2.13 Maries Entdeckung
Der Morgen graute und mit ihm war der Abschied gekommen. Bertrand stand unschlüssig da und blickte in ihre Richtung. Melisande war ebenso zögernd, das sah er. Sie wippte ihren schlanken Körper hin und her und kaute gleichzeitig an ihrer Unterlippe.
Die letzten Überreste der Schlacht waren bereits auf Karren von den Leibeigenen hinausgeschafft worden. Die Leichen der Goblins brannten auf den Scheiterhaufen vor den Toren. Dicke, schwarze Rauchsäulen schraubten sich in den Himmel und der Gestank von verbranntem Fleisch drang in die jedermanns Nasen. Aber es war nicht dieser Gestank, der Bertrand in diesem Moment beschäftigte.
„Macht es schnell“, hatte Sir Jerome gesagt, doch Bertrand war sich nicht sicher, wie er es denn machen sollte. Und so standen sie nun beide da, scheu und zögernd. Nichts verdeutlichte dies mehr, als die wenigen Schritte, die zwischen ihnen lagen. Es war Melisande, die den ersten Schritt machte. Und den Zweiten und Dritten, bis sie ihm schließlich in die Arme fiel.
„Geh nicht“, hauchte sie, während sich ihr Kopf an seinen schmiegte.
Bertrand umarmte sie und versuchte gleichzeitig seinen Gefühlen Herr zu werden.
„Ich muss“, sagte er schließlich und streichelte ihr sanft über das lange Haar. Sie umarmten sich, und für diesen einen Moment war die restliche Welt verschwunden.
Bertrand spürte, wie sie einen weichen Gegenstand in seine Hand drückte.
„Ein Geschenk, zur Erinnerung“, flüsterte sie scheu. Es war ein Tuch, ähnlich denen feiner Damen, nur aus weniger wertvollem Textil gefertigt. Er hielt es fest in der Hand, während sie sich voneinander lösten.
„Ich komme wieder“, brachte er schließlich über seine Lippen, bevor ihm Tränen in die Augen traten und seine Stimme brach.
„Ich weiß“, erwiderte sie und konnte ihre Tränen nicht halten. Bertrand nahm das Tuch und trocknete ihre Augen damit.
Zum Dank küsste Melisande ihm auf die Wange. Zu viele Andere waren anwesend, als das sie eine andere Form des Abschieds wählen konnten. Melisande rückte seine Kettenhaube zurecht und setzte ihm schließlich den Helm auf. Sie lächelte tapfer, aber Bertrand sah, dass es nur eine Fassade war, während Stürme in ihrem Herzen tobten. Schweren Herzens ging er zu Hirondelle und schwang sich in den Sattel. Melisande stand da, die Arme um ihren Leib geschwungen, hinter ihr ragte der schwarze Turm der Duries auf.
Dann gab Jerome seinem Hengst Tourbillon die Sporen und ritt als Erster hinaus. Reynald le Durie folgte, und Bertrand warf Melisande einen letzten Blick zu, bevor er sich anschloss. Es ging hinaus aus der Befestigung, die Feuer brannten immer noch und Leibeigene, die sich wegen des Gestankes Tücher vor ihr Gesicht gebunden hatten, unterbrachen ihre Arbeit und sahen den drei Reitern nach. Bertrand nahm Melisandes Tuch und stopfte es unter seinen Wappenrock, sodass es auf seinem Herzen lag.
Das zügige Tempo brachte sie weg von den Scheiterhaufen und damit auch glücklicherweise außerhalb dessen Gestanks. Doch dann erreichten sie das Dorf. Der Rest der Dorfbewohner, war gerade damit beschäftigt die verbliebenen Überreste aus den niedergebrannten Häusern und Ställen zu bergen. Es waren herzergreifende Szenen, die sich ihnen boten, doch Bertrand war zu sehr mit seinem eigenen Trennungsschmerz beschäftigt, als dass er seine Umgebung eingehend wahrnehmen konnte. Unzählige Augenpaare verfolgten die Reiter, als diese den Weg zum Ausgang des Tales einschlugen und die trostlose Szenerie hinter sich ließen. Und manch Einer wünschte sich an deren Stelle, im Angesicht eines nahenden Winters und einer geraubten und gebrandschatzten Lebensgrundlage.
Die niedergedrückte Stimmung verließ die drei Reiter erst, als sie wieder die Straße nach Vingtiennes erreichten. Erst da bemerkte Bertrand, dass an Reynalds Hüfte Durendal hing, das Schwert seines Vaters. Doch er behielt seine Gedanken für sich. Doch offensichtlich war es ein schlechtes Omen und Bertrand betete zur Herrin, dass sie auf Melisande herablächeln mögen, und den Bewohners des Tales eine rosige Zukunft bescheren würde. Er beabsichtigte nicht sein Versprechen einzuhalten, nur um die Bewohner des Tales dann beerdigen zu müssen, da sie nicht über den Winter gekommen waren. Aber wenn selbst der Baron seinen kostbarsten Besitz an seinen Sohn weitergab, welche Chancen hatte dann ein einfacher Bauer, dessen Haus und Vorräte von den Goblins verbrannt worden waren?
In düstere Gedanken gehüllt ritt Bertrand weiter, immer im Kielwasser der beiden Ritter, wie es sich für einen niedrig geborenen Knappen geziemte.
***
Marie wanderte die Gänge des Wohngebäudes entlang. Sie war auf der Suche nach jemandem und ihr feiner, türkisfarbener Mantel blähte sich auf, da sie mehr rannte, denn ging. Ihre ehemalige Amme hätte bei diesem Anblick wahrscheinlich missbilligend den Kopf geschüttelt, da sich ein solch hastiges Eilen für eine Frau ihres Standes nicht geziemte. Aber in diesem Moment kümmerte sich Marie nicht darum, was Andere vielleicht von ihr halten würden.
Sie fand ihr Ziel schließlich als sie die große Wendeltreppe hinunterging, die in den Hauptsaal führte. Die breiten Steinstufen schmiegten sich an die Wölbung eines Rundturmes, weshalb Marie nicht den gesamten Saal einsehen konnte. Der große Kamin lag außerhalb ihrer Sichtweite, nur ein leuchtender Schein verriet ihr, dass bereits ein Feuer in dem Kamin angefacht war. Das Mündel eilte die Stufen hinab, als Gelächter den Saal erfüllte, und eine vertraute Stimme erklang, die von dem lieblichen Spiel einer Harfe begleitet wurde.
Und die Stufen, während sie eine Gruppe junger Adeliger beiderlei Geschlechts erblickte, die allesamt in ihrem eigenen Alter waren. Im Schein des lodernden Kaminfeuers stand der Narr Blondel mit seiner Harfe in der Hand, deren Saiten er kundig anschlug und neue Akkorde anstimmte. Über ihm breitete der ausgestopfte Lindwurm bedrohlich seine Schwingen aus, doch keiner der Anwesenden zeigte sich davon beeindruckt.
Ein neuer Akkord erklang. „Und dann zog der Ritter sein Schwert und stellte sich mutig der Bestie“, Blondels geübte Stimme trug mühelos durch den Saal. Der Narr nahm seine Harfe, als wäre das zerbrechliche Instrument ein stählernes Schwert und drehte sich dem ausgestopften Kopf des Lindwurms.
„Hinfort Bestie“, rief er und erntete Gelächter.
„Versucht es doch damit, Blondel“, johlte einer der jungen Ritter. Er zog sein Schwert und warf es dem Narren zu.
Blondel fing es ungeschickt, schrie auf, und ließ die stählerne Klinge klirrend zu Boden fallen.
„Au! Mein Finger, ich habe mich geschnitten“, jammerte der Narr und steckte sich den blutenden Finger in den Mund um an der Wunde zu saugen.
Der Narr erntete von allen Seiten Spott und Hohn für diese Bemerkung.
„Ihr seid mir ein schöner Bestientöter“, spottet der Ritter, der sein Schwert aufhob und einsteckte.
„Oh, jetzt habt Ihr uns um das Ende der Ballade gebracht“, tadelte ihn eines der Burgfräulein. Die Gesellschaft zerstreute sich, nur der Narr blieb mutterseelenallein zurück. Marie, die das Ganze am Ende der Treppe beobachtet hatte, trat an den Kamin.
„Ist es eine tiefe Wunde?“, erkundigte sie sich einfühlsam.
Bei ihrem Anblick huschte ein Lächeln über das Gesicht des Narren. Er nahm sofort schuldbewusst den Finger aus dem Mund.
„Nur ein Kratzer, Milady“, beschwichtigte er.
Marie ging zu dem Narren und nahm dessen Hand in ihre eigene. „Ich beneide Euch nicht, Blondel. Ständig das Objekt des Spottes zu sein.“
Behutsam löste sich der Narr aus dem Griff Maries. „Die Herrin ist gnädig. Sie gibt und nimmt gleichermaßen. Mir ist es gegeben zur Belustigung zu dienen. Und zugleich darf ein Narr sagen, was ein Anderer verschweigen muss.“
Marie lächelte ihn an. „Dann sagt mir, privilegierter Narr, was würdet Ihr über Sir Claude de Sanguine berichten?“
Das Lächeln Blondels erstarb bei diesen Worten. Er nahm Marie am Arm und zog sie zur Seite.
„Milady, ich bitte Euch. Wollt Ihr wirklich diesen Pfad einschlagen?“
Maries Miene wurde ernst. Sie sah den Narren entschlossen an. „Ich habe es mir gründlich überlegt. Und ich bin es leid, immer nur vor Rätseln zu stehen.“
Eine Weile sagte Blondel nichts. Er erforschte nur Maries Gesicht, als könnte er dadurch etwas erfahren, dass Marie ihm nicht mitgeteilt hatte.
„Gut“, sagte er schließlich. „Wenn es Euch nach Antworten verlangt, dann sollt Ihr sie bekommen. Wir treffen uns zwei Stunden nach Sonnenuntergang im Rosengarten. Und nehmt einen unscheinbaren Mantel mit Kapuze mit.“ Er verbeugte sich, wobei eine Hand an seinem Herzen ruhte und verließ den Saal.
Marie blickte dem Hofnarren in seinem bunten Kostüm nach, bis dieser in einer Türe verschwand.
„Bahnt sich da eine neue Romanze an?“, fragte eine Stimme hinter ihr. Beim Klang der vertrauen Stimme wirbelte Marie herum, wobei ihr Rock sich aufwallte.
„Yves“, schrie sie erfreut und fiel diesem in die Arme. Yves hob sie mühelos hoch und drehte sie um die eigene Achse. Dann zerzauste er ihr Haar.
„Bist du vielleicht neidisch auf einen Narren?“, neckte sie ihn.
„Ach wo denn“, erwiderte er und warf sich in eine prahlerische Pose. „In ganz Bretonia gibt es keinen so stattlichen Mann wie mich.“
Marie lachte als Antwort, und Yves fiel in ihr helles Lachen ein. Er bot ihr seinen Arm an und bereitwillig hakte sie sich ein. Gemeinsam verließen sie den großen Saal. Yves Leguerrand war ein entfernter Vetter, ein Jugendfreund mit dem sie ihre Kindheit am Stammsitz ihrer Familie in Hochpointe verbracht hatte. Er war am Hof ihres Vaters geblieben und diente als dessen treuer Gefolgsmann. Eine Weile dachte sie an diese glücklichen Kindheitserinnerungen, als sie gemeinsam aufwuchsen und Verstecken oder „der Ritter, die holde Jungfrau, und die Bestie“ spielten. Manchmal war Yves sogar bereit gewesen, Marie die Rolle des Ritters zu überlassen. Die Zeit des Abschiedes von ihrer geliebten Heimat war ihr auch so schwer gefallen, da sie mit Yves ihren besten Freund verlor. Doch dann war Jerome in ihr Leben getreten und ihre gemeinsame Liebe füllte die entstandene Lücke.
Es war schön, ihren Freund zu sehen, der sich zu einem stattlichen jungen Mann entwickelt hatte. Yves besaß feuerrote Haare und einige der Sommersprossen in seinem hellhäutigen Gesicht waren noch nicht ganz gewichen. Aber unverkennbar war seitdem eine große Menge Wasser die Gletscherflüsse des Grauen Gebirges hinuntergeflossen, denn Yves überragte sie inzwischen um einen ganzen Kopf. Dennoch strahlten seine grünen Augen immer noch denselben Elan aus, wie der Sechsjährige, der mit ihr gemeinsam Kuchen aus der Küche entwendet hatte.
Doch trotz dem Schwelgen in ihren Kindheitserinnerungen fragte Marie sich auch, weshalb Yves hier in Montfort war. Ihr Vater musste gewichtige Gründe gehabt haben, um jemanden bei dieser Witterung den Axtschartenpass hinab zu schicken. Und sie sollte Recht behalten, denn Yves führte sie in einen Erker, von dem sie in den Rosengarten blicken konnten. Marie kam der Ort bekannt vor. Und tatsächlich erinnerte sie sich daran, dass es dieser Erker gewesen war, wo ihr Meister Rainheim vor wenigen Tagen berichtet hatte, warum ihr geliebter Jerome fortgegangen war.
„Warum schickt dich mein Vater?“, begann sie unverblümt.
Falls Yves über diesen plötzlichen Wechsel erstaunt war, ließ er es sich nicht anmerken. Er zog nicht einmal seine Augenbraue hoch, wie er es früher immer getan hatte, wenn er sie tadeln wollte.
„Keine Ablenkung? Kein höfliches Geplauder über das Wetter? Es ist abscheulich, danke der Nachfrage. Ich dachte, ich würde als Eiszapfen in Montfort ankommen.“ Marie lächelte als Antwort, doch sie sah Yves darauf ernst an.
Yves seufzte. „Also gut, Prinzessin“, sagte er und Marie lächelte erneut, als er ihren Kosenamen aus vergangenen Kindheitstagen verwendete. „Dein Vater schickt mich, aber bei deinem hellen Köpfchen ist dir das sicher schon bei meinem Eintreffen klar gewesen. Er hat von den Vorfällen gehört und macht sich Sorgen.“
Marie schnaubte. „Da ist mein Vater nicht der Einzige.“ Sie sah Yves an, der sie bei dieser Reaktion seltsam ansah und seine Augenbraue erneut hochzog. „Fahr fort“, sagte sie.
„Dein Vater, der Graf von Hochpointe schickt mich als deinen Beschützer, nachdem ihm der Vorfall zu Ohren gekommen ist.“
„Hat er auch gehört, dass Claude de Sanguine um meine Hand angehalten hat?“, wollte Marie wissen und konnte es nicht verhindern, dass Abscheu in ihrer Stimme mitschwang.
Yves nickte. „Keine Sorge, er denkt in dieser Frage genauso wie du. Er lehnt eine Verbindung mit den Sanguines ab. “
„Er ist also damit einverstanden, dass ich Jerome de Montfort heiraten werde?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Yves zuckte mit den Schultern. In ihrer gemeinsamen Vergangenheit hatten sie öfters Liebespaar gespielt. Doch es war nie über das Spiel hinausgegangen. Sie sah in Yves ihren Jugendfreund, einen Vertrauten. Und vor einem Jahr hatte Yves einer jungen Adeligen die Hand zum Bund fürs Leben gereicht. Es war eine schöne Zeremonie gewesen, und Marie hatte gehört, dass Yves Gemahlin in guter Hoffnung war. Es sprach auch Bände, dass ihr Vater gerade jetzt Yves auf diese Reise schickte, wo seine Frau schwanger war. Und es beunruhigte Marie, war es doch ein Zeichen von äußerster Dringlichkeit.
„Ich kann nicht in den Kopf meines Lehensherren, dem Grafen von Hochpointe sehen“, entgegnete Yves. „Es gibt in diesem Herzogtum mehr als Sanguine und Montfort. Es gibt auch Levaliere. Und du bist sein einziges Kind, die Erbin von Hochpointe und den umliegenden Ländereien.“
„Es ist schön zu wissen, dass sich mein Vater um sein Erbe kümmert“, erwiderte sie verdrossen. Yves nahm sie in den Arm.
„Na, Prinzessin. Du weißt selbst, wie sehr dich dein Vater liebt. Aber es sind gefährliche Zeiten, und dein Vater ist das Oberhaupt einer mächtigen Familie. Und als Oberhaupt einer der vornehmsten Familie des Landes und einer Dynastie, die bis zu Gilles dem Einiger zurückgeht. Die Bürde und Verantwortung die damit einhergeht, brauche ich dir als seiner Tochter wohl nicht erklären.“
Marie wusste, was Yves meinte. Seit ihrer frühesten Kindheit war ihr eingeschärft worden, dass sie die Tochter eines einflussreichen Mannes war, des Grafen von Hochpointe. Und auch, dass sie in der langen Abstammung ihrer vornehmen Familie nur ein Glied in einer Kette war. Und der Fortbestand dieser Kette war das einzige Ziel, dem sich Alles unterordnen musste.
„Und was wünscht mein Vater? Wie lauten seine Anweisungen?“, fragte sie gehorsam.
Yves zögerte zuerst, er sah über seine Schulter, ob auch ja niemand in ihrer Nähe war. „In den letzten Wochen haben unsere Späher uns von Kolonnen berichtet, die den Weg über den Axtschartenpass nehmen.“
„Das ist doch nichts Neues. Der Sinn dieses Passes ist die Verbindung zwischen dem Imperium und unserem Königreich“, winkte Marie ab.
„Ja, doch dabei handelte es sich nicht um Handelskarawanen, sondern um Söldnereinheiten aus dem Imperium. Sogar Männer die mit Musketen bewaffnet sind“, sagte Yves verächtlich. Marie erinnerte sich daran, dass die Ritter Bretonias den Fernkampf verabscheuten. Nur die Leibeigenen, das gemeine Volk war es gestattet mit Bogen zu kämpfen, während die Edlen Lanze und Schwert bevorzugten. Doch Pulverwaffen waren im gesamten Königreich geächtet. „Dein hoher Vater denkt, dass diese Söldner im Auftrag der Sanguines unterwegs sind.“
„Aber wozu? Warum sollten sie jetzt fremdländische Söldner anheuern? Es macht keinen Sinn“, sagte Marie.
„Erinnere dich an den Sieg. Der Sieg am Axtschartenpass, an dessen Ausgang dein geliebter Jerome de Montfort einen nicht unerheblichen Anteil hatte.“
„Du meinst sicher den Sieg über die Grünhäute. Aber inwiefern, hat dies mit den Söldnern zu tun?“, fragte Marie.
„Yves lächelte, aber sein Lächeln war bitter. „Es war ein großer Sieg über die Orks. Aber gleichzeitig wurde damit auch die Gefahr durch die Grünhäute gebannt. Was soll die rivalisierenden Geschlechter Montforts nun einen? Besonders eine so ehrgeizige Familie wie die Sanguines. Ohne einen äußeren Feind laufen wir Gefahr, das alte Streitfragen wieder auf das Tableau gebracht werden.“
„Der Anspruch der Sanguines auf das Herzogtum“, vollendete Marie.
Die Sanguines waren, wie die Levalieres und ein gutes Dutzend anderer Familien im Herzogtum, ein altes Geschlecht. Nicht wenige im Herzogtum waren der Meinung, dass nicht die Montforts, sondern die Sanguines einen berechtigteren Anspruch auf den Herzogtitel hatten, da auch in ihren Adern das Blut des ersten Herzogs floss. Für Marie, wie auch für ihren Vater, war diese Argumentation Unsinn. Schließlich war der gegenwärtige Herzog Folcard ein direkter Nachkomme und trug sogar den Familiennamen Montfort. Doch der Ehrgeiz der Sanguines war durch diesen Umstand keineswegs gebremst, eher im Gegenteil sogar angestachelt.
In tiefen Gedanken versunken, brachte sie Yves zu den Gemächern des Herzogs, da er diesem Briefe und Nachrichten von ihrem Vater den Grafen von Hochpointe überbrachte. Sie verabschiedeten sich herzlich vor dem Tor und kümmerten sich nicht darum, was die beiden Wachen denken mochten. Dann entschwand Yves durch die Türe. Marie sah zu, wie sich das dunkle Holz hinter ihrem Jungendfreund schloss. Dann drehte sie sich um und eilte zu ihren eigenen Gemächern. Es galt noch viel vorzubereiten. Vor allem war sie aufgrund der neuen Erkenntnisse entschlossen, dem unverfrorenen Drang der Sanguines nach Macht etwas entgegen zu setzen. Sie betete zur Herrin, dass der Narr sie in diesem Fall nicht enttäuschen würde.
Als der Abend anbrach, nahm Marie den Mantel. Es war das einfachste Modell, welches sie in ihrer kostspieligen Garderobe besaß, aus dicker brauner Wolle gefertigt mit einer weiten Kapuze, die ihr Gesicht verbergen sollte. Blondel erwartete sie bereits am Rosengarten. Auch der Narr war nicht in seine übliche, auffällige Tracht gekleidet sondern in einen Mantel aus dunkelgrauer Wolle.
„Milady“, sagte Blondel und verbeugte sich leicht.
„Ich bin gekommen, wie Ihr es vorgeschlagen habt. Werdet Ihr mir jetzt die Auskunft geben?“, fragte Marie.
Blondel schüttelte den Kopf. „Folgt mir“, sagte er einfach und ging voraus.
Die Ausfallpforte war ein kleines Seitentor, welches in der hohen Außenmauer eingelassen war. Dennoch standen zwei Wachen davor, in ihre Mäntel, der Kälte wegen, eingehüllt.
„Halt, wer da?“, fragte die eine Wache, wobei ihre Hand den Speerschaft fester umklammerte. Marie sah wie der Mantel zur Seite glitt und darunter im Mondlicht die Metallglieder der Brigantine aufblitzte. Die zweite Wache hielt seinen Kollegen zurück.
„Es ist nur der Hofnarr“, beruhigte er ihn. „Blondel, wieder auf Streifzug in die Stadt unterwegs?“
Blondel nickte und wollte mit Marie im Schlepptaub bereits passieren, da packte ihn die zweite Wache am Ärmel. Marie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. War es zu Ende, bevor es noch richtig begonnen hatte?
„Nicht so schnell mein Freund. Du schuldest uns noch Wegzoll.“ Die andere Wache zog ihr Schwert mit einem Klirren aus seiner Scheide.
Blondel lächelte, dann nahm er das dargebotene Schwert und die beiden Fackeln, die an beiden Seiten der Ausfallpforte in Halterungen hingen.
„Wie ihr wünscht“, sagte der Hofnarr mit einem schelmischen Lächeln. Dann begann er mit den drei Gegenständen zu jonglieren und dabei ein Gedicht vorzutragen, das er in der Gegenwart der edlen Hofgesellschaft wohl nicht aufgesagt hätte. Zumindest trieb es Marie die Schamesröte ins Gesicht und sie war dankbar dafür, dass es von der weiten Kapuze verborgen war. Blondel beendete seine Darstellung und die beiden Wachen dankten ihm mit Applaus, Lachen und einem Schulterklopfer. Schließlich war es vorbei und Marie fand sich zu ihrer Erleichterung auf der anderen Seite der Mauer wieder. Unter ihnen leuchtete Jouinard und Blondel wählte ein scharfes Tempo, damit sie das Städtchen rasch erreichten.
Jouinard präsentierte sich für Marie in einem düsteren Bild. Es war, als würde die Stadt ahnen, welch geheimnisvolle Recherche Marie in ihre Mitte führte. Marie selbst fand, dass die Stadt zu dieser späten Stunde äußerst bedrohlich wirkte. Die Häuser warfen dunkle Schatten und Maries unruhiger Verstand malte sich allerlei Schrecken aus, die in diesen undurchsichtigen Schemen lauerten. Und der Gedanke, dass ihre Begleitung nur aus einem Hofnarren bestand, war ihr dabei kein allzu großer Trost.
Die Schenke, in welche Blondel sie führte, lag in einer abgelegenen Gasse, in der sich Rinnsale von zweifelhaften Flüssigkeiten und Unrat ansammelten, und die eher die Bezeichnung Gosse, denn Straße verdiente. Und auch die Gastwirtschaft war mehr eine üble Kaschemme, denn ein ehrbares Wirtshaus. Ein Schild in Form eines Wildschweins hing über der Türe deren halb abgeblätterte Inschrift man kaum noch erkennen konnte. Blondel schlug seine Kapuze hoch und hämmerte gegen die massive Eichentüre. Eine vergitterte Klappe öffnete sich in Augenhöhe und das grobschlächtige Gesicht eines Mannes erschien, von dem Marie zuerst glaubte, dass es sich dabei um einen Oger handelte. Erst beim zweien Hinsehen erkannte sie halbwegs menschliche Züge. Nachdem der Türsteher Blondel erkannt hatte, grunzte er, und sein Gesicht verschwand, nachdem sich die Klappe wieder schloss. Unmittelbar darauf hörte Marie, wie ein massiver Riegel zurückgeschoben wurde und sich schließlich die massive Tür öffnete. Blondel trat ein und Marie folgte ihm auf den Fuß. Der Geruch im inneren der Spelunke traf sie wie ein Vorschlaghammer. Zu viele Leiber, die sich zu lange nicht gewaschen hatten. Dazu war es rauchverhangen, als würde es sich hier um eine Räucherkammer handeln und seltsame, exotische Gerüche drangen ebenso an Maries Nase.
Die Spelunke war bis zum Bersten gefüllt und sie erkannte, dass es sich bei dn Besuchern hauptsächlich um Männer handelte. Die wenigen Personen ihres eigenen Geschlechts gingen sehr eindeutig einer Profession nach, die eine so freizügige Bekleidung verlangte, wie diese Frauen sie an den Tag legten. Marie war plötzlich sehr darauf bedacht, ihre Kapuze tief in ihr Gesicht zu ziehen und außerdem in der Nähe des Hofnarren zu bleiben. Blondel ging zielstrebig zu der großen Theke, die im Wesentlichen aus groben Holzstämmen bestand. Der Wirt dahinter sah dem menschlichen Oger zum Verwechseln ähnlich. Als ihm Blondel eine Frage stellte, hörte Marie, dass er wie sein Türsteher ebenfalls mit einem Grunzen antwortete. Offenbar besaß der Hofnarr die Gabe der Übersetzung von nichtmenschlichen Dialekten, den er nickte und führte Marie an den einzigen Tisch, der noch leer stand.
Wenig später erschien ein leichtbekleidetes Mädchen und Marie musste eine weitere ihrer eigenen Beobachtungen revidieren, da die Frauen in diesem Etablissement offenbar doch einen ehrbareren Beruf nachgingen, als ihre Kleidung vermuten ließ.
„Was wollt ihr Beiden?“, säuselte die Kellnerin.
„Bier“, antwortete Blondel und zog zwei Münzen aus seiner Tasche, die spielerisch über seine Finger gleiten ließ.
„Und für deinen jungen Begleiter?“, fragte die Kellnerin und schenkte Marie ein Lächeln.
Sie flirtet mit mir, ging Marie auf, und senkte ihren Kopf.
„Dasselbe“, antwortete Blondel und schickte die Kellnerin mit einem Klaps auf ihren Hintern fort. Er warf Marie einen erklärenden Blick zu, da ihn Marie unter anderen Umständen für diese Aktion wohl getadelt hätte. Aber in diesem rauen Umfeld schien es ihr ratsam, selbst nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen.
Blondel bestätigte ihren Beschluss, als er sich über den Tisch beugte, und ihr leise zuraunte: „Es wäre von Vorteil, wenn Ihr Euch nicht zu Erkennen gebt, Vergebt mir, aber es geht hier ruppiger zu, als es jemand von eurem Stand gewohnt ist.“
Marie nickte bloß. Die Kellnerin kam und brachte zwei Humpen, deren bernsteinfarbener, schaumiger Inhalt überschwappte, als sie sie abstellte.
Die Kellnerin schenkte Marie noch ein Lächeln, im Gegensatz zu Blondel, obwohl dieser ihr die Münzen übergab.
Marie kostete nicht von dem Getränk, doch Blondel nahm einen tiefen Zug.
„Ah“, schnalzte der Narr genüsslich mit der Zunge, als wäre es ein Genuss, den er sich seit Jahren zum ersten Mal wieder gönnte.
„Und das zweite ist dann für mich?“, fragte eine raue Stimme. Marie blickte ein wenig auf, und sah eine massige Gestalt vor dem Tisch stehen. Der Mann war breitschultrig, ein leichter Bauchansatz verdeckte seine muskulöse, stämmige Statur keineswegs. Sein kahlgeschorener Kopf, seine Blumenkohlohren, die plattgedrückte Nase und die hässliche Narbe in seiner linken Gesichtshälfte wiesen ihn als einen Mann aus, dessen Leben von Gewalt gekennzeichnet war. Der Narr erhob sich und begrüßte den Neuankömmling herzlich, wobei er ihm auf die Schulter schlug, dass es nur so krachte.
„Und wer ist dein Freund?“, fragte das Narbengesicht.
„Tolrik, das ist ein Freund“, erwiderte Blondel und bot dem Mann einen Sitzplatz an. Der Mann namens Tolrik setzte sich und Marie rückte ein Stück, damit Blondel neben ihr Platz nehmen konnte.
„Und dein Freund will …?“, fragte Tolrik und zeigte mit seiner plattgedrückten Nase in Maries Richtung.
„Sucht Antworten auf seine Fragen“, fügte Blondel vieldeutig hinzu.
„Aha“, nickte Tolrik und nahm einen Schluck von dem Bier. „Gibt es vielleicht auch einen Namen?“
Bevor Marie reden konnte, hielt Blondel sie am Arm zurück. Der Narr beugte sich vor und raunte Tolrik einen Namen zu. Marie war nahe genug, um ihn zu verstehen.
„Claude de Sanguine.“
Tolrik erbleichte sichtlich. „Ihr Götter, nein! Alles, nur das nicht.“ Er zitterte, als er den Holzbecher an seine Lippen führte. Marie dachte schon, es sei vorbei, doch Blondel beugte sich erneut vor.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben werde, an dem der große Tolrik wie ein kleines Mädchen beim bloßen Erwähnen eines Namens zittert.“
„Ich zittere wie ein Mädchen?!“, brüllte Tolrik aufbrausend und knallte den Becher mit einem lauten Krachen auf die grob gezimmerte Tischplatte, so dass das Bier nach allen Seiten spritzte. Alle Unterhaltungen in dem Raum erstarben augenblicklich und Marie spürte, dass sich die Blicke jedes Anwesenden auf Tolrik und sie konzentrierten. Doch offenbar war man in dieser Absteige solche Szenen gewohnt, den im nächsten Augenblick setzte der allgemeine Lärm wieder ein, und jeder ging seinen eigenen Angelegenheiten wieder nach.
Blondel nahm Tolrik am Arm und zog ihn sanft wieder hinab. „Sachte mein starker Freund. Wir wollen doch nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen.“ Tolrik folgte dem Rat des Narren und beruhigte sich.
„Gut“, sagte Blondel zufrieden. „Dann erzähl meinem Freund hier, wann du die hölzerne Hand kennen gelernt hast.“
Offenbar siegte sein Stolz über die Furcht, denn Tolrik begann wirklich zu reden. Aber zuerst nahm er noch einen langen Schluck Bier.
„Es war vor mehr als zehn Jahren. Ich war damals Landsknecht im Dienst eines Barons. Es war eine schöne Zeit. Ich war wesentlich jünger und besaß auch weniger Andenken an Schlachten, wie die Narbe hier.“ Dabei zeigte er auf sein Gesicht. „Wir waren gerade im Süden unterwegs. Ein Feldzug der uns von den Grenzgrafschaften immer weiter in fremde Gefilde führte. Die Herrin alleine weiß, was wir dort unten verloren hatten. Wenn es nach uns einfachen Soldaten gegangen wäre, dann wäre schon in Tilea Schluss gewesen. Tilea! Warmes Wetter, immer Sonne und feurige Mädchen. Was für ein Land, in dem für einen Mann, der mit seiner Klinge umzugehen weiß, sich stets ein Beutel mit klingender Münze finden lässt. Viele von uns wären gerne dort geblieben, doch unsere hohen Herren befahlen den Weitermarsch, und wenn ein Adeliger befiehlt muss ein einfacher Soldat parieren. Die Adeligen! Diesen seltsamen Ehrenkodex werde ich mein Leben lang nicht verstehen, und wenn mir Morr noch hundert Jahre schenken würde.“
„Morr findet dich zu hässlich, um dich in seine Hallen zu holen. Du würdest nur die anderen Toten erschrecken“, scherzte Blondel.
„Da hast du Recht“, lachte Tolrik rau und klopfte dabei auf den Tisch. „Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Unsere hochgeborenen Befehlshaber führten uns immer weiter in den Süden. Das waren noch Männer an meiner Seite! Auch die Ritter waren aus anderem Holz geschnitzt, als die heutigen Memmen, die glauben, dass das Halten einer Lanze und das Schwingen in den Sattel ohne auf der anderen Seite gleich wieder hinunter zu fallen, einem gleich zu einem Kämpen macht. Ich habe selten mit solch hartgesottenen Gesellen auf dem Schlachtfeld verbracht. Kein Feind war uns gewachsen und wir verjagten die Grünhäute, gleich ob es Goblins oder die großen Schwarzorks waren. Leider gab es nur wenig Beute in diesen lausigen Grenzgrafschaften. Sie sind wirklich nur ein müder Abklatsch unserer großen Herzogtümer.“
„Ich bin mir sicher, dass genug für dich und deine Kumpane abgefallen ist“, unterbrach ihn Blondel.
Tolrik warf ihm einen vielsagenden Blick zu, sagte jedoch auf die spöttische Bemerkung des Narren nichts. „Man sieht, dass du noch nie in den Düsterlanden warst. Eine wüste Landschaft, die zu weiten Teilen aus karstigem Fels, Geröll, toten Wüstenlandschaften und kargen Steppen besteht und von den wilden Grünhäuten bevölkert ist. Aber unsere Anführe stellten ihre Queste und Eide über unsere Bedenken. Und so kamen in die Lndstriche östlich von Arabia. Und gegen diese endlosen Wüsten nahmen sich die Düsterlande wie blühende Landschaften aus. Wir erreichten einen Fluss, dessen Wasser dazu führte, dass mehrere Pferde, nachdem sie davon getrunken hatten, durchgingen. Ein Anblick, der mich noch bis an das Ende meines Lebens verfolgen wird. Der Schaum vor ihren Mäulern, und wie sie bockten, nach allen Richtungen ausschlugen und wieherten, als würde man sie mit glühenden Eisenstangen quälen. So sehr es uns auch dürstete, wir verzichteten darauf, von solch verfluchtem Wasser zu trinken. Mit leeren Wasserschläuchen machten wir uns auf in Richtung der Ruinen, die am Horizont hinter den Sanddünen in den sonnenverbrannten Himmel aufragten. Unsere Kehlen waren verdörrt und wir schleppten uns mehr tot denn lebendig immer weiter, während die Sonne gnadenlos auf uns hinabglühte und die Wüste in einen Backofen verwandelte.
Schließlich erreichten wir die Ruinen. Ich habe der Herrin vom See und allen Göttern gedankt, als ich am Fuß der verfallenen Tempel Palmen und einen Teich mit kristallklarem Wasser erblickte. Nur wie es Verdurstende vermochten, mobilisierten wir unsere letzten Kraftreserven und stürmten unserer Rettung entgegen. Kein Met und Wein hat jemals so köstlich geschmeckt, wie das Wasser, das damals meine ausgetrocknete Kehle hinunter rannte. Nachdem wir uns gelabt hatten, schickte unser Anführer, ein Graf aus Carcassonne einen Erkundungstrupp in einen der Tempel. Zehn Männer wurden unter der Führung eines jungen Ritters losgeschickt, um die dunklen Kammern der nächsten Stufenpyramide zu betreten. Ich weiß noch, wie ich mit meinen Kameraden in meiner Umgebung darüber gescherzt hatte, welch Glück die ausgewählten Männer besaßen, dass sie nun auch Schatten und Kühle erhalten würden. Stunde um Stunde verging, und die Sonne senkte sich bereits im Osten herab.
Da, auf einmal, hörten wir ein seltsames Geräusch. Es war, als würde der Sand selbst vibrieren, ein Geräusch, wie ich es noch niemals gehört habe. Es war ein Heulen und zugleich wie der Ton eines Schlachthorns, das schlecht gestimmt ist. Es ging mir durch Mark und Bein und unversehend überfiel mich Furcht. Einer der Männer rief etwas und alle blickten in Richtung der Ruine. Auch ich, und so sah, dass die obersten Stufen der Pyramide in einem unheimlichen grünen Licht zu leuchten begannen. Das klagende Heulen wurde immer lauter, nur mit Mühe konnten wir unsere scheuenden Pferde bändigen. Wäre es an mir gelegen, ich wäre noch im selben Moment aufgebrochen. Ich habe gegen die verfluchten Anhänger des Chaos gekämpft, gegen die Dunkelelfen, Piraten und Grünhäute. Aber wie bekämpft man ein Heulen?“
„Was geschah mit den Männern?“, fragte Blondel an Maries Stelle.
„Der Graf aus Carcassonne befahl uns, die Waffen zu ergreifen. Wir gehorchten, doch manch einem konnte man ansehen, dass er nicht recht bei der Sache war. Ich muss gestehen, auch ich selbst wollte lieber meine Beine in die Hand nehmen, denn eine Linie bilden. Dann sahen wir Bewegung. Wir hörten Schreie, von denen ich nicht dachte, dass sie einer menschlichen Kehle entrinnen konnten. Zwei Männer kamen aus der Pyramide gerannt. Einer stützte den Anderen, dennoch rannten sie aus Leibeskräften. Ich war in nächster Nähe, als die Beiden auf unsere Linie trafen. Es war der junge Ritter, er hielt seinen Arm am Leib, besser gesagt, seinen Stumpf.
Ich nehme an, ihr wisst, wer der junge Ritter war. Eben jener Claude de Sanguine. Er und sein Gefährte waren die einzigen Überlebenden des Erkundungstrupp. Was mit dem Rest geschehen war, und auf welche Dinge sie getroffen waren, vermochten sie nicht zu sagen. Aber ihre schreckensbleichen Gesichter sprachen ohnehin Bände, dass nichts Gutes in diesen dunklen Tempeln hauste. Doch auch wir selbst sollten bald erfahren, worauf Claude und seine Mannen in den Tiefen der Pyramide getroffen waren. Das Heulen steigerte sich nur wenige Minuten später zu einem ohrenbetäubenden Kreischen und mir bluteten die Ohren, während sich gleichzeitig eine Lichtsäule aus diesem unheiligen grünen Licht von der Spitze in den Himmel erhob.
Und dann begann der Angriff. Sie kamen von allen Seiten. Sie strömten aus der Pyramide und von den anderen Tempeln, aus dunklen Eingängen und sogar aus der Erde selbst. Unzählige Scharen fielen über uns her. Bis dahin hatte ich die Geschichten über die verfluchten Länder des Südens als Ammenmärchen abgetan, mit denen man ungezogene Kinder zum Gehorsam brachte. Doch nun standen sie leibhaftig vor mir. Tote und Skelette in Fetzen von exotischen Kleidern und Rüstungen gekleidet. Ihre Augen strahlten dasselbe unheimliche Licht aus, ihre Waffen waren rostig. Doch obgleich sie Skelette waren und ihre Schwerter alt, waren sie furchterregende Gegner. Ich habe gesehen, wie diese klapprigen Knochenhaufen Männer und ganze Pferde in zwei Teile spalteten, mit ihren zerbrechlich wirkenden Klingen. Jede Ordnung ging auf unserer Seite verloren. Es war kein Rückzug, es war heillose Flucht bei der sich jedermann das nächstbeste Pferd ergriff um seine eigene Haut zu retten. Auch ich selbst ritt meinen Klepper fast zuschande, während hinter uns die Skelette klapperten, was wohl ihre Art von Siegschrei ist. Es war ein fast so schauriges Geräusch wie das Heulen. Von mehr als fünfhundert Mann, die in den Süden aufgebrochen waren, kehrten weniger als achtzig in die Grenzgrafschaften zurück. Erst hinter den Mauern der nächsten Stadt kamen wir zur Ruhe, doch selbst heute noch wache ich von Alpträumen geplagt schreiend auf. Es stimmt, was auf den Karten steht: Zum Land der Toten, meidet diesen Weg.“ Tolrik endete seine Erzählung und nahm einen langen Zug aus dem Bier. Sein Gesicht war ein Spiegelbild seiner schaurigen Erzählung.
Doch Blondel gab sich damit nicht zufrieden. „Erzähl, was du mir in der Taverne in Merceaux berichtet hast.“
Entsetzt schüttelte Tolrik den Kopf, der Schrecken war ihm ins Gesicht geschrieben. „Niemals! Ich war betrunken und wusste nicht, wo mir der Kopf steht. Du kannst dies nicht von mir verlangen“, zischte er.
„Erzähl es“, beharrte Blondel.
Tolrik gab sich geschlagen. Er suchte nach den richtigen Worten, und begann schließlich. „Wir ritten zwei Tage und Nächte, bis Claudes Wunde und die Ermüdung unserer Pferde uns zu einer Pause zwangen. Aus Furcht vor Verfolgern wagten wir es nicht einmal ein Feuer anzuzünden. Es war weit nach Mitternacht, als ich die Wache übernahm. In dieser Nacht hatte ich ohnehin nicht geschlafen, zu nah waren noch die schrecklichen Erlebnisse in der Ruinenstadt. Claude de Sanguine redete in seinem Fieberwahn. Es waren unverständliche Worte, die keinen Sinn ergaben, aber ihr Klang alleine drehte mir den Magen um. Eine Stunde war vergangen, als der Mond aufging. Es war Morrslieb und sein grünes Licht glich dem Leuchten der Pyramide. Auf einmal hörte Claude mit seinem Wimmern auf. Ich drehte mich um, und da lag er im vollen Mondschein. Ich glaubte kaum meinen Augen zu trauen, doch es schien, als würden ihm wieder Finger nachwachsen.“
„Mutation?“, fragte Marie entsetzt, wobei sie darauf achtete, dass sie mit tieferer Stimme sprach.
„Ja“, entgegnete Tolrik. Doch dann umwölkten Zweifel seine massige Stirn. „Doch am nächsten Morgen war ich mir nicht sicher, ob mir meine Augen nicht doch einen Streich gespielt hatten. Claude de Sanguines Hand steckte immer noch in seinem blutigen Verband und ich konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass seine Hand nachgewachsen war. Wahrscheinlich habe ich fantasiert, immerhin saß mir der Schrecken noch immer in den Knochen und ich hatte mehr als drei Tage nicht geschlafen. Mehrere Male glaubten einige von uns, wandelnde Skelette gesehen zu haben, die uns verfolgten, obwohl sich dies schlussendlich als Hirngespinst erwies. Und Morslieb ist trügerisch, allerlei Dinge geschehen, wenn er als Vollmond am nächtlichen Himmel erscheint. Einzig Claude de Sanguines Fieber war seit jener Nacht abgeklungen. Und in den Grenzgrafschaften fertigte ihm unser Schmied seine hölzerne Hand. Und wer sollte sich eine Prothese anlegen, wenn er wieder echte Finger besitzt?“
Tolrik erhob sich. „So, ich denke, ich habe mein Bier ausreichend bezahlt. Ich weiß nicht, Blondel, ob dein Freund mit dem Preis einverstanden ist, aber Worte waren als Währung ausgemacht und ich habe sie geliefert.“
Blondel stand ebenfalls auf und verabschiedete sich von seinem Bekannten. „Wohin führt dich dein Weg? Wieder nach Süden.“
„Ihr guten Götter, nein! Tilea ist das südlichste Gefilde, das ich heute noch anstrebe. Ich stehe im Sold des Grafen von Hochpointe. Mir ist ein Beutel klingender bretonischer Münzen allemal lieber, als alle vermeintlichen Reichtümer des Südens.“
Doch Marie hatte noch eine Frage, die sich ihr aufdrängte. „So sagt mir noch eines, guter Mann. Wer fertigte dem Seneschall seine Hand aus Holz?“
Tolrik sah hinab in ihr Gesicht, das noch immer von der Kapuze verdeckt war.
„Derselbe, der Claude de Sanguine in den Tempel begleitet hat. Der Mann, welcher sich nun Schmied des Herzogs nennt. Meister Gilbert.“