1.10 Die Jagd
„Ich rede, du redest, er redet, sie redet, es redet, …“, Bertrand brach ab und schaute hilflos von seinem Buch auf und zu seinem Lehrer, der mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch in der überfüllten Kammer stand. Sein Lehrer schien mit etwas beschäftigt zu sein, dass sich Bertrands Blicken entzog.
„Nur weiter“, forderte ihn Volker Rainheim auf, während er ein dickbäuchiges Glasgefäß das halbgefüllt mit einer dunkelgrünen Flüssigkeit war gegen das fahle Licht des halb verdunkelten Fensters hob und davon einige Tropfen in ein anderes Gefäß schüttete. Eine kleine Rauchfahne stieg auf und der Geruch von etwas Eigenartigem drang in Bertrands Nase. „Konzentriere dich“, ermahnte Rainheim ihn mit Nachdruck, während er sich weiter seinem Experiment widmete.
Konzentration war allerdings eine schwierige Aufgabe angesichts der Wunder und Kuriositäten, die sich in Rainheims Kammer türmten. Bis auf sein Bett war beinahe jeder Platz in den Regalen vollgestopft mit Büchern, Schriftrollen oder Gefäßen, in denen seltsamste Dinge in Alkohol eingelegt schwammen. Exotische ausgestopfte Tiere hingen an den Wänden, die Bertrand noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Banner hingen ebenfalls herab, verziert mit Mustern und Schriftzeichen, die sich Bertrands Verständnis entzogen. Volker Rainheim, der mysteriöse Berater des Herzogs hatte einen ganzen Turm an der östlichen Mauer bekommen um sich dort ungestört seinen Studien und Nachforschungen zu widmen. Experimenten, die nicht immer ohne Gefahren waren, wie Rainheims Äußeres selbst bezeugen konnte. Während sein langer, grauer Bart und die gleichfarbigen dichten Augenbrauen glimpflich davongekommen waren, konnte man das von seinem zersausten, angesengten Haupthaar nicht behaupten. Angeblich war es in einer besonders stürmischen Nacht geschehen, als in der Kammer des Zauberers ein Feuer ausgebrochen war. Ein Feuer, dass nicht mit Wasser gelöscht werden konnten und deren grünlich schimmernden Flammen jedes Mal aufloderten, wenn eine neue Wasserladung auf sie auftraf. Erst mit dem Sand aus dem Innenhof war der Brand gelöscht worden. Ein Umstand, den dem Zauberer besonders die Ritter und vor allem Sir Haughey übelgenommen hatte, war doch gerade deswegen ihr Übungsplatz am nächsten Tag ein Acker voller gefährlicher Löcher. Manch einer behauptete, dass sich Sir Haughey an diesem Tag seine Nase gebrochen hatte, während des Trainings seiner Schützlinge, als er sein Pferd bei vollem Galopp in eines der Löcher gestiegen war.
Ein bösartiges Gerücht allerdings, wie andere Knappen Bertrand versichert hatte. Die Sache mit dem Brand hingegen war jedoch wahr. Volker Rainheim hingegen war es egal, dass ihm die Bewohner der Burg seitdem aus dem Weg gingen, als sie es ohnehin taten, weil er, erstens ein Zauberer war, und zweitens aus dem Imperium stammte. Das Gesinde der Burg jedenfalls betete jeden Abend zur Herrin vom See, dass das nächste Experiment des grauen Zauberers nicht dahingehend endete, dass von ihrer Burg nur noch ein Haufen rauchender Asche übrig blieb. Bei diesem Versuch jedoch, war diese Befürchtung keinesfalls begründet. Denn die Flüssigkeit in dem anderen dickbäuchigen Glasgefäß änderte nur ihre Farbe, während eine weiße Dampfwolke aufstieg und sich der exotische Geruch in der ganzen Kammer verbreitete. Ein leichtes Lächeln huschte über die sonst so strengen Lippen Rainheims und er stellte die beiden Gefäße auf dem Tisch ab.
Mit einer raschen Bewegung schob Rainheim den Vorhang zu Seite und das Licht der Sonne erhellte seine Kammer, wo sich die Dampfwolke schnell auflöste.
„Also, sprich weiter, mein Junge, falls es dir hier zu dunkel war. Diese Ausrede hast du jetzt nicht mehr. „Was kommt nach „es redet“?“, sagte Rainheim und drehte sich zu Bertrand um, der seine Hand vor seine Augen gehoben hatte und versuchte die plötzliche Helligkeit wegzublinzeln.
„Ihr redet?“, schlug Bertrand unsicher vor.
„Falsch!“, sagte Rainheim und versetzte seinem Schüler einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und seufzte.
„Du musst dein Reikspiel mehr üben. Ihr Bretonen seid sicher der sonderbarste Menschenschlag, der mir je unter die Augen gekommen ist. Reikspiel ist das Wichtigste, was du je lernen wirst. Es wird überall in der alten Welt gesprochen.“
„Sir Haughey sagt, dass Wichtigste ist der richtige Umgang mit Schwert, Lanze und Schild.“
„Ja, das glaube ich gerne, dass Sir Haughey das sagt. Der sollte sich selbst einmal an der Nase nehmen“, sagte der Zauber mürrisch. Bertrand versuchte, bei dieser Bemerkung nicht laut zu lachen, als ihm wieder einfiel, wie Sir Haughey angeblich zu seiner Nasenform gekommen war. An der unbewegten Miene des Zauberers konnte Bertrand nicht erkennen, ob Rainheim dieser Seitenhieb den er gerade getätigt hatte, bewusst war oder nicht. Selbst nach Wochen täglichen Unterrichts bei Rainheim blieb der Zauberer für ihn ein versiegeltes Buch. Das einzige Thema, bei dem Rainheim persönliche Emotionen zeigte, war das Unverständnis der bretonischen Bevölkerung für sein Wirken. So auch jetzt
„Es ist mir schleierhaft“, sagte Rainheim, der sich langsam in Rage redete, „wieso man mit derartiger Skepsis meine Arbeit argwöhnisch betrachtet! Und dann diese Ignoranz gegenüber Wissen. Lanze und Schwert! Lanze und Schwert! Als ob alle Schlachten immer von diesen eilten Gecken auf ihren großen Rössern gewonnen würden. Gerade hier in Montfort, an der Grenze zum Imperium sollte man doch zumindest den Wert von Bildung und dem Beherrschen von Reikspiel, der Sprache des Imperiums zu schätzen wissen. Doch Nein, viel wichtiger sind natürlich Lanze und Schwert. Weißt du mein Junge, was Lanze und Schwert gegen ein Regiment imperialer Musketenschützen ausrichten?“
Bertrand schüttelte sprachlos den Kopf, verwundert über die Heftigkeit, mit der Rainheim gesprochen hatte. Doch der Zauberer war zu sehr in Rage und fuhr fort.
„Nahezu jeder Vorschlag wird abgelehnt. Ich schlage die Einführung von Schießpulverwaffen vor, und Sir Haughey und seine Gesinnungsgenossen protestieren heftig dagegen, weil es gegen ihren ritterlichen Kodex wäre. Ich schlage die Einführung neuer Pumpen vor, welche die Feldbewässerung und damit den Ertrag steigern würden, sowie die Anstellung eines Technicus aus Nuln, der diese Maschinen errichtet, und der Abt des nahegelegenen Klosters der Herrin vom See erwidert, dass man sich lieber auf den Segen der Herrin verließe. Und das ausgerechnet mir, einem angesehen Mitglied des Grauen Ordens von Altdorf! Wenn dieser lästige Zwischenfall nicht gewesen wäre, würde ich jetzt mich gemütlich in einem Land befinden, wo man neuen Ideen und Magier mit Respekt behandelt, und nicht wie Aussätzige!“
Vor Bertrands geistigem Auge stieg bei der Erwähnung des Zwischenfalls das Bild eines brennenden Stadtviertels auf, das von grünen Flammen verzehrt wurde, und er fragte:
„Was war das für ein Zwischenfall, Meister Rainheim?“
Es trat etwas ein, mit dem Bertrand nicht gerechnet hatte. Eine Pause trat nach seiner Frage ein. Rainheim schien für einen kurzen Moment peinlich berührt, doch das war ebenso schnell verflogen wie zuvor seine Rage.
„Ach nichts, nur eine kleine Fehlberechnung meinerseits“, erwiderte Rainheim und wischte weiteres Nachhacken in dieser Angelegenheit mit ein einer Handbewegung beiseite. Bertrand ließ dennoch nicht locker.
„Und was ist der Graue Orden?“, fragte er seinen Lehrer der langsam immer mehr in die Defensive geriet.
„Einer der acht Zauberorden des Imperiums. Sie alle haben ihren Sitz in Altdorf, der Hauptstadt, von der aus Imperator Karl Franz rregiert und widmen sich jeweils einem der Winde der Magie.
Doch bevor Bertrand den Zauberer mit weiteren Fragen nach den Zauberorden oder Altdorf bestürmen konnte, knallte Rainheim eine Sanduhr vor ihm auf den Tisch. Der Sand im Stundenglas war beinahe vollständig zu Boden gerieselt.
„Deine Zeit ist vorbei. Du kannst dich wieder Lanze und Schwert widmen“, sagte der Zauberer. Bertrand stand auf und verräumte sein Buch in einem der Regale, wobei er sich Mühe gegeben musste, es zwischen zwei anderen in Leder gebundenen Folianten zu quetschen.
„Du bist mir noch eine Antwort schuldig“, sagte Rainheim, als Bertrand mit einem Bein schon aus der Tür war. Gehorsam drehte er sich um.
„Wir gehen“, sagte Bertrand mit einem Grinsen und verschwand nach einem Nicken des Zauberers.
Rainheim ging zu seinem Alchemietisch und widmete sich wieder seinem unterbrochenen Experiment. Während seine Hände geschickt mit den verschiedenen chemischen Substanzen und Flüssigkeiten hantierten, hingen seine Gedanken immer noch bei seinem Gespräch mit dem jungen Bertrand. Ein Lächeln huschte kurz über sein sonst so strenges Gesicht, als er sich eingestehen musste, dass ihn der Junge für einen kurzen Moment in die Enge getrieben hatte. Es gab nicht viele Leute, die sich damit rühmen konnten. Dieser Bertrand war wirklich eine Ausnahme in einem Land dass seine Rückständigkeit in so vielen Dingen mit einem unerhörten Stolz zur Schau trug. Eine rasche Auffindungsgabe, ein natürliches Talent für Sprachen und noch etwas, das Rainheim noch nicht ganz herausgefunden hatte. Wäre dies nicht das rückständige Bretonia, sondern sein geliebtes Imperium, hätte er sich mit seinen geheimnisvollen Meistern in Altdorf beraten. Aber die waren ohnehin nicht gerade gut auf ihn zu sprechen, nach diesem Zwischenfall der wirklich nicht seine Schuld gewesen war. Doch Rainheim schwor sich, bei den Winden der Magie, dass er noch herausfinden würde, was das Geheimnis von Bertrand war. Wenn es das war, was er dachte, dann wäre es zum Wohle Aller notwendig, dass man Bertrands Gabe in die richtigen Bahnen lenkte, bevor ein Schaden daraus entstand. Allein der Gedanke daran ließ Rainheim erschaudern und er zog die Vorhänge zu, damit er besser denken konnte. Denn nur im Schatten konnten Männer seines Schlages die Dinge so erkennen, wie sie wirklich waren.
Eine Schar Hunde sprang kläffend und spielerisch zwischen den Beinen der Pferde umher in dem Bemühen, die Aufmerksamkeit der Reiter zu erlangen. Die Meute war mit ein Grund, warum viele der Bewohner von Jouinard ihre gewohnten Tätigkeiten unterbrachen und zu dem großen Zug von Reitern und Hunden blickten, der sich von der weiter oben gelegenen Burg ihnen näherte. Der andere lag darin, dass es selbst für das Städtchen Jouinard, dass direkt unter dem Sitz des Herzogs und an einem der meistbereisten Pässe der alten Welt, dem Axtschartenpass nicht immer vorkam, eine solche Ansammlung von edlen Damen und Herren zu sehen bekam. In Anbetracht der Lage in den Vorratskammern hatte der Herzog dem Drängen der jungen Ritter, denen inzwischen wieder einmal die Decke vor Langeweile auf den Kopf fiel, nachgegeben, und einer Jagd im Wald von Crecy zugestimmt. Und so kam es, dass an diesem Tag die edlen Damen ihre beste Jagdkleidung anlegten, die immer ein wenig mehr Augenmerk auf ausgefallene Mode, denn auf ihre Tauglichkeit bei der Jagd legte. Doch auch die Ritter hatten ihre besten Jagdgewänder angezogen und ritten stolz neben ihren Damen einher. Die Jagdgesellschaft ließ bald das Städtchen Jouinard hinter sich, nachdem sie das Stadttor passiert hatten, wo Wachen mit ihren Hellebarden die Händler und Bauern zur Seite schoben, die Einlass in die Stadt begehrten, damit die noblen Herrschaften ungehindert passieren konnten. Bertrand, der auf einem Pferd im hinteren Teil der Kolonne ritt, registrierte die Blicke der Händler und Bauern die zwar nicht murrten. Er konnte dennoch die Feindseligkeit sehen, die in manchen der Blicke aufloderte. Nur ein Händler, seiner feinen und fremdartigen Kleidung nach aus dem Imperium, wagte es seine Stimme zu erheben. Arnaut de Vailos, einer der Knappen in Bertrands Alter, ritt zu dem Händler, der sich trotz der Anweisungen der Wachen nicht beruhigen lies. Der Protest des Händlers erstarb auf seinen Lippen, als sich Arnaut auf seinem Streitross ihm immer mehr näherte. Arnaut lenkte sein Pferd so, dass der Händler zurückweichen musste, bis er schließlich über das Gestänge eines Karrens fiel und ihm Dreck landete. Die adeligen Herren der Jagdgesellschaft bedachten den unglücklichen, verdreckten Händler mit einem lauten Lachen, während die Frauen leise hinter vornehm vor den Mund gehaltener Hand über das Unglück des Händlers kicherten. Auch die umherstehenden anderen Händler und Bauern bedachten den Zurechtgewiesen mit Spott und Hohn.
Nur Bertrand lachte nicht, er wandte seinen Kopf von der Szenerie ab, die ihm zuwider war. Einmal mehr wurde er daran erinnert, wie hierarchisch Bretonia organisiert war, und dass der Adel keinen Widerstand duldete. Er versuchte sich einzureden, dass Arnaut de Valois eine schwere Zeit durchmachte, da sein Vater Graf Hugo, einer der gefallenen der Schlacht gegen die Orks gewesen war. Doch der Stolz und Hochmut in Arnauts Augen, als dieser sein Pferd gewendet hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Die Jagdgesellschaft ritt aus dem Tor, immer noch lachend und einige der älteren Ritter beglückwünschten Arnaut dazu, dass er den niedrig geborenen Händler zum Schweigen gebracht hatte. Bertrand verkniff sich jedweden Kommentar und biss sich in die Lippen um nichts Falsches zu sagen. Der Zug folgte der Handelsstraße nach Westen. Vorbei an den Fischteichen, die einer der Herzöge Montforts angelegt hatte, und von denen gemunkelt wurde, dass Zwerge aus einer ihrer südlich gelegenen Städte bei der Errichtung geholfen hatten. Bertrand schenkte dem Gerücht Glauben, als sie zu der Stelle kamen, die beim Volk die hundert Wasserfälle genannt wurde. An dieser Stelle, wo das breite Tal eine tiefe Senke aufwies, waren die Teiche kaskadenartig übereinander angeordnet und dass Wasser floss glitzernd über deren Ränder, bis es sich am niedrigsten Punkt der Senke in einem kleinen See sammelte, in dem Bertrand und andere Jungen aus der ganzen Umgebung sich heimlich zum Schwimmen getroffen hatten. Immer auf der Hut vor den Aufsehern des Herzogs, die mit Schlägen nicht sparten, wenn sie einem bei frischer Tat ertappten.
Die Straße war an dieser Stelle notgedrungen schmaler, und die Jagdgesellschaft fädelt sich in einer langen Kette auf, damit sie passieren konnten. So kam es, dass Bertrand unbeabsichtigt neben einer der feinen Damen zu reiten kam. Wie es seine Pflicht war, senkte Bertrand seinen Kopf, dennoch erhaschte er heimlich einen Blick auf sein Gegenüber.
Ein Anblick, der ihm beinahe den Atem raubte und bei dem sich Bertrand zwingen musste, sich nicht durch ein unkontrolliertes Luftholen zu verraten.
Die Dame an seiner Seite konnte nicht mehr als sieben Jahre älter als er selbst sein. Nach bretonischem Brauch schon ein wenig alt, waren doch nur unverheiratete Damen zur Jagd mitgeritten, wohl meist in der Hoffnung, hier einen geeigneten Gatten unter den jungen Rittern zu finden. Dennoch war sie immer noch wunderschön. Schlank und groß gewachsen saß sie aufrecht in ihrem Damensattel, als wäre es die natürlichste Sache der Welt in einem feinen Jagdkostüm aus hellbraunem Leder, das mit blauen Stickereien verziert war. Ihr weißer, zierlicher Hals trug den Kopf mit den wohlgeformten Zügen einer bretonischen Adeligen und den Grübchen. Die Augen waren so blau, wie der Himmel über Montfort im Hochsommer. Ihr langes dunkelblondes Haar war zu einer kunstvollen Frisur, hochgesteckt und verbarg sich sittsam unter ihrer Haube aus dunkelblauer, mit goldenen Stickereien verzierten. Nur eine Haarsträhne war zu sehen, die ihr keck in das Gesicht sprang.
Bertrand versicherte sich, dass niemand seinen Blick auf die Dame neben ihm gesehen hatte. Kein Bauer, oder Sohn eines Bauern, konnte sich die Kühnheit leisten, eine adelige Schönheit anzuglotzen, ohne nicht auf das Härteste bestraft zu werden. Doch niemand aus der Jagdgesellschaft schien es bemerkt zu haben. Schweigend ritt er neben der feinen Dame. Plötzlich durchbrach eine helle Stimme die Stille.
„Euer Name ist Bertrand. Habe ich Recht?“ Die Stimme klang freundlich und voller Leben, wie einer der zahllosen Flüsse, die ihren Ursprung im Grauen Gebirge hatten.
Doch Bertrand fuhr bei ihrem Klang zusammen, da es die Dame an seiner Seite war, die gesprochen hatte. Vor seinem inneren Auge sah er bereits seinen ausgemergelten Körper an einem Pranger hängen, den Rücken voller blutiger Striemen, während ihm der Pöbel mit verfaultem Gemüse bewarf und ausbuhte. Die gerechte Strafe für jeden Niedriggeborenen der sich unbotmäßig gegenüber einem Angehörigen des bretonischen Adels benahm.
Langsam, zögerlich antwortete er, und hielt dabei seinen Blick auf den Kopf seines Pferdes gesenkt. „Jawohl Herrin!“
„Ihr seid doch aus Villaux, diesem Dorf östlich von Jouinard?“ Wieder war die Stimme freundlich. Wieder bewirkte sie bei Bertrand das Verlangen, der Dame in das Gesicht zu blicken in neugierigem Verlangen, ob sich diese Freundlichkeit auch dort widerspiegelte. Doch er unterdrückte diese Regung und hielt den Blick auf den Weg vor ihm gerichtet.
„Jawohl, ich komme aus Villaux, Herrin!“
„Und eure Familie?“
Bertrand seufzte. Die Dame ließ nicht locker. Doch sie konnte es sich leisten. Immerhin wartete ja nicht auf sie die Strafe, sonder auf ihn.
„Meine Mutter lebt bei meinem Onkel. Mein Vater ist schon vor Jahren von uns gegangen, Herrin.“ Er sagte es knapp, wie eine der Meldungen bei Sir Haughey während des Knappentrainings. Sein Kopf blieb weiterhin in Demut unten, sein Blick konzentrierte sich auf die gleichmäßige Bewegung des Kopfes seines Reittieres, das in der langsamen Gangart leicht hin- und herschwappte.
„Seht mich an“, befahl die Dame neben ihm. Eine gewisse Schärfe lag in ihrem Ton. Der Tonfall einer Adeligen, die einem Leibeigenen etwas auftrug. Doch zugleich war da immer noch diese Freundlichkeit, die den Befehl in eine Bitte verwandelte, der Bertrand nur schwer widerstehen konnte. „Euch wird kein Leid widerfahren“, versicherte die Dame. „Ich garantiere dafür, Bertrand aus Villaux“, fügte sie hinzu. Obwohl ein Befehl, erinnerte sich Bertrand später nur an den freundlichen Klang ihrer Stimme. Und daran, dass er diesen Worten ohne zu Zögern Folge leistete, und keinen Moment an die drohenden Strafe dachte. Wie gesteuert, erhob er sein Haupt und sah die Dame an seiner Seite an.
Das Gesicht der jungen Edelfrau zeigte ein freundliches Lächeln, und in diesem Moment wusste Bertrand, dass er dieser Damen keinen Wunsch mehr je abschlagen würde. Ihr Lächeln war so warm und strahlend wie die Sommersonne, die über dem Grauen Gebirge aufging. Nur halb bekam er in seiner Verzückung mit, dass die Dame sich vorstellte.
„Mein Name ist Marie Levaliere“, sagte die junge Dame und rückte anmutig ihre Haube zurecht. Bertrand war von ihrem Anblick immer noch so verzaubert, dass er erst einige Augenblicke benötigt, um das Gesagte zu begreifen.
Sein Traum war schlagartig zu Ende. Er kannte den Namen der jungen Lady. So wie jeder andere am Hof des Herzogs. Lady Marie Levaliere war niemand Geringeres als das Mündel des Herzogs. Das Bild des Prangers kam Bertrand wieder vor sein geistiges Auge. Er murmelte eingeschüchtert und holprig eine höfliche Floskel und entschied sich dafür, den Rest des Tages auf den bezaubernden Anblick zu verzichten, und dafür seinen striemenfreien Rücken zu behalten.
Die Jagdgesellschaft verfiel in einen leichten Trab, flankiert von den Falknern, Knappen und Hundeführern mit ihrer lärmenden Meute. Schließlich, noch bevor die Herbstsonne ihren Zenit erklommen hatte, erreichten sie den Wald von Crecy. Das Dorf lag zu ihrer Linen, eine kümmerliche Ansammlung zugiger, windschiefer Hütten, die aus nicht mehr als dem zu Boden gefallenen Holz notdürftig zusammen gezimmert waren. Denn der Wald, wie Alles andere, war Eigentum des Herzogs. Ein Trupp Waffenknecht in Begleitung eines jungen Ritters ritt in das Dorf und kam nach einer knappen Viertelstunde mit einer erklecklichen Anzahl an Leibeigenen zurück. Bertrand bedachte sie mit einem bedauernden Blick. Er sah es an ihren Mienen, dass sie es keinesfalls als Ehre sahen, den hochgeborenen Herren und Damen als Treiber für die Jagd zu dienen. Bertrand wusste, dass die Bauern viel lieber die kostbaren Stunden Tageslicht damit verbringen wollten, die letzte Ernte einzufahren und den Boden für die Wintersaat zu pflügen. Doch die adeligen Herrschaften, die in ihrem ganzen Leben noch die Hand an einen Pflug gelegt hatten, wussten über diese Nöte des einfachen Volks nicht Bescheid. Und wenn doch, dann kümmerte es sie nicht.
Die Leibeigenen, im Verbund mit einer Hälfte der Waffenknechte, den Treibern und Hundeführern, marschierten los. Bertrand sah ihnen nach, bis sie hinter einer Biegung verschwunden waren. Sie würden in einiger Entfernung in den Wald eindringen, einen Lange Linie bilden, und dann alles Wild auf die adeligen Herrschaften zutreiben, die derweil an der Waldlichtung warteten. Bertrand sah sich um. Die Ritter und Damen bildeten kleine Grüppchen und unterhielten sich nach höfischer Art. Es wirkte für ihn immer noch befremdlich, dieses seltsame komplizierte, Ritual aus komplexen Regeln. Dennoch entging seinem scharfen Auge nicht, dass die Ritter, dennoch auch ein Auge auf ihre Waffen warfen. In der Regel waren das Wurfspieße und Schwerte, oder Speere mit einer metallenen Querstange direkt nach der Speerspitze. Bögen oder andere Distanzwaffen waren in der hochgeborenen Gesellschaft verpönt. Eine dieser hochtrabenden Regeln besagte, dass ein wahrer bretonischer Ritter seinem Gegner von Angesicht zu Angesicht entgegentreten musste.
Zu seinem Glück war Bertrand aber kein Edelmann, das Rittergelübde geleistet hatte. Deshalb hingen an der Seite seines Pferdes auch sein geliebter Bogen und ein Köcher voller Pfeile. Pflichtgemäß vergewisserte sich Bertrand auch, dass sein langer Dolch an seinem Gürtel steckte. Nachdem seine Ausrüstung inspiziert war, konnte sich Bertrand wieder anderen Dingen widmen. Mit der Neugier, die nur ein junger Mann von siebzehn Sommern aufbringen konnte, wartete er auf die ersten Anzeichen für den Beginn der Jagd.
Die Sonne erreichte gerade ihren Höchststand, als Bertrand ein Geräusch wahrnahm. Von fern und gedämpft, aber für gute Ohren dennoch erkennbar, vernahm er ein Hornsignal. Genauer gesagt waren es mehrere Jagdhörner. Darunter mischte sich auch das stärker werdende Geschrei von Menschen und das Bellen der Jagdhunde. In die Jagdgesellschaft kam Bewegung. Die Gespräche verebbten, und Baron Rambert, der die Leitung über diese Jagd hatte, schickte die edlen Damen vom Waldrand weg. Am freien Feld waren inzwischen von den mitgereisten Dienern und Pagen Baldachine aufgespannt worden, die den Damen aus dem Sattel halfen und ihnen mitgebrachte Erfrischungen servierten. Der Großteil der Ritter widmete seine Aufmerksamkeit dem Waldrand, obwohl einige Heißsporne immer noch in Richtung der Damen mit ihren bevorstehenden Leistungen in dieser Jagd prahlten, bis sie Baron Rambert zum Schweigen ermahnte.
Danach wurde es still.
Nur das Geräusch der sich nähernden Treibjagd, und dem Krachen im Unterholz war noch zu vernehmen.
Das erste Tier, das aus dem Wald brach, war ein Hirsch.
Ein stattlicher Siebzehnender.
Der Anblick dieses Tier beeindruckte Bertrand, trotz der Umstände.
Sofort setzten sich mehrere Ritter auf die Fährte des Hirschs. Nur wenige Längen dauerte die Jagd, dann warf einer der Ritter seines Wurfspießes in die Schulter und der Hirsch brach mit einem röhrenden Laut zusammen. Bertrand hatte keine Zeit, das Gesehene zu verarbeiten, denn immer mehr Tiere brachen aus dem Wald heraus. Gehetzt von einer Meute aus Menschen und Hunden, nur, um in der vermeintlichen Sicherheit der Felder auf die bereiten Jäger zu treffen. Zwei weitere Hirsche, mehrere Stück Rotwild, und eine Rotte Wildschweine. Falken wurden losgelassen, stiegen auf in luftige Höhen. Von dort stürzten sie sich wagemutig auf ihre Beute, Rebhühner und Feldhasen, die von der Jagd aufgeschEucht wurden. In frappierende Weise erinnerte Bertrand die Szenerie an die Schlacht am Grauen Gebirge. Die Ritter teilten sich in Gruppen auf, und eilten ihrer auserwählten Beute hinterher, angefeuert von den Rufen der Damen, die untereinander auf ihre Favoriten wetteten.
Unentschlossen, wem sich Bertrand anschließen sollte, zügelte er sein Pferd und wartete. Da sah er in seinem Augenwinkel eine Bewegung. Bertrand traute seinen Augen nicht. In einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung gab er seinem Pferd die Sporen und folgte seinem erwählten Ziel. Über Stock und Gebüsch ging die wilde Jagd. Mehrmals war er knapp davor, von seinem dahinjagenden Pferd abgeworfen zu werden.
Einmal war es ein tiefer Ast eines Baumes, bei dem er sich gerade noch rechtzeitig an den Hals seines Pferdes werfen konnte. Der Pfad, ein dünner, kaum festgetretener Streifen Erde war schmal, und die Bewachsung zu beiden Seiten reichte dicht heran. Für den Rest des Rittes kauerte sich Bertrand an den Hals seines Tieres, bemüht, nicht abgeworfen zu werden.
Schließlich erreichte Bertrand eine Stelle, wo der Pfad in eine kleine Lichtung überging. Bertrand gab seinem Pferd noch einmal die Sporen und sein Renner schoss vorwärts. Mit dem Rest seiner Körperbeherrschung ergriff Bertrand die Zügel des anderen Pferdes und brachte beide Tiere zum Halten.
„Mylady, bei allem nötigen Respekt“, sagte Bertrand mit dem letzten Rest von Verärgerung.
Lady Marie Levaliere sah ihn an und lachte aus vollem Herzen.
Eine Aktion, die Bertrand zwischen Verärgerung und Verwirrung schwanken ließ. Er entschied sich für Letzteres.
„Mylady, dies ist weder der richtige Ort, oder schon gar nicht der richtige Umstand, um derart zu lachen!“. Bertrand bemühte sich, Meister Rainheims tadelnden Tonfall in seine Worte einfließen zu lassen.
Ob es Erfolg zeigte, ließ sich aus Lady Levalieres Gesicht jedoch nicht erkennen. Die junge Lady verzog ihre Miene zu einem Schmollmund, der ihren Anblick nur noch bezaubernden werden ließ.
Sie ließ ihr Pferd in einen langsamen Schritt übergehen. Bertrand tat es ihr nach, darauf bedacht, an ihrer Seite zu bleiben. Das Mündel des Herzogs führte ihr Pferd an den kleinen Bach, der einen ruhigen, stillen Weiher am Rand des Waldes speiste. Bertrand sah sich um. Sie waren am Rand des Waldes, eine Reihe hochgewachsener Bäume umrandete den Weiher und die Lichtung, auf der sie sich befanden. Das grüne Blätterdach gewährte der Sonne Einlass und den Blick auf die sanften grünen Hügel dahinter.
Bertrand wartete geduldig, bis beide Pferde ihren Durst gestillt hatten. Dann nahm er seinen
Hengst bei den Zügeln und wendete ihn. Von Ferne waren noch die Geräusche der Jagdgesellschaft zu hören, Hörner und das Gebell der Hunde.
Er hielt inne, als er erkannte, dass Lady Levaliere ihm nicht folgte.
„Mylady? Wir müssen uns wieder der Jagd anschließen.“
„Nein“, erwiderte Marie Levaliere in geübten Tonfall einer Adeligen, die es gewohnt war, Befehl zu geben, aber nicht sie zu befolgen.
Reizend hin oder her, Bertrand kam zu dem Entschluss, dass dieser Ort für eine junge Dame aus bestem Haus nicht angemessen war. Es war ein Bauchgefühl, ein Instinkt, der Bertrand mitteilte, dass sie besser sofort zur Jagd zurückkehren sollten. Er konnte es sich nicht erklären, die Lichtung war so friedlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Nicht einmal die Vögel pfiffen. Aber vielleicht war es auch dieser Umstand, der ihn so zutiefst beunruhigte.
„Mylady, ich muss darauf bestehen, dass wir sofort zur Jagd zurückkehren“, wiederholte Bertrand und wollte gerade nach den Zügeln des anderen Pferdes greifen. Lady Levaliere gab ihrem Pferd lachend die Sporen, und die Stute schoss vorwärts, außer Bertrands Reichweite.
„Nein Bertrand“, erwiderte sie lachend. „Nicht bevor ich selbst eine Beute erlegt habe.“
Bertrand stutzte. Womit wollte er fragen, da sah er an der Seite ihres Stalles einen Wurfspieß hervorblitzen.
„Mylady, das geziemt sich nicht für eine edle Dame“, sagte Bertrand und deutete auf den Wurfspieß.
„Warum?“, erwiderte sie keck und setzte nach. „Ihr meint es geziemt sich weniger, denn als unverheiratete Dame mit einem Knappen alleine im Wald zu reiten.“
Das Schicksal ersparte Bertrand, auf die Frage eine Antwort suchen zu müssen. Etwas brach aus dem Unterholz. Zweige knackten, Büsche wurden entwurzelt, die Äste von Bäumen brachen. Beide Pferde wieherten schrill vor Entsetzten, als sie das Tier sahen, dass sich so gewaltsam eine lebende Legende. Dunkelbraunes bis schwarzes Fell, borstig und gesträubt, die Eckzähne gekrümmt und so groß wie arabianische Krummschwerter und gleichermaßen tödlich. Die Augen verengt zu Schlitzen aus rotglühendem Feuer. Er war groß, sogar größer als die Wildschweine, auf denen die Orks in die Schlacht geritten waren.
So stand der Keiler vor ihnen, zum Angriff bereit. Aufgestachelt, da die abgebrochene Spitze eines Wurfspießes in seiner blutigen Flanke steckte.
Die Bestie von Crecy, eine lebende Legende. Und gleichermaßen gefürchtet. Im ganzen Herzogtum tuschelten die einfachen Leute furchterfüllt von diesem Untier, während junge Ritter mit glänzenden Augen davon träumte, die Bestie zu erlegen, um die Gunst ihrer begehrten Dame zu erlangen.
Doch jetzt standen der Bestie von Crecy keine Schar schwerbewaffneter Ritter in voller Rüstung gegenüber, sondern ein Bauernknappe und eine edle Jungfrau.
Bertrand murmelte ein Stoßgebet an die Herrin vom See und sah sich hilfesuchend um.
Sein Blick fand etwas, dort auf den Hügeln. Bertrand sah zwei Reiter, einer davon kam ihm vertraut vor. Der andere hingegen war groß, größer als jeder Mensch, den Bertrand zuvor gesehen hatte. Die Rüstung dieses Reiters war exotisch, von einer Machart, die Bertrand nicht kannte. Die Entfernung war jedoch zu groß, um die eingravierten Symbole darauf zu erkennen, ebenso wie die Gesichter der beiden.
Bevor jedoch Bertrand um Hilfe rufen konnte, stürmte die Bestie von Crecy los. Ein schrilles Quieken ging der Attacke voraus, dass die Pferde scheuten. Bertrand kämpfte darum sein Pferd zu beruhigen. Lady Levalieres Stute ging durch. Die Erde erbebte unter dem Ansturm des gewaltigen Keilers. Achthundert Pfund verfehlten ihr Ziel, da Lady Levalieres Pferd vorwärts schoss, und entwurzelten einen der Bäume. Der Keiler wendete, vor Wut schäumend. Bertrand zog seinen Bogen und jagte zwei Pfeile in den Leib des Untieres. Zitternd fuhren die Geschosse in den Rücken der Bestie, doch obwohl sie tief steckten, zeigten sie keinerlei Wirkung, als dass sie die Wut der Bestie noch verstärkten. Der Keiler stürmte vorwärts, die Erde erbebte abermals.
Mit voller Wucht traf der Keiler sein Pferd. Bertrands Welt drehte sich mehrmals, als er aus dem Sattel geschleudert wurde. Mühsam rappelte er sich auf, und sah noch, wie sein Pferd bockend und aus der Flanke blutend davon stob. Am Sattel hing der Köcher mit seinen restlichen Pfeilen. Bertrand warf den nutzlosen Bogen zur Seite und zog den langen Dolch, seine letzte Verteidigung. Der Keile stürmte wieder auf ihn zu. Lady Levaliere tauchte plötzlich auf und jagte dem Wildschwein in vollem Galopp entgegen. Das Metall blitzte in der Sonne, als das junge Mündel des Herzogs ihren Spieß mit voller Kraft in die Seite der Bestie warf.
Der Angriff zeigte Wirkung. Der Keiler unterbrach seinen Ansturm, und rannte, vor Wut und Schmerz quiekend hinter der Stute von Lady Levaliere hinterher.
Bertrand vergas all seine Bedenken und rannte aus Leibeskräften brüllen auf den Keiler zu. Eher würde er sein eigenes Leben opfern, als zuzulassen, dass der Lady etwas geschah.
Erst, als der Keiler seine Verfolgung stoppte, und sich wieder in seine Richtung in Bewegung setzte, erkannte Bertrand die Tragweite seines Handelns. Aber da war es schon zu spät.
Sein letztes Gebet an die Herrin zum See betend, bereitete sich Bertrand auf sein unweigerliches Ableben vor. Einzig der Gedanke, der jungen Lady Levaliere Zeit zur Flucht verschafft zu haben, bereitete ihm einen Grund zur Freude.
Die Bestie war nur noch wenige Schritte vor ihm, Bertrand konnte schon ihren typischen Geruch von nassem Fell wahrnehmen, als sich die Lage wieder zu seinen Gunsten wendete.
Etwas sauste an seinem Ohr vorbei und traf den Keiler mit voller Kraft. Es war ein Wurfspieß, in einem perfekten Wurf abgefeuert. Die metallene Spitze bohrte sich tief in das linke Auge des Keilers. Derart getroffen, brüllte die Bestie vor Schmerzen laut auf, sodass sich Bertrand die Ohren zuhalten musste. Ein Schemen drängte sich an Bertrand vorbei. Ein Reiter in vollem Galopp mit gezogener Klinge der in vollem Tempo auf die tobende, bockende Bestie zuritt, die versuchte sich des in ihrem Kopf steckenden Spießes zu entledigen.
Der Keiler obwohl halb geblendet und von Schmerzen geplagt, warf sich seinem neuen Angreifer entgegen. Das Wildschwein warf seinen massigen Kopf hoch, die gewaltigen Eckzähne blitzten auf. Bertrand schrie voller Entsetzen auf, als der Angriff der Bestie, das Pferd zu Boden warf.
Doch der Reiter sprang behände aus dem Sattel und landete sich auf seinen Beinen, bevor das Gewicht seines Pferdes sein Bein zerquetschte.
Der Reiter zog sein Schwert hoch, um der Attacke der Bestie zu begegnen. Das Pferd, das wieder hochkam, stob zur Seite davon.
Bertrand hielt den Atem an, als er sah, wie der nun unberittene Reiter, der gereizten Bestie nur mit seinem Schwert Paroli bieten wollte. Kein Mann konnte diese mutige Tat überleben, da war sich Bertrand sicher.
Doch dieser Mann tat es. Und wie!
Es schien, als würde er mit der Bestie tanzen. Jeder Angriff wurde behände gekontert. Die Klinge des Reiters bestrafte jeden Vorstoß der Bestie mit einem blitzenden Hieb über die Flanken. Es waren leichte Treffer, doch sie zeigten auf die Dauer Wirkung. Aus zahlreichen Schnitten an der Flanke blutete die Bestie schon. Sichtlich frustriert darüber, dass jede ihre Attacken mit einem weiteren Treffer belohnt wurde, hob sie ihren massigen Schädel und brüllte. Es war so furchteinflößend und gewaltig, wie ein Herbstgewitter.
Der Reiter lächelte und ging einen Schritt zurück. Es sollte sich als Fehler erweisen, da er über eine Wurzel stolperte und zu Boden fiel.
Die Bestie von Crecy sah ihre Chance. Ihre letzte, fruchtlose Attacke, hatte sie weit fortgetragen, ein weiterer blutender Schnitt an ihrer Flanke. Nun stürmte sie mit vollem Tempo und ihr gesamten Wucht auf den Gestrauchelten ein. Sie würde den Reiter zweifellos unter ihren Hufen zertrampeln.
Bertrand sprang vorwärts, stellte sich zwischen den Reiter, und die anstürmende Bestie. Den Dolch vor sich haltend, das Unabänderliche vor Augen.
Eine Lanze bohrte sich in die Flanke des Keilers. Lackiertes Hartholz barst, doch die Waffe drang tiefer und tiefer. Die Bestie gab ein letztes Quieken von sich, ein ersterbender Schrei, der die Luft erfüllte, dann verschied die Bestie von Crecy.
Atemlos sah Bertrand ihren Retter hoch zu Ross an und erkannte ihn wieder. Es war der Ritter, der ihm schon auf dem Schlachtfeld vor dem sicheren Tod gerettet hatte: Jerome de Montfort, Schwerträger des Herzogs.
Hinter dem Ritter konnte Bertrand Lady Marie Levaliere erkennen, die ihm zulächelte. Sie hielt die Zügel von Bertrands Hengst.
Jerome de Montfort stieg von seinem Schlachtross.
Eilig fiel Bertrand auf seine Knie. „Ich danke Euch, Herr“, hauchte er ehrfürchtig. Jerome de Montfort ging an ihm vorbei und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Dann half der Ritter dem Gestrauchelten auf die Beine.
Der Gestrauchelte, ein Mann von Mitte Zwanzig beugte sich zu Bertrand vor und flüsterte ihm freundlich ins Ohr.
„Er meint damit, dass ihr Euch wieder erheben dürft.“ Bertrand nickte und erhob sich.
„Ich danke auch Euch, Herr, für die Hilfe.“
Sein Gegenüber lächelte. Er war ein ansehnlicher Mann, dessen Lächeln einem sofort für ihn einnahm. Schlank, hochgewachsen mit hellbraunem, halblangen Haar, und grünen Augen, verriet jeder Zoll an ihm seine adelige Abstammung, die jedoch keinerlei Spur von der für Vertreter seines Standes typischen Hochnäsigkeit zeigte.
„Ihr müsst Euch nicht bei Sir Berrick bedanken“, warf Lady Levaliere lachend ein. „Immerhin war er es, der am Ende eures Schutzes bedurfte.“
Sir Berrick drehte sich zu der Lady um und warf sich in gespieltem Schmerz die Hände an die Brust. „Ihr kränkt mich, holde Lady. Hatte ich doch die Bestie genau da, wo ich sie haben wollte.“
„Sagt mir, kühner Jägersmann, erledigt ihr eure Beute immer mit dem Rücken zum Boden?“, neckte ihn Marie Levaliere.
„Ausschließlich“, erwiderte Sir Berrick ebenso zweideutig und half ihr aus dem Sattel. Bertrand eilte pflichtschuldig hinzu und nahm die Zügel der Pferde an sich. Ein leichter Anflug der Eifersucht befiel ihn, als er sah, wie Sir Berrick die Lady an den Hüften hielt, als er ihr vom Sattel half. Doch er währte nicht lang, da sich Lady Levaliere sofort aus dem Griff des Ritters löste.
„Mein guter Freund, bedenkt, dass es auch Beute gibt, die für einen zu groß ist“, sagte sie schmunzelnd.
„Oder vergeben“, erwiderte Sir Berrick zwinkernd und sah zu Jerome de Montfort, der soeben seine Lanze aus dem Fleisch der toten Bestie löste.
Lady Levaliere lächelte vielsagend und schlenderte dann zu Jerome de Montfort. Sir Berrick sah ihr nach, und wandte sich dann Bertrand zu.
„Euer Name ist Bertrand, oder?“
„Jawohl , Herr“, erwiderte Bertrand. Wieder war es eine freundliche Frage, die ehrliches Interesse zeigte, keine bloße Floskel, die einzig aus höfischem Benehmen entsprang.
„Würde es Euch stören, mir zu helfen, mein Pferd einzufangen. Bedauerlicherweise hat es weniger Mut gezeigt, als ihr, und Fersengeld gegeben.“
Bertrand nickte, und bestieg sein Pferd. Sir Berrick rief Jerome de Montfort zu, dass er sein Tier nehmen würde. Für einen Moment beobachtete Bertrand das edle Tier. Ein starker Renner, dessen Vorzüge gegenüber seinem einfachen Gaul, der mehr zum Pflügen denn zu Reiten geeignet war, umso mehr deutlich zutage traten. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach Sir Berricks Pferd. Dabei fiel Bertrands Blick auf die Hügel und er sah, dass die beiden Reiter verschwunden waren. Und er fragte sich, warum sie ihm und der Lady Levaliere nicht zu Hilfe geeilt waren.
„Ich rede, du redest, er redet, sie redet, es redet, …“, Bertrand brach ab und schaute hilflos von seinem Buch auf und zu seinem Lehrer, der mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch in der überfüllten Kammer stand. Sein Lehrer schien mit etwas beschäftigt zu sein, dass sich Bertrands Blicken entzog.
„Nur weiter“, forderte ihn Volker Rainheim auf, während er ein dickbäuchiges Glasgefäß das halbgefüllt mit einer dunkelgrünen Flüssigkeit war gegen das fahle Licht des halb verdunkelten Fensters hob und davon einige Tropfen in ein anderes Gefäß schüttete. Eine kleine Rauchfahne stieg auf und der Geruch von etwas Eigenartigem drang in Bertrands Nase. „Konzentriere dich“, ermahnte Rainheim ihn mit Nachdruck, während er sich weiter seinem Experiment widmete.
Konzentration war allerdings eine schwierige Aufgabe angesichts der Wunder und Kuriositäten, die sich in Rainheims Kammer türmten. Bis auf sein Bett war beinahe jeder Platz in den Regalen vollgestopft mit Büchern, Schriftrollen oder Gefäßen, in denen seltsamste Dinge in Alkohol eingelegt schwammen. Exotische ausgestopfte Tiere hingen an den Wänden, die Bertrand noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Banner hingen ebenfalls herab, verziert mit Mustern und Schriftzeichen, die sich Bertrands Verständnis entzogen. Volker Rainheim, der mysteriöse Berater des Herzogs hatte einen ganzen Turm an der östlichen Mauer bekommen um sich dort ungestört seinen Studien und Nachforschungen zu widmen. Experimenten, die nicht immer ohne Gefahren waren, wie Rainheims Äußeres selbst bezeugen konnte. Während sein langer, grauer Bart und die gleichfarbigen dichten Augenbrauen glimpflich davongekommen waren, konnte man das von seinem zersausten, angesengten Haupthaar nicht behaupten. Angeblich war es in einer besonders stürmischen Nacht geschehen, als in der Kammer des Zauberers ein Feuer ausgebrochen war. Ein Feuer, dass nicht mit Wasser gelöscht werden konnten und deren grünlich schimmernden Flammen jedes Mal aufloderten, wenn eine neue Wasserladung auf sie auftraf. Erst mit dem Sand aus dem Innenhof war der Brand gelöscht worden. Ein Umstand, den dem Zauberer besonders die Ritter und vor allem Sir Haughey übelgenommen hatte, war doch gerade deswegen ihr Übungsplatz am nächsten Tag ein Acker voller gefährlicher Löcher. Manch einer behauptete, dass sich Sir Haughey an diesem Tag seine Nase gebrochen hatte, während des Trainings seiner Schützlinge, als er sein Pferd bei vollem Galopp in eines der Löcher gestiegen war.
Ein bösartiges Gerücht allerdings, wie andere Knappen Bertrand versichert hatte. Die Sache mit dem Brand hingegen war jedoch wahr. Volker Rainheim hingegen war es egal, dass ihm die Bewohner der Burg seitdem aus dem Weg gingen, als sie es ohnehin taten, weil er, erstens ein Zauberer war, und zweitens aus dem Imperium stammte. Das Gesinde der Burg jedenfalls betete jeden Abend zur Herrin vom See, dass das nächste Experiment des grauen Zauberers nicht dahingehend endete, dass von ihrer Burg nur noch ein Haufen rauchender Asche übrig blieb. Bei diesem Versuch jedoch, war diese Befürchtung keinesfalls begründet. Denn die Flüssigkeit in dem anderen dickbäuchigen Glasgefäß änderte nur ihre Farbe, während eine weiße Dampfwolke aufstieg und sich der exotische Geruch in der ganzen Kammer verbreitete. Ein leichtes Lächeln huschte über die sonst so strengen Lippen Rainheims und er stellte die beiden Gefäße auf dem Tisch ab.
Mit einer raschen Bewegung schob Rainheim den Vorhang zu Seite und das Licht der Sonne erhellte seine Kammer, wo sich die Dampfwolke schnell auflöste.
„Also, sprich weiter, mein Junge, falls es dir hier zu dunkel war. Diese Ausrede hast du jetzt nicht mehr. „Was kommt nach „es redet“?“, sagte Rainheim und drehte sich zu Bertrand um, der seine Hand vor seine Augen gehoben hatte und versuchte die plötzliche Helligkeit wegzublinzeln.
„Ihr redet?“, schlug Bertrand unsicher vor.
„Falsch!“, sagte Rainheim und versetzte seinem Schüler einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und seufzte.
„Du musst dein Reikspiel mehr üben. Ihr Bretonen seid sicher der sonderbarste Menschenschlag, der mir je unter die Augen gekommen ist. Reikspiel ist das Wichtigste, was du je lernen wirst. Es wird überall in der alten Welt gesprochen.“
„Sir Haughey sagt, dass Wichtigste ist der richtige Umgang mit Schwert, Lanze und Schild.“
„Ja, das glaube ich gerne, dass Sir Haughey das sagt. Der sollte sich selbst einmal an der Nase nehmen“, sagte der Zauber mürrisch. Bertrand versuchte, bei dieser Bemerkung nicht laut zu lachen, als ihm wieder einfiel, wie Sir Haughey angeblich zu seiner Nasenform gekommen war. An der unbewegten Miene des Zauberers konnte Bertrand nicht erkennen, ob Rainheim dieser Seitenhieb den er gerade getätigt hatte, bewusst war oder nicht. Selbst nach Wochen täglichen Unterrichts bei Rainheim blieb der Zauberer für ihn ein versiegeltes Buch. Das einzige Thema, bei dem Rainheim persönliche Emotionen zeigte, war das Unverständnis der bretonischen Bevölkerung für sein Wirken. So auch jetzt
„Es ist mir schleierhaft“, sagte Rainheim, der sich langsam in Rage redete, „wieso man mit derartiger Skepsis meine Arbeit argwöhnisch betrachtet! Und dann diese Ignoranz gegenüber Wissen. Lanze und Schwert! Lanze und Schwert! Als ob alle Schlachten immer von diesen eilten Gecken auf ihren großen Rössern gewonnen würden. Gerade hier in Montfort, an der Grenze zum Imperium sollte man doch zumindest den Wert von Bildung und dem Beherrschen von Reikspiel, der Sprache des Imperiums zu schätzen wissen. Doch Nein, viel wichtiger sind natürlich Lanze und Schwert. Weißt du mein Junge, was Lanze und Schwert gegen ein Regiment imperialer Musketenschützen ausrichten?“
Bertrand schüttelte sprachlos den Kopf, verwundert über die Heftigkeit, mit der Rainheim gesprochen hatte. Doch der Zauberer war zu sehr in Rage und fuhr fort.
„Nahezu jeder Vorschlag wird abgelehnt. Ich schlage die Einführung von Schießpulverwaffen vor, und Sir Haughey und seine Gesinnungsgenossen protestieren heftig dagegen, weil es gegen ihren ritterlichen Kodex wäre. Ich schlage die Einführung neuer Pumpen vor, welche die Feldbewässerung und damit den Ertrag steigern würden, sowie die Anstellung eines Technicus aus Nuln, der diese Maschinen errichtet, und der Abt des nahegelegenen Klosters der Herrin vom See erwidert, dass man sich lieber auf den Segen der Herrin verließe. Und das ausgerechnet mir, einem angesehen Mitglied des Grauen Ordens von Altdorf! Wenn dieser lästige Zwischenfall nicht gewesen wäre, würde ich jetzt mich gemütlich in einem Land befinden, wo man neuen Ideen und Magier mit Respekt behandelt, und nicht wie Aussätzige!“
Vor Bertrands geistigem Auge stieg bei der Erwähnung des Zwischenfalls das Bild eines brennenden Stadtviertels auf, das von grünen Flammen verzehrt wurde, und er fragte:
„Was war das für ein Zwischenfall, Meister Rainheim?“
Es trat etwas ein, mit dem Bertrand nicht gerechnet hatte. Eine Pause trat nach seiner Frage ein. Rainheim schien für einen kurzen Moment peinlich berührt, doch das war ebenso schnell verflogen wie zuvor seine Rage.
„Ach nichts, nur eine kleine Fehlberechnung meinerseits“, erwiderte Rainheim und wischte weiteres Nachhacken in dieser Angelegenheit mit ein einer Handbewegung beiseite. Bertrand ließ dennoch nicht locker.
„Und was ist der Graue Orden?“, fragte er seinen Lehrer der langsam immer mehr in die Defensive geriet.
„Einer der acht Zauberorden des Imperiums. Sie alle haben ihren Sitz in Altdorf, der Hauptstadt, von der aus Imperator Karl Franz rregiert und widmen sich jeweils einem der Winde der Magie.
Doch bevor Bertrand den Zauberer mit weiteren Fragen nach den Zauberorden oder Altdorf bestürmen konnte, knallte Rainheim eine Sanduhr vor ihm auf den Tisch. Der Sand im Stundenglas war beinahe vollständig zu Boden gerieselt.
„Deine Zeit ist vorbei. Du kannst dich wieder Lanze und Schwert widmen“, sagte der Zauberer. Bertrand stand auf und verräumte sein Buch in einem der Regale, wobei er sich Mühe gegeben musste, es zwischen zwei anderen in Leder gebundenen Folianten zu quetschen.
„Du bist mir noch eine Antwort schuldig“, sagte Rainheim, als Bertrand mit einem Bein schon aus der Tür war. Gehorsam drehte er sich um.
„Wir gehen“, sagte Bertrand mit einem Grinsen und verschwand nach einem Nicken des Zauberers.
Rainheim ging zu seinem Alchemietisch und widmete sich wieder seinem unterbrochenen Experiment. Während seine Hände geschickt mit den verschiedenen chemischen Substanzen und Flüssigkeiten hantierten, hingen seine Gedanken immer noch bei seinem Gespräch mit dem jungen Bertrand. Ein Lächeln huschte kurz über sein sonst so strenges Gesicht, als er sich eingestehen musste, dass ihn der Junge für einen kurzen Moment in die Enge getrieben hatte. Es gab nicht viele Leute, die sich damit rühmen konnten. Dieser Bertrand war wirklich eine Ausnahme in einem Land dass seine Rückständigkeit in so vielen Dingen mit einem unerhörten Stolz zur Schau trug. Eine rasche Auffindungsgabe, ein natürliches Talent für Sprachen und noch etwas, das Rainheim noch nicht ganz herausgefunden hatte. Wäre dies nicht das rückständige Bretonia, sondern sein geliebtes Imperium, hätte er sich mit seinen geheimnisvollen Meistern in Altdorf beraten. Aber die waren ohnehin nicht gerade gut auf ihn zu sprechen, nach diesem Zwischenfall der wirklich nicht seine Schuld gewesen war. Doch Rainheim schwor sich, bei den Winden der Magie, dass er noch herausfinden würde, was das Geheimnis von Bertrand war. Wenn es das war, was er dachte, dann wäre es zum Wohle Aller notwendig, dass man Bertrands Gabe in die richtigen Bahnen lenkte, bevor ein Schaden daraus entstand. Allein der Gedanke daran ließ Rainheim erschaudern und er zog die Vorhänge zu, damit er besser denken konnte. Denn nur im Schatten konnten Männer seines Schlages die Dinge so erkennen, wie sie wirklich waren.
Eine Schar Hunde sprang kläffend und spielerisch zwischen den Beinen der Pferde umher in dem Bemühen, die Aufmerksamkeit der Reiter zu erlangen. Die Meute war mit ein Grund, warum viele der Bewohner von Jouinard ihre gewohnten Tätigkeiten unterbrachen und zu dem großen Zug von Reitern und Hunden blickten, der sich von der weiter oben gelegenen Burg ihnen näherte. Der andere lag darin, dass es selbst für das Städtchen Jouinard, dass direkt unter dem Sitz des Herzogs und an einem der meistbereisten Pässe der alten Welt, dem Axtschartenpass nicht immer vorkam, eine solche Ansammlung von edlen Damen und Herren zu sehen bekam. In Anbetracht der Lage in den Vorratskammern hatte der Herzog dem Drängen der jungen Ritter, denen inzwischen wieder einmal die Decke vor Langeweile auf den Kopf fiel, nachgegeben, und einer Jagd im Wald von Crecy zugestimmt. Und so kam es, dass an diesem Tag die edlen Damen ihre beste Jagdkleidung anlegten, die immer ein wenig mehr Augenmerk auf ausgefallene Mode, denn auf ihre Tauglichkeit bei der Jagd legte. Doch auch die Ritter hatten ihre besten Jagdgewänder angezogen und ritten stolz neben ihren Damen einher. Die Jagdgesellschaft ließ bald das Städtchen Jouinard hinter sich, nachdem sie das Stadttor passiert hatten, wo Wachen mit ihren Hellebarden die Händler und Bauern zur Seite schoben, die Einlass in die Stadt begehrten, damit die noblen Herrschaften ungehindert passieren konnten. Bertrand, der auf einem Pferd im hinteren Teil der Kolonne ritt, registrierte die Blicke der Händler und Bauern die zwar nicht murrten. Er konnte dennoch die Feindseligkeit sehen, die in manchen der Blicke aufloderte. Nur ein Händler, seiner feinen und fremdartigen Kleidung nach aus dem Imperium, wagte es seine Stimme zu erheben. Arnaut de Vailos, einer der Knappen in Bertrands Alter, ritt zu dem Händler, der sich trotz der Anweisungen der Wachen nicht beruhigen lies. Der Protest des Händlers erstarb auf seinen Lippen, als sich Arnaut auf seinem Streitross ihm immer mehr näherte. Arnaut lenkte sein Pferd so, dass der Händler zurückweichen musste, bis er schließlich über das Gestänge eines Karrens fiel und ihm Dreck landete. Die adeligen Herren der Jagdgesellschaft bedachten den unglücklichen, verdreckten Händler mit einem lauten Lachen, während die Frauen leise hinter vornehm vor den Mund gehaltener Hand über das Unglück des Händlers kicherten. Auch die umherstehenden anderen Händler und Bauern bedachten den Zurechtgewiesen mit Spott und Hohn.
Nur Bertrand lachte nicht, er wandte seinen Kopf von der Szenerie ab, die ihm zuwider war. Einmal mehr wurde er daran erinnert, wie hierarchisch Bretonia organisiert war, und dass der Adel keinen Widerstand duldete. Er versuchte sich einzureden, dass Arnaut de Valois eine schwere Zeit durchmachte, da sein Vater Graf Hugo, einer der gefallenen der Schlacht gegen die Orks gewesen war. Doch der Stolz und Hochmut in Arnauts Augen, als dieser sein Pferd gewendet hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Die Jagdgesellschaft ritt aus dem Tor, immer noch lachend und einige der älteren Ritter beglückwünschten Arnaut dazu, dass er den niedrig geborenen Händler zum Schweigen gebracht hatte. Bertrand verkniff sich jedweden Kommentar und biss sich in die Lippen um nichts Falsches zu sagen. Der Zug folgte der Handelsstraße nach Westen. Vorbei an den Fischteichen, die einer der Herzöge Montforts angelegt hatte, und von denen gemunkelt wurde, dass Zwerge aus einer ihrer südlich gelegenen Städte bei der Errichtung geholfen hatten. Bertrand schenkte dem Gerücht Glauben, als sie zu der Stelle kamen, die beim Volk die hundert Wasserfälle genannt wurde. An dieser Stelle, wo das breite Tal eine tiefe Senke aufwies, waren die Teiche kaskadenartig übereinander angeordnet und dass Wasser floss glitzernd über deren Ränder, bis es sich am niedrigsten Punkt der Senke in einem kleinen See sammelte, in dem Bertrand und andere Jungen aus der ganzen Umgebung sich heimlich zum Schwimmen getroffen hatten. Immer auf der Hut vor den Aufsehern des Herzogs, die mit Schlägen nicht sparten, wenn sie einem bei frischer Tat ertappten.
Die Straße war an dieser Stelle notgedrungen schmaler, und die Jagdgesellschaft fädelt sich in einer langen Kette auf, damit sie passieren konnten. So kam es, dass Bertrand unbeabsichtigt neben einer der feinen Damen zu reiten kam. Wie es seine Pflicht war, senkte Bertrand seinen Kopf, dennoch erhaschte er heimlich einen Blick auf sein Gegenüber.
Ein Anblick, der ihm beinahe den Atem raubte und bei dem sich Bertrand zwingen musste, sich nicht durch ein unkontrolliertes Luftholen zu verraten.
Die Dame an seiner Seite konnte nicht mehr als sieben Jahre älter als er selbst sein. Nach bretonischem Brauch schon ein wenig alt, waren doch nur unverheiratete Damen zur Jagd mitgeritten, wohl meist in der Hoffnung, hier einen geeigneten Gatten unter den jungen Rittern zu finden. Dennoch war sie immer noch wunderschön. Schlank und groß gewachsen saß sie aufrecht in ihrem Damensattel, als wäre es die natürlichste Sache der Welt in einem feinen Jagdkostüm aus hellbraunem Leder, das mit blauen Stickereien verziert war. Ihr weißer, zierlicher Hals trug den Kopf mit den wohlgeformten Zügen einer bretonischen Adeligen und den Grübchen. Die Augen waren so blau, wie der Himmel über Montfort im Hochsommer. Ihr langes dunkelblondes Haar war zu einer kunstvollen Frisur, hochgesteckt und verbarg sich sittsam unter ihrer Haube aus dunkelblauer, mit goldenen Stickereien verzierten. Nur eine Haarsträhne war zu sehen, die ihr keck in das Gesicht sprang.
Bertrand versicherte sich, dass niemand seinen Blick auf die Dame neben ihm gesehen hatte. Kein Bauer, oder Sohn eines Bauern, konnte sich die Kühnheit leisten, eine adelige Schönheit anzuglotzen, ohne nicht auf das Härteste bestraft zu werden. Doch niemand aus der Jagdgesellschaft schien es bemerkt zu haben. Schweigend ritt er neben der feinen Dame. Plötzlich durchbrach eine helle Stimme die Stille.
„Euer Name ist Bertrand. Habe ich Recht?“ Die Stimme klang freundlich und voller Leben, wie einer der zahllosen Flüsse, die ihren Ursprung im Grauen Gebirge hatten.
Doch Bertrand fuhr bei ihrem Klang zusammen, da es die Dame an seiner Seite war, die gesprochen hatte. Vor seinem inneren Auge sah er bereits seinen ausgemergelten Körper an einem Pranger hängen, den Rücken voller blutiger Striemen, während ihm der Pöbel mit verfaultem Gemüse bewarf und ausbuhte. Die gerechte Strafe für jeden Niedriggeborenen der sich unbotmäßig gegenüber einem Angehörigen des bretonischen Adels benahm.
Langsam, zögerlich antwortete er, und hielt dabei seinen Blick auf den Kopf seines Pferdes gesenkt. „Jawohl Herrin!“
„Ihr seid doch aus Villaux, diesem Dorf östlich von Jouinard?“ Wieder war die Stimme freundlich. Wieder bewirkte sie bei Bertrand das Verlangen, der Dame in das Gesicht zu blicken in neugierigem Verlangen, ob sich diese Freundlichkeit auch dort widerspiegelte. Doch er unterdrückte diese Regung und hielt den Blick auf den Weg vor ihm gerichtet.
„Jawohl, ich komme aus Villaux, Herrin!“
„Und eure Familie?“
Bertrand seufzte. Die Dame ließ nicht locker. Doch sie konnte es sich leisten. Immerhin wartete ja nicht auf sie die Strafe, sonder auf ihn.
„Meine Mutter lebt bei meinem Onkel. Mein Vater ist schon vor Jahren von uns gegangen, Herrin.“ Er sagte es knapp, wie eine der Meldungen bei Sir Haughey während des Knappentrainings. Sein Kopf blieb weiterhin in Demut unten, sein Blick konzentrierte sich auf die gleichmäßige Bewegung des Kopfes seines Reittieres, das in der langsamen Gangart leicht hin- und herschwappte.
„Seht mich an“, befahl die Dame neben ihm. Eine gewisse Schärfe lag in ihrem Ton. Der Tonfall einer Adeligen, die einem Leibeigenen etwas auftrug. Doch zugleich war da immer noch diese Freundlichkeit, die den Befehl in eine Bitte verwandelte, der Bertrand nur schwer widerstehen konnte. „Euch wird kein Leid widerfahren“, versicherte die Dame. „Ich garantiere dafür, Bertrand aus Villaux“, fügte sie hinzu. Obwohl ein Befehl, erinnerte sich Bertrand später nur an den freundlichen Klang ihrer Stimme. Und daran, dass er diesen Worten ohne zu Zögern Folge leistete, und keinen Moment an die drohenden Strafe dachte. Wie gesteuert, erhob er sein Haupt und sah die Dame an seiner Seite an.
Das Gesicht der jungen Edelfrau zeigte ein freundliches Lächeln, und in diesem Moment wusste Bertrand, dass er dieser Damen keinen Wunsch mehr je abschlagen würde. Ihr Lächeln war so warm und strahlend wie die Sommersonne, die über dem Grauen Gebirge aufging. Nur halb bekam er in seiner Verzückung mit, dass die Dame sich vorstellte.
„Mein Name ist Marie Levaliere“, sagte die junge Dame und rückte anmutig ihre Haube zurecht. Bertrand war von ihrem Anblick immer noch so verzaubert, dass er erst einige Augenblicke benötigt, um das Gesagte zu begreifen.
Sein Traum war schlagartig zu Ende. Er kannte den Namen der jungen Lady. So wie jeder andere am Hof des Herzogs. Lady Marie Levaliere war niemand Geringeres als das Mündel des Herzogs. Das Bild des Prangers kam Bertrand wieder vor sein geistiges Auge. Er murmelte eingeschüchtert und holprig eine höfliche Floskel und entschied sich dafür, den Rest des Tages auf den bezaubernden Anblick zu verzichten, und dafür seinen striemenfreien Rücken zu behalten.
Die Jagdgesellschaft verfiel in einen leichten Trab, flankiert von den Falknern, Knappen und Hundeführern mit ihrer lärmenden Meute. Schließlich, noch bevor die Herbstsonne ihren Zenit erklommen hatte, erreichten sie den Wald von Crecy. Das Dorf lag zu ihrer Linen, eine kümmerliche Ansammlung zugiger, windschiefer Hütten, die aus nicht mehr als dem zu Boden gefallenen Holz notdürftig zusammen gezimmert waren. Denn der Wald, wie Alles andere, war Eigentum des Herzogs. Ein Trupp Waffenknecht in Begleitung eines jungen Ritters ritt in das Dorf und kam nach einer knappen Viertelstunde mit einer erklecklichen Anzahl an Leibeigenen zurück. Bertrand bedachte sie mit einem bedauernden Blick. Er sah es an ihren Mienen, dass sie es keinesfalls als Ehre sahen, den hochgeborenen Herren und Damen als Treiber für die Jagd zu dienen. Bertrand wusste, dass die Bauern viel lieber die kostbaren Stunden Tageslicht damit verbringen wollten, die letzte Ernte einzufahren und den Boden für die Wintersaat zu pflügen. Doch die adeligen Herrschaften, die in ihrem ganzen Leben noch die Hand an einen Pflug gelegt hatten, wussten über diese Nöte des einfachen Volks nicht Bescheid. Und wenn doch, dann kümmerte es sie nicht.
Die Leibeigenen, im Verbund mit einer Hälfte der Waffenknechte, den Treibern und Hundeführern, marschierten los. Bertrand sah ihnen nach, bis sie hinter einer Biegung verschwunden waren. Sie würden in einiger Entfernung in den Wald eindringen, einen Lange Linie bilden, und dann alles Wild auf die adeligen Herrschaften zutreiben, die derweil an der Waldlichtung warteten. Bertrand sah sich um. Die Ritter und Damen bildeten kleine Grüppchen und unterhielten sich nach höfischer Art. Es wirkte für ihn immer noch befremdlich, dieses seltsame komplizierte, Ritual aus komplexen Regeln. Dennoch entging seinem scharfen Auge nicht, dass die Ritter, dennoch auch ein Auge auf ihre Waffen warfen. In der Regel waren das Wurfspieße und Schwerte, oder Speere mit einer metallenen Querstange direkt nach der Speerspitze. Bögen oder andere Distanzwaffen waren in der hochgeborenen Gesellschaft verpönt. Eine dieser hochtrabenden Regeln besagte, dass ein wahrer bretonischer Ritter seinem Gegner von Angesicht zu Angesicht entgegentreten musste.
Zu seinem Glück war Bertrand aber kein Edelmann, das Rittergelübde geleistet hatte. Deshalb hingen an der Seite seines Pferdes auch sein geliebter Bogen und ein Köcher voller Pfeile. Pflichtgemäß vergewisserte sich Bertrand auch, dass sein langer Dolch an seinem Gürtel steckte. Nachdem seine Ausrüstung inspiziert war, konnte sich Bertrand wieder anderen Dingen widmen. Mit der Neugier, die nur ein junger Mann von siebzehn Sommern aufbringen konnte, wartete er auf die ersten Anzeichen für den Beginn der Jagd.
Die Sonne erreichte gerade ihren Höchststand, als Bertrand ein Geräusch wahrnahm. Von fern und gedämpft, aber für gute Ohren dennoch erkennbar, vernahm er ein Hornsignal. Genauer gesagt waren es mehrere Jagdhörner. Darunter mischte sich auch das stärker werdende Geschrei von Menschen und das Bellen der Jagdhunde. In die Jagdgesellschaft kam Bewegung. Die Gespräche verebbten, und Baron Rambert, der die Leitung über diese Jagd hatte, schickte die edlen Damen vom Waldrand weg. Am freien Feld waren inzwischen von den mitgereisten Dienern und Pagen Baldachine aufgespannt worden, die den Damen aus dem Sattel halfen und ihnen mitgebrachte Erfrischungen servierten. Der Großteil der Ritter widmete seine Aufmerksamkeit dem Waldrand, obwohl einige Heißsporne immer noch in Richtung der Damen mit ihren bevorstehenden Leistungen in dieser Jagd prahlten, bis sie Baron Rambert zum Schweigen ermahnte.
Danach wurde es still.
Nur das Geräusch der sich nähernden Treibjagd, und dem Krachen im Unterholz war noch zu vernehmen.
Das erste Tier, das aus dem Wald brach, war ein Hirsch.
Ein stattlicher Siebzehnender.
Der Anblick dieses Tier beeindruckte Bertrand, trotz der Umstände.
Sofort setzten sich mehrere Ritter auf die Fährte des Hirschs. Nur wenige Längen dauerte die Jagd, dann warf einer der Ritter seines Wurfspießes in die Schulter und der Hirsch brach mit einem röhrenden Laut zusammen. Bertrand hatte keine Zeit, das Gesehene zu verarbeiten, denn immer mehr Tiere brachen aus dem Wald heraus. Gehetzt von einer Meute aus Menschen und Hunden, nur, um in der vermeintlichen Sicherheit der Felder auf die bereiten Jäger zu treffen. Zwei weitere Hirsche, mehrere Stück Rotwild, und eine Rotte Wildschweine. Falken wurden losgelassen, stiegen auf in luftige Höhen. Von dort stürzten sie sich wagemutig auf ihre Beute, Rebhühner und Feldhasen, die von der Jagd aufgeschEucht wurden. In frappierende Weise erinnerte Bertrand die Szenerie an die Schlacht am Grauen Gebirge. Die Ritter teilten sich in Gruppen auf, und eilten ihrer auserwählten Beute hinterher, angefeuert von den Rufen der Damen, die untereinander auf ihre Favoriten wetteten.
Unentschlossen, wem sich Bertrand anschließen sollte, zügelte er sein Pferd und wartete. Da sah er in seinem Augenwinkel eine Bewegung. Bertrand traute seinen Augen nicht. In einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung gab er seinem Pferd die Sporen und folgte seinem erwählten Ziel. Über Stock und Gebüsch ging die wilde Jagd. Mehrmals war er knapp davor, von seinem dahinjagenden Pferd abgeworfen zu werden.
Einmal war es ein tiefer Ast eines Baumes, bei dem er sich gerade noch rechtzeitig an den Hals seines Pferdes werfen konnte. Der Pfad, ein dünner, kaum festgetretener Streifen Erde war schmal, und die Bewachsung zu beiden Seiten reichte dicht heran. Für den Rest des Rittes kauerte sich Bertrand an den Hals seines Tieres, bemüht, nicht abgeworfen zu werden.
Schließlich erreichte Bertrand eine Stelle, wo der Pfad in eine kleine Lichtung überging. Bertrand gab seinem Pferd noch einmal die Sporen und sein Renner schoss vorwärts. Mit dem Rest seiner Körperbeherrschung ergriff Bertrand die Zügel des anderen Pferdes und brachte beide Tiere zum Halten.
„Mylady, bei allem nötigen Respekt“, sagte Bertrand mit dem letzten Rest von Verärgerung.
Lady Marie Levaliere sah ihn an und lachte aus vollem Herzen.
Eine Aktion, die Bertrand zwischen Verärgerung und Verwirrung schwanken ließ. Er entschied sich für Letzteres.
„Mylady, dies ist weder der richtige Ort, oder schon gar nicht der richtige Umstand, um derart zu lachen!“. Bertrand bemühte sich, Meister Rainheims tadelnden Tonfall in seine Worte einfließen zu lassen.
Ob es Erfolg zeigte, ließ sich aus Lady Levalieres Gesicht jedoch nicht erkennen. Die junge Lady verzog ihre Miene zu einem Schmollmund, der ihren Anblick nur noch bezaubernden werden ließ.
Sie ließ ihr Pferd in einen langsamen Schritt übergehen. Bertrand tat es ihr nach, darauf bedacht, an ihrer Seite zu bleiben. Das Mündel des Herzogs führte ihr Pferd an den kleinen Bach, der einen ruhigen, stillen Weiher am Rand des Waldes speiste. Bertrand sah sich um. Sie waren am Rand des Waldes, eine Reihe hochgewachsener Bäume umrandete den Weiher und die Lichtung, auf der sie sich befanden. Das grüne Blätterdach gewährte der Sonne Einlass und den Blick auf die sanften grünen Hügel dahinter.
Bertrand wartete geduldig, bis beide Pferde ihren Durst gestillt hatten. Dann nahm er seinen
Hengst bei den Zügeln und wendete ihn. Von Ferne waren noch die Geräusche der Jagdgesellschaft zu hören, Hörner und das Gebell der Hunde.
Er hielt inne, als er erkannte, dass Lady Levaliere ihm nicht folgte.
„Mylady? Wir müssen uns wieder der Jagd anschließen.“
„Nein“, erwiderte Marie Levaliere in geübten Tonfall einer Adeligen, die es gewohnt war, Befehl zu geben, aber nicht sie zu befolgen.
Reizend hin oder her, Bertrand kam zu dem Entschluss, dass dieser Ort für eine junge Dame aus bestem Haus nicht angemessen war. Es war ein Bauchgefühl, ein Instinkt, der Bertrand mitteilte, dass sie besser sofort zur Jagd zurückkehren sollten. Er konnte es sich nicht erklären, die Lichtung war so friedlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Nicht einmal die Vögel pfiffen. Aber vielleicht war es auch dieser Umstand, der ihn so zutiefst beunruhigte.
„Mylady, ich muss darauf bestehen, dass wir sofort zur Jagd zurückkehren“, wiederholte Bertrand und wollte gerade nach den Zügeln des anderen Pferdes greifen. Lady Levaliere gab ihrem Pferd lachend die Sporen, und die Stute schoss vorwärts, außer Bertrands Reichweite.
„Nein Bertrand“, erwiderte sie lachend. „Nicht bevor ich selbst eine Beute erlegt habe.“
Bertrand stutzte. Womit wollte er fragen, da sah er an der Seite ihres Stalles einen Wurfspieß hervorblitzen.
„Mylady, das geziemt sich nicht für eine edle Dame“, sagte Bertrand und deutete auf den Wurfspieß.
„Warum?“, erwiderte sie keck und setzte nach. „Ihr meint es geziemt sich weniger, denn als unverheiratete Dame mit einem Knappen alleine im Wald zu reiten.“
Das Schicksal ersparte Bertrand, auf die Frage eine Antwort suchen zu müssen. Etwas brach aus dem Unterholz. Zweige knackten, Büsche wurden entwurzelt, die Äste von Bäumen brachen. Beide Pferde wieherten schrill vor Entsetzten, als sie das Tier sahen, dass sich so gewaltsam eine lebende Legende. Dunkelbraunes bis schwarzes Fell, borstig und gesträubt, die Eckzähne gekrümmt und so groß wie arabianische Krummschwerter und gleichermaßen tödlich. Die Augen verengt zu Schlitzen aus rotglühendem Feuer. Er war groß, sogar größer als die Wildschweine, auf denen die Orks in die Schlacht geritten waren.
So stand der Keiler vor ihnen, zum Angriff bereit. Aufgestachelt, da die abgebrochene Spitze eines Wurfspießes in seiner blutigen Flanke steckte.
Die Bestie von Crecy, eine lebende Legende. Und gleichermaßen gefürchtet. Im ganzen Herzogtum tuschelten die einfachen Leute furchterfüllt von diesem Untier, während junge Ritter mit glänzenden Augen davon träumte, die Bestie zu erlegen, um die Gunst ihrer begehrten Dame zu erlangen.
Doch jetzt standen der Bestie von Crecy keine Schar schwerbewaffneter Ritter in voller Rüstung gegenüber, sondern ein Bauernknappe und eine edle Jungfrau.
Bertrand murmelte ein Stoßgebet an die Herrin vom See und sah sich hilfesuchend um.
Sein Blick fand etwas, dort auf den Hügeln. Bertrand sah zwei Reiter, einer davon kam ihm vertraut vor. Der andere hingegen war groß, größer als jeder Mensch, den Bertrand zuvor gesehen hatte. Die Rüstung dieses Reiters war exotisch, von einer Machart, die Bertrand nicht kannte. Die Entfernung war jedoch zu groß, um die eingravierten Symbole darauf zu erkennen, ebenso wie die Gesichter der beiden.
Bevor jedoch Bertrand um Hilfe rufen konnte, stürmte die Bestie von Crecy los. Ein schrilles Quieken ging der Attacke voraus, dass die Pferde scheuten. Bertrand kämpfte darum sein Pferd zu beruhigen. Lady Levalieres Stute ging durch. Die Erde erbebte unter dem Ansturm des gewaltigen Keilers. Achthundert Pfund verfehlten ihr Ziel, da Lady Levalieres Pferd vorwärts schoss, und entwurzelten einen der Bäume. Der Keiler wendete, vor Wut schäumend. Bertrand zog seinen Bogen und jagte zwei Pfeile in den Leib des Untieres. Zitternd fuhren die Geschosse in den Rücken der Bestie, doch obwohl sie tief steckten, zeigten sie keinerlei Wirkung, als dass sie die Wut der Bestie noch verstärkten. Der Keiler stürmte vorwärts, die Erde erbebte abermals.
Mit voller Wucht traf der Keiler sein Pferd. Bertrands Welt drehte sich mehrmals, als er aus dem Sattel geschleudert wurde. Mühsam rappelte er sich auf, und sah noch, wie sein Pferd bockend und aus der Flanke blutend davon stob. Am Sattel hing der Köcher mit seinen restlichen Pfeilen. Bertrand warf den nutzlosen Bogen zur Seite und zog den langen Dolch, seine letzte Verteidigung. Der Keile stürmte wieder auf ihn zu. Lady Levaliere tauchte plötzlich auf und jagte dem Wildschwein in vollem Galopp entgegen. Das Metall blitzte in der Sonne, als das junge Mündel des Herzogs ihren Spieß mit voller Kraft in die Seite der Bestie warf.
Der Angriff zeigte Wirkung. Der Keiler unterbrach seinen Ansturm, und rannte, vor Wut und Schmerz quiekend hinter der Stute von Lady Levaliere hinterher.
Bertrand vergas all seine Bedenken und rannte aus Leibeskräften brüllen auf den Keiler zu. Eher würde er sein eigenes Leben opfern, als zuzulassen, dass der Lady etwas geschah.
Erst, als der Keiler seine Verfolgung stoppte, und sich wieder in seine Richtung in Bewegung setzte, erkannte Bertrand die Tragweite seines Handelns. Aber da war es schon zu spät.
Sein letztes Gebet an die Herrin zum See betend, bereitete sich Bertrand auf sein unweigerliches Ableben vor. Einzig der Gedanke, der jungen Lady Levaliere Zeit zur Flucht verschafft zu haben, bereitete ihm einen Grund zur Freude.
Die Bestie war nur noch wenige Schritte vor ihm, Bertrand konnte schon ihren typischen Geruch von nassem Fell wahrnehmen, als sich die Lage wieder zu seinen Gunsten wendete.
Etwas sauste an seinem Ohr vorbei und traf den Keiler mit voller Kraft. Es war ein Wurfspieß, in einem perfekten Wurf abgefeuert. Die metallene Spitze bohrte sich tief in das linke Auge des Keilers. Derart getroffen, brüllte die Bestie vor Schmerzen laut auf, sodass sich Bertrand die Ohren zuhalten musste. Ein Schemen drängte sich an Bertrand vorbei. Ein Reiter in vollem Galopp mit gezogener Klinge der in vollem Tempo auf die tobende, bockende Bestie zuritt, die versuchte sich des in ihrem Kopf steckenden Spießes zu entledigen.
Der Keiler obwohl halb geblendet und von Schmerzen geplagt, warf sich seinem neuen Angreifer entgegen. Das Wildschwein warf seinen massigen Kopf hoch, die gewaltigen Eckzähne blitzten auf. Bertrand schrie voller Entsetzen auf, als der Angriff der Bestie, das Pferd zu Boden warf.
Doch der Reiter sprang behände aus dem Sattel und landete sich auf seinen Beinen, bevor das Gewicht seines Pferdes sein Bein zerquetschte.
Der Reiter zog sein Schwert hoch, um der Attacke der Bestie zu begegnen. Das Pferd, das wieder hochkam, stob zur Seite davon.
Bertrand hielt den Atem an, als er sah, wie der nun unberittene Reiter, der gereizten Bestie nur mit seinem Schwert Paroli bieten wollte. Kein Mann konnte diese mutige Tat überleben, da war sich Bertrand sicher.
Doch dieser Mann tat es. Und wie!
Es schien, als würde er mit der Bestie tanzen. Jeder Angriff wurde behände gekontert. Die Klinge des Reiters bestrafte jeden Vorstoß der Bestie mit einem blitzenden Hieb über die Flanken. Es waren leichte Treffer, doch sie zeigten auf die Dauer Wirkung. Aus zahlreichen Schnitten an der Flanke blutete die Bestie schon. Sichtlich frustriert darüber, dass jede ihre Attacken mit einem weiteren Treffer belohnt wurde, hob sie ihren massigen Schädel und brüllte. Es war so furchteinflößend und gewaltig, wie ein Herbstgewitter.
Der Reiter lächelte und ging einen Schritt zurück. Es sollte sich als Fehler erweisen, da er über eine Wurzel stolperte und zu Boden fiel.
Die Bestie von Crecy sah ihre Chance. Ihre letzte, fruchtlose Attacke, hatte sie weit fortgetragen, ein weiterer blutender Schnitt an ihrer Flanke. Nun stürmte sie mit vollem Tempo und ihr gesamten Wucht auf den Gestrauchelten ein. Sie würde den Reiter zweifellos unter ihren Hufen zertrampeln.
Bertrand sprang vorwärts, stellte sich zwischen den Reiter, und die anstürmende Bestie. Den Dolch vor sich haltend, das Unabänderliche vor Augen.
Eine Lanze bohrte sich in die Flanke des Keilers. Lackiertes Hartholz barst, doch die Waffe drang tiefer und tiefer. Die Bestie gab ein letztes Quieken von sich, ein ersterbender Schrei, der die Luft erfüllte, dann verschied die Bestie von Crecy.
Atemlos sah Bertrand ihren Retter hoch zu Ross an und erkannte ihn wieder. Es war der Ritter, der ihm schon auf dem Schlachtfeld vor dem sicheren Tod gerettet hatte: Jerome de Montfort, Schwerträger des Herzogs.
Hinter dem Ritter konnte Bertrand Lady Marie Levaliere erkennen, die ihm zulächelte. Sie hielt die Zügel von Bertrands Hengst.
Jerome de Montfort stieg von seinem Schlachtross.
Eilig fiel Bertrand auf seine Knie. „Ich danke Euch, Herr“, hauchte er ehrfürchtig. Jerome de Montfort ging an ihm vorbei und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Dann half der Ritter dem Gestrauchelten auf die Beine.
Der Gestrauchelte, ein Mann von Mitte Zwanzig beugte sich zu Bertrand vor und flüsterte ihm freundlich ins Ohr.
„Er meint damit, dass ihr Euch wieder erheben dürft.“ Bertrand nickte und erhob sich.
„Ich danke auch Euch, Herr, für die Hilfe.“
Sein Gegenüber lächelte. Er war ein ansehnlicher Mann, dessen Lächeln einem sofort für ihn einnahm. Schlank, hochgewachsen mit hellbraunem, halblangen Haar, und grünen Augen, verriet jeder Zoll an ihm seine adelige Abstammung, die jedoch keinerlei Spur von der für Vertreter seines Standes typischen Hochnäsigkeit zeigte.
„Ihr müsst Euch nicht bei Sir Berrick bedanken“, warf Lady Levaliere lachend ein. „Immerhin war er es, der am Ende eures Schutzes bedurfte.“
Sir Berrick drehte sich zu der Lady um und warf sich in gespieltem Schmerz die Hände an die Brust. „Ihr kränkt mich, holde Lady. Hatte ich doch die Bestie genau da, wo ich sie haben wollte.“
„Sagt mir, kühner Jägersmann, erledigt ihr eure Beute immer mit dem Rücken zum Boden?“, neckte ihn Marie Levaliere.
„Ausschließlich“, erwiderte Sir Berrick ebenso zweideutig und half ihr aus dem Sattel. Bertrand eilte pflichtschuldig hinzu und nahm die Zügel der Pferde an sich. Ein leichter Anflug der Eifersucht befiel ihn, als er sah, wie Sir Berrick die Lady an den Hüften hielt, als er ihr vom Sattel half. Doch er währte nicht lang, da sich Lady Levaliere sofort aus dem Griff des Ritters löste.
„Mein guter Freund, bedenkt, dass es auch Beute gibt, die für einen zu groß ist“, sagte sie schmunzelnd.
„Oder vergeben“, erwiderte Sir Berrick zwinkernd und sah zu Jerome de Montfort, der soeben seine Lanze aus dem Fleisch der toten Bestie löste.
Lady Levaliere lächelte vielsagend und schlenderte dann zu Jerome de Montfort. Sir Berrick sah ihr nach, und wandte sich dann Bertrand zu.
„Euer Name ist Bertrand, oder?“
„Jawohl , Herr“, erwiderte Bertrand. Wieder war es eine freundliche Frage, die ehrliches Interesse zeigte, keine bloße Floskel, die einzig aus höfischem Benehmen entsprang.
„Würde es Euch stören, mir zu helfen, mein Pferd einzufangen. Bedauerlicherweise hat es weniger Mut gezeigt, als ihr, und Fersengeld gegeben.“
Bertrand nickte, und bestieg sein Pferd. Sir Berrick rief Jerome de Montfort zu, dass er sein Tier nehmen würde. Für einen Moment beobachtete Bertrand das edle Tier. Ein starker Renner, dessen Vorzüge gegenüber seinem einfachen Gaul, der mehr zum Pflügen denn zu Reiten geeignet war, umso mehr deutlich zutage traten. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach Sir Berricks Pferd. Dabei fiel Bertrands Blick auf die Hügel und er sah, dass die beiden Reiter verschwunden waren. Und er fragte sich, warum sie ihm und der Lady Levaliere nicht zu Hilfe geeilt waren.
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