte, um seine Gefühlslage zu beschreiben. Wenn er es gekonnt hätte, wäre er auf jeden Fall in dem sprichwörtlichen Boden versunken.
Ihm war klar, dass er ein massives Problem hatte. Bei dem Streit hatte er wie ein Soldat in der Schlacht reagiert, nicht wie ein Familienmitglied, welches sich mit seinen Bruder streitet. Diesen Punkt hatte er gefürchtet, seitdem er auf dem Deck der Friedliche Reise seinen Heimatplaneten durch das Observationsdeck angestarrt hatte. Der Mensch, der zu den Sternen aufgebrochen war, war als Soldat zurückgekehrt. Eine hochgezüchtete Kampfmaschine, die Bedrohungen so entgegnete, wie man es ihr beigebracht hatte.

Etwas stimmte nicht!
Etwas war falsch. Seine inneren Sensoren schrillten. Während er sein viertes Glas Ale zum Mund hob, registrierte er sorgfältig seine Umgebung. Auf den beiden Tischen rechts von ihm saßen Männer bei ihrem Frühstück, wobei sie sich angeregt unterhielten. Was seine Instinkte so beunruhigte waren die drei Männer die sich vor kurzem an den nächsten Tisch zu seiner Linken gesetzt hatten. Sie waren zwar gleich angezogen wie die anderen Bar-Besucher, braune Overalls und hohe, schwarze Stiefel. Aber man musste kein Experte sein um zu erkennen, dass diese drei, im Gegensatz zu den Anderen, nicht in der Landwirtschaft tätig waren. Die Kleidung passte nicht zu ihrem Äußeren. Sie waren alle muskulös gebaut, aber ihre Tätowierungen schrieen geradezu nach einer Makropolherkunft.
Um ehrlich zu sein, schätzte Scaevola, dass diese drei „Herren“ Angehörige irgendeiner Gang aus den Elendsvierteln waren. Ihre Anwesenheit hier war mehr als ungewöhnlich, und verhieß nichts Gutes. Als Scaevola sein Ale nach einem scheinbar langen Zug absetzte registrierte er, wie einer der Männer dem Anderen leicht zunickte. Je länger Scaevola über die drei Männer nachdachte, umso unbehaglicher wurde die ganze Situation für ihn. Obwohl er es zu vermeiden versuchte, ließ sich ein kurzer Augenkontakt mit einem der drei nicht vermeiden. Dieser blickte seine Gefährten mit einem wölfischen Lächeln an, erhob sich, und marschierte auf Scaevola zu. Es war der Gang eines Mannes, der sich auf eine Konfrontation vorbereitete. Der Mann baute sich vor Scaevola auf und musterte ihn, wie ein Raubtier, welches seine Beute gestellt hatte.
„Host a Problem?“
„Wie bitte“, antwortete Scaevola mit einem Lallen. Seine Schultern waren eingezogen und er hatte seinen Kopf gesenkt. Eine scheinbare Unterwerfungsgeste. Innerlich war Scaevola angespannt und bereit.
„Depperter, warum schaust Du so deppad!“
„Verzeihung, ich wollte niemanden belästigen“, erwiderte Scaevola zaghaft mit einem kläglichen Unterton. Die Showeinlage schien zu wirken, da der Ganger einen triumphierenden Blick zu seinen Kameraden warf, die mit einem höhnischen Gelächter antworteten.

„I glaub, i muass dir a Lektion über Respekt beibringan, Burschi“, sagte der Fremde, wobei seine riesige Totenkopftätowierung sein scheußliches Grinsen nur mehr verstärkte.
Das Auftauchen eines Energiemessers in dessen rechter Hand, war für Scaevola das Zeichen zum Handeln.
Der Tätowierte wusste nicht so recht, wie ihm geschah, als sein scheinbar eingeschüchtertes Opfer in einer flüssigen Aktion ihm das Messer mittels eines Druckgriffes entwand und ihm einen Knietritt in seine Weichteile versetzte. Er wäre sicherlich vollständig zu Boden gegangen, hätte das nicht die Gabel verhindert, die seine linke Hand an die Tischplatte nagelte. Seine beiden Kameraden waren sofort aufgesprungen, wobei das siegessichere Grinsen aus ihren Gesichtern verschwunden war. Zu Recht, wie das scheinbar leichte Opfer erneut bewies, als es herumwirbelte und einem der beiden durch einen Seitensprung knapp entkommen konnte. Ein Stuhl landete mit einem Scheppern gegen ihrem Tisch, als die beiden Ganger zum Nahkampf übergingen. Der linke, ein untersetzter Kerl mit Piercings und einem tätowierten Ohr, versuchte es mit einem rechten Haken, doch Scaevola tauchte unter dem Schlag hindurch und versetzte seinem Gegner im Gegenzug einen Schlag in die Magengrube.

Der Andere, etwas größer gebaut als sein Kamerad und mit einer wasserstoffblond gefärbten Irokesen -Frisur, landete jedoch einen Treffer mit einem beidhändigen Schlag auf Scaevolas Rücken. Der Schlag war gut gezielt und Scaevola spürte, wie ihm kurz die Luft weg blieb. Sein Kontrahent nützte die kurze Desorientierung seines Gegners und versperrte Scaevolas Arme hinter dessen Rücken. Scaevola versuchte sich aus der Umklammerung zu lösen, doch ohne Erfolg. Er musste mit ansehen, wie sich der zweite Gegner erhob und zum finalen Schlag ausholte.
„Jetzt hast aus’gspielt“, sagte der Gepiercte, wobei er seine gelblichen Eckzähne beim Grinsen entblößte. Zum zweiten Mal an diesem Tag verschwand sein Grinsen, als er Scaevolas Füße in seiner Magengrube spürte. Die Wucht des Trittes brachte Scaevola und den ihn festhaltenden Wasserstoffblonden aus dem Gleichgewicht. Sie fielen nach hinten, wobei Scaevola auf seinem Gegner landete. Der Aufprall löste die Umklammerung und Scaevola rollte sich zur Seite. Er erhob sich schneller als sein Gegner und nützte diesen Vorteil. Der Ganger hatte sich erst auf sein Knie gestützt, als ihn eine Hand am Nacken packte und vollends hochzog. Seine Augen weiteten sich vor Schrecken, als die Tischplatte immer mehr seines Blickfeldes ausfüllte. Mit einem lauten metallischen Nachhall verabschiedete sich der zweite Gegner aus dem Kreis der potentiellen Gefahren, da er das Bewusstsein verlor. Nummer eins hatte immer noch mit der Gabel und den Schmerzen in einer äußerst sensiblen Zone zu Kämpfen. Scaevola wandte sich dem letzten Gegner zu. Dieser lag noch immer halb benommen in einem Gewirr aus Stühlen und Tischen, wo seine Flugkurve ein Ende genommen hatte. Scaevola ging auf ihn zu, wobei sich seine Faust verkrampfte. Er konnte die vor Furcht geweiteten Augen sehen, als sein Haken den letzten Gegner ins Land der Träume beförderte.
Für einige Augenblicke stand Scaevola noch da und beobachtete seine Umgebung unter äußerster Anspannung. Er blickte in die Augen der verängstigen Barbesucher die ihn anstarrten und von ihm Abstand hielten, als wäre er ein Ork. Dann registrierte er die nähernden Sirenengeräusche. Er nahm einen Beutel voller Credits und warf sie dem noch mehr eingeschüchterten Kellner zu.
„Ich denke, dass wird für die Unanehmlichkeiten reichen“, sagte Scaevola und verschwand in der Seitengasse.


In einem dunklen Winkel, von dem man aus die Geschehnisse in der Bar verfolgen konnte, löste sich eine Gestalt und bog aus der Seitenstraße in den Boulevard ein, der zum Bahnhof führte. Dort angekommen, nahm sie den nächsten Zug nach Quellstadt. Am dortigen Zentralbahnhof wartete bereits eine kleine Gestalt auf ihn.
„Auftrag ausgeführt“, sagte Loren.
„Gut mein Sohn“, antwortete der Kleinere, „zumindest wurde er damit wachgerüttelt. Wie wär’s mit einer Partie Königsmord?“



Für Richard Lohner war dieser Tag bis jetzt sehr gut verlaufen. Er war gut gelaunt aufgewacht, ein Umstand, der in den letzten Jahren die Ausnahme gebildet hatte. Obwohl er am Abend einen kurzen Flashback erlitten hatte.

Seltsam, dachte Lohner, wie aus Katastrophen am Ende doch noch etwas Gutes entstehen kann. So auch hier. Livia hatte gestern noch einem weiteren Treffen für heute zugestimmt, als er sie nach Hause gebracht hatte.
Vielleicht aus Besorgnis, doch das war Lohner zurzeit egal.
Wahrscheinlich war es egoistisch, aber Lohner genoss einfach ihre Nähe, brauchte sie sogar. Erst jetzt, als sie wieder von Angesicht zu Angesicht sah, ging ihm auf, wie schmerzlich er ihre Gegenwart in den letzten Jahren vermisst hatte. Ihre Berührungen, ihr Anblick, ihr Geruch, eine Mischung aus ein wenig dezent aufgetragenem Parfüm und Seife. All die verborgenen Erinnerungen und Gefühle schienen nur darauf gewartet zu haben, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Und nun fluteten sie in sein Gedächtnis und ließen die Sonnenschein noch goldener erscheinen.

Seine innere Freude ließ den Kontrast zur äußeren Wirklichkeit noch mehr verstärken. Lohner hatte immer eine gewisse Vorliebe für Schleichwege gehabt. Scaevola sagte immer, dass Lohner nur Hauptstraßen benütze, wenn es absolut keine Seitenwege gebe. Richards so genannte „Abkürzungen“ waren unter seinen Freunden verschrien, weil sie meist mehr Zeit benötigten, als sie einsparen sollten. Doch Richard Lohner mochte eben dass Versteckte, welches seine Schönheit nur einem aufmerksamen Entdecker präsentierte. Schönheit war allerdings eine Eigenschaft, die diesem Viertel schon vor langer Zeit abhanden gekommen war. Lohner war schockiert über die Anzeichen des Verfalls und den überall herumlungernden Gruppen von Menschen, denen die Hoffnungslosigkeit in die Gesichter geschrieben stand. Und er fragte sich, wie es so weit gekommen war. Als die autrianischen Garderegimenter zum Feldzug nach Mitanni Sigma aufgebrochen waren, da hatte die Parade auch durch diesen Stadtteil geführt. Damals war dies ein Mittelklasse-Wohnviertel gewesen, die typischen „Zinshäuser“, wie es auf Nova Autria hieß. Alte vier- bis fünfstöckige Gebäude mit gusseisernen Zäunen und hohen Eingangstoren mit bunten Glasfenstern. Die klassische Fassade war bei den meisten Objekten nahezu vollständig verschwunden, ob durch Verfall oder bewussten Vandalismus, konnte Lohner nicht erkennen. Die breiten, ebenerdigen Geschäftslokale waren verwaist, die Holzverschläge großteils aufgebrochen. Im Dunkeln darin sah Lohner ab und zu Bewegung, ob es Menschen oder Ungeziefer war, blieb ungeklärt. Müll lag auf der Straße, auf den Seiten türmte er sich bis zum ersten Stockwerk hoch.

Der Anblick war umso bestürzender, da die pulsierenden Boulevards von Quellstadt nur zehn Gehminuten entfernt waren. Lohner bestürzte dieser Kontrast, dort der Überfluss, hier das absolute Elend. Er fragte sich, wie die Eliten dieser Stadt damit leben konnten, ob sie in einem goldenen Käfig lebten, oder diesen Zustand einfach hinnahmen?
Als er um die Ecke bog, bekam er eine Antwort präsentiert. Eine lange Schlange von Menschen bildete sich vor einem Gebäude, dessen Doppeltüren offen standen, und dass als einziges seines Blocks eine renovierte Fassade aufwies. Männer in weißen, langen Gewändern standen hinter Tischen, auf denen große Kesseln mit dampfenden Essen standen. Die Männer teilten großzügige Portionen an die Menschen, während Andere den Bedürftigen einen Sitzplatz zuwiesen. Über dem Tor stand in großen Buchstaben: Gemeinschaft fürsorglicher Menschen. Lohner beobachtete die Szenerie, während er weiterging, bis er kurz auf seinen Chronometer blickte. Als er die Zeit erkannte, beschleunigte er seine Schritte, um sich nicht allzu verspäten.

Außer Atem kam er bei Livias Laden an. Es war ein kleiner Laden, ein letzter Überrest eines Viertels, das wahrlich schon bessere Zeiten gehabt hatte. Vielleicht wurde es dadurch nur schlimmer, da dieses Geschäft wie ein Fanal die Menschen, daran erinnerte, wo sie herkamen, und wo sie nun gelandet waren. Aber Livia war von ihrem Laden begeistert, wie sie ihm gestern ausführlich auf dem Heimweg mit leuchtenden Augen erzählt hatte. Und sie glaubte auch daran, dass sich die Zeiten wieder ändern konnten, warum nicht einmal zum Guten? Lohner beneidete sie für diese Einstellung. Er hatte zu viel gesehen, um ihrer Einstellung uneingeschränkt Glauben schenken zu können.

Wieder einmal hatte sich die Aussage seiner Freunde zu seinen Abkürzungen bestätigt. Mit schlechtem Gewissen trat er durch die Tür in das kleine Geschäft. Schon beim Eintreten, merkte Lohner, dass etwas nicht stimmte. Er hörte zwei Stimmen. Eine war Livia, die nur knapp und mit einem unterwürfigen Ton redete, die andere Stimme dominierte das Gespräch und war sehr erregt. Lohner erblickte einen Mann, der seinen fülligen Körper in weite Seidengewänder gehüllt hatte und sich ständig einen Wedel vor die gerümpfte Nase hielt. Alleine der Anblick dieses Mannes, der wie ein Pfau herumstolzierte und sich für etwas Besseres als seine Umgebung hielt, hätte bei Lohner Antipathie hervorgerufen. Dieser Mann schien so sehr den Adel nachzuahmen, in seinen Bewegungen, Tonfall, Wortwahl und seiner Kleidung. Aber Lohner hatte genügend Adelige während seiner militärischen Laufbahn kennen gelernt, um diese Person als Scharlatan zu entlarven. Dieser Mann hier trug zu viel auf, als dass er als echter Angehöriger der höchsten Schicht durchging. Die nächsten Worte des Mannes bestätigten Lohners Vermutungen.

„Ich finde es unerhört von Ihnen“, sagte der Mann mit gekünstelter Empörung, „wie Sie mich hier behandeln. Wissen Sie nicht, was sich gehört!“
Livia wollte gerade antworten, doch der Händler schnitt ihr mit einer scharfen Geste das Wort ab.
„Ich werde auf jeden Fall bei der Handelsgilde Beschwerde einreichen“, fuhr er fort, wobei in seiner Erregung sein Doppelkinn zu schwingen begann. Lohner gefiel der Tonfall nicht. Er war scharf und herabsetzend. Der Mann wollte gerade mit seiner Strafpredigt fortsetzen, als er Lohner erblickte.
„Und wer sind Sie?“, wollte der Dicke wissen. Seine Stimme hatte ihre harte Lage behalten, doch Lohner konnte das ängstliche Flackern in seinen Augen erkennen.
„Ich habe laute Stimmen gehört und bin in den Laden gekommen. Vielleicht kann ich ja helfen“, antwortete Lohner. Ganz gleich was er von seinem Gegenüber hielt, war Lohner doch immer der Überzeugung gewesen, dass jeder Mensch von vorneherein ein gewissen Maß an Respekt und Höflichkeit verdiente. Eine Überzeugung, die sein Gegenüber nicht zu teilen schien, als er ihn mit einem deutlichen Naserümpfen taxierte.

Lohner hatte seine alten zivilen Kleidungsstücke an, denen man ihr Alter ansah. Zweifelsohne sah sein Gegenüber das genauso, wie man an seinem verächtlichen Gesichtsausdruck erkennen konnte. Er wedelte noch stärker mit seinem parfümierten Fächer, als ob Lohners Anwesenheit eine Beleidigung für seinen Geruchssinn darstellte.
„Ich glaube kaum, dass Sie mir helfen können“, sagte der Händler. „Und wie kommen Sie dazu, sich in die Geschäfte eines Mitglieds des Hauses Stromeir einzumischen!“
Dann wandte er sich Livia zu:
„Und was Sie angeht, werde ich für Ihre sofortige Kündigung sorgen. Wenn Sie bei den Suppenküchen anstehen, können Sie über ihr impertinentes Verhalten nachdenken.“
Livia beugte ihren Kopf, doch Lohner konnte sehen, wie ihr Tränen über das Gesicht rannten. Dieser Anblick versetzte ihn in Rage. Er trat energisch einen Schritt vor und umfasst mit seiner Hand den Ellbogen des Dicken. Dieser erschrak heftig und ließ seinen Fächer fallen.
„Was fällt Ihnen ein!“, kläffte der Mann, „Lass mich sofort los, Bursche!“
Diese letzte verächtliche Bemerkung führte nur noch dazu, dass Lohner den Druck verstärkte, worauf der Händler vor Schmerzen aufheulte.
„Zwei Punkte“, erwiderte Lohner, wobei er seinen freundlichen Tonfall immer noch beibehielt. „Erstens, Sie entschuldigen sich bei dieser Frau. Zweitens werden Sie keinerlei Schritten gegen Sie unternehmen. Mir ist völlig egal, welchem Handelshaus Sie angehören, oder wie Sie heißen. Wenn mir auch nur das kleinste Gerücht zu Ohren kommt, dass Sie dieser Verkäuferin Schaden wollen, werde ich Sie finden!“

Der Widerspruch zwischen dem festen Griff und Lohners freundlicher Stimme, so als würde er über das Wetter reden, erstickte jeden potentiellen Widerstand des Händlers. Obwohl Lohner angesichts des zu Tode erschreckten Gesichts des Händlers zweifelte, dass dieser auch nur irgendwie an Gegenwehr dachte. Wahrscheinlich war er Widerspruch nicht gewohnt, doch Lohner war keineswegs von seinem großspurigen Auftreten und seinem sozialen Stand beeindruckt. Als Krieger entwickelte man sehr schnell ein Gefühl für natürliche Autorität, und dieser Mann hatte nicht einen Hauch davon.

Der Händler stammelte, noch immer unter dem Eindruck von Lohners Aktion eine Entschuldigung und stolperte schließlich aus dem Laden, wobei er bei seiner „Flucht“ seinen parfümierten Fächer liegen ließ. Doch diese Dinge waren für Lohner nun nebensächlich. Er wandte sich Livia zu, die sich ein wenig gefangen hatte und legte ihr tröstend den Arm und die Schulter.
„Glaubst du, dass das eine gute Idee war, Richard? Dieser Mann war Francys Stromeir, dritter Cousin des Handelsherrn Erios Stromeir“, sagte schließlich Livia, wobei sie sich die letzten Tränen abwischte. Richard legte ihr sanft beide Hände auf die Schultern und blickte ihr direkt in die Augen.
„Und ich bin Richard Lohner, Offizier der Garde“.
Livia konnte deutlich die endgültige Gewissheit hören, die in diesen Worten mitschwang, während er sie in seinen Armen hielt.
 
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