WHFB Questritter- Das Leben des Jerome de Montfort

1.10 Die Jagd

„Ich rede, du redest, er redet, sie redet, es redet, …“, Bertrand brach ab und schaute hilflos von seinem Buch auf und zu seinem Lehrer, der mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch in der überfüllten Kammer stand. Sein Lehrer schien mit etwas beschäftigt zu sein, dass sich Bertrands Blicken entzog.
„Nur weiter“, forderte ihn Volker Rainheim auf, während er ein dickbäuchiges Glasgefäß das halbgefüllt mit einer dunkelgrünen Flüssigkeit war gegen das fahle Licht des halb verdunkelten Fensters hob und davon einige Tropfen in ein anderes Gefäß schüttete. Eine kleine Rauchfahne stieg auf und der Geruch von etwas Eigenartigem drang in Bertrands Nase. „Konzentriere dich“, ermahnte Rainheim ihn mit Nachdruck, während er sich weiter seinem Experiment widmete.

Konzentration war allerdings eine schwierige Aufgabe angesichts der Wunder und Kuriositäten, die sich in Rainheims Kammer türmten. Bis auf sein Bett war beinahe jeder Platz in den Regalen vollgestopft mit Büchern, Schriftrollen oder Gefäßen, in denen seltsamste Dinge in Alkohol eingelegt schwammen. Exotische ausgestopfte Tiere hingen an den Wänden, die Bertrand noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Banner hingen ebenfalls herab, verziert mit Mustern und Schriftzeichen, die sich Bertrands Verständnis entzogen. Volker Rainheim, der mysteriöse Berater des Herzogs hatte einen ganzen Turm an der östlichen Mauer bekommen um sich dort ungestört seinen Studien und Nachforschungen zu widmen. Experimenten, die nicht immer ohne Gefahren waren, wie Rainheims Äußeres selbst bezeugen konnte. Während sein langer, grauer Bart und die gleichfarbigen dichten Augenbrauen glimpflich davongekommen waren, konnte man das von seinem zersausten, angesengten Haupthaar nicht behaupten. Angeblich war es in einer besonders stürmischen Nacht geschehen, als in der Kammer des Zauberers ein Feuer ausgebrochen war. Ein Feuer, dass nicht mit Wasser gelöscht werden konnten und deren grünlich schimmernden Flammen jedes Mal aufloderten, wenn eine neue Wasserladung auf sie auftraf. Erst mit dem Sand aus dem Innenhof war der Brand gelöscht worden. Ein Umstand, den dem Zauberer besonders die Ritter und vor allem Sir Haughey übelgenommen hatte, war doch gerade deswegen ihr Übungsplatz am nächsten Tag ein Acker voller gefährlicher Löcher. Manch einer behauptete, dass sich Sir Haughey an diesem Tag seine Nase gebrochen hatte, während des Trainings seiner Schützlinge, als er sein Pferd bei vollem Galopp in eines der Löcher gestiegen war.

Ein bösartiges Gerücht allerdings, wie andere Knappen Bertrand versichert hatte. Die Sache mit dem Brand hingegen war jedoch wahr. Volker Rainheim hingegen war es egal, dass ihm die Bewohner der Burg seitdem aus dem Weg gingen, als sie es ohnehin taten, weil er, erstens ein Zauberer war, und zweitens aus dem Imperium stammte. Das Gesinde der Burg jedenfalls betete jeden Abend zur Herrin vom See, dass das nächste Experiment des grauen Zauberers nicht dahingehend endete, dass von ihrer Burg nur noch ein Haufen rauchender Asche übrig blieb. Bei diesem Versuch jedoch, war diese Befürchtung keinesfalls begründet. Denn die Flüssigkeit in dem anderen dickbäuchigen Glasgefäß änderte nur ihre Farbe, während eine weiße Dampfwolke aufstieg und sich der exotische Geruch in der ganzen Kammer verbreitete. Ein leichtes Lächeln huschte über die sonst so strengen Lippen Rainheims und er stellte die beiden Gefäße auf dem Tisch ab.
Mit einer raschen Bewegung schob Rainheim den Vorhang zu Seite und das Licht der Sonne erhellte seine Kammer, wo sich die Dampfwolke schnell auflöste.
„Also, sprich weiter, mein Junge, falls es dir hier zu dunkel war. Diese Ausrede hast du jetzt nicht mehr. „Was kommt nach „es redet“?“, sagte Rainheim und drehte sich zu Bertrand um, der seine Hand vor seine Augen gehoben hatte und versuchte die plötzliche Helligkeit wegzublinzeln.
„Ihr redet?“, schlug Bertrand unsicher vor.
„Falsch!“, sagte Rainheim und versetzte seinem Schüler einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und seufzte.
„Du musst dein Reikspiel mehr üben. Ihr Bretonen seid sicher der sonderbarste Menschenschlag, der mir je unter die Augen gekommen ist. Reikspiel ist das Wichtigste, was du je lernen wirst. Es wird überall in der alten Welt gesprochen.“
„Sir Haughey sagt, dass Wichtigste ist der richtige Umgang mit Schwert, Lanze und Schild.“
„Ja, das glaube ich gerne, dass Sir Haughey das sagt. Der sollte sich selbst einmal an der Nase nehmen“, sagte der Zauber mürrisch. Bertrand versuchte, bei dieser Bemerkung nicht laut zu lachen, als ihm wieder einfiel, wie Sir Haughey angeblich zu seiner Nasenform gekommen war. An der unbewegten Miene des Zauberers konnte Bertrand nicht erkennen, ob Rainheim dieser Seitenhieb den er gerade getätigt hatte, bewusst war oder nicht. Selbst nach Wochen täglichen Unterrichts bei Rainheim blieb der Zauberer für ihn ein versiegeltes Buch. Das einzige Thema, bei dem Rainheim persönliche Emotionen zeigte, war das Unverständnis der bretonischen Bevölkerung für sein Wirken. So auch jetzt

„Es ist mir schleierhaft“, sagte Rainheim, der sich langsam in Rage redete, „wieso man mit derartiger Skepsis meine Arbeit argwöhnisch betrachtet! Und dann diese Ignoranz gegenüber Wissen. Lanze und Schwert! Lanze und Schwert! Als ob alle Schlachten immer von diesen eilten Gecken auf ihren großen Rössern gewonnen würden. Gerade hier in Montfort, an der Grenze zum Imperium sollte man doch zumindest den Wert von Bildung und dem Beherrschen von Reikspiel, der Sprache des Imperiums zu schätzen wissen. Doch Nein, viel wichtiger sind natürlich Lanze und Schwert. Weißt du mein Junge, was Lanze und Schwert gegen ein Regiment imperialer Musketenschützen ausrichten?“
Bertrand schüttelte sprachlos den Kopf, verwundert über die Heftigkeit, mit der Rainheim gesprochen hatte. Doch der Zauberer war zu sehr in Rage und fuhr fort.
„Nahezu jeder Vorschlag wird abgelehnt. Ich schlage die Einführung von Schießpulverwaffen vor, und Sir Haughey und seine Gesinnungsgenossen protestieren heftig dagegen, weil es gegen ihren ritterlichen Kodex wäre. Ich schlage die Einführung neuer Pumpen vor, welche die Feldbewässerung und damit den Ertrag steigern würden, sowie die Anstellung eines Technicus aus Nuln, der diese Maschinen errichtet, und der Abt des nahegelegenen Klosters der Herrin vom See erwidert, dass man sich lieber auf den Segen der Herrin verließe. Und das ausgerechnet mir, einem angesehen Mitglied des Grauen Ordens von Altdorf! Wenn dieser lästige Zwischenfall nicht gewesen wäre, würde ich jetzt mich gemütlich in einem Land befinden, wo man neuen Ideen und Magier mit Respekt behandelt, und nicht wie Aussätzige!“
Vor Bertrands geistigem Auge stieg bei der Erwähnung des Zwischenfalls das Bild eines brennenden Stadtviertels auf, das von grünen Flammen verzehrt wurde, und er fragte:
„Was war das für ein Zwischenfall, Meister Rainheim?“
Es trat etwas ein, mit dem Bertrand nicht gerechnet hatte. Eine Pause trat nach seiner Frage ein. Rainheim schien für einen kurzen Moment peinlich berührt, doch das war ebenso schnell verflogen wie zuvor seine Rage.
„Ach nichts, nur eine kleine Fehlberechnung meinerseits“, erwiderte Rainheim und wischte weiteres Nachhacken in dieser Angelegenheit mit ein einer Handbewegung beiseite. Bertrand ließ dennoch nicht locker.
„Und was ist der Graue Orden?“, fragte er seinen Lehrer der langsam immer mehr in die Defensive geriet.
„Einer der acht Zauberorden des Imperiums. Sie alle haben ihren Sitz in Altdorf, der Hauptstadt, von der aus Imperator Karl Franz rregiert und widmen sich jeweils einem der Winde der Magie.

Doch bevor Bertrand den Zauberer mit weiteren Fragen nach den Zauberorden oder Altdorf bestürmen konnte, knallte Rainheim eine Sanduhr vor ihm auf den Tisch. Der Sand im Stundenglas war beinahe vollständig zu Boden gerieselt.
„Deine Zeit ist vorbei. Du kannst dich wieder Lanze und Schwert widmen“, sagte der Zauberer. Bertrand stand auf und verräumte sein Buch in einem der Regale, wobei er sich Mühe gegeben musste, es zwischen zwei anderen in Leder gebundenen Folianten zu quetschen.
„Du bist mir noch eine Antwort schuldig“, sagte Rainheim, als Bertrand mit einem Bein schon aus der Tür war. Gehorsam drehte er sich um.
„Wir gehen“, sagte Bertrand mit einem Grinsen und verschwand nach einem Nicken des Zauberers.

Rainheim ging zu seinem Alchemietisch und widmete sich wieder seinem unterbrochenen Experiment. Während seine Hände geschickt mit den verschiedenen chemischen Substanzen und Flüssigkeiten hantierten, hingen seine Gedanken immer noch bei seinem Gespräch mit dem jungen Bertrand. Ein Lächeln huschte kurz über sein sonst so strenges Gesicht, als er sich eingestehen musste, dass ihn der Junge für einen kurzen Moment in die Enge getrieben hatte. Es gab nicht viele Leute, die sich damit rühmen konnten. Dieser Bertrand war wirklich eine Ausnahme in einem Land dass seine Rückständigkeit in so vielen Dingen mit einem unerhörten Stolz zur Schau trug. Eine rasche Auffindungsgabe, ein natürliches Talent für Sprachen und noch etwas, das Rainheim noch nicht ganz herausgefunden hatte. Wäre dies nicht das rückständige Bretonia, sondern sein geliebtes Imperium, hätte er sich mit seinen geheimnisvollen Meistern in Altdorf beraten. Aber die waren ohnehin nicht gerade gut auf ihn zu sprechen, nach diesem Zwischenfall der wirklich nicht seine Schuld gewesen war. Doch Rainheim schwor sich, bei den Winden der Magie, dass er noch herausfinden würde, was das Geheimnis von Bertrand war. Wenn es das war, was er dachte, dann wäre es zum Wohle Aller notwendig, dass man Bertrands Gabe in die richtigen Bahnen lenkte, bevor ein Schaden daraus entstand. Allein der Gedanke daran ließ Rainheim erschaudern und er zog die Vorhänge zu, damit er besser denken konnte. Denn nur im Schatten konnten Männer seines Schlages die Dinge so erkennen, wie sie wirklich waren.


Eine Schar Hunde sprang kläffend und spielerisch zwischen den Beinen der Pferde umher in dem Bemühen, die Aufmerksamkeit der Reiter zu erlangen. Die Meute war mit ein Grund, warum viele der Bewohner von Jouinard ihre gewohnten Tätigkeiten unterbrachen und zu dem großen Zug von Reitern und Hunden blickten, der sich von der weiter oben gelegenen Burg ihnen näherte. Der andere lag darin, dass es selbst für das Städtchen Jouinard, dass direkt unter dem Sitz des Herzogs und an einem der meistbereisten Pässe der alten Welt, dem Axtschartenpass nicht immer vorkam, eine solche Ansammlung von edlen Damen und Herren zu sehen bekam. In Anbetracht der Lage in den Vorratskammern hatte der Herzog dem Drängen der jungen Ritter, denen inzwischen wieder einmal die Decke vor Langeweile auf den Kopf fiel, nachgegeben, und einer Jagd im Wald von Crecy zugestimmt. Und so kam es, dass an diesem Tag die edlen Damen ihre beste Jagdkleidung anlegten, die immer ein wenig mehr Augenmerk auf ausgefallene Mode, denn auf ihre Tauglichkeit bei der Jagd legte. Doch auch die Ritter hatten ihre besten Jagdgewänder angezogen und ritten stolz neben ihren Damen einher. Die Jagdgesellschaft ließ bald das Städtchen Jouinard hinter sich, nachdem sie das Stadttor passiert hatten, wo Wachen mit ihren Hellebarden die Händler und Bauern zur Seite schoben, die Einlass in die Stadt begehrten, damit die noblen Herrschaften ungehindert passieren konnten. Bertrand, der auf einem Pferd im hinteren Teil der Kolonne ritt, registrierte die Blicke der Händler und Bauern die zwar nicht murrten. Er konnte dennoch die Feindseligkeit sehen, die in manchen der Blicke aufloderte. Nur ein Händler, seiner feinen und fremdartigen Kleidung nach aus dem Imperium, wagte es seine Stimme zu erheben. Arnaut de Vailos, einer der Knappen in Bertrands Alter, ritt zu dem Händler, der sich trotz der Anweisungen der Wachen nicht beruhigen lies. Der Protest des Händlers erstarb auf seinen Lippen, als sich Arnaut auf seinem Streitross ihm immer mehr näherte. Arnaut lenkte sein Pferd so, dass der Händler zurückweichen musste, bis er schließlich über das Gestänge eines Karrens fiel und ihm Dreck landete. Die adeligen Herren der Jagdgesellschaft bedachten den unglücklichen, verdreckten Händler mit einem lauten Lachen, während die Frauen leise hinter vornehm vor den Mund gehaltener Hand über das Unglück des Händlers kicherten. Auch die umherstehenden anderen Händler und Bauern bedachten den Zurechtgewiesen mit Spott und Hohn.

Nur Bertrand lachte nicht, er wandte seinen Kopf von der Szenerie ab, die ihm zuwider war. Einmal mehr wurde er daran erinnert, wie hierarchisch Bretonia organisiert war, und dass der Adel keinen Widerstand duldete. Er versuchte sich einzureden, dass Arnaut de Valois eine schwere Zeit durchmachte, da sein Vater Graf Hugo, einer der gefallenen der Schlacht gegen die Orks gewesen war. Doch der Stolz und Hochmut in Arnauts Augen, als dieser sein Pferd gewendet hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Die Jagdgesellschaft ritt aus dem Tor, immer noch lachend und einige der älteren Ritter beglückwünschten Arnaut dazu, dass er den niedrig geborenen Händler zum Schweigen gebracht hatte. Bertrand verkniff sich jedweden Kommentar und biss sich in die Lippen um nichts Falsches zu sagen. Der Zug folgte der Handelsstraße nach Westen. Vorbei an den Fischteichen, die einer der Herzöge Montforts angelegt hatte, und von denen gemunkelt wurde, dass Zwerge aus einer ihrer südlich gelegenen Städte bei der Errichtung geholfen hatten. Bertrand schenkte dem Gerücht Glauben, als sie zu der Stelle kamen, die beim Volk die hundert Wasserfälle genannt wurde. An dieser Stelle, wo das breite Tal eine tiefe Senke aufwies, waren die Teiche kaskadenartig übereinander angeordnet und dass Wasser floss glitzernd über deren Ränder, bis es sich am niedrigsten Punkt der Senke in einem kleinen See sammelte, in dem Bertrand und andere Jungen aus der ganzen Umgebung sich heimlich zum Schwimmen getroffen hatten. Immer auf der Hut vor den Aufsehern des Herzogs, die mit Schlägen nicht sparten, wenn sie einem bei frischer Tat ertappten.

Die Straße war an dieser Stelle notgedrungen schmaler, und die Jagdgesellschaft fädelt sich in einer langen Kette auf, damit sie passieren konnten. So kam es, dass Bertrand unbeabsichtigt neben einer der feinen Damen zu reiten kam. Wie es seine Pflicht war, senkte Bertrand seinen Kopf, dennoch erhaschte er heimlich einen Blick auf sein Gegenüber.
Ein Anblick, der ihm beinahe den Atem raubte und bei dem sich Bertrand zwingen musste, sich nicht durch ein unkontrolliertes Luftholen zu verraten.

Die Dame an seiner Seite konnte nicht mehr als sieben Jahre älter als er selbst sein. Nach bretonischem Brauch schon ein wenig alt, waren doch nur unverheiratete Damen zur Jagd mitgeritten, wohl meist in der Hoffnung, hier einen geeigneten Gatten unter den jungen Rittern zu finden. Dennoch war sie immer noch wunderschön. Schlank und groß gewachsen saß sie aufrecht in ihrem Damensattel, als wäre es die natürlichste Sache der Welt in einem feinen Jagdkostüm aus hellbraunem Leder, das mit blauen Stickereien verziert war. Ihr weißer, zierlicher Hals trug den Kopf mit den wohlgeformten Zügen einer bretonischen Adeligen und den Grübchen. Die Augen waren so blau, wie der Himmel über Montfort im Hochsommer. Ihr langes dunkelblondes Haar war zu einer kunstvollen Frisur, hochgesteckt und verbarg sich sittsam unter ihrer Haube aus dunkelblauer, mit goldenen Stickereien verzierten. Nur eine Haarsträhne war zu sehen, die ihr keck in das Gesicht sprang.
Bertrand versicherte sich, dass niemand seinen Blick auf die Dame neben ihm gesehen hatte. Kein Bauer, oder Sohn eines Bauern, konnte sich die Kühnheit leisten, eine adelige Schönheit anzuglotzen, ohne nicht auf das Härteste bestraft zu werden. Doch niemand aus der Jagdgesellschaft schien es bemerkt zu haben. Schweigend ritt er neben der feinen Dame. Plötzlich durchbrach eine helle Stimme die Stille.

„Euer Name ist Bertrand. Habe ich Recht?“ Die Stimme klang freundlich und voller Leben, wie einer der zahllosen Flüsse, die ihren Ursprung im Grauen Gebirge hatten.
Doch Bertrand fuhr bei ihrem Klang zusammen, da es die Dame an seiner Seite war, die gesprochen hatte. Vor seinem inneren Auge sah er bereits seinen ausgemergelten Körper an einem Pranger hängen, den Rücken voller blutiger Striemen, während ihm der Pöbel mit verfaultem Gemüse bewarf und ausbuhte. Die gerechte Strafe für jeden Niedriggeborenen der sich unbotmäßig gegenüber einem Angehörigen des bretonischen Adels benahm.
Langsam, zögerlich antwortete er, und hielt dabei seinen Blick auf den Kopf seines Pferdes gesenkt. „Jawohl Herrin!“
„Ihr seid doch aus Villaux, diesem Dorf östlich von Jouinard?“ Wieder war die Stimme freundlich. Wieder bewirkte sie bei Bertrand das Verlangen, der Dame in das Gesicht zu blicken in neugierigem Verlangen, ob sich diese Freundlichkeit auch dort widerspiegelte. Doch er unterdrückte diese Regung und hielt den Blick auf den Weg vor ihm gerichtet.
„Jawohl, ich komme aus Villaux, Herrin!“
„Und eure Familie?“
Bertrand seufzte. Die Dame ließ nicht locker. Doch sie konnte es sich leisten. Immerhin wartete ja nicht auf sie die Strafe, sonder auf ihn.

„Meine Mutter lebt bei meinem Onkel. Mein Vater ist schon vor Jahren von uns gegangen, Herrin.“ Er sagte es knapp, wie eine der Meldungen bei Sir Haughey während des Knappentrainings. Sein Kopf blieb weiterhin in Demut unten, sein Blick konzentrierte sich auf die gleichmäßige Bewegung des Kopfes seines Reittieres, das in der langsamen Gangart leicht hin- und herschwappte.
„Seht mich an“, befahl die Dame neben ihm. Eine gewisse Schärfe lag in ihrem Ton. Der Tonfall einer Adeligen, die einem Leibeigenen etwas auftrug. Doch zugleich war da immer noch diese Freundlichkeit, die den Befehl in eine Bitte verwandelte, der Bertrand nur schwer widerstehen konnte. „Euch wird kein Leid widerfahren“, versicherte die Dame. „Ich garantiere dafür, Bertrand aus Villaux“, fügte sie hinzu. Obwohl ein Befehl, erinnerte sich Bertrand später nur an den freundlichen Klang ihrer Stimme. Und daran, dass er diesen Worten ohne zu Zögern Folge leistete, und keinen Moment an die drohenden Strafe dachte. Wie gesteuert, erhob er sein Haupt und sah die Dame an seiner Seite an.

Das Gesicht der jungen Edelfrau zeigte ein freundliches Lächeln, und in diesem Moment wusste Bertrand, dass er dieser Damen keinen Wunsch mehr je abschlagen würde. Ihr Lächeln war so warm und strahlend wie die Sommersonne, die über dem Grauen Gebirge aufging. Nur halb bekam er in seiner Verzückung mit, dass die Dame sich vorstellte.
„Mein Name ist Marie Levaliere“, sagte die junge Dame und rückte anmutig ihre Haube zurecht. Bertrand war von ihrem Anblick immer noch so verzaubert, dass er erst einige Augenblicke benötigt, um das Gesagte zu begreifen.
Sein Traum war schlagartig zu Ende. Er kannte den Namen der jungen Lady. So wie jeder andere am Hof des Herzogs. Lady Marie Levaliere war niemand Geringeres als das Mündel des Herzogs. Das Bild des Prangers kam Bertrand wieder vor sein geistiges Auge. Er murmelte eingeschüchtert und holprig eine höfliche Floskel und entschied sich dafür, den Rest des Tages auf den bezaubernden Anblick zu verzichten, und dafür seinen striemenfreien Rücken zu behalten.
Die Jagdgesellschaft verfiel in einen leichten Trab, flankiert von den Falknern, Knappen und Hundeführern mit ihrer lärmenden Meute. Schließlich, noch bevor die Herbstsonne ihren Zenit erklommen hatte, erreichten sie den Wald von Crecy. Das Dorf lag zu ihrer Linen, eine kümmerliche Ansammlung zugiger, windschiefer Hütten, die aus nicht mehr als dem zu Boden gefallenen Holz notdürftig zusammen gezimmert waren. Denn der Wald, wie Alles andere, war Eigentum des Herzogs. Ein Trupp Waffenknecht in Begleitung eines jungen Ritters ritt in das Dorf und kam nach einer knappen Viertelstunde mit einer erklecklichen Anzahl an Leibeigenen zurück. Bertrand bedachte sie mit einem bedauernden Blick. Er sah es an ihren Mienen, dass sie es keinesfalls als Ehre sahen, den hochgeborenen Herren und Damen als Treiber für die Jagd zu dienen. Bertrand wusste, dass die Bauern viel lieber die kostbaren Stunden Tageslicht damit verbringen wollten, die letzte Ernte einzufahren und den Boden für die Wintersaat zu pflügen. Doch die adeligen Herrschaften, die in ihrem ganzen Leben noch die Hand an einen Pflug gelegt hatten, wussten über diese Nöte des einfachen Volks nicht Bescheid. Und wenn doch, dann kümmerte es sie nicht.

Die Leibeigenen, im Verbund mit einer Hälfte der Waffenknechte, den Treibern und Hundeführern, marschierten los. Bertrand sah ihnen nach, bis sie hinter einer Biegung verschwunden waren. Sie würden in einiger Entfernung in den Wald eindringen, einen Lange Linie bilden, und dann alles Wild auf die adeligen Herrschaften zutreiben, die derweil an der Waldlichtung warteten. Bertrand sah sich um. Die Ritter und Damen bildeten kleine Grüppchen und unterhielten sich nach höfischer Art. Es wirkte für ihn immer noch befremdlich, dieses seltsame komplizierte, Ritual aus komplexen Regeln. Dennoch entging seinem scharfen Auge nicht, dass die Ritter, dennoch auch ein Auge auf ihre Waffen warfen. In der Regel waren das Wurfspieße und Schwerte, oder Speere mit einer metallenen Querstange direkt nach der Speerspitze. Bögen oder andere Distanzwaffen waren in der hochgeborenen Gesellschaft verpönt. Eine dieser hochtrabenden Regeln besagte, dass ein wahrer bretonischer Ritter seinem Gegner von Angesicht zu Angesicht entgegentreten musste.
Zu seinem Glück war Bertrand aber kein Edelmann, das Rittergelübde geleistet hatte. Deshalb hingen an der Seite seines Pferdes auch sein geliebter Bogen und ein Köcher voller Pfeile. Pflichtgemäß vergewisserte sich Bertrand auch, dass sein langer Dolch an seinem Gürtel steckte. Nachdem seine Ausrüstung inspiziert war, konnte sich Bertrand wieder anderen Dingen widmen. Mit der Neugier, die nur ein junger Mann von siebzehn Sommern aufbringen konnte, wartete er auf die ersten Anzeichen für den Beginn der Jagd.

Die Sonne erreichte gerade ihren Höchststand, als Bertrand ein Geräusch wahrnahm. Von fern und gedämpft, aber für gute Ohren dennoch erkennbar, vernahm er ein Hornsignal. Genauer gesagt waren es mehrere Jagdhörner. Darunter mischte sich auch das stärker werdende Geschrei von Menschen und das Bellen der Jagdhunde. In die Jagdgesellschaft kam Bewegung. Die Gespräche verebbten, und Baron Rambert, der die Leitung über diese Jagd hatte, schickte die edlen Damen vom Waldrand weg. Am freien Feld waren inzwischen von den mitgereisten Dienern und Pagen Baldachine aufgespannt worden, die den Damen aus dem Sattel halfen und ihnen mitgebrachte Erfrischungen servierten. Der Großteil der Ritter widmete seine Aufmerksamkeit dem Waldrand, obwohl einige Heißsporne immer noch in Richtung der Damen mit ihren bevorstehenden Leistungen in dieser Jagd prahlten, bis sie Baron Rambert zum Schweigen ermahnte.
Danach wurde es still.
Nur das Geräusch der sich nähernden Treibjagd, und dem Krachen im Unterholz war noch zu vernehmen.
Das erste Tier, das aus dem Wald brach, war ein Hirsch.
Ein stattlicher Siebzehnender.
Der Anblick dieses Tier beeindruckte Bertrand, trotz der Umstände.
Sofort setzten sich mehrere Ritter auf die Fährte des Hirschs. Nur wenige Längen dauerte die Jagd, dann warf einer der Ritter seines Wurfspießes in die Schulter und der Hirsch brach mit einem röhrenden Laut zusammen. Bertrand hatte keine Zeit, das Gesehene zu verarbeiten, denn immer mehr Tiere brachen aus dem Wald heraus. Gehetzt von einer Meute aus Menschen und Hunden, nur, um in der vermeintlichen Sicherheit der Felder auf die bereiten Jäger zu treffen. Zwei weitere Hirsche, mehrere Stück Rotwild, und eine Rotte Wildschweine. Falken wurden losgelassen, stiegen auf in luftige Höhen. Von dort stürzten sie sich wagemutig auf ihre Beute, Rebhühner und Feldhasen, die von der Jagd aufgeschEucht wurden. In frappierende Weise erinnerte Bertrand die Szenerie an die Schlacht am Grauen Gebirge. Die Ritter teilten sich in Gruppen auf, und eilten ihrer auserwählten Beute hinterher, angefeuert von den Rufen der Damen, die untereinander auf ihre Favoriten wetteten.

Unentschlossen, wem sich Bertrand anschließen sollte, zügelte er sein Pferd und wartete. Da sah er in seinem Augenwinkel eine Bewegung. Bertrand traute seinen Augen nicht. In einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung gab er seinem Pferd die Sporen und folgte seinem erwählten Ziel. Über Stock und Gebüsch ging die wilde Jagd. Mehrmals war er knapp davor, von seinem dahinjagenden Pferd abgeworfen zu werden.
Einmal war es ein tiefer Ast eines Baumes, bei dem er sich gerade noch rechtzeitig an den Hals seines Pferdes werfen konnte. Der Pfad, ein dünner, kaum festgetretener Streifen Erde war schmal, und die Bewachsung zu beiden Seiten reichte dicht heran. Für den Rest des Rittes kauerte sich Bertrand an den Hals seines Tieres, bemüht, nicht abgeworfen zu werden.
Schließlich erreichte Bertrand eine Stelle, wo der Pfad in eine kleine Lichtung überging. Bertrand gab seinem Pferd noch einmal die Sporen und sein Renner schoss vorwärts. Mit dem Rest seiner Körperbeherrschung ergriff Bertrand die Zügel des anderen Pferdes und brachte beide Tiere zum Halten.

„Mylady, bei allem nötigen Respekt“, sagte Bertrand mit dem letzten Rest von Verärgerung.
Lady Marie Levaliere sah ihn an und lachte aus vollem Herzen.
Eine Aktion, die Bertrand zwischen Verärgerung und Verwirrung schwanken ließ. Er entschied sich für Letzteres.
„Mylady, dies ist weder der richtige Ort, oder schon gar nicht der richtige Umstand, um derart zu lachen!“. Bertrand bemühte sich, Meister Rainheims tadelnden Tonfall in seine Worte einfließen zu lassen.
Ob es Erfolg zeigte, ließ sich aus Lady Levalieres Gesicht jedoch nicht erkennen. Die junge Lady verzog ihre Miene zu einem Schmollmund, der ihren Anblick nur noch bezaubernden werden ließ.
Sie ließ ihr Pferd in einen langsamen Schritt übergehen. Bertrand tat es ihr nach, darauf bedacht, an ihrer Seite zu bleiben. Das Mündel des Herzogs führte ihr Pferd an den kleinen Bach, der einen ruhigen, stillen Weiher am Rand des Waldes speiste. Bertrand sah sich um. Sie waren am Rand des Waldes, eine Reihe hochgewachsener Bäume umrandete den Weiher und die Lichtung, auf der sie sich befanden. Das grüne Blätterdach gewährte der Sonne Einlass und den Blick auf die sanften grünen Hügel dahinter.
Bertrand wartete geduldig, bis beide Pferde ihren Durst gestillt hatten. Dann nahm er seinen
Hengst bei den Zügeln und wendete ihn. Von Ferne waren noch die Geräusche der Jagdgesellschaft zu hören, Hörner und das Gebell der Hunde.
Er hielt inne, als er erkannte, dass Lady Levaliere ihm nicht folgte.
„Mylady? Wir müssen uns wieder der Jagd anschließen.“
„Nein“, erwiderte Marie Levaliere in geübten Tonfall einer Adeligen, die es gewohnt war, Befehl zu geben, aber nicht sie zu befolgen.
Reizend hin oder her, Bertrand kam zu dem Entschluss, dass dieser Ort für eine junge Dame aus bestem Haus nicht angemessen war. Es war ein Bauchgefühl, ein Instinkt, der Bertrand mitteilte, dass sie besser sofort zur Jagd zurückkehren sollten. Er konnte es sich nicht erklären, die Lichtung war so friedlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Nicht einmal die Vögel pfiffen. Aber vielleicht war es auch dieser Umstand, der ihn so zutiefst beunruhigte.
„Mylady, ich muss darauf bestehen, dass wir sofort zur Jagd zurückkehren“, wiederholte Bertrand und wollte gerade nach den Zügeln des anderen Pferdes greifen. Lady Levaliere gab ihrem Pferd lachend die Sporen, und die Stute schoss vorwärts, außer Bertrands Reichweite.
„Nein Bertrand“, erwiderte sie lachend. „Nicht bevor ich selbst eine Beute erlegt habe.“
Bertrand stutzte. Womit wollte er fragen, da sah er an der Seite ihres Stalles einen Wurfspieß hervorblitzen.
„Mylady, das geziemt sich nicht für eine edle Dame“, sagte Bertrand und deutete auf den Wurfspieß.
„Warum?“, erwiderte sie keck und setzte nach. „Ihr meint es geziemt sich weniger, denn als unverheiratete Dame mit einem Knappen alleine im Wald zu reiten.“

Das Schicksal ersparte Bertrand, auf die Frage eine Antwort suchen zu müssen. Etwas brach aus dem Unterholz. Zweige knackten, Büsche wurden entwurzelt, die Äste von Bäumen brachen. Beide Pferde wieherten schrill vor Entsetzten, als sie das Tier sahen, dass sich so gewaltsam eine lebende Legende. Dunkelbraunes bis schwarzes Fell, borstig und gesträubt, die Eckzähne gekrümmt und so groß wie arabianische Krummschwerter und gleichermaßen tödlich. Die Augen verengt zu Schlitzen aus rotglühendem Feuer. Er war groß, sogar größer als die Wildschweine, auf denen die Orks in die Schlacht geritten waren.

So stand der Keiler vor ihnen, zum Angriff bereit. Aufgestachelt, da die abgebrochene Spitze eines Wurfspießes in seiner blutigen Flanke steckte.
Die Bestie von Crecy, eine lebende Legende. Und gleichermaßen gefürchtet. Im ganzen Herzogtum tuschelten die einfachen Leute furchterfüllt von diesem Untier, während junge Ritter mit glänzenden Augen davon träumte, die Bestie zu erlegen, um die Gunst ihrer begehrten Dame zu erlangen.
Doch jetzt standen der Bestie von Crecy keine Schar schwerbewaffneter Ritter in voller Rüstung gegenüber, sondern ein Bauernknappe und eine edle Jungfrau.
Bertrand murmelte ein Stoßgebet an die Herrin vom See und sah sich hilfesuchend um.
Sein Blick fand etwas, dort auf den Hügeln. Bertrand sah zwei Reiter, einer davon kam ihm vertraut vor. Der andere hingegen war groß, größer als jeder Mensch, den Bertrand zuvor gesehen hatte. Die Rüstung dieses Reiters war exotisch, von einer Machart, die Bertrand nicht kannte. Die Entfernung war jedoch zu groß, um die eingravierten Symbole darauf zu erkennen, ebenso wie die Gesichter der beiden.

Bevor jedoch Bertrand um Hilfe rufen konnte, stürmte die Bestie von Crecy los. Ein schrilles Quieken ging der Attacke voraus, dass die Pferde scheuten. Bertrand kämpfte darum sein Pferd zu beruhigen. Lady Levalieres Stute ging durch. Die Erde erbebte unter dem Ansturm des gewaltigen Keilers. Achthundert Pfund verfehlten ihr Ziel, da Lady Levalieres Pferd vorwärts schoss, und entwurzelten einen der Bäume. Der Keiler wendete, vor Wut schäumend. Bertrand zog seinen Bogen und jagte zwei Pfeile in den Leib des Untieres. Zitternd fuhren die Geschosse in den Rücken der Bestie, doch obwohl sie tief steckten, zeigten sie keinerlei Wirkung, als dass sie die Wut der Bestie noch verstärkten. Der Keiler stürmte vorwärts, die Erde erbebte abermals.

Mit voller Wucht traf der Keiler sein Pferd. Bertrands Welt drehte sich mehrmals, als er aus dem Sattel geschleudert wurde. Mühsam rappelte er sich auf, und sah noch, wie sein Pferd bockend und aus der Flanke blutend davon stob. Am Sattel hing der Köcher mit seinen restlichen Pfeilen. Bertrand warf den nutzlosen Bogen zur Seite und zog den langen Dolch, seine letzte Verteidigung. Der Keile stürmte wieder auf ihn zu. Lady Levaliere tauchte plötzlich auf und jagte dem Wildschwein in vollem Galopp entgegen. Das Metall blitzte in der Sonne, als das junge Mündel des Herzogs ihren Spieß mit voller Kraft in die Seite der Bestie warf.

Der Angriff zeigte Wirkung. Der Keiler unterbrach seinen Ansturm, und rannte, vor Wut und Schmerz quiekend hinter der Stute von Lady Levaliere hinterher.
Bertrand vergas all seine Bedenken und rannte aus Leibeskräften brüllen auf den Keiler zu. Eher würde er sein eigenes Leben opfern, als zuzulassen, dass der Lady etwas geschah.
Erst, als der Keiler seine Verfolgung stoppte, und sich wieder in seine Richtung in Bewegung setzte, erkannte Bertrand die Tragweite seines Handelns. Aber da war es schon zu spät.
Sein letztes Gebet an die Herrin zum See betend, bereitete sich Bertrand auf sein unweigerliches Ableben vor. Einzig der Gedanke, der jungen Lady Levaliere Zeit zur Flucht verschafft zu haben, bereitete ihm einen Grund zur Freude.
Die Bestie war nur noch wenige Schritte vor ihm, Bertrand konnte schon ihren typischen Geruch von nassem Fell wahrnehmen, als sich die Lage wieder zu seinen Gunsten wendete.
Etwas sauste an seinem Ohr vorbei und traf den Keiler mit voller Kraft. Es war ein Wurfspieß, in einem perfekten Wurf abgefeuert. Die metallene Spitze bohrte sich tief in das linke Auge des Keilers. Derart getroffen, brüllte die Bestie vor Schmerzen laut auf, sodass sich Bertrand die Ohren zuhalten musste. Ein Schemen drängte sich an Bertrand vorbei. Ein Reiter in vollem Galopp mit gezogener Klinge der in vollem Tempo auf die tobende, bockende Bestie zuritt, die versuchte sich des in ihrem Kopf steckenden Spießes zu entledigen.

Der Keiler obwohl halb geblendet und von Schmerzen geplagt, warf sich seinem neuen Angreifer entgegen. Das Wildschwein warf seinen massigen Kopf hoch, die gewaltigen Eckzähne blitzten auf. Bertrand schrie voller Entsetzen auf, als der Angriff der Bestie, das Pferd zu Boden warf.
Doch der Reiter sprang behände aus dem Sattel und landete sich auf seinen Beinen, bevor das Gewicht seines Pferdes sein Bein zerquetschte.
Der Reiter zog sein Schwert hoch, um der Attacke der Bestie zu begegnen. Das Pferd, das wieder hochkam, stob zur Seite davon.
Bertrand hielt den Atem an, als er sah, wie der nun unberittene Reiter, der gereizten Bestie nur mit seinem Schwert Paroli bieten wollte. Kein Mann konnte diese mutige Tat überleben, da war sich Bertrand sicher.
Doch dieser Mann tat es. Und wie!
Es schien, als würde er mit der Bestie tanzen. Jeder Angriff wurde behände gekontert. Die Klinge des Reiters bestrafte jeden Vorstoß der Bestie mit einem blitzenden Hieb über die Flanken. Es waren leichte Treffer, doch sie zeigten auf die Dauer Wirkung. Aus zahlreichen Schnitten an der Flanke blutete die Bestie schon. Sichtlich frustriert darüber, dass jede ihre Attacken mit einem weiteren Treffer belohnt wurde, hob sie ihren massigen Schädel und brüllte. Es war so furchteinflößend und gewaltig, wie ein Herbstgewitter.
Der Reiter lächelte und ging einen Schritt zurück. Es sollte sich als Fehler erweisen, da er über eine Wurzel stolperte und zu Boden fiel.
Die Bestie von Crecy sah ihre Chance. Ihre letzte, fruchtlose Attacke, hatte sie weit fortgetragen, ein weiterer blutender Schnitt an ihrer Flanke. Nun stürmte sie mit vollem Tempo und ihr gesamten Wucht auf den Gestrauchelten ein. Sie würde den Reiter zweifellos unter ihren Hufen zertrampeln.
Bertrand sprang vorwärts, stellte sich zwischen den Reiter, und die anstürmende Bestie. Den Dolch vor sich haltend, das Unabänderliche vor Augen.

Eine Lanze bohrte sich in die Flanke des Keilers. Lackiertes Hartholz barst, doch die Waffe drang tiefer und tiefer. Die Bestie gab ein letztes Quieken von sich, ein ersterbender Schrei, der die Luft erfüllte, dann verschied die Bestie von Crecy.
Atemlos sah Bertrand ihren Retter hoch zu Ross an und erkannte ihn wieder. Es war der Ritter, der ihm schon auf dem Schlachtfeld vor dem sicheren Tod gerettet hatte: Jerome de Montfort, Schwerträger des Herzogs.
Hinter dem Ritter konnte Bertrand Lady Marie Levaliere erkennen, die ihm zulächelte. Sie hielt die Zügel von Bertrands Hengst.
Jerome de Montfort stieg von seinem Schlachtross.
Eilig fiel Bertrand auf seine Knie. „Ich danke Euch, Herr“, hauchte er ehrfürchtig. Jerome de Montfort ging an ihm vorbei und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Dann half der Ritter dem Gestrauchelten auf die Beine.
Der Gestrauchelte, ein Mann von Mitte Zwanzig beugte sich zu Bertrand vor und flüsterte ihm freundlich ins Ohr.
„Er meint damit, dass ihr Euch wieder erheben dürft.“ Bertrand nickte und erhob sich.
„Ich danke auch Euch, Herr, für die Hilfe.“
Sein Gegenüber lächelte. Er war ein ansehnlicher Mann, dessen Lächeln einem sofort für ihn einnahm. Schlank, hochgewachsen mit hellbraunem, halblangen Haar, und grünen Augen, verriet jeder Zoll an ihm seine adelige Abstammung, die jedoch keinerlei Spur von der für Vertreter seines Standes typischen Hochnäsigkeit zeigte.
„Ihr müsst Euch nicht bei Sir Berrick bedanken“, warf Lady Levaliere lachend ein. „Immerhin war er es, der am Ende eures Schutzes bedurfte.“
Sir Berrick drehte sich zu der Lady um und warf sich in gespieltem Schmerz die Hände an die Brust. „Ihr kränkt mich, holde Lady. Hatte ich doch die Bestie genau da, wo ich sie haben wollte.“
„Sagt mir, kühner Jägersmann, erledigt ihr eure Beute immer mit dem Rücken zum Boden?“, neckte ihn Marie Levaliere.
„Ausschließlich“, erwiderte Sir Berrick ebenso zweideutig und half ihr aus dem Sattel. Bertrand eilte pflichtschuldig hinzu und nahm die Zügel der Pferde an sich. Ein leichter Anflug der Eifersucht befiel ihn, als er sah, wie Sir Berrick die Lady an den Hüften hielt, als er ihr vom Sattel half. Doch er währte nicht lang, da sich Lady Levaliere sofort aus dem Griff des Ritters löste.
„Mein guter Freund, bedenkt, dass es auch Beute gibt, die für einen zu groß ist“, sagte sie schmunzelnd.
„Oder vergeben“, erwiderte Sir Berrick zwinkernd und sah zu Jerome de Montfort, der soeben seine Lanze aus dem Fleisch der toten Bestie löste.
Lady Levaliere lächelte vielsagend und schlenderte dann zu Jerome de Montfort. Sir Berrick sah ihr nach, und wandte sich dann Bertrand zu.
„Euer Name ist Bertrand, oder?“
„Jawohl , Herr“, erwiderte Bertrand. Wieder war es eine freundliche Frage, die ehrliches Interesse zeigte, keine bloße Floskel, die einzig aus höfischem Benehmen entsprang.
„Würde es Euch stören, mir zu helfen, mein Pferd einzufangen. Bedauerlicherweise hat es weniger Mut gezeigt, als ihr, und Fersengeld gegeben.“
Bertrand nickte, und bestieg sein Pferd. Sir Berrick rief Jerome de Montfort zu, dass er sein Tier nehmen würde. Für einen Moment beobachtete Bertrand das edle Tier. Ein starker Renner, dessen Vorzüge gegenüber seinem einfachen Gaul, der mehr zum Pflügen denn zu Reiten geeignet war, umso mehr deutlich zutage traten. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach Sir Berricks Pferd. Dabei fiel Bertrands Blick auf die Hügel und er sah, dass die beiden Reiter verschwunden waren. Und er fragte sich, warum sie ihm und der Lady Levaliere nicht zu Hilfe geeilt waren.
 
Zuletzt bearbeitet:
1.11 Nächtliche Erkenntnisse

Die große Haupthalle war erfüllt von Gelächter und der Musik der Spielleute. Bertrand war als Knappe dazu eingeteilt, den anwesenden hohen Herren und Damen aufzuwarten. In der Livree des Herzogs gekleidet, stand Bertrand mit einem Krug besten Weines, stets bereit auf ein Zeichen der Hochgeborenen deren Becher nachzufüllen. Obwohl ihm seine Beine , den heutigen Erreignissen geschuldet, langsam schmerzten, war er doch froh darüber, heute hier sein zu dürfen. Immerhin brannte ein Feuer im großen Kamin und der Saal war wohlig warm. Sehr im Gegensatz zu der kalten Kammer, die die Knappen bewohnten. Zu seinem Leidwesen, und dem vieler Generationen von Knappen vor ihm, waren die Unterkünfte der Knappen nicht Teil des großen Wohnturmes. Es wurde gemunkelt, die Zwerge hätten diesen Trakt einst errichtet. Und Legende oder Wahrheit, der große Wohnturm war so gut gebaut, dass die berüchtigte Kälte des grauen Gebirges ihn nicht durchdrang. Und an diesen kalten Herbsttagen konnte die Kalte schon ordentlich beißen.

Außerdem erfreute sich Bertrand an der fröhlichen, ausgelassenen Stimmung der Gäste. An einer langen Reihe von Tischen saßen die edlen Ritter und Damen, in ihre besten Gewänder gekleidet und feierten den erfolgreichen Ausgang der Jagd, sowie das Ende der berüchtigten Bestie von Crecy gleichermaßen. Der Wein floss in Strömen und die Bänke bogen sich unter der Last des Wildbrets. Bertrand blieb nie lange stehen, denn beständig verlangte einer der Ritter nach Wein, um auf seine und die Erfolge Anderer während der Jagd anzustoßen. Wenn er jedoch einen Moment der Ruhe hatte, wanderten seine Blicke zu den Wänden. Zahlreiche Teppiche waren dort aufgehängt. Kunstvoll gewobene Arbeiten der edlen Damen, die sie in den langen Winterstunden anzufertigen pflegten und die die Geschichte des Herzogtums Monfort seit Anbeginn erzählten.

Doch Bertrand Aufmerksamkeit galt vielmehr den Trophäen. Auf großen Holzschilden waren zahlreiche Andenken an Schlachten und Jagden befestigt. Geweihe mächtiger Hirsche, Rostige Schwerte und gewaltige Schädel erschlagener Orks. Andenken an die grimmige Wacht, welche die Herzöge Montforts seit Anbeginn des Königreiches mit dem Schwert in der Hand hielten.
Ein Schwert, von dem sie oft genug Gebrauch gemacht hatten.
Die Trophäe, die Bertrands Blick jedoch magisch anzog, befand sich direkt über dem prasselnden Kaminfeuer. Es war eine gewaltige Trophäe, so groß, dass ein weiterer Stützbalken notwendig war, um das Gewicht zu halten. Der lange Kopf eines Lindwurms, der Legende nach einer der Drei, die kein Geringerer als Gilles der Einiger persönlich in der langen Schlacht am Axtschartenpass erledigt hatte. Direkt daneben befand sich ein leerer Holzschild. Dort würde man den ausgestopften Kopf der Bestie von Crecy anbringen.

Die Spielleute machten einen riesigen Tusch, so dass sogar Bertrand für einen Moment von seinen Pflichten aufschaute. Es wurde ruhiger in dem Sal, als die Gespräche verstummten, oder sich zumindest in ihrer Lautstärke verringerten. Eine einzelne Gestalt betrat den Tisch, an dem die hohen Herren und Damen saßen. Der Herzog Folcard saß auf seinem Thron in der Mitte des Tisches, flankiert von seiner Gemahlin, von der Hölzernen Hand, seinem Mündel Lady Levaliere,seinem Schwertträger Jerome de Montfort und dessen Freund Sir Berrick. An der großen Tafel schlossen danach Barone und hohe Lehensmänner des Herzogs mit ihren Frauen an.

Die Gestalt in der Mitte war auf ihre Art festlich gekleidet. Das Wams aus feiner estalischer Wolle bestand aus bunten, verschiedenfarbigen, Karrees die jeweils von einer lEuchtend goldenen Borte eingefasst waren. Die athletischen Beine steckten in Beinlingen aus rotem Stoff. Auf dem Kopf thronte eine Kappe aus buntem Leinen. Dennoch war der Anblick nicht stattlich zu nennen. Der Oberkörper der Gestalt war gebückt, ein unansehnlicher Buckel verunstaltete den ansonsten muskulösen Oberkörper. Auch die Kappe war nicht von der art der bretonischen Edelmänner, endete sie doch jeweils in langen Quasten die mit bronzenen Glöckchen ausgestattet waren. Und der Stab, den die Gestalt trug, um sich zu stützen, war ebenfalls mit Schellen und Glocken verziert.

Der Hofnarr Blondel ertrug die spöttischen, belustigten Blicke der Anwesenden mit der Routine einer Person, der in seinen Lebensjahren ein etliches Pensum davon abbekommen hatte.
Tief verbeugte er sich vor dem Herzog, dabei glitt seine Hand von dem stützenden Stab, und der Hofnarr torkelte unkontrolliert nach vorne. Seine Hand fand Halt, doch dieser war trügerisch, da es sich um die Tischdecke handelte. Narr und Teile des Gedecks entschwanden dem Blick des Zusehers, darunter eine großer Pokal mit Wein.
Überall brach Gelächter aus, ob des Ungeschick des Hofnarren. Doch dieser sprang plötzlich, anscheinend unbekümmert wieder auf. Er verbeugte sich erneut, wobei der Wein noch über sein Wams tropfte. Erst da bemerkte er es, und begann, scheinbar gedankenverloren, mit der blütenweißen Tischdecke abzutrocknen.
Das Gelächter im Saal steigerte sich.
Dadurch schien der Narr seinen Fauxpas zu bemerken, und er ließ die Tischdecke in gespielter, übersteigerter Scham schlagartig los.
Blondel begann zu reden, als sich der Lärm legte.
„Hoher Herr, verzeiht meine Ungeschicktheit, die so sehr im Widerspruch zu eurem Verhalten steht.“ Er bückte sich und nahm den Pokal der leer auf dem Boden kullerte. „Ich möchte einen Toast ausbringen auf den Herzog. Auf unseren Herren, der aus der Hand unseres geliebten Königs die Herrschaft über diese Lande erhalten hat, und uns Sicherheit und Frieden bringt, durch ewige Wacht am Pass!“
Alle Edelleute im Saal erhoben sich wie ein Mann und hoben ihre Gläser.
„Auf den Herzog. Die Herrin vom See schütze ihn.“
Alle tranken ihr Glas in einem Zug aus. Alle, bis auf Blondel, der erst jetzt zu bemerken schien, dass sein Pokal leer war. Hastig beugte er sich zu Boden und saugte mit einem Tuch den am Boden ausgeschütteten Wein auf. Er nahm das schwere, nasse Tuch und wrang es über seinem Pokal aus. Dann hob er den Pokal und trank auf das Wohl des Herzogs.
Gelächter brandete durch den Saal, als man Blondels Miene sah, wie er den verschmutzten Wein trank. Sogar Bertrand musste bei dieser komischen Szene lachen.
Blondels Stimme überragte mühelos das laute Gelächter. „Mylord? Wenn Ihr mir gestattet, jetzt mit meiner Darbietung zu beginnen.“
„Wie?“, prustete Baron Rambert, dessen Gesicht sowohl vom Wein als auch von der Darbietung des Narren rot angelaufen war. „Ihr habt noch nicht begonnen?“
Der Narr schüttelte in gespieltem Erstaunen den Kopf. „Wie meint Ihr das, werter Baron? Womit sollte ich schon begonnen haben?“
Gelächter kam wieder auf, verstummte jedoch, als sich der Herzog erhob.
„Beginnt, Blondel. Ich bin sicher, Ihr habt die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden.“ Die Stimme des Herzogs klang ehrfurchtgebietend, so stark wie Herzog Folcards stattliche Statur selbst. Doch Bertrand glaubt, um den Mundwinkel des Herzogs ein Schmunzeln zu sehen.
Blondel stellte den Pokal ab und wollte sich abermals verbeugen.
„Ihr habt euren Stab vergessen, Narr!“, rief einer der Ritter von einem Nebentisch.
„Ach ja“, sagte der Narr gedankenverloren. Schneller, als Bertrand es verfolgen konnte, schnellte der Fuß des Narren vor und beförderte den Stab hoch in die Lüft. Ein vielfältiges Raunen ging durch den Saal, denn der Stab schien höher und höher zu steigen, und sich immer schneller zu drehen. Der Hofnarr ging inzwischen in die Knie, scheinbar desinteressiert am Schicksal des Stabes. Dieser senkte sich inzwischen und kam, in atemberaubender Geschwindigkeit rotierend, wieder auf den Narren zugeflogen. Ausrufe des Entsetzens wollten sich schon den Kehlen der anwesenden Damen entringen, da streckte Blondel sein Hand aus, und fing den Stab auf, ohne hinzusehen.
Unter tosendem Applaus erhob sich der Hofnarr und verbeugte sich kurz im Stehen vor der hohen Tafel.
Sogar Bertrand vergaß für einen kurzen Moment seine Aufgabe und stimmte begeistert in den Jubel ein.
Als der Narr seinen Stab zur Seite legte, und zur Laute griff, um ein komisches Lied über den glücklosen Ritter anzustimmen, näherte sich Sir Haughey Bertrand. Bei dessen Anblick schnürte sich dem jungen Knappen die Kehle zu. Hatte Sir Haughey etwa seinen Jubel gesehen, und würde ihn nun bestrafen?

Sir Haughey beugte sich vor und raunte Bertrand leise Worte in das Ohr.
„Geh zur Tafel des Herzogs und warte dort auf. Arnaut de Vailos wird deinen Posten hier übernehmen.“
Immer noch wie paralysiert nickte Bertrand und begann sich dann mit klopfendem Herz zur Tafel, an der der Herzog saß. Gehorsam wartete er in respektvollem Abstand, sein Tablett mit dem Krug Rotwein haltend.
Der Hofnarr beendete gerade sein Lied, indem der glücklose Ritter nur mit einem Sattel gebrochen und gedemütigt nach Hause zurück schlich. Die Musik spielte einen lauten Tusch, und der Applaus im Saal war zweigeteilt. Die älteren Lords und die Damen waren belustigt, die jüngeren Ritter hingegen sahen das Lied als Affront. Blondel überspielte die Szene schnell, indem er mehrer Bälle jonglierte und dabei ein Gedicht aus Tilea rezitierte. Der Herzog winkte Bertrand nach vorne, und ließ sich Wein einschenken.

Das gab Bertrand einen Moment, um die Anwesenden der Herzogstafel genauer zu betrachten. Zur Rechten des Herzogs saß seine Gemahlin in einem stattlichen Kleid aus grüner Seide, angeblich ein Geschenk von den Hochelfen Ulthuans. An ihrer Seite waren noch Baron Rambert samt Gemahlin, und Sir Graeme Zwergenfreund, der seinem Namen alle Ehre machte mit seinem gewaltigen, langen Bart. Auf der linken Seite des herzogs saßen seinen Seneschall Claude de Sanguine, die hölzerne Hand. Direkt daneben war Lady Levaliere platziert. Sie trug ebenfalls ein Kleid aus Seide, aber silbern schimmernder Stoff, so züchtig, dass es sie bis zu ihrem schlanken Hals vollständig bedeckte. Doch es war so eng geschnitten, dass es ihre Konturen vorteilhaft betonte. Eine mit Perlen besetzte Haube bedeckte ihr Haar, doch die eine Strähne stand ihr wieder keck im Gesicht.

Direkt daneben saß Jerome de Montfort, dessen Miene so unbewegt war, als würde er gerade in die Schlacht reiten. Sein Freund und Sitznachbar Sir Berrick de Ursins war hingegen in ausgelassener, heiterer Stimmung und versucht vergeblich, seinen langjährigen Freund Jerome in eine lebhafte Konversation zu verwickeln. Da dies fruchtlos war, sagte er umso mehr dem Wein zu, und Bertrand war stetig auf dem Sprung, den schnell leer werdenden Pokal des Ritters nachzufüllen.

Die Stimmung im Saal neigte sich ebenfalls Berrick de Ursins weitaus fröhlicherer Gesinnung zu und wurde immer ausgelassener. Die Wärme des Feuers, die Speisen und der Wein, der in Strömen floss, trugen ebenfalls erheblich zur Heiterkeit der Feiernden bei. Auch Bertrand zollte schließlich dem Umstand Tribut, das er seit dem Morgengrauen auf den Beinen war. Im Nachhinein, konnte er sich am nächsten Tag nur an zwei Ereignisse genau erinnern.
Das Erste war eine Pointe, die der Narr Blondel zu späterer Stunde brachte.
Der Reihe nach hatte sich der Narr die hohen Edelleute vorgenommen.
„Wir alle schätzen Sir Claudel de Sanguine“, begann Blondel seine Parodie. „Er ist, wie jedermann weiß, die rechte Hand unseres geschätzten Herzogs.“ Dabei hob der Hofnarr seine Hand, wo jedoch nur ein leerer Ärmel zu sehen war. In gespielter Verwunderung suchte er danach und erschrak, als seine Hand wie von selbst aus dem Ärmel hervorschoss. Der gesamte Saal lachte.
Alle, bis auf Claude de Sanguine.
Bertrand sah, dass Lady Levaliere ihm tröstend die Hand auf den Arm legte. Etwas an dem Blick, mit dem der Seneschall, diese Geste erwiderte, ließ Bertrand erschrecken. Es lag etwas Hungriges, Wölfisches in diesem Blick. Ein verzehrendes Verlangen. Doch anscheinend war Bertrand der Einzige, der es bemerkte.
Claude des Sanguine jedoch lächelte nicht über die Pardodie. Erst, als sich ihm der Herzog zu wandte, und ihn anlächelte. Doch selbst da wirkte das Lächeln des Seneschalls gequält und künstlich.
Bertrand beschloss, Meister Rainheim über den Seneschall zu befragen. Doch bevor er sich weiter damit beschäftigen konnte, rief ihn Sir Berrick, damit er seinen Pokal nachfüllte. Bertrand seufzte.
Es würde noch eine lange Nacht werden. Denn die Weinkeller des Herzogs waren immer noch voll.
Draußen, vor der Tür stieg ein blasser Mond auf. Moorslieb, und die Wölfe begannen zu heulen. Doch die feiernden Gäste des Herzogs hörten diese düsteren Vorboten des Unheils nicht.

***
„Es gibt da etwas, was ich Euch schon den ganzen Tag sagen wollte“, lallte Berrick de Ursins, während sich Bertrand abmühte, den stark betrunkenen Edelmann zu stützen. Das Fest war definitive zu Ende, Sir Berrick war einer der Letzten, die noch bis in die frühen Morgenstunden zechten. Und da Bertrand an diesem Tag Dienst versah, war es auch seine Aufgabe, den Gästen auch ein sicheres Geleit zu ihren Gemächern zu garantieren. So hielt Bertrand nun in der einen Hand eine Fackel, da es in der Burg bereits mehr dunkle Ecken gab, als einem lieb sein konnte. Der andere Arm stützte Sir Berrick, der sich nicht mehr alleine auf den Beinen halten konnte.
Alkohol, so wusste es Bertrand bereits, ließ einem das wahre Gesicht seines Gegenübers erkennen. In seinem Heimatdorf bewirkte übermäßiger Konsum von Ale jedoch nur, dass sich erwachsene Männer in Bestien verwandelten, aus deren Mündern die unglaublichsten Flüche hervorquollen, und die beim geringsten Anlass zur Gewalt neigten. Sir Berrick hingegen war das absolute Gegenteil davon. Er war sanftmütig und zuvorkommend. Auf einer Treppe wären sie beinnahe gestolpert, und Sir Berrick entschuldigte sich noch lange dafür, schon als die Treppe ein gutes Stück hinter ihnen lag.
„Ihr seid wirklich ein feiner Kerl. Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir in dieser misslichen Lage helft. Wie ein wahrer Rittersmann“, lachte Sir Berrick, den dieser letzte Gedanke köstlich zu amüsieren schien. Doch im Gegensatz zu den anderen Knappen lag in seiner Bemerkung keinerlei Hohn.

Bertrand nickte nur, und versuchte auf einem langen steinernen Flur, den Kurs zu halten, und nicht gegen eine der massiven Holztruhen zu stoßen, die in großem Abstand standen. Die Halterungen für die Fackeln waren belegt, doch zu dieser Stunde waren alle schon gelöscht. Das einzige Licht war die Fackel, die Bertrand in seiner Hand hielt, während er sich weiter mit dem taumelnden Sir Berrick abmühte.

Sir Berricks Gesicht glänzte im Fackelschein, eine Folge seines starken Weinkonsums. Seine Haare waren zersaust, aber auf seinem Gesicht war ein permanentes Lächeln zu sehen. Der Ritter hatte sein Jagdgewand gegen ein Paar Beinlinge aus schwarzer Wolle getauscht. Sein Oberkörper steckte in einem blütenweißen Hemd, und darüber war ein feiner, langärmeliger Rock aus schwarzer Wolle, auf der Herzseite prangte das Wappen. Das Wappenfeld war ein eine Reihe von blauen und weißen Dreiecken unterteilt, von denen jeweils zwei verschiedenfarbige ein Viereck bildeten. Auf diesem Hintergrund prangte im oberen Viertel ein tobendes Seeungeheuer, in der Mitte jedoch schwammen drei silbern glänzende Fische.
Komplettiert wurde Sir Berricks Ausstattung noch einem Umhang, der mit einem kompliziert geschmiedeten, goldenen Verschluss zusammen gehalten wurde.

Sir Berrick begann inzwischen lauthals und dazu noch falsch, die Ballade des einsamen Ritters anzustimmen. Bertrand rechnete jeden Augenblick damit, dass eine der schweren Eichentüren aufgehen, und jemand lauthals gegen diese nächtliche Ruhestörung protestieren würde.
„Sir, könntet Ihr mir vielleicht eine Frage beantworten?“ Bertrands Hoffnung, Sir Berrick Aufmerksamkeit von seinem schlechten Gesang abzulenken, erfüllten sich sofort.
„Was Ihr wollt, mein lieber Junge“, lallte Sir Berrick, doch es war deutlich leiser als sein Gesang.
„Wie konntet Ihr der Bestie ausweichen? Es sah aus, als würdet Ihr eine Art Tanz aufführen.“
Sir Berrick lachte laut, und sein Echo hallte im Gang wider.
„Das glaube ich gerne, Bertrand. Seht Ihr mein Wappen?“ Bei diesen Worten schlug er sich an besagter Stelle auf die Brust.
Bertrand nickte.

Sir Berrick zeigte auf das Seeungeheuer im oberen Viertel. „Dies ist das Zeichen des Herzogtums L’Anguille. Der Ort, an dem ich zum Ritter geschlagen wurde, wie mein Freund Jerome de Montfort. Wisst Ihr, wo das liegt, L’Anguille?“
Bertrand versuchte angestrengt, sich die Karte vor Augen zu führen, die ihm Volker Rainheim in einer seiner Unterrichtsstunden gezeigt hatte. Langsam nahmen Berge und Flüsse Konturen an, dazu Namen in lEuchtenden Lettern.
„Im Norden, an der Küste zwischen dem Herzogtum Couronne und dem Herzogtum Lyonesse“, sagte er schließlich.
„Genau“, lachte Sir Berrick und klopfte ihm so herzhaft auf die Schultern, dass er das Gleichgewicht verlor. Nur mit Mühe konnte ihn Bertrand halten und einen Sturz verhindern.

„Aber meine Heimat, meine Heimat, liegt weit im Süden davon. Ich wurde in Carasonne geboren, an der Grenze zu den estalischen Königreichen geboren.“ Bei diesen Worten näherte sich Sir Berricks Gesicht dem von Bertrand und seine Stimme wurde leiser, als würde er ihm ein Geheimnis anvertrauen.
„Und von dort, habe ich auch diese Art zu kämpfen gelernt. Als ich noch ein junger Knabe von sechs Jahren war, diente am Hof meines Vaters, dem Grafen, ein Mann aus Estalia. Sein Name war Romero, den Rest davon habe ich vergessen. Irgendetwas auf Estalisch. Er hat mir diese Art des Kämpfens beigebracht und erzählt, dass es überall in Estalia zahlreiche Arenen gibt, wo Männer nur mit einem Schwert bewaffnet auf diese Art gegen wilde Stiere kämpfen würden.“
Bertrand runzelte die Stirn bei diesen Worten. Er tat Sir Berricks Behauptung als Ausgeburt eines alkoholbenebelten Verstandes ab. Denn wo hatte man davon gehört, dass sich Männer in dieser Art von Tanz mit wilden Stieren abgaben? Sicherlich übertrieb der Ritter.
Sie erreichten das Ende des Steinflurs, der in rechtem Winkel in einem weiteren Gang mündete.
„Wohin?“, fragte Bertrand, und Sir Berrick zeigte nach links. Gemeinsam gingen sie, mehr schlecht als recht, den Weg entlang. Bertrands Hoffnung, Sir Berrick mit seiner Frage abzulenken, erwies sich als Fehlschuss. Denn nun begann Sir Berrick lauthals über seine Vergangenheit zu reden. Seine Kindheit in Carcasonne, seine gemeinsame Ausbildung zum Ritter in L’Anguille mit Jerome de Montfort.
„Warum war Sir Jerome eigentlich in L’Anguille?“, unterbrach Bertrand den scheinbar endlosen Redeschwalls Sir Berricks.
„Seiner Mutter, Lady Berenice, Familie stammt aus L’Anguille. Sein Onkel ist der Marquis von Gànet.“
„Verweilt Lady Berenice bei ihrer Familie?“ Bertrand war neugierig. Seitdem er wusste, wer sein Retter auf dem Schlachtfeld war, hatte er bei diversen Personen Erkundigungen über Jerome eingezogen. Seine Quellen wussten einiges über seine Vergangenheit, seine Leistungen als Ritter und Schwertträger des Herzogs, aber über seine Familie hing immer der Mantel des Schweigens.

Sir Berricks Miene wurde schlagartig ernst. So, als wäre eines der berüchtigten Berggewitter aufgezogen. Er wählte, trotz seines Zustandes, die Worte mit Bedacht. „Sie … sie ist schon seit mehreren Jahren in einem Kloster, um der Herrin vom See zu dienen. Ihr Mann, Baron Rambert zog Jerome groß. Als er alt genug war, wurde er als Knappe zu seinem Onkel nach Cargas geschickt, um sich auf die Ritterschaft vorzubereiten.“
Sir Berrrick verstummte, und Bertrand sah, dass der sonst so redselige Ritter zu diesem Thema kein weiteres Wort mehr sagen würde.

Sie erreichten das Ende des Ganges, nun beide schweigend. Ihre Schritte hallten durch den weiten Flur. Sie durchschritten ein steinernes Portal, dessen meisterhaft geschmückten Figuren als unkenntliche, bedrohliche Schatten über ihnen hingen. Kalter Wind wehte Bertrand entgegen, da der Gang sich auf ihr Linken in eine Galerie mit Arkaden verwandelt hatte. Er gab den Blick auf einen ummauerten Garten frei. Kunstvoll geschnittene Hecken, und Bäume, deren rot-goldene Blätterpracht sehr bald vergangen sein würde. Die Rosenbüsche waren bereits im Winterschlaf, ihre lieblichen Blüten schon vergangen.
Vor ihnen lag ein kleiner Erker und Bertrand beschloss, Sir Berrick dort für einen Moment abzusetzen. Der Ritter ließ sich widerstandslos dorthin geleiten und nahm auch artig Platz.

Bertrand hängte die Fackel in eine Halterung neben sich. Und fuhr nun mit der freien Hand über die andere Schulter. Er bewegte den Arm auf und ab, um die eingeschlafenen Muskeln wieder zu reanimieren. Langsam spürte er, wie wieder Leben in seine Schulter kam. Er betete inständig zur Herrin vom See, dass Sir Berricks Gemächer nicht mehr allzu weit waren.
Eine Bewegung im Garten erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah schnell zu Sir Berrick, doch dieser war auf seinem Platz eingedöst und schnarchte leise vor sich hin.

Bertrand trat näher an eine der fenstergleichen Öffnungen im Erker und sah angestrengt in den Garten hinab. Etwas hatte sich dort bewegt, im hinteren Teil des Gartens befand sich ein Pavillon, dessen Wände aus feinem Rosenholzgittern bestanden, die von dichten Rosenbüschen bewachsen waren. Doch nun waren besagte Büsche aufgrund der Jahreszeit leer, und so konnte Bertrand zwei Schatten ausmachen.
Nur einige Augenblicke später, kam eine zierliche Gestalt hinaus in den mondbeschienenen Garten. Bertrand hatte zuerst Zweifel, doch sein Herz erkannte die Person zuerst. Als sie ihr Gesicht in das Mondlicht drehte, bestanden für Bertrand keine Zweifel mehr. Vor sich im Garten stand Lady Marie Levaliere. Sie sah ihn nicht und drehte sich zum Pavillon um. Lady Levaliere rief etwas in den Garten, doch aufgrund der Entfernung konnte Bertrand die Worte nicht verstehen. Zur Antwort kam eine hochgewachsene Gestalt heraus. Auch bei dieser hatte Bertrand keine Zweifel, wer dort unten stand.
Es war Jerome de Montfort, der Schwertträger des Herzogs.
Und es gab auch keinerlei Zweifel, was diese beiden Personen um diese Stunde im Garten taten.
Selbst wenn es einen gegeben hätte, er wäre in den nächsten Augenblicken zerstreut worden. Jerome legte Lady Marie Levaliere wortlos seinen Mantel um die Schulter, und diese ließ es ohne Widerstand über sich ergehen. Vielmehr schmiegte sie sich an den Ritter, der sie weiterhin wortlos umschlungen hielt. Dann drehte er Marie sanft um und ihre Gesichter kamen einander immer näher.
Morslieb schien hoch am Himmel. Der kleinere der beiden Monde, und beschien die ruhig vor sich hin schlummernde Welt mit seinem grünen, kränklichen Licht. Doch die zwei Liebenden in diesem Garten schien das nicht im Mindesten zu stören. Wie es für Liebende so zu Eigen ist, gab es in diesem Moment nur sie. Und so sahen sie, eng umschlungen, nur einander, währen ihr Kuss für beide eine Ewigkeit zu während schien.
In Bertrands Herz hingegen, überschlugen sich die Emotionen. In seinem noch jungen Leben war es das erste Mal, dass er seine eigenen Hoffnungen in Sachen Liebe durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit begraben musste. Er wandte seinen Blick ab und weckte den schlaffenden Sir Berrick unsanfter, als er es eigentlich wollte.
„Was?“, schreckte Sir Berrick aus dem Schlaf auf.
Bertrand half dem Ritter beim Aufstehen. Er nahm die Fackel und stützte dann den Ritter, während sie weiter den Gang entlang zu dessen Gemächern trotteten.
Derweil standen Sir Jerome und Lady Levaliere eng umschlungen im Garten und flüsterten einander Dinge zu, die nicht für die Ohren anderer bestimmt waren.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ja, der arme Junge. Ich mute dem lieben Bertrand auch sehr viel zu.
Falls sich jemand über den Titel wundert "Questritter- das Leben des Jerome de Montfort". Jerome de Montfort ist als eher wortkarger Charakter konzipiert. Ein Wesenszug, den ich persönlich sehr bewundere, da ich das totale Gegenteil davon bin.
Doch was tun, wenn die eigentlich Hauptfigur so schweigsam ist? Da kommt dann der junge Bertrand ins Spiel, aus dessen Perspektive sehr viel geschrieben ist.
Doch genug der Erklärungen, weiter im Text
 
1.12 Der Traum und das Pferd

Der Ork baute sich vor ihm auf.
Er wurde immer größer, wuchs in seinen Dimensionen, bis er so groß wie einer der Burgtürme war. Bertrand nahm seinen ganzen Mut zusammen, und er legte all seine Kraft in den Hieb. Der Ork zersplitterte, wobei es ein Geräusch wie bei Geschirr gab, das auf den Boden fiel. Die Bruchstücke wurden zu schwarzen Scherben, und dort, wo sie den Boden berührten, sprossen sie gleich Ähren. Sie wuchsen immer schneller und nahmen die Konturen von dornenbewehrten, stacheligen Gestalten an. Die rotglühenden Augenschlitze glühten voller Hass.
Angst überfiel Bertrand und er wandte sich zur Flucht, während hinter ihm die schwarzen Gestalten heulten, wie Wölfe auf der Jagd. Bertrand rannte durch endlos lange Korridore aus Stein, die wie die Gänge im Wohnturm der Burg aussahen. Auf beiden Seiten gab es hohe Türen, doch keine davon ließ sich öffnen, so verzweifelt Bertrand auch daran rüttelte. Hinter ihm wurde das Geheul stärker, und die schwarzen Gestalten warfen lange Schatten auf die Wände, die bedrohlich näher kamen.

Bertrand rannte weiter, stetig verfolgt von dem triumphierenden Geheul und den Schatten.
Der Korridor mündete in einem weiteren, dessen Ende nicht abzusehen war. Ohne zu zögern, lief Bertrand den Gang entlang. Der Himmel, der seltsamerweise über ihm zu sehen war, hatte die Farbe von Blut angenommen, am Horizont hing Morslieb in seinem grünen Schimmer.
Dann sah Bertrand einen hellen Schimmer vor sich. Die Konturen einer Gestalt war in licht zu sehen. Aus einem unerfindlichen Grund wusste Bertrand, dass diese Gestalt seine Rettung war. Doch die Gestalt verschwand bereits wieder aus seinem Blickwinkel, während seine Jäger ihre Kreise um ihn beständig enger zogen.
Bertrand setzte seine letzten Kraftreserven ein und floh weiter vor der Meute, die sich in wilde Raubtiere, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Wölfen aufwiesen, verwandelt hatten.
Sein ganzes Bestreben galt dem Ziel, die Lichtquelle zu erreichen. Der Boden flog nur so unter seinen Füssen dahin, und tatsächlich schien er dem Licht immer näher zu kamen. Zum gleichen Zeitpunkt fielen seine Jäger immer weiter von ihm ab.

Ein letztes Mal hörte Bertrand ihr Heulen, dann erstarben alle Geräusche.
Der Lichtschein erfüllte die ganze Umgebung. Der rote Himmel verschwand in der hellen Korona aus reinem Licht, sogar strahlender als die wärmende Sonne. Zeitgleich mit dem Hellen Schein erfüllter sanfter Gesang lieblicher Stimmen die Luft und es roch nach frisch erblühten Blumen. Ehrfürchtig staunend zügelte Bertrand seinen Schritt und sah sich sorgfältig um. Vor sich war die Lichtquelle. Seine Augen gewöhnten sich an die Helligkeit und Bertrand erkannte die Gestalt einer Frau, die von einem Ring aus blendendem Licht umgeben war. Die Maid war über die maßen schön zu nennen. Ihre schlanke Gestalt war wohlproportioniert und steckte in einem blütenweißen Gewand aus reinster Seide. Ein feiner Umhang hing locker über ihre Schultern. Ihr Gesicht war so außergewöhnlich, dass selbst die liebreizende Lady Marie Levaliere nicht damit mithalten konnte. Ihre langen Haare hingen weit über ihre Schultern hinab. Doch das Eindrücklichste waren ihre Augen. Sie wiesen eine Tiefe auf, die Erfahrung eines langen Lebens, die im krassen Gegensatz zu ihrem jugendlichen Aussehen stand. Ihr Blick ruhte nun auf Bertrand und rührte ihn beinnahe zu Tränen.

Sie öffnete ihren Mund und ehrfurchtsvoll wollte Bertrand ihren Worten lauschen, bereit, jedem Befehl sofort Folge zu leisten. Doch ein Wind kam auf, der sich immer mehr zu einem starkem Sturm ausweitete. Er blies mit voller Wucht Bertrand ins Gesicht, und wehte ihn weg, obwohl er sich verzweifelt dagegen wehrte. Die schöne Maid hob ihre grazile Hand in einer flehentlichen Geste in seine Richtung und rief etwas, das im tosenden Sturm unterging. Auch Bertrand schrie, während die Maid immer weiter in die Entfernung rückte, doch seine Stimme war machtlos gegen das Brüllen des Sturmes. Er schrie aus Leibeskräften, während ihn der Sturm davon wehte.
„Wacht auf“, sagte Arnaut de Vailos und weckte Bertrand unsanft aus seinen Träumen. Schweißgebadet schreckte er von seiner dürftigen Strohmatratze hoch. Ein neuer Tag graute, und Bertrand graute es gleichermaßen, als er sich an seinen Traum erinnerte.

***
An diesem Tag gab er kein Pardon im Schwerttraining. Drei Knappen sandte Sir Haughey der Reihe nach gegen ihn in den Kampf, und alle Drei bekamen eine Tracht Prügel in Form von Schwerthieben die auf Schild, Rüstungen und Helm niedergingen. Wenn Sir Haughey auf Bertrand stolz war, dann zeigte er es in seiner Miene nicht.
Die anderen Knappen zögerten gegen Bertrand an diesem Tag in den Ring zu treten, der die Erlebnisse seines Traumes in seine stählernen Schläge fließen ließ. Zu ihrem Glück traten jedoch andere Ereignisse ein, die das Training bald beendeten.
Ein Reiter kam durch das große Tor hineingeritten. Bertrand erkannte ihn sofort wieder, schon bevor er seinen Helm abnahm. Es war der junge Ritter, Reynald le Durie, dem er einst auf dem Schlachtfeld das Leben gerettet hatte.
Sir Haughey kommandierte Bertrand und zwei weitere Knappen dazu ab, dem jungen Ritter beim Absteigen zu helfen. Bertrand übergab seinen Helm, Schwert und Schild an Arnault de Vailos, der ihn wütend anfunkelte, da er an diesem Tag sein erstes Opfer gewesen war.

Ein Knappe hielt bereits den Steigbügel, und Reynald schwang sich aus dem Sattel.
„Wo befindet sich Sir Jerome de Montfort?“, war seine erste Frage und die einzigen Worte, die er mit den Knappen, die nur wesentlich jünger waren als er selbst, wechselte.
Einer der Knappen zeigte auf das Hauptgebäude, den Wohnturm des Herzogs. Reynald würdigte seinen Lebensretter Bertrand keines Blickes. Er warf ihm wortlos die Zügel seines Pferdes zu, einem hellbraunen Fuchs mit weißer Blesse. Dann stolzierte er in Richtung des Hauptgebäudes, eskortiert von einem Knappen.
Bertrand sah dem eitlen, jungen Ritter nach und fragte sich, wie man in einem solchen Alter bereits ein derart großes Maß an Arroganz aufweisen konnte.
Er nahm das Pferd an den Zügeln und geleitete es zu den Ställen.

Die Ställe der Axtschartenburg waren wie viele der Wirtschaftsgebäude entlang einer der Mauern errichtet worden. Bertrand führte das Pferd in das weitläufige Gebäude und sofort kam ihm der Geruch von Pferdmist und Heu in die Nase. Es war dunkler in dem langen Flur und zahlreiche Pferde, vom großen Streitross bis hin zum flinken Zelter edler Damen standen in ihren Koppelen. Bertrand sprach mit einem Stallknecht, der gerade mithilfe eines Jochs zwei große Kübel voll Wassers trug. Er zeigte ihm eine freie Koppel, in der er das Pferd unterbringen konnte, wobei dabei eine Handvoll Wasser verhüttet wurde. Ungeachtet dieses Verlustes trottete der Pferdeknecht mit seiner Ladung weiter.

Bertrand führte das Pferd in die Koppel und nahm ihm sorgfältig die Ausrüstung ab. Dann den Sattel und die Zügel, und zu guter letzt auch noch die Schabracke und Decke. Die Gegenstände hängte er fein säuberlich über einen Querbalken der Koppel oder an Haken, die an einer Wand befestigt waren.
Bertrand nahm die Bürste und striegelte das Pferd. Es war ein wunderbares Tier, feiner Körperbau ohne Fehl, starke Flanken, genau die Rasse von Pferd, auf denen ein Ritter in die Schlacht zog. Nach getaner Arbeit verschloss Bertrand die Koppel hinter sich, und machte sich auf den Weg. Meister Rainheim würde sicherlich bereits auf ihn warten.

Von draußen drang er Klang der benachbarten Schmiede herein, wo Meister Gilbert und seine Gesellen ihrem Tagewerk eifrig nachgingen. Einige der Pferde schnaubten oder wieherten, als Bertrand schnellen Schrittes an ihnen vorbei eilte.
Es war das letzte Pferd in der Reihe, das Bertrand dazu bewegte, innezuhalten.
Er erkannte es sofort wieder.
Es war ein mächtiger Hengst von haselnussbrauner Farbe. Und zweifellos das schönste und prächtigste Tier im gesamten Stall. Und es gehörte keinem Geringeren als Sir Jerome de Montfort. Derzeit stand es ruhig in seiner Koppel, thronte dort mit der Selbstsicherheit eines Leithengstes, der über seine Herde wacht. Aber Bertrand hatte den Hengst schon in Aktion gesehen. Die mächtigen Flanken, die Hufe, unter denen die Erde erzitterte, wenn dieses edle Tier in Aktion trat. Selbst ohne seine farbenprächtige Schabracke war dieser Hengst ehrfurchtgebietend und ehrfürchtig starrte ihn Bertrand an, der seinen Blick kaum losreißen konnte. Dennoch gelang es Bertrand für einen Moment nach links und rechts in den langen Gang des Stalles zu sehen. Er war alleine mit diesem edlen Tier. Bertrand bückte sich und nahm eine Möhre aus einem der Kübel, die am Boden standen. Er verdrängte den Gedanken, dass eine solche Möhre wahrscheinlich das Abendessen einer bretonischen Bauernfamilie bilden würde, während sie hier an Pferde verfüttert wurde. Langsam näherte er sich Schritt für Schritt dem Hengst in seiner Koppel. Das Tier blieb ruhig stehen, nur die Ohren gespitzt und musterte ihn eingehend, ohne eine andere Reaktion zu zeigen.
Langsam hob Bertrand die Möhre hoch und näherte sich weiter dem Streitross. Er war nur noch wenige Fingerbreit von dem Tier entfernt. Bertrand versuchte alle Ruhe und Vertrauensseligkeit in seine Stimme zu legen.
„Hier“, sagte er ruhig. „Etwas Gutes für dich.“
Eine Hand legte sich um die seine.
„Junge, dass würde ich besser lassen.“ Sie war rau, das Produkt eines langen, harten Lebens und gehörte zu dem Pferdeknecht, der ihm zuvor den Weg gezeigt hatte. Die Hand war stark, so stark wie nur jemand sein konnte, der sein ganzes Leben mit harter, körperlicher Arbeit verbracht hatte. Bertrand gab nach.
„Wieso?“, fragte er den Knecht.
Der Knecht lachte zur Antwort und entblößte dabei eine Reihe unregelmäßiger, gelber Zähne und eine riesige Zahnlücke. Sein Atem stank nach billigem Fusel.
„Dies ist Sir Jeromes Pferd, Tourbillon. Wirbelwind heißt er in der Sprach von uns Gemeinen. Niemand nähert sich diesem Biest ohne die Erlaubnis seines Herren. Der dünne Yves wollte dem einmal striegeln und jetzt muss er mit drei Fingern weniger auskommen.“

Bertrand runzelte die Stirn bei dieser Geschichte, sie hatte zuviel gemein mit den Erzählungen des alten Pierre. Doch als er Tourbillon ansah, der weiterhin ruhig in seiner Koppel stand und ihn mit seinen dunklen, intelligenten Augen fixierte, war sich Bertrand nicht mehr ganz so sicher, ob der Pferdeknecht ihm nur ein Ammenmärchen aufgetischt hatte. Er warf die Möhre in den Kübel und wandte sich ab. Als er den Stall verließ sah er, dass die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Schlagartig erkannte er, dass er wieder einmal zu spät zu Meister Rainheims Unterricht kommen würde, und ohne weiteres Zaudern rannte er über den ganzen großen Hof zum Turm des Zauberers.
 
Zuletzt bearbeitet:
1.13 Meister Rainheim

Auf seinem Tisch türmten sich bereits die Pergamente und dicken Bücher, als er atemlos nach zu vielen Stufen in zu kurzer Zeit, das obere Stockwerk des Turms betrat, in dem sich der alte Zauberer eingenistet hatte. Rainheim strafte ihn mit einem wortlosen Blick, wie sie nur ein Lehrer zustande bringen konnte.

„Also dann, mein wissbegieriger, aber zerstreuter junger Geist, ans Werk!“
Bertrand murmelte eine Entschuldigung, die Meister Rainheim mit einer Geste seiner Hand beiseite wischte.
„Heute steht eine Wiederholung über die Geschichte des Königreichs Bretonia an. Angefangen von Gilles dem Einiger und seine Gefährten bis hin zur gegenwärtigen Regentschaft eures Königs Louen Leoncoeur.“

Rainheim sagte immer „euer König“ oder „euer Königreich“. So sehr er auch dem Herzog Folcard de Montfort ergeben war und in seinen Diensten stand, so wenig identifizierte er sich mit der bretonischen Lebensweise. Er war immer noch der Lebensweise des Imperiums verbunden, umso mehr, da das Herzogtum Montfort direkt an dessen Grenze lag, und sich dadurch zahlreiche Berührungspunkte ergaben. Bertrand spulte pflichtgemäß sein Programm herunter und beantworte jede Frage über die zwölf großen Schlachten von Gilles und seinen Gefährten, sowie die Abstammung der Herzöge Montforts, von Mandred bis zu Herzog Folcard. Meister Rainheim war zufrieden, und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

„Gut gemacht, mein Junge“, sagte er. „Noch Fragen?“
Bertrand wusste, dies war seine Chance.
„Ich hätte eine Frage zum Bruder des Herzogs. Zu Baron Rambert und seinem Sohn, Sir Jerome. Warum wurde Sir Jerome nicht von seiner Mutter großgezogen? Ist dies bei Adeligen so üblich?“
Auf Volker Rainheims Stirn erschienen Sorgenfalten und er runzelte die Stirn. Bei diesem Anblick befürchtete Bertrand bereits, dass er zu weit gegangen war.
„Mein Junge, im Umgang mit Wissen sollte man immer eine Regel beherzigen“, begann der Zauberer schließlich. „Beachte, dass es auch Dinge gibt, über die man besser nicht Bescheid wissen sollte. Denn solches Wissen kann schwer auf Einem lasten.“
Und dabei beließ es Rainheim, wie Sir Berrick am Abend zuvor.
Bertrand wollte weiter nachhaken, aber am Blick des Zauberers sah er, dass sein Unterfangen keinen Sinn haben würde.
Volker Rainheim ging an seinen Balkon, und Bertrand folgte ihm. Durch die steinernen Rundbogen blickten sie beide schweigend in den kleinen Nebenhof hinab. Einige Fuß tiefer übte ein Ritter mit der Lanze an einer Übungspuppe, die über einen Drehmechanismus verfügte und bei jedem schlecht gezielten Stoße dem Ritter einen heftigen Schlag versetzte. Bertrand kannte diese Puppe nur zu gut aus eigener Erfahrung, da sie ihm an manchen Tag sogar von seinem Pferd gefegt hatte. Der Ritter hingegen, in seiner dunklen Rüstung, war ein Meister seines Fachs. Jede Attacke, ließ die Puppe nach hinten zu Boden gehen, kein einziges Mal traf die Lanze nicht die Stelle, auf die der Ritter zielte. Es war immer die Region, an der sich bei einem Menschen das Herz befand. Auf seinem schwarzen Schild mit roter Umrandung befand sich eine einzelne, geballte Faust als Symbol.
„Claude de Sanguine“, murmelte Volker Rainheim und nicht zu verbergende Verachtung lag in diesen Worten.
Bertrand sah den Zauberer fragend an. Dieser lachte bitter, als er den Blick des jungen Knappen sah.

„Überrascht, wie? Aber es ist wahrlich kein Geheimnis, dass der Seneschall des Herzogs und ich nicht die besten Freunde sind.“
Er zeigte mit seiner Hand wieder auf den Seneschall, der sein Pferd zu einer weiteren Attacke antrieb. Ein weiterer Treffer mit voller Wucht schleuderte die Übungspuppe zu Boden.
„Da hast du die Antwort auf deine Frage“, sagte Rainheim, und Bertrand war sich zuerst nicht sicher, was dieser damit meinte.
Doch Rainheim fuhr fort. „Claude de Sanguine ist der Spross einer ehrgeizigen Familie, die im Norden des Herzogtums große Besitzungen hält. Viele sagen, sie wären nach den Montforts die mächtigsten Adeligen des Herzogtums. Böse Zungen behaupten sogar, dass die ehrgeizigen Grafen derer von Sanguine sich am Liebsten selbst die Würde eines Herzogs auf ihre vornehmen Häupter setzen würden. Obwohl ich gestehen muss, dass diese Meinung auf reiner Spekulation beruht, denn die Familie de Sanguine ist stets verschlossen, was ihre eigentlichen Ziele und Pläne betrifft. Und am Schweigsamsten ist unser Seneschall hier, die hölzerne Hand, wie er genannt wird. Eiserner Mund würde eher zutreffen, so wenig gibt er über sich preis. Aber ehrgeizig ist er allemal, dieser Claude de Sanguine. Herzog Folcard gab ihm den Posten eines Seneschalls, aber das scheint ihm nicht genug zu sein. Er erhob seinerzeit sogar die Anwartschaft auf den Titel des Schwertträgers. Und du weißt doch, welche Verantwortung in diesem Amt liegt?“

Bertrand nickte. Sir Haughey und auch Meister Rainheim hatten ihm beide dieses Amt erklärt. Der Schwertträger eines Herzogs war der Mann, der in Duellen für die Sache des Herzogs eintrat. Eine Streitfrage mit einem Baron oder Grafen, die nicht friedlich gelöst werden konnte, wurde durch ein Duell geschlichtet, wobei die Gunst der Herrin vom See entschied, wer in gerechter Sache focht. Der Schwertträger war der verlängerte Arm des Herzogs, der Vollstrecker seines Willens. Es gab nur wenige andere Ämter am Hof, die eine ähnlich große Verantwortung aufwiesen, wie das Amt des Seneschalls, oder das des Burgverwalters und Marschalls. Langsam wurde Bertrand die Tragweite dessen bewusst, wenn zwei dieser Ämter von einer Person vereint würden.
„Ich war dort.“, sagte Volker Rainheim leise, mehr zu sich selbst, als zu Bertrand. „Ich war anwesend in den langen, hitzigen Debatten, als der alte Schwertträger des Herzogs bei einem Kampf gegen eine Bestie verstarb und ein Nachfolger gesucht wurde. Nicht wenige traten offen für Claude de Sanguine ein im Rat des Herzogs. Doch Sir Haughey, Baron Rambert, und meine Wenigkeit redeten dem Herzog gut zu, diesen Posten seinem Neffen Jerome anzuvertrauen. Und schließlich entschied sich Herzog Folcard dafür, dass fürderhin sein Neffe der Kämpe des Herzogtums war.“
Rainheim sah Bertrand direkt an, fixierte ihn mit seinen alten, eindrucksvollen Augen unter den buschigen grauen Augenbrauen.
„Nur so viel, mein Junge. Es gab zahlreiche Stimmen, die gegen diese Entscheidung protestierten. Er wäre dieses Amtens nicht würdig, meinten sie. Und manche wirklich böse Zunge verbreitete ungeniert verleumderische Gerüchte über Jerome de Montfort und seine Familie.“
Rainheim wandte den Blick ab, auf seinem Gesicht war deutlich die Sorge in sein altes Gesicht geschrieben. Er sah in den Himmel, Richtung Norden.
„Ein Sturm zieht auf“, sagte er schließlich.
Bertrand sah in den wolkenlosen Himmel.
„Wo, Meister?“, fragte er ungläubig.
„Weit entfernt von hier“, antwortete Rainheim mit einer Stimme, die entrückt klang. „Weit entfernt, aber er wird näher kommen.“
Doch weiteres wollte der Zauberer nicht preisgeben. Er verließ den Balkon und ging an einen seiner Tische, wo zahlreiche Glasgefäße und eine komplizierte Apparatur standen.
Wortlos folgte ihm Bertrand und widmete sich wieder dem Studium der großen Bücher, die noch aufgeschlagen auf dem Tisch lagen.
Unter ihnen im Hof zog Claude de Sanguine weiter seine Kreise und schleuderte ein ums andere Mal die Übungspuppe zu Boden.
 
Zuletzt bearbeitet:
2.) Rechtschaffenheit

2.1 Für die Ehre

„Mögen die Götter mit Euch sein, Bertrand“, sagte Volker Rainheim und berührte in einer freundschaftlichen Geste sein Knie. Bertrand rutschte unbehaglich auf seinem Sattel hin und her. Die ganze Geschichte war schon unangenehm zu nennen, doch auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, war eine ganz andere Sache.
In einiger Entfernung wartete das treue Streitross von Jerome de Montfort samt seinem Reiter und Baron Rambert, der Vater von Jerome Montfort, stand daneben und hielt die Hand seines Sohnes in festem, beidhändigem Griff.
„Gib gut acht auf dich, mein Sohn“, sagte er mit seiner vollen Stimme. Nur ein Glitzern in seinen Augenwinkeln verriet, wie sehr im dieser Moment zu Herzen ging.
„Ich werde unserem Namen alle Ehre erweisen“, erwiderte der sonst so wortkarge Jerome.
Die Ehre, dachte Bertrand und grübelte darüber nach, wie sehr dieser ihm so unbekannte Ehrbegriff sein Leben bisher beeinflusst hatte. Ein Ehrbegriff, mit dem Bertrand allerdings nur wenig anfangen konnte. Aber so war das Leben in Bretonia. Der ritterliche Codex, dieses Gelübde, dass mit dem Satz endete „Ehre ist alles, Ritterlichkeit ist alles …“, war der Maßstab des Lebens. Dies war die Richtschnur, der Takt, der den Ton zur Musik vorgab.

Als Sir Haughey die Rüstkammer betreten hatte, mit demselben Gesichtsaudruck wie sein Onkel Jean, da war es Bertrand bereits klar gewesen. Sein letzter Funken an Selbsttäuschung zerstob in dem Moment, als Sir Haughey zu reden begann. Er hörte die Worte zwar, aber er war wie gelähmt. Sie hallten in seinem Kopf, wie das Echo in einem tiefen Tal. Welche Ehre es sei, als Knappe zu dienen. Der Ruhm, den sie auf dieser Fahrt erlangen würden. Es waren nur Worte, Schall und Rauch, Begriffe aus einer Kategorie, die für sein Leben keinerlei Wert besaßen. Wie benommen führte ihn Sir Haughey zum Waffenschmied. Widerstandslos, aber auch ohne eigene Initiative ließ Bertrand die Prozedur über sich ergehen. Als ihm der Schmied, Meister Gilbert, ein Kettenhemd und eine leichte Rüstung aussuchte und anprobierte. Dazu den einfachen Rundhelm mit Nacken- und Nasenschutz. Genauso widerstands- und wortlos ging Bertrand mit Arnaut de Vailos mit, der ihn zu ihrer Kammer führte, wo Bertrand seine wenigen Habseligkeiten einpackte und zu einem handlichen Bündel rollte. Er erinnerte sich an den Blick, den ihm der junge Arnault zuwarf. Arnault war zweifellos neidisch, dass Bertrand der Auserwählte war. Wenn es nach Bertrand ging, hätte er auf der Stelle mit diesem adeligen Narren getauscht. Sollte doch Arnault de Vailos auf der Suche nach Ruhm sich abmühen, im eiskalten Regen frieren und hungern!

Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, in einer Ecke, stand ein weiterer Kandidat dafür, seinen Platz zu übernehmen. Der junge Ritter Reynald le Durie. Er machte eine Miene, als würden ihm gerade sämtliche Grünhäute des Grauen Gebirges der Reihe nach auf die Zehen steigen. Bertrand empfand nur wenig Mitleid mit dem eingebildeten Adeligen, dessen kühne Träume, im Gefolge Jerome de Montforts zu dienen, sich so jäh verflüchtigt hatten.
Obwohl er auch auf der Stelle mit diesem selbstgefälligen Narren getauscht hätte.

Doch dazu kam es nicht, denn Jerome de Montfort gab das Zeichen zum Aufbruch. Bertrands eigenes Pferd, ein weitaus weniger stattliches Tier mit dem Namen Hirondelle, folgte automatisch dem Hengst Tourbillon. Auch das Packpferd, dessen Zügel Bertrand in den Händen hielt, setzte sich zu seiner Erleichterung in Bewegung. Er konnte sich nichts Peinlicheres vorstellen, als bereits zu Beginn der Reise mit einem gebrochenen Steißbein auszufallen, weil er vom Sattel gefallen war. Selbst wenn dann jemand Anderer seinen Platz einnehmen müsste.
Die kleine Gruppe durchquerte das Torhaus, unter den mächtigen, hochgezogenen Fallgittern hindurch und über die Zugbrücke. Jerome de Montfort, vollständig gewappnet, den Helm am Sattelknauf eingehakt, sah kein einziges Mal zurück. Bertrand hingegen tat es. Auf einer der Zinnen sah er einen bunten Flecken Seide schimmern. Eine helle Haut, gekleidet in feinste Seide. Die Person lehnte sich, soweit es Sicherheit und geziemendes Benehmen erlaubten, aus der engen Schießscharte und winkte mit ihrem Seidentuch, das im Wind flackerte.
Obwohl er wusste, dass dieser Gruß nicht ihm galt, winkte Bertrand zurück.

Sie verließen den Hügel der Burg und durchquerten Jouinard. Nicht wenige der Bewohner drehten sich um, oder hielten in ihrer Arbeit inne. Die Bewohner des Städtchens unterhalb der Burg des Herzogs waren den Anblick von Rittern gewöhnt. Doch selbst für sie, war diese Begegnung ein seltenes Ereignis. Es war ein seltsames Gefühl für Bertrand, derart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Kinder gafften ihn offen an. Nicht wenige der älteren Leute griffen mit ihrer Hand nach Amuletten, und ihre Lippen murmelten ein Gebet. Seine Mutter hätte sicher den exakten Wortlaut gewusst. Sir Jerome de Montfort jedoch ignorierte sie alle.

Wortlos ritt er aus dem Stadttor und schlug den Weg nach Westen ein. An der Wegkreuzung nahmen sie die Straße, die südwärts führte. Bisher hatte der Ritter kein einziges Wort mit Bertrand gewechselt.
So erreichten sie schließlich Villaux. Schon vor dem Dorf erblickten sie die Kinder, die schreiend vor ihnen in das Dorf rannten. Als sie die ersten Häuser passierten, war die gesamte Bevölkerung auf den Beinen und versammelt. Bertrand erkannte sie alle wieder. Der alte Pierre, Robert der Dorfvorsteher, und die Anderen. Sie schienen ihn nicht zu erkennen, zumindest ließen sie es sich nicht anmerken. Jerome de Montfort zügelte sein Pferd und brachte es in der Mitte des Dorfes zum Stehen. Augenblicklich kam Robert herbeigeeilt, so unterwürfig und hofierend, wie ein Mensch es nur sein konnte.

„Milord beehren uns mit seiner unerwarteten Anwesenheit. Wie können wir treuen Untergebenen von Villaux, dem großen Herren zu Diensten sein?“
Jerome de Montfort sah beinnahe durch den katzbuckelnden Dorfvorsteher hindurch.
„Tränkt die Pferde!“, befahl er. Robert gehorchte unter mehrfachen, tiefsten Verbeugungen, die man einem so großen Mann gar nicht zugetraut hatte.
Jerome wandte sich zum ersten Mal an Bertrand.
„Verabschiede dich“, sagte er, und drehte sich um.

Bertrand stieg aus dem Sattel und holte mit klopfendem Herzen sein Bündel hervor. Dann ging er los, wobei die Menge ehrfurchtsvoll Platz machte.
Die Hütte war menschenleer, keine Seele war zu sehen. Fahles Licht drang durch die Öffnungen, welche dieselbe Funktion wie Fenster hatten. Glas war ein seltener Luxus, selbst auf Burg Montfort besaßen nur die privaten Gemächer des Herzogs Glasfenster. Und die Kapelle, deren prächtige Buntglasfenster die Geschichte von der Schlacht um die Burg zeigten. Kein Wunder, dass eine derartig armselige Unterkunft über keinen solchen Luxus verfügte. Armselig ja, aber Bertrand erinnerte sich in diesem Augenblick an die zahlreichen glücklichen Momente, die er hier mit seiner Mutter verbracht hatte. Umso mehr, da er einen ungewissen Zukunft entgegen blickte. Bertrand ging zu seiner alten Lagerstatt, einer einfachen Strohmatratze und der groben Wolldecke. Trotz ihrer bescheidenen Verhältnisse war seine alte Schlafstätte sauber, und offensichtlich auch nach seiner Abwesenheit in Ordnung gehalten worden. Wortlos nahm Bertrand sein Bündel und wickelte es auf. Fein säuberlich nahm er den prächtigen Mantel, den ihm einst sein Onkel vor dem Abschied mitgegeben hatte. Er faltete ihn ordentlich zusammen und legte ihn auf die Strohmatratze.

Dann ging er hinaus, wo Jerome de Montfort bereits aufgesessen war und auf ihn wartete.
Bertrand strich seinen Wappenrock galt, auf dem groß das Wappen Sir Jerome de Montfort prangte. Das Schwert auf dem Wappen war verschwunden, so wie Jerome auch nicht mehr der Schwertträger des Herzogs war.
Wortlos verließen sie das Dorf.
Und dieses Mal war es Bertrand, der nicht zurückblickte.
Zwei Reiter und ein zusätzliches Reitpferd nahmen den Weg nach Süden. Gemeinsam auf der Straße nach Parravon, um die Ehre des ehemaligen Schwertträgers des Herzog wiederherzustellen. Einer ungewissen Zukunft entgegen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Da die Geschichte nun ein wenig fortgeschritten ist, werde ich nun eine Personenbeschreibung einführen. Damit die Orientierung leichter fällt

Bertrand: Ein junger Mann ohne Vater, der sich dennoch behaupten kann.

Jean: sein Onkel

Jerome de Montfort: Neffe des Herzogs und sein Schwertträger. Ein Mann der wenigen Worte, dessen Taten für ihn sprechen.

Baron Rambert de Montfort: Jeromes Vater und jüngerer Bruder von Herzog Folcard

Reynald le Durie: junger, unerfahrener Ritter (16-17), Heißsporn, schulterlange, braune Haare, gutaussehend

Herzog Folcard de Montfort: Herzog, aber für wie lange?

Seneschall Claude de Sanguine: Seneschall, „die hölzerne Hand“

Volker Rainheim: Zauberer und Berater des Herzogs. Menschen würden morden um seine Geheimnisse zu erlangen. Manche tun es sogar

Lady Marie Levaliere: Mündel des Herzogs, die Herzensdame Jeromes, begehrt von Claude de Sanguine

Blondel: Hofnarr auf Burg Montfort

Sir Gervaise Haughey: Veteran und Ausbilder aller Knappen und Pagen in Montfort, zu deren Leidwesen

Sir Berrick de Ursins: Freund und Waffengefährte von Jerome de Montfort seit gemeinsamer Knappenzeit.

Tourbillon: Jerome de Montforts getreues Schlachtross (Vorsicht bissig, wenn die falsche Hand es berührt)

Hirondelle: Bertrands Pferd/Klepper
 
Zuletzt bearbeitet:
Alter Falter, legst du dein Tempo vor!
Da du scheinbar schneller schreibst als ich lese... könntest du vllt ein Inhaltsverzeichnis anlegen, oder so? Mit den Namen der einzelnen Teile (wenn es denn welche gibt)... mir fehlt gerade so beim Überfliegen die Orientierung. Wenn ich eine längere Pause hab muss ich auch immer erst wieder den Teil suchen wo ich war....
Vielleicht so in der Art

1.) Gefolgschaft
- 1 xyz
- 2 Beliebiger Name
- 3 Beliebiger Name 2

2.) Rechenschaft
- 1 xyz 2
- 2 Beliebiger Name 3

usw...

Wäre cool... und würde helfen den Thread insgesamt besser zu strukturieren... für später, wenn er irgendwann mal richtig lang ist 😉
 
2.2 Verfolgt

Es war der zweite Tag ihrer Reise. Die erste Nacht verbrachten sie im Freien. Eine alte, verlassene Höhle diente ihnen als Unterkunft. Jerome de Montfort überließ Bertrand das Absatteln der Pferde und verschwand. Er kehrte mit einem Arm voller Feuerholz zurück. Wortlos begann der Ritter ein Feuer zu machen. Bald erwachte knisternd ein Funken, der sich schließlich zu einem behaglichen Feuer ausweitete. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, nahmen sie das frugale Mahl ein. Brot und ein Stück Trockenfleisch, hinuntergespült mit einem Schluck Wein aus der Weinflasche. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, wo Bertrand Wein kosten konnte. Ein Getränk, das in der Regel viel zu gut für einen bretonischen Bauern war. Doch Jerome überließ ihm wortlos den Schlauch und Bertrand fand, dass er sich durchaus einen Schluck verdient hatte. Er nahm sogar großzügig davon Gebrauch, immerhin war es eine kleine Entschädigung dafür, dass ihn dieser Ritter auf seine Fahrt mitnahm.
„Genug“, sagte Jerome de Montfort. Es lag nicht der typische befehlende Tonfall eines Adeligen in seinen Worten, vielmehr ein Hauch von Belustigung.

Verlegen gab Bertrand den Weinschlauch zurück. „Und jetzt, Milord?“, wagte er die Frage.
„Legt Euch schlafen“, kam die Antwort. „Ich werde Euch wecken, wenn Ihr mit der Wache dran seid.“

Beklommen tat Bertrand, was ihm sein Herr befohlen hatte. Zuerst konnte er sich nicht vorstellen, dass er Schlaf finden würde. Zuviel war an diesem Tag passiert, zu viele Dinge schwirrten in seinem Schädel. Doch die Mühsalen des Tages forderten ihren Tribut und Bertrand entwisch schneller in die Gefilde des Schlafs, als er es sich hätte erträumen können.
Er sah sie wieder, in diesem Traum. Und wieder verfolgten ihn die Schatten. Auch dieses Mal, versuchte die wunderschöne Maid mit ihm zu reden. Und auch in diesem Traum ging ihre Stimme im Tosen des Sturms unter. Ob er ebenfalls geschrien hatte, konnte Bertrand im Nachhinein nicht mehr sagen. Auf jeden Fall berührte ihn eine harte Hand an seiner Schulter. Bertrand blinzelte, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das Feuer war bereits fast herab gebrannt, nur noch die Glut und ein einsamer Scheit glimmten vor sich hin. Es war tiefste Nacht, einige Stunden vor Sonnenaufgang.
„Eure Zeit“, sagte Jerome de Montfort. „Lasst das Feuer nicht ausgehen.“
Dann streckte sich der Hüne auf seiner Schlafstatt hin, und war bald eingeschlafen. Bertrand war alleine. Nur die Sterne bildeten seine Gesellschaft. Unwillkürlich wurde sein Blick auf das strahlende Firmament gezogen, ein Stern heller lEuchtend als der Andere. Eine Eule schrie in der Dunkelheit, während sie auf Streifzug war.
Ein leichter Wind kam auf, und die Büsche in der Nähe begannen zu rascheln, als die Brise sie erfasste.
Doch es war nicht dieses Geräusch, das Bertrand argwöhnisch werden ließ. Ein ungutes Gefühl schürte seine Kehle zu. Ähnlich der Empfindung in seinem Traum. Bertrand legte nahm einen Stecken und entzündete ihm am Feuer. Knisternd sprang die Flamme über.

Mit dieser Fackel ausgestattet, trat Bertrand aus der Höhle. Die Pferde waren rechts von ihm angepflockt. Hirondelle schnaubte kurz, als Bertrand ihn passierte. Doch gutes Zureden und eine kleine Streicheleinheit ließen das Tier schnell verstummen. Bertrand ging weiter.
Ein Ginsterbusch stand direkt vor ihm, jetzt nur ein dunkles Schemen, erhellt nur vom flackernden Schein seiner Fackel.
Eine Vorahnung beschlich Bertrand und unwillkürlich ging seine Hand an den Schwertgriff. Obwohl sich sein Willen sträubte, setzte Bertrand einen Fuß vor den anderen, und kam dadurch dem Busch immer näher. Im Schein der Fackel schienen die Konturen des Ginsterstrauchs unmögliche Formen anzunehmen. Flächen aus Licht und Schatten, Konturen, die ihn unangenehmer Weise an seinen Traum erinnerte. Und doch, da war eine Präsenz in diesem Gestrüpp, die Bertrand auf unerklärliche Weise spüren konnte. Sein Herzschlag wurde immer schneller, sein Griff um das Schwert immer fester. Näher und näher kam er der Bedrohung.

Der Angriff erfolgte schnell. Ein Schatten brach aus dem Busch, Zweige brachen, als sich das Geschöpf seine Bahn brach. Klirrend kam das Schwert aus der Scheide, bereit zur Verteidigung von Bertrands Leben. Der Schatten entpuppte sich als ein Vogel, dessen eigenes Leben ihm allemal wichtiger war, als Bertrands. Der Vogel entfloh in die Dunkelheit um sich ein neues Plätzchen zu suchen, wo er ungestört den Rest der Nacht verbringen konnte.
Bertrand selbst beruhigte sich allmählich wieder und steckte sein Schwert ein. Dann kehrte er in die Höhle zurück, um einen weiteren Holzscheit in das Feuer zu legen.

„Wacht auf!“, sagte Jerome de Montfort knapp und Bertrand schreckte hoch um zu seiner Verlegenheit zu bemerken, dass ein neuer Tag bereits angebrochen war. Vögel zwitscherten, und die Sonne schien bereits höher am Himmel, als einer eingeschlafenen Wache lieb sein konnte.
„Verzeiht Milord“, brachte Bertrand schließlich mit hochrotem Kopf hervor.
„Dankt der Herrin vom See, dass in diesen Büschen kein Paar Augen waren, welches eure Nachlässigkeit zu unserem Schaden ausnützen konnte.“
Bertrand senkte verlegen seinen Kopf, während Jerome mit seinem gepanzerten Fuß die glimmenden Reste des Feuers löschte. Eilig rollte Bertrand sein Bündel zusammen und befestigte es hinter Hirondelles Sattel. Auch die Pferde waren bereits abreisefertig, eine weitere, wortlose Rüge.

Jerome de Montfort war jedoch bereits aufgegessen und lenkte sein Pferd aus der Höhle. Vorbei an dem Ginsterbusch und unter dem Schatten vereinzelter Pferde gelangten sie wieder auf die Straße, die sich nur in kurzer Entfernung zur Höhle nach Süden schlängelte. Die Zügel seines Pferdes, die des Packpferdes in der anderen, folgte Bertrand. Die Straße war ein breiter, festgetretener Bereich aus Erde, denn gepflasterte Straßen waren in Bretonia ein seltener Luxus. Umso mehr, da sie sich in einer menschenleeren Gegend befanden. Auf ihrer Linken kamen die Hügel und Erhebungen näher an die Straße heran. Weiter im Hintergrund, doch deutlich sichtbar, ragten die Gipfel der Berge hoch. Wie die Gipfel waren auch die sonst grauen Flanken in blendendes Weiß gekleidet. Ein weiterer Hinweis darauf, dass der Winter bevorstand. Ein Ostwind von den Bergen trug die Kälte hinab, und Bertrand war in diesem Moment für die Rüstung und seinen Wappenrock dankbar, der diesen Wintergruß abmilderte. Der Wind fuhr durch die Büsche und Bäume, die entlang des Weges standen und ließ deren rote, gelbe und andersfarbige Blätter rascheln. Doch dieses Mal zog Bertrand sein Schwert nicht.

Er war vielmehr mit seinen Gedanken beschäftigt, da Jerome de Montfort ein Stück voraus ritt und auch keinerlei Anstalten machte, seinem Knappen über die Ziele des Tages zu informieren. Verlegenheit und Scham waren die heftigsten Emotionen, die den jungen Knappen befielen. Seine erste Aufgabe derart zu verfehlen, trieb ihm immer noch die Schamesröte ins Gesicht.
Doch Bertrand war erst siebzehn Jahre alt, und der Segen der Jugend ist es, das solch trübsinnige Gedanken nicht allzu lange die Oberhand über einen jungen Geist erlangen. Umso mehr, da sich Bertrands Magen sehr bald meldete. Doch nach seinem Fehler wagte es Bertrand nicht, den Ritter um eine kurze Essenspause zu bitten.
Und so ritt Bertrand mit knurrendem Magen hinter seinem Herrn, den noblen Jerome de Montfort her.

Drei Stunden bewegte sich die kleine Gruppe nach Süden, immer dem Weg folgend. Mal traten die Hügel näher an den Weg heran, mal standen sie in einiger Entfernung. Die Herbstsonne stand bereits fast an ihrem Zenit, als Jerome de Montfort die erste Rast einlegte. Unter einer großen Eiche, deren weite laubgekrönte Äste ihren Schatten auch über Weg warfen, hielt der Ritter sein Pferd an. Der Wind war, zu Bertrands großer Dankbarkeit, bereits vor geraumer Zeit vergangen. Erleichtert stieg Bertrand ab, und führte seine beiden Pferde zu einem kleinen Bach, der von den Hügeln kommend sein klares, handbreit tiefes Wasser in die westlichen Ebenen hinabführte. Hirondelle und das Packpferd senkten augenblicklich ihre Köpfe um zu trinken. Bertrand öffnete einer der Satteltaschen, wo sich der Proviant befand und holte das Bündel mit ihren Vorräten heraus. Er ging auf die andere Seite des Tiers, welches weiter sein Durst löschte und nicht auf ihn achtete, um den Weinschlauch für seinen Herrn Jerome zu holen. Dabei fand er neben dem Weinschlauch auch eine Rolle aus Pergament, die Bertrand zuvor noch nie gesehen hatte.

Mit einem Stirnrunzeln nahm er die drei Gegenstände und brachte sie zu Jerome de Montfort, der sich auf einen großen Stein unter der Eiche gesetzt hatte.
Der Ritter schnitt mit seinem Messer ein Stück aus dem Laib Hartkäse und trank vom Weinschlauch. Bertrand widmete sich derweil der Rolle.
„Was ist das?“, fragte ihn Jerome de Montfort.
„Vergebt mir Milord, ich weiß es nicht“, erwiderte Bertrand. Er entrollte das Pergament.
„Es ist eine Karte des Königreichs Bretonia, sowie des nördlichen Tilea“, sagte er schließlich erstaunt.
Jerome de Montfort begann zu lachen. Eine Reaktion, die Bertrand nicht erwartet hatte. Und eine Reaktion, die er diesem verschlossenen Adeligen, der so unnahbar erschien, auch nicht zugetraut hatte.
„Natürlich ist es das. Schließlich habe ich Meister Rainheim auch aufgetragen, uns mit einer Karte für unsere Route zu versorgen. Oder habt Ihr gedacht, mein treuer Knappe, dass wir eine Fahrt ins Blinde unternehmen?“

Jerome de Montfort lachte wieder. Es war kein hämisches Lachen, sondern es klang, als würde sich der Ritter damit all
seiner eigenen Anspannung entledigen. Und es war so ansteckend, dass Bertrand auch selbst ein scheues Lächeln zustande brachte.
Jerome de Montfort warf seinem Knappen ein Stück Käse zu, den dieser geschickt auffing.
„Esst!“, sagte er einfach. Und für eine Weile saßen Beide, Diener und Herr da, und nahmen ihre Mahlzeit ein.
Es war dieselbe einfache Kost wie am Abend zuvor, doch dieses Mal kam sie Bertrand ungleich deliziöser vor. Ein gefüllter Magen erhellt die Stimmung, lautet ein Sprichwort des bretonischen Bauernvolks. Und in der Tat, bewirkte dieser Umstand, dass Bertrand sich nun erheblich besser fühlte. Ja, er genoss sogar die schöne Herbstlandschaft, den Sonnenschein, und er machte sich weniger Sorgen über ihre Reise.

Vielleicht wäre er in dieser erhebenden Stimmung geblieben.
Doch Jerome de Montfort schnellte plötzlich in die Höhe und zog mit einem Klirren sein Schwert. Dieses unverkennbare Geräusch von Stahl, riss Bertrand aus seinen Tagträumereien. Jerome de Montfort blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Bertrand, inzwischen ebenfalls stehend, hatte die Hand an seinem Schwertgriff. Er blickte in dieselbe Richtung wie sein Ritter, konnte jedoch nichts erkennen, da der Weg einen Bogen um einen hervorstehenden Hügel machte, und so zum Großteil verborgen war.
„Was ist los, Milord?“, erkundigte er sich.
Jerome de Montfort blickte ihn an, eine Gesichtausdruck voller stählerner Entschlossenheit.
„Holt die Pferde und macht Euren Bogen bereit“, sagte der Ritter trocken. Kein Anzeichen von Aufregung war seiner Stimme zu entnehmen. „Wir werden verfolgt.“
 
2.3 Herzensleid

„Milady, ich bitte Euch. So seid doch vernünftig.“
Lady Marie Levaliere, das Mündel des Herzogs wusste, welches Argument dieser Bitte nun folgen würde: Ihr müsst etwas essen.
Und in der Tat, sagte ihr Gegenüber diesen Satz. Allerdings verwendete er den Ausdruck „etwas zu Euch nehmen“ anstelle von „essen“.

Doch Marie Levaliere war nicht in der Stimmung für Diskussionen, geschweige denn für logische Argumente. Ihr Herz fühlte sich so leer an. Und wenn es bedeutete, dass der Rest ihres Körpers dem folgen musste, dann war ein knurrender Magen nur ein geringer Preis für ihren Kummer. Nein, sie war nicht bereit dazu, den niedrigen Genüssen wie der Nahrungsaufnahme zu frönen, wo man ihr doch an jenem Tag die Lebenslust genommen hatte. Sie war ihnen doch immerhin dahingehend entgegengekommen, dass sie ihren Platz an dem Turmfenster geräumt hatte. Der letzte Ort, wo sie einen Blick auf die Liebe ihres Lebens erhascht hatte, während seine stattliche Figur am Horizont entschwand.
Unter Tränen brachte man sie in ihrer Kemenate, wo sie sich auf ihr Bett unter dem seidendurchwirkten Baldachin warf und hemmungslos weinte. Inzwischen hatte sie keine Tränen mehr. Zwei Nächte tiefer Trauer forderten ihren Tribut. Sie sah in ihren Spiegel. Ein liebliches Antlitz sah ihr entgegen, die Augen jedoch gerötet und von dunklen Schatten umgeben.

Es hieß, sogar die Gemahlin des Herzogs habe sich gegenüber ihren Hofdamen ob Maries Zustand besorgt gezeigt. Vor allem, da sie ihre Kemenate seit ihrer Ankunft nicht mehr verlassen hatte. Auch die Teller mit Speisen blieben unberührt.
Aber sie verstanden einfach nicht. Sie konnten es nicht nachempfinden. Ihre Liebe war gegangen, und mit ihr jeglicher Appetit. Essen war damit nur eine Notwendigkeit, die zumindest vorerst jedwede Priorität verloren hatte.

„Ich bitte Euch inständig. Probiert doch von diesem Fasan. Der Jäger des Herzogs hat ihn erst heute Morgen erledigt.“ Ihr Gegenüber spießte ein saftiges Stück Fleisch auf die goldene Gabel und hielt es ihr unter die Nase. Ein verführerischer Duft stieg davon auf, doch Maries Kummer war zu groß, als dass sie sich überwinden konnte.
Die freundliche Miene ihres Gegenübers war die Enttäuschung deutlich anzusehen.
„Dann vielleicht ein Tanz?“ Ein paar hopsende Bewegungen begleiteten die Frage, wobei die Schellen des Gewands ihr metallisches Klirren von sich gaben.
„Oder eine Ballade?“ Blitzschnell holte ihr Gegenüber eine Laute aus seinem bunten Umhang hervor und begann eine Melodie anzuschlagen.
Er ist ein Spion, dachte Marie Levaliere. Ein Kundschafter der Herzogin zu dem Zweck entsandt, meine düsteren Gedanken mit Schabernack zu vertreiben.

Und er machte seine Sache gut, wie Marie schnell herausfand. Unbeeindruckt von ihrer abweisenden Miene, spielte der Narr Blondel weiter auf seiner Laute. Seine Finger flogen kunstvoll über die Saiten und er sang ein Lied. „Der Frosch und das Streitross“, eine beliebte Fabel über den Wettstreit zweier Tiere, wer einem Ritter besser zu Diensten sei.
Und dazu Maries Lieblingslied, wie Blondel sehr wohl wusste. Als er an die Stelle kam, in de der Frosch seinen berühmten Satz sprach, war es mit Maries Selbstbeherrschung vorbei.
Sie gestatte sich ein müdes Lächeln und Blondel damit seinen Triumph.
Ein halber Sieg, aber immerhin etwas, fand der Narr, und beendete sein Lied.
„Milady“, sagte er in gespielter Enttäuschung. „An Eurem Panzer würde selbst des Königs Schwert zerschellen!“
„Ihr habt gut gespielt, mein lieber Blondel“, entgegnete Marie Levaliere höflich. „Doch bin ich nicht in der Stimmung für Komödien.“
„Dann also lieber eine Tragödie?“ Blondel nahm sein Laute wieder hoch. „Was wollt Ihr hören? Der Tod des edlen Maldred de Mousillon? Die Niederlage von Cuilex?“
Er senkte die Laute wieder, als er die kummervolle Miene des Mündels sah. Blondel beugte sich vor, seine Schellen klirrten dabei.
„So sagt mir doch Milady, was Euch so betrübt. Vielleicht kann ich Euch mit Rat zur Seite stehen:“
„Ich glaube kaum, dass mir jemand helfen kann“, gestand Marie. „Meine Liebe ist verschwunden, und damit meine Lebensfreunde.“

Sie wusste selbst nicht, warum sie sich dem Hofnarren anvertraute. Umso mehr, da ihre Liebe zu Jerome de Montfort bisher ein Geheimnis zwischen ihnen beiden gewesen war. Sollte der Hofnarr auch von der Herzogin geschickt worden sein, beim Anblick seines aufrichtigen Blickes, wusste Marie in ihrem Innersten, dass Blondel keines ihrer Geheimnisse verraten würde. Und so schüttete sie dem Narren ihr Herz aus. Sie erzählte ihm davon, wie sie vor Jahren als Mündel an den Hof des Herzogs gekommen war. Und wie sie und Jerome einander das erste Mal begegneten. Sie hatte sich sofort von dem stattlichen Ritter angezogen gefühlt. Andere stießen sich an seiner schweigsamen, wortkargen Art ab. Aber Marie lernte den Mann darunter kennen. Einen Mann, der ebenfalls in aufrichtiger Liebe zu ihr entflammt war. Der sie liebte, nicht ihre adelige Herkunft und die Ländereien, die sie eines Tages in eine Heirat einbringen würde. Und dann kam sie zu dieser unglückseligen Nacht, der die Jahre des Glücks und all ihre Hoffnungen so jäh zerstörte. Und zu ihrer eigenen Überraschung kamen ihr an dieser Stelle noch ein paar Tränen und benetzten ihre Wangen.
„Sch, sch. So weint doch nicht Milady. Dieser Anblick zerreißt einem alten Narren doch glatt das Herz“, tröstete sie Blondel, der ihr zum Trocknen der Tränen ein Seidentaschentuch reichte, das auf einem Kästchen lag.
Marie Levaliere zerknüllte es in ihrer zierlichen Faust und stand auf, als sie Wut und Trauer gleichermaßen überkamen.
„Warum sollte ich nicht weinen?“, fragte sie lauter als beabsichtigt. „Wo doch meine Träume und Hoffnungen mich an diesem Tag verließen, als mein geliebter Jerome zu seiner Quest aufbrach.“ Sie ging zu ihrem Webstuhl, auf dem eine halbfertige Arbeit lag, als Motiv ein Gralsritter der von der Herrin gerade seinen Segen empfing.
„Und wieso sollten sich eure Wünsche nicht erfüllen“, warf Blondel ein, der hinter ihr stand.
„Weil die Träume von der Realität eingeholt wurden“, erwiderte Marie und spürte wie eine weitere Woge von Trauer und Schmerz sich ihre Bahn brachen. „Mir sind nur meine Träume geblieben. Närrische Träume“, schluchzte sie.
„Träume sind des Narren Hoffnung, so sagt man“, warf Blondel ein. „Doch das bedeutet nicht, dass sie keinesfalls eintreffen können. Es besteht immer noch die Chance, dass euer Herz zu Euch zurückkehrt. Vor allem, da Ihr ihn als so einen stattlichen und trefflichen Ritter beschrieben habt.“
Marie Levaliere sah ihn unter einen Schleier von Tränen an. Zum ersten Mal seit langem spürte sie, wie die Hoffnung wieder in ihr aufkeimte.
„Was ratet Ihr mir, Meister Blondel?“, fragte sie.
„Zuerst, das Ihr Euch stärkt. Was soll denn euer Kämpe sagen, wenn er zurückkehrt und nur noch ein klappriges Skelett vorfindet?“ Diese bizarre Vorstellung entlockte sogar Marie ein kurzes Lachen.
Blondel nahm seine Laute und ging zur Tür. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um. Marie Levaliere saß bereits vor dem Teller und nahm die erste Gabel vom Fasanbraten. Blondel lächelte und öffnete die Tür.
„Beeilt Euch mit eurem Mahl. Binnen einer halben Stunde hole ich Euch ab. Wir wollen in die Kapelle gehen, und um den Segen der Herrin bitten. Euer Jerome mag zwar ein kühner Recke sein, aber er wird trotzdem jeden Segen brauchen, den er kriegen kann.“
Der Narr schloss die Tür hinter sich und ließ Marie Levaliere zurück, die zu ihrem Erstaunen feststellte, wie hungrig sie in Wirklichkeit doch war.
 
2. 4 Der einsamte Turm

Mit klopfendem Herzen stand Bertrand in einem Gebüsch, während Hirondelle und das Packpferd hinter ihm angebunden waren. Langsam legte Bertrand einen Pfeil in seinen Bogen. Noch spannte er die Sehne nicht an, da es zu dafür noch zu früh war. Er hatte sich so platziert, dass er freies Sicht- und Schussfeld auf den Weg besaß. Was auch immer in seine Bahn kam, würde sehr schnell einen gefiederten Willkommensgruß empfangen.

Bertrand war alleine, Sir Jerome wartete unterhalb der Eiche auf ihren Verfolger. Oder ihre Verfolger.
Der Ritter hatte nichts darüber gesagt, wie viele auf ihre Fährte waren. Derart alleine gingen Bertrands Gedanken mit ihm durch. Vielleicht waren es nur simple Reisende, obwohl das in Anbetracht der Jahreszeit nur schwer vorstellbar war. Die Straße von Jouinard nach Parravon war zwar eine befahrene Handelsroute, jedoch war der Axtschartenpasse, die Verbindung zwischen Bretonia und dem Imperium bereits zu dieser Zeit nur noch schwer zugänglich. Tief im Grauen Gebirge war es bereits tiefster Winter. Die Hochsaison für Handelskarawanen bildete der Frühling, wenn die Schneeschmelze eingesetzt hatte, oder Sommer bis im Herbst der erste Schneefall einsetzte. Nein, es war ziemlich unwahrscheinlich, dass es sich hier um eine harmlose Reisegruppe von Krämern handelte.

Bertrands junger Verstand malte sich aus, wie eine Horde Orks, Goblins, oder sogar entsetzlich mutierte Tiermenschen aus dem Weg hervorbrachen. Die alte Welt war ein gefährlicher Ort, es gab zahlreiche dunkle Ecken, in denen unaussprechliche Dinge hausten, die allesamt nicht zu den Freunden der Menschheit zählten. In Wahrheit hielten die Menschen nur einige befestigte Ortschaften, die sie erfolgreich gegen den Vormarsch einer unbarmherzigen Wildnis und deren Bewohner hielten. Selbst in Bretonia, verteidigt durch die mutige Ritterschaft, gab es genug Gefahren. Sogar auf einer Straße des Königs, wie hier.
Bertrand versuchte seine Atmung zu beruhigen. Sollte es zu einem Kampf kommen, wäre eine sichere Hand vonnöten, um den Pfeil in die gewünschte Richtung zu lenken.

Schließlich, als er es selbst fast nicht mehr glaubte, hörte Bertrand ein Geräusch. Etwas kam die Straße entlang. Bertrands Ohren vernahmen das Geräusch, klappernd, als wären es Hufe. In seinem Kopf malte er sich bereits die Bilder von Tiermenschen aus, mit ihren wilden, verdrehten tierischen Beinen, die in Hufen endeten. Der menschliche Oberkörper, auf denen, den Gesetzten der Logik und der Natur widersprechend, die geifernden Köpfe von Ziegen, Stieren, und anderen Tieren steckten. Die in wildes Geheul ausbrachen, als sie ihre Beute witterten, den Blick in absolutem Blutrausch auf ihn zu rennend. Bertrand spannte den Bogen, und zielte auf den Weg, dort wo er in Freie trat. Er schwor sich sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, und das erste Wesen, das in seine Schussbahn kam, niederzustrecken.

Zu seinem großen Glück erfüllte sich sein Schwur nicht. Hufe kamen in Sicht. Jedoch gehörten sie zu vier starken Beinen. Vier tierischen Beinen, die jedoch in einem ebensolchen Oberkörper endeten, und weit entfernt von jeder abscheulichen Mutation waren. Es war ein Pferd, und Bertrand erkannte es sofort wieder. Auch wenn es in einer lindgrünen Schabracke steckte, so war doch die weiße Blesse auf seiner Stirn charakteristisch. Genauso wie das Wappen seines Reiters, welches auf dessen Schild prangte. Ein einsamer schwarzer Turm, mit rotem Dach auf lindgrünem Hintergrund, dazu ein schräger verlaufender grauer Querbalken. Ein Helm verdeckte die Sicht, aber Bertrand konnte sich es dennoch mühelos vorstellen. Jung, arrogant und braune Haare, die ihm bis auf die Schulter fielen. Er kannte inzwischen sogar den Namen, Reynald le Durie.

Unwillkürlich senkte er seinen Bogen.
Von diesem Verfolger ging keine Gefahr aus. Es sei denn, Arroganz und Undankbarkeit waren tödlich.
Dann, fand Bertrand, war Reynald le Durie ohne jeden Zweifel, der gefährlichste Gegner in der gesamten Alten Welt.
Jerome de Montfort ritt dem jungen Ritter entgegen. Obwohl seine Körperhaltung keinerlei Anspannung verriet, bot er dennoch auf seinem prächtigen Hengst Tourbillon ein eindrucksvolles Bild. Genau wie einer der Gralsgefährten, dachte Bertrand. Als ihm aufging, dass Jerome sein Schwert immer noch in den Händen hielt, entschied er sich dafür, den Pfeil noch lose auf dem Bogen zu behalten, anstatt ihn in den Köcher zu stecken.
Werden wir verfolgt? Soll dieser Heißsporn uns für ein Verbrechen bestrafen?
Diese Gedanken gingen durch Bertrands Kopf, und er fragte sich, warum sie eigentlich so plötzlich die Burg verlassen hatten. Welches Geheimnis umgab Jerome de Montfort?
Die Unterhaltung zwischen den beiden Adeligen riss ihn jedoch rasch wieder aus seinen Grübeleien. Der Wind stand günstig, so dass Bertrand der Konversation folgen konnte.

„Sir Jerome de Montfort“, grüßte Reynal le Durie, nachdem er sein Visier geöffnet hatte. Im Gegensatz zu Jerome, steckte sein Schwert noch in der Scheide.
Jerome de Montfort klappte sein Visier ebenfalls hoch, sein Schwert behielt er jedoch in der Hand.
„Sir Reynald le Durie. Wieso verfolgen Sie mich?“, kam er unvermittelt zur Sache.
Reynald schien zu zögern. Sogar in der Entfernung konnte Bertrand sehen, wie der junge Ritter um die richtigen Worte rang.
„Ich will mich Euch anschließen“, brachte der junge Adelige schließlich heraus. Es klang eifrig, so eifrig wie nur ein junger Mann sein konnte.
Gnädige Herrin, bloß nicht ihn, dachte hingegen Bertrand.
„Sich mir anschließen?“, wiederholte Jerome de Montfort, und in seiner Stimme lag ein Hauch von Belustigung. Doch dann wurde er wieder sehr schnell ernst. Er steckte sein Schwert ein, und redete dann eindringlich auf den jüngeren Ritter ein. „So seid doch vernünftig Sir Reynald. Ich habe einen Eid geschworen, mich auf eine Fahrt zur Wiederherstellung meiner Ehre zu begeben. Inwiefern könnt Ihr mir da eine Hilfe leisten?“

Bertrand sah die Niedergeschlagenheit in Reynalds Gesicht. Nur zu einem kleinen Teil bedauerte er den jungen Adeligen. Doch Jerome de Montfort hatte seine Meinung ohne Umschweife auf den Punkt gebracht.
Doch plötzlich hob Reynald seinen Blick wieder. „Ihr sagt, dass Ihr Euch an euer Wort halten müsst.“ Er sprach so leise, dass sich Bertrand anstrengen musste, um die Worte zu verstehen.
„Ja, das stimmt“, gab Jerome de Montfort zu.
„So sei es! Auch ich habe einen Eid geleistet. Auf dem Schlachtfeld, als Ihr mein Leben gerettet habt.“
Eigentlich war ich es, dem du dein Leben verdankst, dachte Bertrand verstimmt.
„Und deshalb bin auch ich an mein Wort gebunden. Ich habe Euch Gefolgschaft geleistet. Und ich werde Euch folgen, auch wenn ich wie bisher immer nur eurer Spur mit gebührendem Abstand zu folgen.“ Reynald le Durie schwang sich aus seinem Sattel. Er kniete sich vor Jerome de Montfort nieder und nahm den Helm ab. Dann entblößte er seinen Nacken.
„Mein Leben gehört Euch, Sir. Und Ihr könnt es nehmen, wenn Ihr wollt. Doch ich werde Euch folgen, bis der Tod mich ereilt, oder mein Eid erfüllt ist“, sagte er, wobei Ergriffenheit in seiner jugendlichen Stimme mitschwang.
Noch bevor Jerome seine Antwort gab, wusste Bertrand, dass sie in Zukunft zu Dritt unterwegs sein würden.
„Steht auf, Sir Reynald“, sagte Jerome de Montfort schließlich.
Über Reynalds Antlitz schien die Sonne aufzugehen. Eilig stieg er wieder auf sein Pferd auf.
„Kommt heraus, Bertrand“, rief Jerome in seine Richtung.

Bertrand schulterte seinen Bogen, und nahm die beiden Pferde an ihren Zügeln, um sie aus dem Gebüsch zu führen. Reynald le Duries Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er Bertrand sah. Vielleicht, weil den Bogen und die Aufgabe Bertrands erkannte, oder weil er Bertrand selbst wiedererkannte. Dieses Mal war es Bertrand, der sich nichts anmerken ließ und so tat, als würde er Reynald le Duries Gegenwart nicht bemerken.
Jerome de Montfort wartete, bis Bertrand aufgesessen war, dann wendete er sein Pferd und schlug einen schnellen Trab ein. Reynald le Durie folgte augenblicklich, wobei er sich bewusst zwischen dem älteren Ritter, und Bertrand drängte. Bertrand zuckte einfach mit den Achseln und schloss sich am Ende der kleinen Kolonne an.

Der ganze Vorfall hatte fast eine Stunde in Anspruch genommen. Offenbar war der ehemalige Schwertträger des Herzogs gewillt, aus dem verbliebenen Tageslicht noch das Beste heraus zu holen. Von seinem Blick auf die Karte wusste Bertrand, dass ihr nächstes größeres Etappenziel nur die Ortschaft Vingtiennes sein konnte. Und Bertrand war wahrlich nicht darauf erpicht, noch einen weitere Nacht in der Wildnis zu verbringen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass im nächsten Busch wieder nur ein harmloser Vogel lauern würde. Jeromes Hengst, der prächtige Tourbillon, schien der schnelle Trab nicht das Geringste auszumachen. Bertrand ertappte sich dabei, wie sein Blick wieder und wieder auf das wunderschöne Kriegspferd fiel, das mühelos und gleichzeitig so perfekt das Tempo beibehielt, obwohl es einen gepanzerten Reiter trug. Auch Reynald le Duries Pferd, der Braune mit der weißen Blesse, zeigte keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Bei diesem Anblick glaubte Bertrand sofort die Geschichten, die über den bretonischen Streitrössern kursierten. Es hieß, sie wären die Nachkommen der Kreuzung zwischen den Pferden der Hochelfen und den alten Wildpferden Bretonias. Ob dies der Wahrheit entsprach, oder nicht, bretonische Streitrösser waren in der ganzen alten Welt gleichermaßen berühmt wie berüchtigt. Es war kaum verwunderlich, dass es schon seit Jahrhunderten ein königliches Exportverbot für diese Tiere gab.

Bedauerlicherweise war Bertrands Reittier, nicht von edler Abstammung. Eine Stunde verging, in der sie in schnellem Trab den Weg entlang ritten. Und noch eine halbe, als die Sonne ihren Zenit schon überschritten hatte. Da zeigte Hirondelle erste Anzeichen von Ermüdung. Sein langer Hals senkte sich immer mehr, und weißer Schaum trat an seinem Maul auf. Langsam, aber kontinuierlich fiel Bertrand zu den beiden führenden Reitern ab, da auch das Packpferd an Geschwindigkeit einbüßte. Sie erreichten einen kleinen Fluss, der quer zu ihrer Route verlief. Eine einfache Steinbrücke spannte sich über den Fluss hinweg, Pappeln und Weiden säumten die flache Böschung. Obwohl Jerome als Erster ritt, und kein einziges Mal nach hinten geblickt hatte, lenkte er Tourbillon die Böschung hinab und stieg ab. Reynald le Durie tat es ihm gleich. Mit einiger Verzögerung erreichte auch Bertrand das Flussufer. Er gab beide Zügel frei, und Hirondelle und das Packpferd stürzten sich fast augenblicklich auf das köstliche nass, um in großen Zügen davon zu trinken. Bertrand stieg ebenfalls ab, als Jerome zu Hirondelle trat und ihm sanft auf den Pferdehals klopfte.

„Ein treues Tier“, sagte er und streichelte weiterhin Hirondelle.
Reynald le Durie, der in der Nähe unter den herabhängenden Zweigen einer Weide stand, schnalzte bloß verächtlich mit der Zunge. Jerome schien es zu ignorieren.
„Aber“, sagte er laut, so dass es Bertrand und Reynald hörten, „es ist kein bretonisches Streitross und wird dieses Tempo über eine längere Distanz nicht mithalten können.“
„Ein Pferd ist immer nur so gut wie sein Reiter, sagte mein Waffenmeister“, stichelte Reynald in Bertrands Richtung.
„Vielleicht Sir, würdet Ihr mit mir das Pferd tauschen“, erwiderte Bertrand kühn. Die Parade saß, wie man an Reynalds Gesicht sehen konnte. Doch bevor dieser zur Antwort ansetzte, ergriff Jerome de Montfort das Wort.
„Wir werden eine kurze Rast einlegen, damit die beiden Pferde wieder zu Kräften kommen.“
„Aber werden wir es dann rechtzeitig nach Vingtiennes schaffen?“ Bertrand fröstelte, als er sich mental bereits auf eine weitere Nacht in der Wildnis vorbereitete.
Erwartungsgemäß schüttelte Jerome de Montfort den Kopf.
„Ich fürchte, die Ortschaft Vingtiennes liegt außerhalb unserer Reichweite.“
„Meines Vaters Ländereien liegen im nächsten Tal. Dort könnten wir übernachten“, warf Reynald le Durie ein. Er trat unter dem Schatten der Weide hervor.
Obwohl Jerome de Montfort eine Kettenhaube trug, sah man, wie er seine Stirn runzelte.
„Ich kenne euren Vater und auch seinen Sitz. Ich bin jedoch nicht sicher, ob wir so weit von unsere Route abweichen sollten“, gab er zu bedenken.
„Milord, es ist kein weiter Weg zur Burg meines Vaters. Sichere Unterkunft, Verpflegung, und ein warmes Feuer würden uns dort erwarten“, sagte Reynald le Durie und warf Bertrand einen Blick zu, der bedeutete: Sogar für einen Niedriggeborenen wie dich.
„Und unsere Vorräte gehen ohnehin zu Neige“, gab Bertrand zu Bedenken, der Reynalds Blick mit derselben Verächtlichkeit erwiderte.
Jerome de Montfort grübelte eine Zeit lang. Doch dann nickte er zustimmend. Bertrand konnte das warme, prasselnde Feuer der Burg kaum noch erwarten.

Als die Pferde schließlich ausreichend getränkt waren, ging der Ritt weiter. Sie überquerten den Fluss. Nach einer guten Viertelstunde erreichten sie eine Stelle, wo der Weg in einer T-Kreuzung mündete. Nach Süden führte der Weg nach Parravon. Nach Osten jedoch bog ein Pfad ein, dem Reynald augenblicklich folgte, der inzwischen die Führung übernommen hatte.
Die Hügel traten näher an den Weg heran und verwandelten mit zunehmender zurückgelegter Distanz in kleine Berge. Anstellte von grünen Wiesen und Eichen traten nun felsige, mit Moos bewachsene Felswände und vereinzelnd auftretende Fichten und Kiefern. Bertrand bekam angesichts der Umgebung ein mulmiges Gefühl, sah sie doch alles andere, als einladen aus. Doch Reynald und Jerome ritten voraus und ließen keinerlei Zweifel daran erkennen, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Eine weitere halbe Stunde ritten sie im Schatten der schroffen Berge. Doch dann öffnete sich der schmale Pfad plötzlich und gab den Blick auf ein grünes Tal frei.

Bertrand zügelte sein Pferd, um das Panorama zu genießen. Seiner Meinung nach, maß es an der breitesten Stelle etwa vier Meilen. Das Tal, die Ländereien der Duries, war umgeben von einem Ring aus Bergen, die allesamt zu den westlichen Ausläufern des Grauen Gebirges gehörten. Dennoch war der kleinste unter ihnen mehr als eine Meile hoch, und jeder davon bereits mit Schnee bedeckt. Die Wiesen des fast kreisrunden Tals, wiesen jedoch immer noch ein saftiges, fast grelles Grün auf. Und unwillkürlich erahnte Bertrand, woher Reynalds Farbe seinen Ursprung hatte. In seinem Rücken ging bereits die Sonne unter, und die Schatten der Berge bedeckten bereist ein Drittel des Tales. Gerade an der Grenze sah Bertrand kleine dünne Rauchsäulen aufsteigen, die Schornsteine samt den dazugehörenden Häusern. So weit er es erkannte, gab es in dem Tal jedoch nur dieses eine Dorf. Auf dem Hügel über dem Dorf konnte Bertrand außerdem ein steinernes Gebäude erkennen.

Reynald le Durie gab einen lauten Freudeschrei von sich, als sie tiefer in das Tal einritten. Der junge Ritter vergaß ganz seine vornehme Erziehung, und gab seinem Pferd die Sporen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht drehte sich Jerome zu seinem Knappen Bertrand um. Er zuckte nur kurz mit der Schulter und ließ Tourbillon dann in einen leichten Trab übergehen. Bertrand lächelte ebenfalls, und folgte seinem Herrn.
Vor ihnen wurde Reynalds Gestalt immer kleiner, dem in seiner überschwänglichen Freude offensichtlich entschwunden war, dass er Gäste mitbrachte. Jerome und Bertrand folgten mit weitaus weniger Tempo und Jerome machte auch keinerlei Anstalten, die Reitgeschwindigkeit zu erhöhen. So hatte Bertrand die Gelegenheit, das Tal noch eingehender zu begutachten. Es war tatsächlich ein Kessel. Wiesen und Ackerflächen, die von Baumreihen und Hecken begrenzt waren, wechselten sich ab. Zahllose Pfade verliefen entlang deren Ränder, die durch kleine Entwässerungsgräben und niedrige Steinmauern. Ein Blick auf die Erde, wo die Wintersaat bereits ausgebracht war, verriet Bertrands fachmännischem Blick Alles. Dieses Tal besaß fast genau dieselben Eigenschaften wie sein Heimatdorf Villaux. Die Steinmauern als Begrenzungen waren deshalb angelegt worden, weil man beim Pflügen immer wieder auf große Steine stieß, die man unbedingt aus dem Acker haben wollte. Ein harter Boden, der nur durch beständige Arbeit eine Frucht hervorbringen würde. Aber das war eine Sache, die einem Adeligen, der nur auf seine „berechtigten“ Abgaben pochte, sicherlich nicht aufging. Er sah den aufrecht vor ihm her reitenden Jerome de Montfort. Und dann die kleiner werdende Gestalt Reynald le Duries. Definitiv würde Letzterer in seiner arroganten Art sicherlich keine Vorstellungen darüber haben, unter welchen Opfern ihn die Leibeigenen seines Vaters durchfütterten, damit er nun auf seinem stolzen Kriegsross herumstolzieren konnte.

Die ersten Häuser kamen in Reichweite. Die windschiefen Hütten kamen Bertrand so vertraut vor. Er fragte sich, wie es seiner Mutter wohl gerade ging, und ob sie den Mantel für die kalten Winternächte noch behalten hatte. Wahrscheinlich aber war er bereits umgetauscht, damit eine weitere Kerze die Bewahrung auf seiner Reise durch die Herrin vom See garantierte. Die Dorbewohner versammelten sich. Bertrand sah die Mischung aus abgearbeiteten Menschen, die ein hartes Leben führte. Die Kinder in ihren zerschlissenen, verdreckten Hosen. Die Frauen, die bereits in ihren Dreißigern aussahen, als wären sie alte Vetteln. Er sah die Unterwürfigkeit, die sie Jerome de Montfort entgegenbrachten.
Und Bertrand sah auch die „Burg“ der Duries.

Obwohl es ein Euphemismus war, von einer Burg zu sprechen. Beim Anblick erkannte Bertrand den Ursprung der zweiten Charakteristika von Reynald le Duries Wappen. Die Burg seines Vaters war in Wirklichkeit nicht mehr als eine einzelner Turm aus schwarzem Stein, mit einem roten Schindeldach. Der Turm verfügte über drei Stockwerke, da Bertrand die übereinanderliegenden Schießscharten zählte. Ein steinerner, überdachter Anbau komplettierte den Stammsitz der Duries. Bertrand, der die Burg Montfort kannte, konnte dieser Anblick wenig beeindrucken. In früheren Tagen war es vielleicht ein einfacher Wachturm gewesen, bis irgendein Herzog einem der Duries mit diesem „Besitz“ abspeiste.
Wahrscheinlich, damit ihm dieser nicht mehr auf die Nerven gehe, dachte Bertrand und gestattete sich ein zynisches Lächeln.
Er fragte sich, wie Reynald le Durie derart hochnäsig auf ihn herabblicken konnte. Weil, so kam ihm die Erkenntnis, diese Burg noch allemal beeindruckender war als sein eigener Stammsitz, eine kleine Holzhütte im Dorf Villaux.
Reynald le Durie erwartete sie bereits am Eingang, der sich an der Stirnseite des Anbaus befand. Ein kleiner Graben mit angespitzten Pfählen umschloss die Befestigung, doch die schmale Zugbrücke war noch herunter gelassen.

„Willkommen am Stammsitz meiner Familie!“, rief Reynald voller Stolz, als würde er das königliche Schloss präsentieren.
Bertrand runzelte bloß mit der Stirn, aber führte Hirondelle und das gehorsam folgende Packpferd über die schwankenden Planken der Zugbrücke. Das Innere des Anbaus war so hoch, dass ein Reiter bequem darin Platz fand, ohne sich den Kopf zu stoßen. Den blanken Boden bildete die hart getretene Erde und Bertrand erkannte, dass es kein überdachter Annbau war, sondern vielmehr eine Umfassung aus Steinmauern samt Wehrgängen. Einige kleinere Anbauten klebten an der Innenseite dieser Mauern. Ein kleiner Schmelzofen samt Amboss, offensichtlich die Miniaturausgabe der Schmiede Meister Gilberts in der Burg Montfort. Zwei weitere Hütten waren durch schiefe aus Schilf gefertigte Türen verschlossen, so dass sich deren Zweck für Bertrand nicht ersichtlich zeigte. Vielleicht dienten sie als Unterkünfte für Burgbewohner. Dann gab es da noch einen Unterschlag, in dem zwei Pferde standen. Der Unterschlag war breiter als die drei anderen Hütten zusammen und bot offensichtlich noch Platz für weitere Tiere. Reynald steuerte diesen kleinen Stall an, wo zwei kleine Jungen auf der hart getretenen Erde hockten und mit irgendeinem Spiel beschäftigt waren. Er gab diesen zersausten, in einer verdreckten Kutte steckenden Jungen, die offensichtlich die Funktion von Pferdeknechten erfüllten in derselben hochnäsigen Art Anweisungen, wie er es schon auf Burg Montfort getan hatte. Die Jungen starrten ihn ehrfurchtsvoll an, als wäre er ein Gralsritter. Als Jerome de Montfort, mit seinem üblichen streng aussehenden Gesichtsausdruck abstieg und einem der Beiden die Zügel von Tourbillon übergab, waren die beiden Jungen ihrer eigenen Miene nach kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

Bertrand erinnerte sich an die Warnung des Pferdesknechts auf Burg Montfort, doch Tourbillon folgte dem Jungen so bereitwillig und lammfromm, als wäre er ein einjähriges Fohlen das zur Dressur geritten wird. Inzwischen war der andere Bursche mit der Unterbringung von Reynalds Pferd fertig und eilte herbei, um Bertrands Zügel zu übernehmen.
„Lasst mich, mein Herr“, hauchte er demütig.
Bertrand lächelte. „Ich bin kein Herr.“ Er gab dem Jungen die Zügel des Packpferds, und brachte Hirondelle, der sich so tapfer gehalten hatte, selbst in den Verschlag. Dann nahm er ihm Sattel und Decke ab, und bürstete sein Pferd ab, so wie es ihm Sir Haughey beigebracht hatte.

Mit dem Gepäck und seiner eigenen Ausrüstung beladen, folgte Bertrand schließlich den beiden Adeligen, die bereits in den Turm gegangen waren. Auf dem kurzen Weg zum Eingang sah sich Bertrand die Befestigung noch einmal genauer an. Die gesamte Anlage war aus diesem schwarzen Stein gefertigt. Der Hof entsprach in seiner Breite dem Durchmesser des Turms. Bertrand schätzte diese Strecke auf zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Schritte. Die Mauern schlossen passgenau an den runden Turm an. Auf beiden Seiten befand sich ein Eingang zum ersten Stockwerk des Turmes, jeweils mit einer schweren Eichenholztür gesichert. Laut Bertrands Einschätzung maß der Innenhof zwanzig Mal fünfunddreißig Schritt. Sogar der kleinste Nebenhof der Burg Montfort war damit doppelt so groß.
Nun, da er davor stand, erkannte Bertrand, dass er sich geirrt hatte. Es waren vier, nicht drei Stockwerke. Aus offensichtlichen Gründen besaß das Untergeschoss keine Öffnungen auf der Außenseite. Sogar auf der Innenseite waren die kleinen, schießschützenartigen Einlässe mit schmiedeeisernen Gittern versehen. Bertrand erklomm die Treppe, die zum Eingang in den Turm führte, die aus verteidigungstechnischen Gründen im ersten Stock lag. Zehn Stufen führten entlang der Außenmauer nach rechts. Dann kam eine scharfe Wendung in die andere Richtung, und weitere zehn Stufen mundeten schließlich in einer kleinen Plattform vor der Tür aus eisenbeschlagener, schwerer Eiche. Ebenfalls sorgsam durchdachte Einrichtungen, die etwaigen Angreifern ihre Attacke erschweren, und Verteidigern ihre Aufgabe erleichtern sollten. Die Treppe war so schmal, dass immer nur ein Angreifer nach dem anderen vordringen konnte. Auch der Einlass war so konstruiert, dass er nur Platz für eine einzelne Person bot. Am oberen Ende der Plattform, ebenfalls schmal und nur so breit wie ein einzelner Mensch, drehte sich Bertrand noch einmal um. Hinter dem Tor ging die Sonne gerade endgültig unter. Die letzten Sonnenstrahlen erzeugten ein beeindruckendes Panoptikum aus Lavendel und diversen anderen Violetttönen.

Doch es war nicht diese spektakuläre Sicht die Bertrand so sehr fesselte. Bertrand nahm vielmehr eine andere Beobachtung in Beschlag. Auf der Mauer postierte eine einzelne Wache, die ihren Speer geschultert hatte. Wie ein Mann, der schon viel zu lange Wache schob. Und im Hof tummelten sich nur diese zwei Jungen, jetzt wieder in ihr Spiel vertieft. Ansonsten war diese Befestigung nahezu menschenleer. Kein besonders ermutigender Umstand, fand Bertrand und schulterte sein Gepäck erneut.Er ließ den leeren Hof, sowie den Sonnenuntergang hinter sich, und betrat den Turm. Beinnahe sofort drang beißender Rauch in seine Nase, und seine Sicht war durch die Schwaden behindert. Tränen traten in seine Augen, während er nach hinten taumelte und seine Hand verzweifelt nach dem Schwert suchte.
 
Zuletzt bearbeitet:
So, jetzt vor den Feiertage gibt es ein wenig Hintergrund-Infos zu meiner Geschichte. "Questritter" ist die Geschichte des Ritters Jerome de Montfort, seines Knappen Bertrand, und des jungen adeligen Heißsporns Reynald le Durie, die zusammen durch die Lande reisen, und dabei allerhand Abenteuer zu bestehen haben. Das ist der Hauptplot, der Nebenplot behandelt die Vorkommnise im Herzogtum Montfort, die sich in ihrer Abwesenheit ereignen.

Generell wollte ich immer schon einen Roman im Mittelalter-Setting schreiben, und Warhammer eignet sich dafür hervorragend, auch wenn man im Imperium ja schon eher in der frühen Neuzeit wäre. Das Warhammer-Szenario fasziniert mich persönlich in vielen Facetten sogar mehr, als 40k. Warhammer benutzt die feinere, ironischere Klinge, zudem gibt es so unglaublich viele, oft miteinander verfeindete Fraktionen, das an Antagonisten und Gegenspielern wahrlich kein Mangel herrscht.

Meine Geschichte ist durch verschiedene Quellen beeinflusst. Die Figur des Jerome de Montfort vor allem durch Charlton Hestons Darstellungen in "Die Normannen kommen" (engl. The Warlord) und in "El Cid". Vor allem der erste, meines Erachten zu unterschätzte Film bietet einen Einblick in das frühe Mittelalter, wie man es sonst kaum findet. Jeromes Charakter ist ein Ritter durch und durch, wie El Cid, der die richtige Entscheidung trifft, auch wenn es zu seinem eigenen Schaden ist. Jerome nimmt sich des jungen Bertrands an, er ist kein typischer bretonische Adeliger, und diese unglaublich hierarchische, bretonische Gesellschaftsordnung samt all ihren Ungerechtigkeiten sind nicht seine Sache. "Schwertführer" ist ein Titel, den ich aus "El Cid" entnommen habe. Ein Schwertführer verteidigt die Sache seines Lehnsherren, notfalls mit dem Schwert im Zweikampf. Wenn ich Jerome de Montfort beschreibe, habe ich Charlton Heston in diesen beiden Rollen vor meinem inneren Auge.
Bertrand ist ein junger, wissbegieriger Bauernsohn. Das Leben hat ihm schwer mitgespielt, denn sein Vater ist schon seit langer Zeit fort. Nur er und seine Mutter sind übrig, doch er hat auch Hilfe, wie seinen Onkel, Rainheim oder Jerome de Montfort. Es ist für mich kein Widerspruch, dass man Arm ist, und dennoch nicht im Dreck dahinvegetieren muss. Vor allem im Verlauf der Geschichte wird seine Person noch weiter entwickelt werden.
Reynald ist ein junger, typischer arroganter Adeliger, der für die einfachen Menschen, und Bertrand als Projektionsfläche im Besonderen, wenig Wertschätzung hat. Er bringt das Motiv der Ungerechtigkeit eines Feudalsystems, wie es in Bretonia vorherrscht in die Geschichte mit ein. Die wahren Leistungsträger der Gesellschaft (Bauern und Stadtbewohner) mussten Abgaben entrichten, damit die beiden anderen Stände ihre Privilegien behalten konnten.

Generell, und weil es die Kritik gibt. Ja, dieser Geschichte mangelt es wenig am Dreck und Schmutz, der in anderen Warhammer Geschichten so gerne beschrieben wird. Zum Einen, weil es mir schwerfällt, genau das zu beschreiben. Zum Anderen, weil diese Geschichte von klassischen Filmen (s.o., Robin Hood mit Erol Flynn aus 1938, oder "Die Ritter der Tafelrunde" mit Robert Taylor") und klassischen Erzählungen inspiriert ist, wo dieser Aspekt selten, oder gar nicht beschrieben wird. Und zum Anderen, weil ich der Ansicht bin, dass man selbst in Armut nicht wie die viel zitierten (und zu Unrecht) Schweine hausen muss.

So, ich hoffe, dieser kleine Hintergrund vermag zu gefallen. Ein frohes Fest. Die Abenteuer der drei Protagonisten werden definitiv weitergehen. (Jetzt, nachdem die Mayas auf ganzer Linie versagt haben)
 
Zuletzt bearbeitet: