WHFB Questritter- Das Leben des Jerome de Montfort

Jerome scheint ja wirklich nicht der typisch engstirnige Ritter sein den man aus sovielen Geschichten kennt.
Sehr guter teil, am meisten die der Bevölkerung. Brot und Spiele wie es so schön heißt, nicht wahr?😀

Zu Marie, für mich war sie viel zu schnell bei der Sache. ZB. Ein paar nebensächliche Fragen wie "Wann wurdet ihr schmied? Wahrt ihr schon anfang an Schmied? Habt ihr nicht auch im Herr gedient?"
 
3.2 Rufmord

Es war tiefe Nacht, eine dunkle Wolkendecke verhüllte Mannslieb, sein Zwilling Morsleib wäre um diese Zeit ohnehin nicht zu sehen gewesen. Für die Person war dies ein weiterer Beweis der Gunst seiner Herren, die im Verborgenen lauerten. Und genau das Gleiche tat sie jetzt auch, als ein Lichtschein näher kam. Die Person zog sich schattengleich in einen Torbogen zurück, in luftiger Höhe verklemmte sie sich mit den Beinen, während die Wache ahnungslos ihr Versteck passierte. Lautlos landete die Person wieder auf dem steinernen Fußboden, jede Katze hätte dabei mehr Lärm verursacht als sie. Geschmeidig setzte die Person ihren Weg fort, in Gedanken bereits die nächsten Schritte planend. Einen Wehrgang huschte die beinahe unsichtbare Gestalt entlang, bis sie an den hohen Turm gelangte. Im obersten, überdachten Stockwerk war ein gedämpfter Schein, dessen Licht schwach in die dunkle Nacht hinaus leuchtete. Neben dem Kohlebecken würde sicher eine weitere Wache stehen. Obwohl es durchaus unwahrscheinlich war, dass jemand auf die vermessene Idee kam, dieses stark befestigte Bollwerk einzunehmen, ging deren Besitzer keinerlei Risiko ein. Diese Burg war so gut bewacht wie die inneren Königreiche Ulthuans. Hart gruben sich die Hände in die Steinmauer, suchten Halt in jeder noch so kleinen Ritze und Spalte und begann den gefährlichen Abstieg in völliger Dunkelheit. Ungerührt schlenderten Wachen über die Wehrgänge, der Ruf einer einsamen Eule war das einzige Geräusch, welches die Nacht erfüllte. Die Person erreichte schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wieder die Erde und schüttelte zuerst die Arme aus. Dies geschah mehr, um wieder Gefühl in die tauben Finger zu bekommen, denn aus Erschöpfung. Denn trotz der schier übermenschlichen Leistung war die Gestalt keineswegs ermattet.

Im Gegenteil, sie war gesegnet. Gesegnet von ihren Herren, die im Verborgenen lauerten. Ein kurzer Blick zur Orientierung, dann huschte die Person weiter. Just in dem Moment, als sie den großen Innenhof zur Hälfte überquert hatte, verzogen sich die Wolken. Der helle Mondschein fiel auf den weißen Sand. Die Person unterdrückte einen üblen Fluch auf ihren Lippen und schnellte rasch zur Seite. Hastig blickte sie umher und lauschte, ob Wachrufe und Sturmglocken ertönten, die ihre Entdeckung durch einen Posten vermeldeten. Doch die Gunst ihrer verborgenen Herren war auf ihrer Seite, denn die Wachen gingen ihrem eintönigen Dienst weiter, und nichts verriet, dass sie etwas aus ihrer Routine aufgeweckt hatte. Im Schatten der hohen Mauer verborgen eilte die Gestalt entlang. Ihr Ziel war nun nahe, sie konnte die Umrisse des Gebäudes bereits erspähen. Vor ihr ragte bereits der hohe Kamin auf, das charakteristische Zeichen der Schmiede.
Leise, und so unmerklich, dass die Mäuse, die in nur wenigen Schritten Entfernung über den Boden huschten, nichts bemerkten, betrat die Gestalt ihren Zielort. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit die im Inneren umso stärker war. Doch einem aufmerksamen Beobachter wäre vielleicht der sonderbare Umstand aufgefallen, dass es erst diese Person war, durch die sich die Dunkelheit innerhalb der Schmiede steigerte. Es schien, als würde die Schwärze von dieser Gestalt ausgehen, und dass war nicht abwegig, waren die Pläne der Gestalt doch so finster wie eine mondlose Nacht.

Im Schmiedeofen selbst glomm noch ein Überrest der Schlacke, ein schwaches rotes Glühen, welches zu den infernalischen Plänen der Person den passenden farblichen Hintergrund lieferte. Denn die Gestalt war ein Attentäter und im verblassenden Schein der Feuerstelle glühten ihre Augen wie die eines nachtaktiven Raubtieres, als es seine Beute erspähte. Ein infernalisches Grinsen trat auf sein Gesicht, entblößte Eckzähne, und ein gezackter Ritualdolch wurde lautlos unter dem schwarzen Umhang hervorgeholt. Der Attentäter trat näher und augenblicklich erlosch die letzte Glut, als würde sein bösartiger Plan dem Licht sämtliche Energie entziehen. Der Attentäter hielt kurz inne, formulierte still ein Dankgebet an seine dunklen Herren. Dann hob er die Klinge und stieß auf sein Opfer nieder.

Meister Gilbert, der Schmied der Burg Montfort wachte von unsagbaren Schmerzen geweckt auf, als die gezackte Klinge in seine Brust fuhr. Eine harte, raue Hand presste sich auf seine Lippen und verhinderte, dass seine Schmerzensschreie gehört wurden. Gilbert war ein hochgewachsener, muskulöser Mann, der in seinen jungen Jahren Stiere mit bloßen Händen zu Boden geworfen waren. Die Jahre als Schmied, die Arbeit mit Stahl, hatte ihn keineswegs verweichlichen lassen. Im Gegenteil, das Schwingen des Hammers, das Formen glühenden Metalls stählte einem gleichermaßen, wie das Erz, welches man zu Rüstung und Schwert formte.

Aus Leibeskräften versuchte Gilbert hochzuschnellen, sich zu wehren, doch mit titanenhafter Kraft hielt ihn sein Gegner, der inzwischen auf ihm kauerte, nieder. Wieder und wieder schnellte der Dolch hoch, und fuhr in das Fleisch des Opfers nieder. Die Augen des Schmiedes weiteten sich in Entsetzen, als ihm sein unausweichliches Schicksal bewusst wurde. In einer letzten verzweifelten Bewegung gelang es ihm, seine Hände frei zu bekommen und er fasste damit an den Hals seines Gegners. Wie eine Würgeschlange aus den Südlanden drückte er zu, doch es war zu spät. Die Maske verrutschte und gab Gilbert den Blick auf seinen Mörder frei. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, doch ob es Wiederkennen seines Mörders war, oder der Anblick hemmungsloser Mordlust des Mörders, vermochte im Nachhinein niemand mehr zu sagen. Unbeeindruckt von dem Angriff hob der Attentäter seinen Dolch. Ein letzter Stich, schneller als ein Blitz, traf das Herz und beendete Gilberts Leben.

Der Attentäter richtete sich von dem Leichnam auf, dessen Kleidung und seine Decke inzwischen von Blut troffen. Er warf einen letzten Blick auf sein Opfer, das in unnatürlicher Haltung leblos am Boden lag. Ein erschrockenes Keuchen ließ ihn blitzschnell herumwirbeln. Ein Körper war halb aufgerichtet, eine Hand befand sich vor dem Mund, als könnte man damit den entwichenen Laut wieder zurück holen. Bedrohlich näherte sich der Attentäter dem Zeugen seiner Tat. Da besann sich diese Person ihrer Lage und begann laut und schrill um Hilfe zu rufen.

Es war eine Frau, jung sogar nach dem Klang ihrer Stimme, welche jedoch durch die emotionale Notlage verzerrt war, und so ihre Identifizierung für den Attentäter erschwerte. Auf jeden Fall war ihre Anwesenheit unvorhergesehen. Noch bevor er die Frau erreichen konnte, hörte der Attentäter das Geräusch sich nähernder Schritte. Bevor sie die Schmiede erreichten, fuhr der Attentäter herum und eilte aus der Schmiede. Die Frau schrie noch immer schrill von Entsetzen, als die Wachen eintrafen. Die gesamte Burg schien zu erwachen, aus vielen Fenstern und Schießscharten drang das Leuchten von rasch entzündeten Fackeln heraus. Die Rufe der Wachposten hallten über den Innenhof und der Attentäter wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, bis er in eine der Patrouillen laufen würde. Rasch eilte er zu der westlichen Mauer, die den großen Innenhof von dem kleinen Nebenhof abgrenzte. Seine dunklen Herren schien weiter auf ihn herabzulächeln, denn völlig unerwartet war der Torraum nicht besetzt. Doch schon hörte er sich nähernde Schritte, jemand kam das Treppenhaus hinab. Mit einer katzengleichen Geschmeidigkeit, die man einem Menschen eigentlich nicht zutraute, sprang die Gestalt hoch und hangelte sich an dem hölzernen Querbalken weiter hinauf. Er verharrte regungslos, während unten zwei Soldaten in Sicht kamen.

„Wache, Wache“, erklang der flehende Ruf, in dessen Klang auch die traurige Gewissheit mitschwang, dass man nur noch ein Mord aufklären, aber nicht mehr verhindern konnte. Die erste Wache eilte mit ihrer Hellebarde aus dem Tor.
Die Zweite, ein feister Kerl mit hochrotem Gesicht bemühte sich im Laufen seinen Schwertgurt zu schließen. Auch er verschwand in der Dunkelheit. Hoch über ihnen lächelte der Attentäter boshaft. Er würde nicht vergessen, seinen Herren ein Opfer für ihren Schutz darzubringen. Dann formten seine Hände eine komplizierte Geste, ein achtzackiger Stern. Es war noch ein weiter Weg in die Sicherheit, aber er war sich sicher, dass die Vier weiter auf ihn herablächeln würde. Von seinem Opfer, der Schmied Gilbert, konnte man das nicht sagen.
 
3.3 Fieber

„Das Fieber ist stärker geworden“, stellte Reynald le Durie niedergeschlagen fest. Er nahm seine Hand von der glühenden Stirn und legte das kühlende Tuch wieder darauf. Gleichwohl war es nur der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Der junge Ritter riss sich von dem betreffend machenden Anblick los und erhob sich. Hinter ihm ragte die hohe Gestalt von Jerome de Montfort auf, welcher seine Hände vor der Brust verschränkt hatte. Eine trotzige Geste, doch auch der ehemalige Schwertträger des Herzogs war machtlos gegen diese Bedrohung. Keiner von beiden war für die Behandlung von Kranken ausgebildet worden. Sie waren Ritter, geborene Kämpfe zum Schutz Bretonias gegen seine Feinde, doch Rüstung und Schwert eigneten sich nicht gegen Fieberschübe und Krankheiten.

Es war ein ungewöhnlich warmer Herbsttag und Jerome hatte ihr Lager an einer windgeschützten Stelle aufgeschlagen. Ein Feuer brannte und Bertrand lag in eine warme Decke eingewickelt, dennoch zitterte der junge Knappe am ganzen Körper. Reynald sah Jerome hilfesuchend an, doch beiden war bewusst, dass ihnen die Hände gebunden waren. Die nächste Stadt in der sie ärztliche Hilfe aufsuchen konnten, war Vingtiennes. Und nach den letzten Ereignissen war es mehr als unwahrscheinlich, dass diese ihnen dort gewährt wurde. Sie waren alles andere, als im Frieden von dem Marquis geschieden. Immerhin, und das war nur ein schwacher Trost, konnten sie noch Bertrands Ausrüstung mitnehmen, bevor sie aus der Stadt geritten waren. Hilfe kam von unerwarteter Seite. In einem der Dörfer hatte eine alte Frau, offenbar die Dorfhebamme, einige Kräuter für Bertrand zusammengestellt. Ein Tee brodelte gerade in dem Bottich über dem Feuer. Jerome stellte das Gefäß auf den Boden und füllte einen Becher voll mit dem heißen Getränk. Eine Dampfschwade stieg auf, als Reynald den Becher nahm und ihn vorsichtig an Bertrands Lippen führte.

„Er trinkt kaum“, meldete er enttäuscht.
„Es ist auch zu heiß, du verbrennst ihn noch“, erwiderte Jerome de Montfort. Derart gescholten unterließ es Reynald vorerst, Bertrand zu verbrühen. Doch selbst als die Hitze des Tees abgeklungen war, trank Bertrand nur wenig von dem Getränk.
„Er benötigt unbedingt einen Arzt“, meldete Reynald verzweifelt.

Jerome wies mit seiner Hand in einem Bogen auf die Landschaft. Der nahende Winter war bereits deutlich sichtbar, fast alle Bäume hatten ihre welken Blätter abgeworfen, der Boden war bedeckt mit roten und gelben Laub. Ein kleiner Bach schlängelte sich in weniger als einem Steinwurf Entfernung in das Tal hinab. Die Sonne war zwar bereits über ihren Zenit hinaus, aber es würden immer noch mehr als drei Stunden vergehen, bevor sie am Horizont verschwinden würde. Unter anderen Umständen wären sie noch weiter geritten. Aber Bertrands Zustand hatte sich deutlich, und so waren sie gezwungen, sofort Halt zu machen. Reyalds ursprüngliche Beschwerden waren rasch in Besorgnis umgeschlagen, als er den Zustand des jungen Knappen registrierte.
Alles, was sie jetzt noch machen konnten, war Bertrand möglichst viel von dem Kräutertee einzuflößen, und ihn warm zu halten. Und es gab noch etwas. Sie konnten die Herrin vom See bitten, gnädig auf Bertrand hinab zu schauen. Doch angesichts des bisherigen Verlaufs ihrer Reise war sich Jerome de Montfort nicht sicher, ob ihnen die Herrin vom See ihre Fürsorge auch gewährte. Denn schließlich gab es da noch das dunkle Geheimnis in seinem eigenen Leben, welches es ihm so schwer machte, zu glauben.


***

Bertrand sah vor sich die stacheligen schwarzen Gestalten wieder. Sie umkreisten ihn, höhnisch lachend, irgendwo im Hintergrund heulten die Wölfe. Seine Umgebung war in dunkelrotes Licht getaucht, das auf frappierende Weise an Blut erinnerte. Doch dieses Mal war Bertrand nicht mehr bereit zu weichen. Er erinnerte sich an Sir Haughey Anweisungen während des Schwertkampfunterrichts und nahm eine standfeste Position ein. Das rechte Bein ein wenig vor dem Linken, damit er seinen Feinden eine weniger große Angriffsfläche bot. Die schwarzen Schatten umkreisten ihn weiterhin und Bertrand zog sein Schwert. Der erste Angriff würde bald erfolgen, doch dieses Mal war er dafür bereit. Bertrand hielt die lange, stählerne Klinge vor sich wie einen Stachel. Der erste Schatten sprang ihn mit einem kehligen Knurren an, Bertrand fuhr herum und begegnete entschlossen dem Angriff. Der Stahl des Schwertes sang, als er die Attacke parierte. Bertrand zog seine Klinge zurück und antwortete mit einem Gegenschlag. Der Stahl blitzte im roten Licht auf, bevor das Schwert in einem raschen Aufwärtsbogen tief in den Gegner fuhr. Das Knurren erstarb wie sein Gegner, als sich der Schatten plötzlich in Luft auflöste. Zwei weitere Gestalten sprangen herbei und Bertrand fand sich in dem hektischen Bemühen wieder, die Angriffe abzuwehren. Hieb um Hieb prasselte auf ihn nieder, und Bertrand wich dementsprechend immer weiter zurück.

Es blieb ihm kaum Zeit sein Schwert wieder hochzuheben, da kam schon die nächste Attacke. Bertrad wusste, dass er sich schleunigst etwas einfallen lassen musste, sonst wäre es um ihn geschehen. Der nächste Angriff kam und Bertrand trat behände zur Seite, so dass sein Gegner ins Leere taumelte. Bertrand schlug dem Feind noch mit dem Schwertknauf zwischen die Schulterblätter um dessen Stolpern zu verstärken. Dann wirbelte er herum und sein Schwert fuhr nach einer Finte in die Seite des zweiten Angreifers. Bevor sich der erste Feind noch erholt hatte, stand Bertrand hinter ihm und hieb mit seinem Schwert auf dessen Rücken ein. Beide Gegner lösten sich in Luft auf. Ein einziger Schatten war noch übrig. Bertrand sammelte sich, sein Schwert in einer hohen Defensivposition und hob seine linke Hand.

„Komm her“, forderte er ihn auf, da sein Blut inzwischen in Wallung geraten war.
Sein Gegner ließ sich nicht zweimal bitten. Wie ein Raubvogel stürzte sich die stachelbewehrte Gestalt auf ihn. In seiner Hand formte sich aus dem Nichts eine gewaltige Streitaxt, mit welcher er Bertrand mit einer Serie von Hieben eindeckte. Bertrand bereute inzwischen seine Geste, und ging unter der Wucht eines Hiebes in die Knie. Die niedersausende Axt füllte sein gesamtes Blickfeld aus, mit der Erkenntnis eines Todgeweihten wurde ihm schlagartig sein Ende bewusst.
In einer verzweifelten Geste hob er sein Schwert zur Abwehr, sein linker Oberarm als Stütze der Schwertspitze. Der Einschlag raubte ihm den Atem, das eigene Schwert bohrte sich in das weiche Fleisch seines Armes, doch der Schmerz war auf jeden Fall ertragbarer, als ein vernichtender Hieb in seine Schulter. Bertrand hatte das Gefühl, als würde sein Feind mit dem Gewicht eines Berges auf ihn eindringen. Mühsam, und Stück für Stück richtete er sich langsam auf. Sein Feind zog die Axt zurück, wartete ab, was Bertrand unternahm.

Für einen Moment belauerten sich die Kontrahenten, schätzten ihren jeweiligen Gegner ab. Bertrand ergriff die Initiative. Er deckte seinen Feind mit einer Serie von Abwärtshieben ein. Langsam gewann er die Oberhand, doch die vorhergegangenen Kämpfe, sowie die blutende Wunde an seinem linken Oberarm erschöpften ihn zusehends. Es war wie in einer der Lehrstunden Sir Haugheys, seine Kräfte waren bald am Ende. Er musste jetzt den entscheidenden Treffer landen. Mit einem lauten Schrei sprang Bertrand vorwärts. Sein Schwert schwang von oben herab. Sein Gegner hob seine Axt quer nach oben, den eisernen Schaft seiner Axt vor dem Blatt und am Griff gehalten, um den Angriff zu parieren. Doch in Wirklichkeit war dies nur die Finte. Bertrands Attacke wurde nicht mit Stahl geführt. Entschlossen und mit ganzer verbliebener Kraft trat Bertrand gegen das Knie seines Feindes. Sein Gegner klappte zusammen, wie ein von Holzfällern abgesägter Baum. Die Axt fiel klirrend zur Seite, der Weg war frei. Bertrand ragte über den zu Boden gesackten Feind auf.

„Für Montfort“, sagte er und war sich selbst nicht bewusst, warum er ausgerechnet diesen Spruch gewählt hatte. Sein Schwert fuhr in einem hohen Bogen herum und köpfte den niederkauernden Schatten. Auch dieser löste sich nach dem finalen Streich auf. Bertrand blieb zurück, sein Atem keuchte und sein Arm blutete weiterhin massiv.

Die Umgebung veränderte sich, das dunkelrote, aggressive Licht wandelte sich in einen hellen, lieblichen Schein. Es war Bertrand, als würde er plötzlich einen überirdischen Gesang wahrnehmen, welcher beständig lauter wurde. Bertrand drehte sich um, und da stand sie. Er erkannte die Frau auf der Stelle wieder. Mit ihrem Erscheinen drang an Bertrands Nase der liebreizende Geruch von frischen Blumen und Honig. Ihr Anblick reichte, dass Bertrand Gänsehaut bekam.
„Gut gemacht, mein Kämpe“, sagte die Frau mit einer Stimme, die nicht von dieser Welt war.
Sie hob ihre Hand in einer zierlichen Geste und forderte Bertrand auf, näher zu kommen. Bertrand trat näher und der wohlige Geruch wurde stärker. Sanft berührte sie seinen Arm. Bertrand spürte ein Kribbeln auf der Haut. Er trauten seinen Augen nicht, als die tiefe Wunde wie durch Zauberhand verschwand. Ungläubig starrte er die Maid an.
„Wie, wie ist das möglich?“, fragte er verwundert.

Die Frau lächelte, in einem weißen Kleid aus schimmernder Seide die in ihre Korona aus Licht Bertrand beinnahe blendete.
„Du musst dich erinnern, Bertrand“, sagte die Frau. Ihr bezauberndes Lächeln war verschwunden, ein flehender Ausdruck lag nun auf ihrem wunderschönen Gesicht.
Dieser Anblick erfüllte Bertrand mit dem sehnlichen Wunsch, ihr dies auf der Stelle zu erfüllen.
„Woran? Woran soll ich mich erinnern?“, fragte er und blickte der Maid in ihrer überirdisch leuchtenden Augen.
„Erinnere dich“, wiederholte die Frau. Sie strich ihm sanft über das Gesicht, ihre Berührung auf seiner Haut durchströmte ihn mit Liebe und Wärme. Es erinnerte ihn an seine Mutter, die Das Licht wurde schwächer. Gleichsam mit dem Schein entschwand auch die Maid. Sie wich immer mehr zurück, ihr Arm war noch ausgestreckt, mit den Fingerspitzen berührte sie gerade noch Bertrands Wange.
„Erinnere dich, mein Kämpe“, sagte sie flehend, dann war sie verschwunden.

Bertrand erwachte. Rings um ihn herrschte tiefe Nacht. Das Feuer war bis auf einen Scheit heruntergebrannt. Mühsam erhob sich Bertrand von seinem Lager und streifte die Decke ab. Sein Körper war durchnässt von Schweiß und er fröstelte sofort, nachdem der wärmende Schutz der Decke von ihm gewichen war. Aber dieser Umstand kümmerte ihn in diesem Moment nicht. Auf wunderbare Weise war sein Fieber geschwunden, ebenso die Kopfschmerzen. Beinnahe lautlos ging Bertrand an dem schlafenden Jerome de Montfort, dessen gewaltige Gestalt in eine Decke gewickelt am Boden lag und schlief.

Reynald le Durie saß ebenfalls in seinen dicken Mantel gehüllt am Feuer. Offenbar war er während seiner Wache eingeschlafen. Bertrand lächelte bei diesem Anblick, am nächsten Morgen würde den hochnäsigen jungen Adeligen eine Standpauke erwarten. Bertrand trat zu den Pferden. Er ging direkt zu seinem Reittier. Hirondelle schnaubte freudig und rieb seinen massigen Kopf an Bertrands Schulter. Es war ein weitaus weniger edles Ross als die Reittiere der Ritter, doch nicht minder treu und anhänglich. Leise führte Bertrand sein Pferd von den beiden Hengsten fort. Ruhig ließ sich das Pferd Sattel und Zaumzeug auflegen. Bertrand warf einen letzten Blick auf das Lager. Er nahm seinen Bogen und den Gürtel samt Schwert.
So schwer es ihm fiel, aber in seinem Herzen brannte ein Auftrag. Seit seinem Erwachen war ihm seine Aufgabe bewusst. Die Maid in seinem Traum hatte ihm einen Auftrag gegeben. Er konnte es nicht erklären, aber aus einem unerfindlichen Grund wusste er, dass er an einen gewissen Ort gelangen musste. Langsam führte er sein Pferd aus dem Schein des Lagerfeuers in die Dunkelheit.

Nach Süden seinem Ziel entgegen.
 
Freut mich, dass es euch gefällt. Auch euere Kommentare zur Handlung ermutigen mich sehr. Jedes Mal, wenn ich einen neuen Teil hochlade, fällt mir (in aller Bescheidenheit 😉) auf, was für ein netter Text diese Geschichte doch geworden ist.

Ich glaube, die 3000-er Marke werde ich damit locker knacken. Vor allem, weil es noch etliche Seiten gibt, die noch nicht veröffentlicht worden sind. Derzeit (auf Seite 200 irgendwas) habe ich allerdings einen leichten Hänger 😱 - aber bis dahin ist/sind noch reichlich Zeit und Seiten
 
3.4 Oriflammè

„Die Fährte führt nach Süden“, rief Reynald le Durie schon von Weitem, als er herangeritten kam. Jerome nickte bloß schweigen, aber selbst diese bescheidene Geste führte dazu, dass der junge Ritter beschämt zu Boden blickte. Obwohl er sich nicht viel aus diesem einfachen Knappen, einem Bauernsohn machte, war es während seiner Wache gewesen, als Bertrand verschwunden war. Es war die Pflicht eines Ritters, seine Aufgaben wahrzunehmen, und in diesem Fall hatte Reynald auf ganzer Linie versagt. In aller Eile war das Lager abgebaut worden, nur um dann in möglichst schnellem Tempo die Verfolgung aufzunehmen. Bertrand hatte sich keinerlei Mühe gemacht seine Spur zu verbergen. Querfeldein ging es, eine fast gerade Linie die sich gen Süden erstreckte.
Ihre Schlachtrösser würden sicherlich bald den weitaus schwächeren Klepper Bertrands einholen, dachte Bertrand zuerst. Doch die Sonne zeigte bereits an, dass es Mittag war, und Bertrand war immer noch nicht in Sicht. Zwei weitere Stunden trieben sie ihre Pferde in scharfem Tempo an. Jerome gönnte ihnen keine Pause. Nur einmal tränkten sie die Pferde an einen kleinen Weiher, doch selbst dann blieben sie im Sattel.
Dann ging es weiter.

Langsam spürte Reynald nagenden Hunger, selbst ein Ritter war davor nicht gefeit. Und er merkte, wie seine steigende Wut langsam die Oberhand über seine Scham gewann. Gut, er war in seiner Wache eingenickt. Aber niemand hatte diesen Bertrand dazu gezwungen, einfach ohne ein Wort zu verschwinden. Wie kam dieser Bauernjunge auf eine derart abstruse Idee? Vielleicht war es der Fieberwahn, doch Reynald hielt es für wahrscheinlicher, dass Bertrand sie einfach im Stich gelassen hatte. Denn was wusste ein Gemeiner schon von Treue?
Die Landschaft veränderte sich. Die flachen Wiesen und Wäldchen gingen in eine wellige Hügellandschaft über. In der Ferne erhob sich eine Bergkette blau in den Himmel.
„Welche Berge sind das?“, fragte Reynald um die unangenehme Stille zu überwinden.
„Das Massif Orcal“, erwiderte Jerome de Montfort ungerührt.
Reynald erschauderte bei der Erwähnung dieses Namens. Er hatte von diesem Gebirgszug, der sich am Ostrand des Waldes von Chalon bis in die Herzogtümer Parravon, Quenelles und Bastonne erstreckte, schon gehört. Das Massif Orcal oder auch Orkmassiv war ein beständiger Dorn in den umliegenden Herzogtümern. Es war eine wilde, unwirtliche Gegend. Jeder Besiedelungsversuch seitens der sonst so genügsamen bretonischen Bauern war kolossal gescheitert. Das einzige Leben in dieser Kette waren die Grünhäute. Unter König Louis Orktöters Kreuzzügen war ihre Zahl massiv reduziert worden, dennoch blieb das Massiv weiterhin Grünhautland. Selbst die ehemals errichteten Wachtürme Festungen waren schon seit langer Zeit verlassen, als die Gefahr durch die Orks und Goblins abgeflaut war.
Angesichts der Aussicht in diese verrufene Gegend zu reiten, fühlte Reynald ein flaues Gefühl im Magen.

Als sie die Ausläufer des Orkmassivs erreichten, änderte sich das Landschaftsbild. Die Vegetation wurde spärlicher. Die wenigen Exemplare von Bäumen waren allesamt Kiefern und selbst diese wirkten kränklich. Lediglich das Moos am Boden schien reichlich zu sprießen, doch auch dies war ein Hinweis darauf wie dünn die Erdschicht über dem nackten Felsen hier war.
Die Fährte führte weiter in das Orkmassiv hinein. Reynald beschlich das ungute Gefühl, als würden sie von tausend Augen beobachtet, doch er konnte niemanden auf den kahlen Höhen und Berghängen ausmachen. Als würde es Jerome de Montfort auch spüren trieb er Tourbillon an und Reynald folgte ihm eilig, die Zügel des Packpferdes fest in seinen Händen.
Eine gute Viertelstunde ging es schweigend weiter, das einzige Geräusch waren das Klappern der Hufe ihrer Pferde, welche sich bemühten auf dem kargen Boden ausreichend Halt zu finden. Langsam stieg das Terrain an, als sie die Fährte weiter zwischen zwei hohen Hügeln hinein führte.
Nach einer weiteren Viertelstunde, ohne eine Spur von Bertrand, außer den Hufabdrücken seines Reittieres, ging der Pfad in eine sanfte Kurve, als ihr Weg zu dem Fuß des Hügels führte. Ihre Umgebung wurde noch zerklüfteter, blanke Gesteinsformationen unterschiedlicher Farbtönen waren zu sehen, wo sich ein lang versiegter Fluss seinen Weg durch den Fels gebahnt hatte. Jerome ritt an der Spitze, so dass Reynald die Sicht versperrt war. Mit jedem Schritt seines Hengstes Bèlemnite verstärkte sich das unangenehme Gefühl in seiner Magengrube.
„Wohin reiten wir?“, rief er schließlich, mehr um sein eigenes Unbehagen zu verdrängen. Jerome blieb still, die einzige Antwort kam von dem Echo seiner eigenen Frage, dass sie sich an den engen Felswänden brach.

Doch dann hörte Reynald einen zweiten Laut. Dieses Mal war es nicht seine eigene Stimme.
Es war das Wiehern eines Pferdes, kein Zweifel. Seit seiner Kindheit war er mit Pferden vertraut, schließlich waren sie die treuen Gefährten eines jeden bretonischen Ritters. Und ein Pferd mitten in dieser Wildnis konnte nur eines bedeuten …
Jerome de Montfort war wohl zu demselben Entschluss gekommen, denn er gab seinem Streitross die Sporen. Die eisenbeschlagenen Hufe von Tourbillon, seinem prächtigen Reittiert, schlugen Funken auf dem felsigen Boden, als es vorwärts schoss. Reynald zögerte zuerst, doch dann folgte er Jerome, dem er auf dem Schlachtfeld einen Eid geschworen hatte. Und er wollte verdammt sein, wenn er diesen feierlichen Schwur brach. Selbst wenn man sich deswegen für einen Bauerntölpel wie diesen Bertrand in Gefahr begab.
Seine Sorge erwies sich nach wenigen Sekunden als unbegründet. Sie fanden Bertrands Pferd, ein einfacher Klepper, kein Vergleich zu Reynalds eigenem, weitaus edleren Ross. Hirondelle wieherte erfreut, als es die anderen Pferde witterte. Der Gaul stand neben einer verkrüppelten Fichte, sein einfacher Lederzügel war lose an dem Stamm befestigt. Von Bertrand selbst war keine Spur zu sehen.

Jerome de Montfort schwang sich bereits aus dem Sattel und trat zu Hirondelle. Sanft berührte er dessen ungeschlachten Kopf an den Nüstern und tätschelte diesen, was Hirondelle mit einem Schnauben goutierte. Reynald warf Jerome die Zügel des Packpferdes zu und trieb sein eigenes Ross vorwärts. Nach einigen Schritten wendete er.

„Er ist den Pfad nicht weitergegangen. Zumindest sehe ich keinerlei Spuren.“, rief er zurück. Jerome band derweil sein eigenes Tier und das Packpferd an dem Stamm fest. Er schirmte sein Gesicht mit seiner mächtigen Hand ab und sondierte die beiden Hänge. Dann zeigte er mit seinem anderem Arm, so schnurgerade wie eine Lanze auf den linken Hügel.
„Dort oben sehe ich eine Höhe. Wir versuchen dort unser Glück“, antwortete Jerome.

Reynald kam zurück und stieg aus dem Sattel. Er nahm die mit kleinen Wappen verzierten Zügel und schwang sie ebenfalls um die verkrüppelte Fichte. Ungläubig schaute er auf den Hügel und die lose Geröllwand, die sie durchqueren mussten. Jerome ging voraus, entweder hatte er seine Zweifel nicht bemerkt, oder sie waren ihm egal. In beiden Fällen konnte Reynald entweder bei den Pferden bleiben, oder seinen Eid erfüllen. Die Ehre allerdings ließ nur eine Option zu. Wie ein treuer Hund seinem Herren, folgte Reynald dem hünenhaften Jerome, der unbekümmert in den Hügel stieg.

Der Aufstieg sollte sich allerdings als weitaus schwerer erweisen, und Reynalds diesbezügliche Zweifel als begründet erscheinen lassen. Es lag weniger an der Steigung der Böschung, die durchaus moderat war. Das Terrain war in Wirklichkeit nicht das Problem. Die Böschung entpuppte sich für die beiden Ritter deswegen tückisch, weil der gesamte Hügel mit Geröll von der Größe einer Faust bedeckt war. Mehr als einmal drohte Reynald auf dem lockeren Untergrund auszurutschen, als seine stählernen Stiefel keinen Halt fanden. Nach einer Viertelstunde mühselige Kletterns und mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen erklomm Reynald schließlich eine kleine Plattform. Was auch immer Bertrand zu solch einem Wahnsinn getrieben hatte, Reynald schwor sich, dem jungen Bauern für die erlittenen Mühen zu maßregeln. Und in diesem Moment war es ihm sogar egal was Jerome de Montfort davon hielt. Wenn es nach Reynald ginge, dann wären sie dem Entlaufenen ohnehin nicht gefolgt.
Kein Bauer, und auch kein Knappe, waren solch einen Aufwand wert.

Jerome de Montfort zog sein Schwert und ging in die Höhlenöffnung. Nach wenigen Schritten verschwand er im Dunklen. Einen Moment lang zögerte Reynald, dann zückte auch er seine Klinge und folgte dem älteren Ritter. Für einige wenige Augenblicke umschloss ihn tiefste Finsternis. Nur sein Atem und die hallenden Schritte seines Vorgängers waren zu hören. Dann gewöhnten sich die Augen an das Dunkel und Reynald konnte sich nun immerhin besser orientieren. Der Pfad führte schnurgerade weiter. Vor sich sah Reynald Bewegung, einen Schatten, von dem er hoffte, dass es sich dabei um Jerome handelte.

Der junge Ritter Reynald war noch keine hundert Schritte gegangen. Plötzlich schien es, als wäre Jerome verschwunden. Hastig steigerte Reynald sein Tempo. Eine Entscheidung, die er sehr bald bitterlich bereuen sollte. Inzwischen rannte Reynald schon mehr, als das er ging. Drei weite, raumgreifende Schritte. Doch plötzlich war der Halt gebende Boden verschwunden. Der letzte Schritt führte ins Leere, Reynald verlor sein Gleichgewicht und drohte in einen tiefen Schlund zu fallen.

Ein Panikschrei löste sich von seinen Lippen, als er das Gleichgewicht verlor. Eine Hand fasste mit stählernem Griff seinen rudernden Arm. Mit Bärenkräften zog Jerome de Montfort Reynald von dem tiefen Abgrund weg. Schweiß floss in Strömen von dem keuchenden Reynald, der nun wieder sicheren Boden unter den Füssen hatte.

„Habt Dank“, sagte Reynald atemlos und blickte hinab in das tiefe Nichts, wobei ihm ein Schaudern über den Rücken lief.
„Gebt Acht, und benutzt euer Schwert um den Weg abzutasten“, riet Jerome de Montfort und wandte sich ab. Reynald folgte diesem Rat. Gemeinsam sondierten sie den weiteren Weg.
Der Pfad machte an der Stelle, wo Reynald beinnahe abgestürzt war, eine scharfe Rechtsbiegung und schmiegte sich entlang der Höhlenwand weiter. Es ging nur langsam vorwärts, zu tief saß der Schock noch in den Knochen. Fast eine Viertelstunde bewegten sich die beiden Ritter in ihrer vollen Rüstung im sprichwörtlichen Schneckentempo vorwärts.
Der Pfad wurde schließlich wieder breiter, nun konnten zwei Mann wieder bequem nebeneinander gehen. Jerome und Reynald jedoch entschieden sich wortlos dafür, noch im Gänsemarsch zu bleiben und kein Risiko einzugehen. Der Weg schlängelte sich in nun in zahlreichen Kurven immer tiefer in den Hügel hinein.
„Ich sehe einen schwachen Schimmer voraus“, sagte Jerome, und Reynald sandte sofort ein Dankgebet an die Herrin. Alles war besser, als weiter in dieser Dunkelheit wie ein Blinder herumzustochern.

Mit jedem Schritt wurde der Schein heller. Nach einer weiten Biegung wurde es endlich so hell, dass Reynald seine Umgebung nun eindeutig erkennen konnte. Die Wände waren aus rotem Stein in den unterschiedlichsten Schattierungen, glitzernde Adern durchzogen den Fels. Offenbar gab es hier Erzvorkommen, doch Reynald bezweifelte angesichts ihres mühseligen Weges und des Standpunktes, dass sich jemand für einen Abbau finden würde. Doch es war nicht dieser Anblick, der Reynald den Atem raubte.

Direkt vor ihnen weitete sich der Boden wieder auf die ganze Fläche aus. Künstliche Formen waren in den Fels gehauen worden. Reynald erblickte Statuen und Figuren, verschiedene Ornamente. Die gesamte Front glich dem Eingang eines Gebäudes, es erinnerte fast an eine Kathedrale. Es war kunstvoller als die Gralskapelle von Parravon, die Reynald als junger Knabe einst ehrfurchtvoll bestaunt hatte. Eine Inschrift wand sich entlang der Stirnseite der Gebäudefront. Die Schriftzeichen waren kunstvoll geschwungen, doch Reynald selbst konnte sie nicht entziffern. Er wunderte sich, da die Statuen allesamt Menschen in prunkvollen Rüstungen zeigten. Doch keine der Rüstungen oder Waffen kamen Reynald vertraut vor. Sämtliche Skulpturen verbargen ihre Gesichter ebenfalls hinter herunter geklappten Visieren.
Licht fiel von oben herab. Doch als Reynald seinen Blick hob, konnte er die Quelle nicht ausfindig machen. Offenbar brach sich das Tageslicht mehrmals, bevor es in dieser Höhle ankam. Doch wesentlich wichtiger war das, was sich direkt vor seiner Nase abspielte. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte, dass eine der knienden Figuren gar nicht leblos war. Es handelte sich dabei vielmehr um Bertrand, der völlig lethargisch war, und ihre Ankunft gar nicht zu bemerken schien.
Jerome ging zu seinem Knappen, die Schritte des Hünen hallten in der Stille, und legte diesem seine Hand auf die Schulter. Doch selbst dadurch blickte der Knappe nicht auf, sondern kauerte weiterhin vor einer Struktur, die einem Schrein ähnelte. Bertrand hielt beide Hände vor seinem Gesicht, sein Oberkörper wippte wie in Trance leicht vor und zurück.
Reynald ging ebenfalls zu den beiden anderen.

Nach wie vor kniete Bertrand zusammen gekauert am Boden, und reagierte nicht auf die
Anwesenheit der beiden Ritter. Jerome schüttelte seinen Knappen, doch selbst diese drastische Aktion bewirkte bei diesem keine Veränderung. Weiterhin gab Bertrand murmelnd unverständliche Wortfetzen von sich.
„Dies bringt doch nichts. Er ist eindeutig im Fieberwahn“, bemerkte Reynald resigniert.
„Ihr irrt Euch, junger Ritter“, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Wie von einer Tarantel gestochen, wirbelte sowohl Reynald, als auch Jerome de Montfort herum.

Als wäre sie aus dem Nichts gekommen, stand nun eine Frau in einem schimmernden Seidenkleid neben einer der Statuen. Das Kleid war über und über mit glänzenden Perlen bestickt, ein weiter dunkelblauer Umhang hing ihr an einem kunstvoll gearbeitetem golden Verschluss um die Schultern. Ein Tuch von gleicher Farbe, mit feinen Goldstickereien durchsetzt bedeckt ihr Haupt, das von einem silbern schimmernden Band in Form gehalten wurde. Dennoch fiel der Fremden ihr feuerrotes Haar weit in zahlreichen Locken über die Schultern hinab. Hellblaue Augen blitzten aus einem attraktiven Gesicht und Reynald war sich sicher, dass es in der ganzen Alten Welt keine Frau gab, die es mit dieser Schönheit aufnehmen konnte. Anmutig stieg die Frau von den Stufen hinab, ihre zierlichen Füße steckten in silbernen, feinen Schuhen, um die sie jede Adelige Bretonias beneidet hätte.

Als sie näher kam, drang Reynald der liebliche Geruch ihres Parfüms, welches wie der Duft frischer Blumen roch, in die Nase. Der junge Ritter war in dem Bann der Fremden, wie unter Hypnose stand er regungslos da, unfähig auch nur einen Finger zu rühren.
Jerome de Montfort jedoch hob argwöhnisch sein Schwert. Die Umstände bestärkten seinen Verdacht, dass hier Magie am Werk war und es nicht mit rechten Dingen zuging.
„Erklärt Euch, Lady“, rief er. Sein Ruf hallte durch die leere Höhle. Zur Antwort begann die Schönheit laut zu lachen. In ihrem Lachen lag allerdings keine Häme, es ertönte vielmehr laut und freundlich. Beim Klang dieser Freude spürte Jerome de Montfort, wie sich ein warmes Gefühl in seinem Inneren ausbreitete. Dennoch blieb der Ritter argwöhnisch und hielt sein Schwert weiterhin kampfbereit.

„Wer seid Ihr, Lady?“, fragte er erneut. Dieses Mal war seine Frage drängender in dem Bewusstsein, dass er trotz seiner Kraft gegen die augenscheinliche Macht dieser Frau nicht bestehen konnte. Doch diesem Umstand zum Trotz, würde er sich nicht kampflos ergeben.
Die Frau trat näher zu Jerome de Montfort, der sie um fast zwei Köpfe überragte. Ohne eine Spur eingeschüchtert zu sein legte ihm die Fremde sanft die Hand auf den Schwertarm.
Jerome de Montort spürte, obwohl er eine stählerne Schiene, Kettenhemd und seinen Wappenrock trug, wie an der Stelle der Berührung seine Haut zu kribbeln anfing. Wohliger Frieden und Wärme pulsierten in Wellen von seinem Arm in den ganzen, hünenhaften Körper.
Die Frau blickte direkt in seine Augen, ihre blauen Augen begannen heller zu leuchten, als man bei einer Sterblichen vermuten konnte.

„Habt keine Angst, Jerome de Montfort“, sagte die Frau mit einer melodiösen Stimme, die aus anderen Sphären zu kommen schien. Sie sprach ruhig und zog den Ritter sofort in ihren Bann. Raum und Zeit schienen für Jerome de Montfort, den ehemaligen Schwertträger des Herzogs, ihre Bedeutung zu verlieren, und er hing an jedem einzelnen Wort der mysteriösen Fremden.
„Steckt euer Schwert ein, Jerome“, befahl die Frau, und Jerome gehorchte wie ein Knabe der Anweisung seiner Mutter. Die Frau hakte sich bei Jerome ein und zog ihn vor eine der großen Statuen. Sie lächelte, da ihr Plan aufgegangen war. Alle drei, die beiden Ritter und der Knappe folgten ihr widerstandslos wie Kleinkinder. Nun würden sie genau das tun, was sie ihnen befahl.

Bertrand war immer noch in seinem Traum gefangen. Wieder und wieder fand er sich vor der bezaubernden Maid und lauschte ihren Befehlen. Da spürte er eine Berührung an seiner Schulter. Er öffnete seine Augen und zu seiner eigenen Überraschung fand er die Frau aus seinen Träumen vor, nur dass sie dieses Mal leibhaftig vor ihm stand. Die Frau lächelte und reichte ihm ihren zierlichen Arm, damit er aufstehen konnte. Bertrand schlug dankend diese fürsorgliche Geste aus und erhob sich. Er blickte sich um und sah Reynald, der mit leeren Augen in das Nichts glotzte.
„Was ist mit ihm?“, fragte er die Frau.
Die Fremde lächelte. „Keine Sorge, es wird ihm kein Leid geschehen. Er wird sich an nichts erinnern, nur an einen friedlichen Traum.“
Obwohl in dieser Antwort keine Falschheit lag, beunruhigten sie Bertrand dennoch. Die Frau sah es ihm sofort an. Sie neigte ihr zierliches Kinn nach vorne und studierte Bertrands Gesicht, auf dem sich Sorgenfalten zeigten.
„Wünscht du, dass er wieder erwacht?“, fragte sie.
Bertrand nickte.
Die Frau trat zu Reynald und berührte diesen an dem Arm. Bertrand sah, wie die Bewegung in den jungen Ritter zurück kehrte. Als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht und verwirrt blickte der junge Ritter umher.
„Wo … wo bin ich?“, fragte er verwirrt und sah begriffsstutzig herab auf das Schwert in seiner Hand.
„In Sicherheit“, sagte die fremde Schönheit vieldeutig und ging wieder an Bertrands Seite.
Als wäre die Erstarrung plötzlich aus seinen Knochen gewichen, sprang Reynald vor, das Schwert zum Angriff erhoben.
„Hexe, jetzt bezahlst du“, schrie er laut. Sein Schwert sauste herab. Bertrands eigene Klinge fing den Hieb vor ab, bevor er die Frau an seiner Seite erreichte. Auge in Augen standen sich die beiden Gleichaltrigen gegenüber. Keiner von Beiden war gewillt, seine Waffe zu senken.
„Geht zur Seite, Bertrand, damit die Hexe ihre gerechte Strafe empfangt“, knurrte Reynald, sein Gesicht vor Anstrengung verzerrt.
„Niemals“, erwiderte Bertrand trotzig.

„Genug“, befahl eine Stimme voller Autorität. Doch es war nicht die Frau, die diese Worte gesprochen hatte. Verwundert wandten sowohl Reynald, als auch Bertrand ihren Blick zu dem Ursprung der Worte und ließen ihre Schwerter sinken.
Jerome de Montfort stand vor ihnen. Sein Schwert hing an seinem Gurt, doch der Anblick ihres Herrn bewirkte, dass die beiden jüngeren Männer ihre Feindseligkeiten sofort vergaßen.
„Ihr habt gut gesprochen. Wie man es von einem redlichen Mann wie Euch, mein teurer Jerome de Montfort, nur erwarten kann“, sagte die Frau und zog damit die Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Ihr habt Recht“, erwiderte Jerome trocken und sah ihr furchtlos in die Augen. „ Ich bin ein Ritter des Königs. Doch auch wenn mich der Eid des Königs bindet, ich schwöre Euch, wenn Ihr nicht bald eure Absichten preis gebt, dann werde ich Euch in Fesseln zur nächsten Burg schleifen, auf dass Ihr dort Rede und Antwort gebt. Warum habt Ihr meinen Knappen hierher gelockt? Sprecht schnell, und unterlasst jedwede Zauberei, oder meine Waffe wird Euch eines Besseren belehren.“
Die Frau erkannte, dass es Jerome de Montfort mit diesen Worten ernst war. Sie entschloss sich dafür, dem Ritter reinen Wein einzuschenken, auch wenn dies ihre Pläne vielleicht erschwerte.
„Ihr fragt euch sicher alle, warum ihr hier seid. Nun denn, ich habe euren Knappen gerufen. Das habt Ihr richtig erkannt, Sir Jerome de Montfort. Und ja, ich bin eine Zauberin, auch dies ist nicht von der Hand zu weisen, Sir Reynald le Durie.“
„Wohl eine Hexe, die mit böser Kunst unsere Sinne benebelt“, erwiderte Reynald und trat drohend einen Schritt nach vorne.

Als Antwort lächelte die Frau und Reynald senkte von selbst seine stählerne Klinge. „Es gibt einen Unterschied zwischen einer Hexe die sich dunkler Magie bedient, und einer Zauberin, die im Dienst der Herrin steht“, sagte die Frau.
Bei den Namen der Schutzgöttin Bretonias befiel Bertrand Ehrfurcht. Konnte es sein, dass diese Frau eine Abgesandte der Herrin vom See war? Eine der sagenumwobenen Maiden, die den Rittern und Herren Bretonias mit Rat und Zauberkunst hilfreich zur Seite standen.
„Ihr sagt, Ihr seid eine der Maiden unserer Herrin vom See. Doch wie wollt Ihr dies beweisen. Wer hat davon gehört, dass die Maiden der Herrin an solch verlassenen Orten hausen?“, beharrte Reynald misstrauisch und hielt den festen Griff um sein Schwert für alle Fälle aufrecht.

Die angesprochene Frau wandte sich dem jungen Ritter direkt zu. In ihrem Blick lag keinerlei Anzeichen, dass sie sich durch die Frage in ihrer Ehre gekränkt fühlte.
Ruhig antwortete sie: „Vielleicht genügt Euch mein Name, damit ihr die Wahrheit meiner Worte erkennt.“
„Und wie lautet dieser?“, fragte Reynald ungeduldig.
„Morgiana la Fay.“
Die Antwort war ernüchternd und ließ sie alle unwillkürlich nach Luft schnappen. Reynald le Durie ging bei diesen Worten in die Knie. Morgiana la Fay, die Feenzauberin persönlich! Sie war die Botschafterin des Willens der Herrin vom See. Die leibhaftige Abgesandte und mächtigste Magierin in allen Herzogtümern Bretonias. Und nun stand sie hier, in dieser Höhle und sprach mit ihnen. Ein Blick in das wunderschöne Gesicht der Frau überzeugte ihn von der Wahrheit ihrer Worte, galt die Feenzauberin doch als die schönste Frau der Alten Welt. Auch Bertrand sank vor Ehrfurcht zu Boden.
„Milady“, hauchte er und senkte sein Blick, sowie Reynald der seinen Kopf demütig auf den Knauf seines Schwertes stützte.
„Erhebt euch“, sagte Morgiana la Fay lächelnd. „Erhebt euch, Bertrand.“ Und erst bei diesen Worten realisierte er, dass die Feenzauberin direkt vor ihm stand.
„Milady, ich bin nicht würdig in Eurer Gegenwart zu stehen“, sagte er mit vor Ehrfurcht brüchiger Stimme.

Morgiana lachte und ihr Lachen erfüllte die Höhle wie der Frühlingsbeginn. „Ihr seid ein vorzüglicher junger Mann, mein treuer Bertrand. Und Ihr habt so feine Manieren, dass sich gar mancher Ritter dieser Lande nicht mit Euch messen kann.“
Der Seitenhieb saß, denn der gescholtene Reynald schien noch um ein ganzes Stück zu schrumpfen.
„Vergebt mit, Milady Morgiana“, brachte der junge Ritter resigniert hervor. Die Feenzauberin ging zu dem jungen Ritter und berührte ihn mit ihrer zierlichen Hand an dem Kinn. Sanft zog sie seinen Kopf nach oben, so dass Reynald ihr schließlich in ihr Gesicht sehen konnte. Kein Zorn lag darin, sondern unergründliche Weisheit und Liebe durchströmten ihre hellblauen Augen, die wie die Sterne am Firmament funkelten.
„Ihr habt aus Sorge um eure Gefährten gezweifelt. Euer Misstrauen geschah aus lauteren Motiven. Doch beherzigt dies, mein junger Ritter, auch aus dem Glauben, einer gerechten Sache zu dienen, kann Übles entstehen. Folgt immer eurem Herzen und haltet Euch an den Schwur, denn ihr bei eurer Schwertleite abgegeben habt.“
Dankbar nickte Reynald, unfähig auch nur ein Wort über seine Lippen zu bringen.
„Und nun zu Euch, edler Jerome“, fuhr die Feenzauberin fort und wandte sich dem knienden Angesprochenen zu. Selbst in dieser Körperhaltung war Jerome de Montforts Kopf auf selber Höhe mit Morgianas Gesicht.

„Sprecht, und ich werde euren Auftrag erfüllen, Milady“, sagte Jerome und Bertrand bemerkte in dessen Stimme, dass auch der sonst so emotionslose Ritter von der Szene ergriffen war.
Morgiana lächelte erneut, und es war wie der Sonnenschein nach einem langen Gewitter.
„Ihr müsst keinen Auftrag erfüllen, Sir Jerome. Ihr seid bereits auf der Queste“, erwiderte die Feenzauberin.
Jerome senkte beschämt seinen Kopf. „Eine Queste um meine verlorene Ehre wiederherzustellen. Mein Name ist entehrt. Ich habe nicht das Recht, mich Ritter Bretonias zu nennen, oder in eurer Anwesenheit zu bestehen“, antwortete der Ritter zerknirscht. Bertrand spürte, wie bei diesen Worten auch sein eigenes Herz schwer wurde, als er die Niedergeschlagenheit seines Herrn erkannte.
Morgiana la Fay trat zu dem Ritter hin. „Glaubt nicht den Lügen eurer Feinde, Jerome. Die Herrin hat Euch behütet auf eurer Fahrt, euch alle. So lautet die Botschaft der Herrin an Euch, tapferer Jerome:

„Ich sehe Euch und euer Herz, und ich sehe keine Falschheit darin. Ihr standet jederzeit treu zu eurem Herzog, zu eurem König. Selbst in euren Zweifeln habt ihr nicht abgelassen von euren Pflichten. Und ich sehe, was man Euch gesagt hat, über eure Vergangenheit, über den Fluch der auf Euch seit eurer Kindheit lastet. Doch ich bin die Herrin vom See, die Beschützerin der vierzehn Herzogtümer Bretonias, die Gilles den Einiger zum Herrscher gekrönt hat. Ich spreche Euch frei von dem Dunkel, welches Euch so schwer bedrückt, denn ich habe Euch auserwählt als meinen Kämpen, auf dass Ihr meiner gerechten Sache dient.““
Ergriffen von diesen Worten sah Bertrand staunend, wie Tränen über Jerome de Montforts Gesicht rannen. Eine schwere Last schien von dem hünenhaften Ritter abgefallen zu sein. Erleichterung und ein Rest von Zweifel standen in seine dunklen, unergründlichen Augen geschrieben und er blickte die Feenzauberin wie ein Kleinkind fragend an.
„Die Bürde ist von mit gewichen?“, fragte Jerome staunend.
Morgiana lächelte und nickte. „Dies sind die Worte der Herrin, die ich Euch überbringen soll.“
Sie sah Bertrand mit ihren unergründlichen Augen an, während sie die nächsten Worte sprach. „Auch wenn das Dunkel Euch verflucht, so hat die Herrin vom See die Macht, den Schaden abzuwenden. Was als Fluch gemeint war, soll nun zum Guten dienen.“
Bertrand verstand die Bedeutung dieser Worte nicht. Doch angesichts der Szene vor ihm, drängte er seine Fragen zur Seite.

Jerome zog sein Schwert, sichtlich erleichtert von dieser Botschaft, und bot es der Feenzauberin mit dem Heft nach vorne an.
„Meine Klinge gehört Euch und der Herrin, Milady“, sagte er.
Morgiana betrachtete die Waffe. „Ein treffliches Schwert, doch soll der Kämpe der Herrin auch eine Waffe führen, die seiner wert ist.“

Mit diesen Worten ging sie zu einer Statue, die einen Krieger in einer alten, exquisiten Rüstung zeigte. Der Mann hielt ein Schwert in seiner Hand, dessen Spitze zu Boden zeigte. Leichtfüßig sprang Morgiana auf den Sockel und hielt sich mit einer Hand an der Statue fest. Dann fasste ihre andere Hand den Knauf des Schwertes. Mit einer Mühelosigkeit, die man einer so zierlichen Frau nicht zutraute, zog sie die Waffen aus der steinernen Hand. Morgiana sprang herab und ging, die Klinge an ihrer Brust wie einen Säugling zu dem immer noch knienden Jerome de Montfort.
„Dies ist Oriflammè, die Feuerklinge“, sagte sie ehrfürchtig und überreichte die Waffe an Jerome de Montfort. Staunend nahm der Ritter die Klinge. Das Schwert war ein Anderthalbhänder. Knauf und Heft waren mit Gold beschlagen und kunstvoll mit Juwelen versetzt. Die lange Klinge, Bertrand schätzte sie auf annähern vier Fuß Länge schimmerte hell. Es war die schönste Schmiedearbeit, die er je gesehen hatte. Oriflammès Klinge war mehrfachen gefaltet, sie schien hauchdünn und zugleich robust zu sein. Der Stahl schimmerte bläulich, fast durchsichtig, als wäre dieses Schwert aus Glas und würde das umgebende Licht in sich reflektieren. Auf der gesamten Länge der Klinge, auch in der Blutrinne, waren sonderbare Zeichen eingraviert, doch nicht einmal nach Meister Rainheims eindrücklichem Unterricht konnte Bertrands diese entziffern.

„Nehmt die Klinge, Sir Jerome, und führt sie für die gerechte Sache“, sagte Morgiana la Fay und bot dem Ritter das Schwert an.
Tränen der Rührung rannen über das Gesicht des Ritters, als Jerome sich erhob und das Schwertheft ergriff. Dann, mit einem Mal, als würde er von neuer Kraft erfüllt, hob er Oriflammè über seinen Kopf.
„Für Montfort, den König, und die Herrin vom See!“, rief Jerome und seine Worte hallten durch die Höhle. Angesteckt stimmten Bertrand und Reynald in den Ruf ein.
Der große Ritter kniete sich erneut vor die Feenzauberin hin, Oriflammè zeigte mit seiner Spitze zu Boden. Dann nahm Jerome de Montforts sonst so ruhige Stimme einen feierlichen Tonfall an und er sprach die geheiligten Worte, die jeder Ritter vor ihm gesprochen hatte, wenn er sich auf die Queste begab:
„Nieder lege ich meine Lanze. Symbol meiner Pflicht.
Ich lasse zurück jene, die ich liebe.
Ich löse mich von allem, nehme auf das Rüstzeug meiner Queste.
Kein Hindernis bestehet vor mir, kein Hilferuf bleibet ohne Antwort.
Kein Mond scheinet zwiefach auf mich herab,
denn müßig seien meine Tage nicht.
Ich gebe Leib, Herz und Selle der Herrin, die ich suche …“

Morgiana la Fay lächelte zufrieden. „Geht, meine treuen Kämpen. Geht mit dem Segen der Herrin!“
„Milady, sollen wir Euch nicht Geleit bis zur nächsten Ortschaft geben?“, fragte Bertrand besorgt.
Lächelnd tätschelte lächelnd seinen Arm. „Habt keine Angst, dies ist Bretonia. Jeder Strauch oder Baum ist mir bekannt, und unter dem Segen der Herrin kann mir hier kein Leid widerfahren. Außerdem gehe ich nicht allein. Ein Wächter ist an meiner Seite.“
Die Feenzauberin streckte ihren Arm aus, und Bertrand folgte der Richtung, in welche ihr Zeigefinger wies. Nebel erschien am Boden, dessen Schwaden stetig höher stiegen. Im Nebel sah Bertrand Umrisse, die Statur eines gerüsteten Ritter. Doch seltsamerweise trug dessen Helm keinen Federbusch, sondern war von Efeuranken geziert, wie der Rest seiner Rüstung. Das Gesicht des Ritters war hinter seinem geschlossenen Visier verborgen und seine Rüstung war aus dunklem Grün. In seiner Hand hielt er ein mächtiges Schwert, welches in schwachem grünem Licht leuchtete.

Doch sogleich erinnerte er sich an eine Geschichte aus seiner Kindheit. Konnte es sein, dass dies der legendäre grüne Ritter war? Der mysteriöse Retter der Bedrängten, der Schutzpatron des bretonischen Landes, der die Feinde des Königreichs heimsuchte. Bisher hatte Bertrand gedacht, der grüne Ritter wäre nur eine Figur aus den beliebten Puppentheatern. Doch das Leuchten des Schwertes, und die sonderbare Rüstung, ja sogar die Augen schienen durch das dunkle Visier hindurchzuleuchten, alles das brachte Bertrand dazu, diese Geschichten nun doch für bare Münze zu nehmen.

Morgiana la Fay lächelte ein letztes Mal jeden der Drei an. Sie bot einen wunderschönen Anblick mit ihrem feuerroten Haar, welches ihr über die Schultern fiel, in ihrem schimmernden, perlenbesetzten Kleid.
„Lebt wohl meine Tapferen. Die Herrin wacht über euch.“
Dann ging sie zu dem wartenden grünen Ritter und der Nebel umschloss die Feenzauberin samt ihrem Begleiter. Als sich die Nebelschwaden auflösten, waren beide verschwunden.
 
3.4 Am Scheideweg

Marie Levaliere wartete im Garten und trotz ihres pelzbesetzten Mantels fror sie, als sie die Brise traf. Es war nun eindeutig Spätherbst und selbst zu Mittag konnte einem die Sonne nicht mehr genügend Wärme spenden. Ihr türkisfarbenes Kleid war nun vollständig unter ihrem schweren, wärmenden Mantel verborgen. Ihr Haar, bis auf die eine widerspenstige Strähne lag unter der Stoffhaube, ihr anmutiges Gesicht hingegen war gänzlich unverdeckt, was man ihren geröteten Wangen ansah.

Doch es lag nicht alleine an dem kalten Wetter, dass das junge Burgfräulein fror. Marie zitterte auch bei dem Gedanken an die Person, welche sie im Garten treffen sollte. Gleich nachdem sie von dem grausamen Mord an dem Schmied Gilbert erfahren hatte, war ihn ihr der Entschluss gereift, selbst etwas zu unternehmen. Deshalb hatte sie auch dieses Treffen arrangiert, so sehr sie diese Begegnung auch verabscheute.

Marie hörte ein Geräusch und drehte sich in die entsprechende Richtung, beim Anblick des Ankömmlings versteifte sie sich unwillkürlich. Es lag aber nicht an dem Äußeren, doch Marie hatte genug erfahren, dass sie der Person nicht über den Weg traute.
„Milady“, grüßte Claude de Sanguine, der Seneschall des Herzogs, und legte seine gesunde Hand über das Herz, während er sich vor ihr verbeugte.
„Sir Claude“, erwiderte Marie kalt, wenn nicht sogar frostig.

Doch Claude de Sanguine war über ihr Treffen offenbar so erfreut, dass er den eisigen Unterton in der Stimme des Mündels nicht zu bemerken schien. Der Seneschall trug feine Kleidung. Unter anderem ein feines Wams aus hellbraunem Stoff mit rotem Besatz, einen Gürtel samt Zierdolch in einer kunstvoll gearbeiteten Scheide. Beige Beinlinge, ein schwerer Mantel und ein weinrotes Barett mit Feder.
„Ich muss gestehen, Lady Marie, dass mich eure Botschaft recht unvermittelt angetroffen hat“, begann Claude de Sanguine. „Euer bisheriges Verhalten meiner Person gegenüber, ließ mich nicht auf solch ein Treffen hoffen.“
Claude de Sanguine trat näher heran.
„Und welche Hoffnung hegt Ihr, Sir Claude?“, fragte Marie, die sich zwingen musste, nicht einen Schritt zurück zu weichen.

Claude de Sanguine nahm ihre Hand in seine eigene. „Auf eine segensreiche Zukunft“, flüsterte er sanft. „Eine Zukunft in der unsere beiden Häuser gemeinsam handeln.“
Claude de Sanguine ließ die Anspielung im Raum stehen. Doch Marie konnte sich ohnehin ausmalen, was der Seneschall meinte.
„Ich fürchte, Ihr werdet eure Ambitionen haben Euch zu hoch getragen“, antwortete Berrick de Ursins mit schneidender Stimme an Maries Stelle. Er trat aus dem Schatten der Laube hervor. Berrick de Ursins war in volle Rüstung gekleidet, sein bunter Waffenrock mit seinem Wappen darüber, nur der Helm fehlte. In seiner gepanzerten Hand funkelte sein gezogenes Schwert in der Mittagssonne.

„Was macht Ihr hier, Sir Berrick?“, erwiderte Claude de Sanguine überrumpelt.
„Er kommt nicht alleine“, sagte eine zweite Stimme. Yves de Leguerrand kam herbei, ebenfalls gerüstet und mit gezogenem Schwert. Seine grünen Augen funkelten vor Entschlossenheit.
Überrascht wich Claude de Sanguine zurück, ließ Maries Hand fahren und fuhr mit seiner gesunden Hand zum Heft seines Prunkdolchs.
„Lasst die Torheit, Sir Claude“, warnte Berrick de Ursins. Er hob sein Schwert, so dass die Spitze auf die Kehle des Seneschalls zeigte. Claude de Sanguine sah sich um, und seine Hand wich von seinem Dolch.

„Was wollt ihr beide hier?“, fragte er entrüstet. „Der Herzog wird von diesem Vorfall hören.“
Berrick de Ursins nickte. „Wir sind hier, im Auftrag Herzog Folcards. Männer, tretet herbei.“
Das Geräusch gerüsteter Schritte war zu hören, das Scheppern gepanzerter Stiefel auf den Steintreppen. Acht Wachen in Kettenhemd, dem Überwurf mit dem Wappen des Herzogs und Hellebarden in der Hand, erschienen. Die Wachen nahmen den Seneschall in ihrer Mitte.
„Wessen werde ich angeklagt?“, fragte Claude de Sanguine.
Berrick formte bereit eine Antwort, doch Marie Levaliere kam ihm zuvor. „Ihr seid des Mordes verdächtig. Mord an Meister Gilbert.“

„Dem Burgschmied?“, unterbrach sie Claude de Sanguine. Seine Stimme klang überrascht, und für einen Moment befiel Marie Zweifel. Doch dann erinnerte sie sich an die Aussage des Söldners und sie fasste neuen Mut.
„Bis zu eurem Prozess werdet Ihr in euren Gemächern verbleiben. Als Arrest“, sagte Marie entschlossen.
Claude de Sanguine sah ihr lange in die Augen. Sie schienen zu toben, ein Aufruhr widerstreitender Gefühle. „Wie ich sehe, habt Ihr euren Weg gewählt, Milady“, sagte er schließlich.
Berrick de Ursins gab den Soldaten ein Zeichen, und mit ihm an der Spitze führten sie den Seneschall ab. Erst als die Gruppe außer Sicht war, löste sich die Anspannung in Maries Körper. Sichtlich erleichtert atmete sie aus. Yves de Leguerrand steckte sein Schwert weg, und ging zu Marie, die er in die Arme nahm.

„Es ist geschafft“, tröste er seine langjährige Freundin. Marie war dankbar für seinen Rückhalt. Ihr Plan war aufgegangen, auch wenn sie sich dafür viel riskiert hatte. Der Herzog war nur aufgrund ihres entschlossenen Auftritts zu dieser Aktion bereit gewesen. Und trotzdem dankte sie der Herrin vom See dafür, dass sie ihr mit Sir Berrick und ihrem Freund Yves zwei Ritter an die Seite gestellt hatte. Denn Marie bezweifelte, dass sie ohne deren Hilfe der hölzernen Hand hätte stellen können. Doch nun war es geschafft, Claude de Sanguine war inhaftiert. Zumindest hoffte sie dies. Denn tief in ihrem Herzen beschlich Marie das unangenehme Gefühl, dass in dieser Angelegenheit das letzte Wort noch nicht gesprochen war.
 
3.5 Fehde

Drei Tage waren seit ihrer Begegnung mit der Feenzauberin Morgiana la Fay vergangen. Ihre kleine Reisegruppe war von der Höhle aufgebrochen und hatte das Massif Orcal rasch hinter sich gelassen. Ihr Weg führte sie nach Süden, der Mittagssonne entgegen und die Berge des Orkmassiv lagen nun als blassblaue Umrisse zu ihrer Rechten. Auch die Zivilisation kehrte nun wieder zurück. Jede Nacht konnten sie nun in einem Dorf oder Weile verbringen, wo die pflichtschuldigen Bauern ihnen ihre besten Unterkünfte überließen. Selbst wenn es nur windschiefe Hütten waren, durch deren zahllose Ritzen der Wind pfiff, war es doch allemal angenehmer als eine Nacht unter bitterkaltem freien Himmel.

Doch so weit sie auch der Straße nach Süden folgten, überall zeigten sich die Zeichen des nahenden Winters. Die meisten Bäume waren entlaubt, und nur einige wenige wiesen noch kümmerliche Reste ihres Bewuchses auf. Auch ihre Reisezeit wurde durch die kürzer werdenden Tage drastisch beschnitten. Bei jedem Aufbruch war der Boden hart vom Morgenfrost und es dauerte immer länger, bis die schwache Sonne diesen aufweichen konnte. Nun, am dritten Tag, sah Bertrand den ersten Schnee. Nicht zum ersten Mal, denn in den Bergen war Schnee um diese fortgeschrittene Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Aber hier, in den tiefen Ebenen Bretonias war es ein weiterer Beleg für den nahenden Winter. Offenbar fiel dieser Umstand auch Jerome de Montfort auf, denn er beschleunigte das Reisetempo, so dass Bertrands eigenes Pferd und das Packpferd gerade noch Schritt halten konnten.

Es war bereits die fünfte Stunde des dritten Tages, und die drei Reiter hatten bereits eine gute Wegstrecke hinter sich gelegt, als Jerome unvermittelt seine Hand hob.
„Wir halten?“, fragte Reynald verwundert. Er war zu höflich, um nach dem „Warum“ zu fragen. Außerdem beschäftigten ihn immer noch die Begegnung mit der Feenzauberin und deren rätselhafte Worte, die sie zu Jerome gesprochen hatte.
Bertrand konnte sich einen missbilligenden Blick nicht verkneifen. Er hatte die Geräusche schon längst wahrgenommen, die hinter der nächsten Wegbiegung hervordrangen. Das unverkennbare Klirren von Metall, wenn es aufeinander traf. Und er wunderte sich darüber, dass der junge Ritter es nicht als Erster registriert hatte. Etwas war mit Reynald le Durie geschehen, sogar seine arroganten Spitzen wegen Bertrands niedere Herkunft waren in den letzten Tagen nicht mehr aufgetreten.

„Ein Kampf“, sagte Jerome de Montfort und deutete in die Richtung vor ihnen. Er streckte seine Hand aus und Bertrand überreichte ihm seinen geflügelten Topfhelm. Jerome setzte ihn wortlos auf, wodurch sein Anblick noch beeindruckender wurde. Bertrand beeilte sich ebenfalls, seinen einfachen Rundhelm mit Nasenschutz aufzusetzen.

„Ist dies klug?“, fragte Reynald, dessen Kopf noch barhäuptig war und der mit seinem Streitross absichtlich den Weg versperrte. „Immerhin haben wir bereits die Grenzen des Herzogtums Montfort überschritten. Wir können hier uns nicht darauf verlassen, dass uns euer Name weiterhilft, Sir Jerome. Dies ist nicht unsere Angelegenheit, nicht unser Kampf. Zumal wir uns doch auf einer Queste befinden.“
„Vergesst den Wortlaut der Queste nicht. Die Worte, die ich feierlich geschworen habe. Ich gedenke, diese einzuhalten. Nun schließt Euch uns an, oder macht Platz, Reynald“, tönte es hallend aus Jerome de Montforts geschlossenem Visier. Ein kurzer Befehl mit seinen Schenkeln, und Tourbillon schoss an Reynald le Durie vorbei. Bertrand folgte hinterher.
Reynald sah den Beiden kurz nach, den seufzte er und zuckte mit den Schultern. Er nahm seinen Helm und machte sich bereit für das Gefecht.

Sie brachen durch dass dichte Gestrüpp und sahen nun die gesamte Szenerie mit eigenen Augen. Vor ihnen war ein einzelner Ritter damit beschäftigt drei gerüstete Angreifer im Zaun zu halten. Er stand schützend vor einem schneeweißen Zelter, auf dem eine noble Dame im Damensitz saß. Die restliche Eskorte der Lady lag verwundet und kampfunfähig im Feld, auch mehrere Angreifer waren zu Boden gestreckt. Doch noch gab es drei Angreifer, allesamt Ritter in ihrer Rüstung mit bunten Wappenröcken in farbenfroher Heraldik, die jedoch alle einen Falken als Zeichen trugen. Sie waren klar in der Überzahl und hatten außerdem den Vorteil, dass einer von ihnen beritten war.

Ohne zu Zögern riss Jerome de Montfort seine gesegnete Klinge Oriflammè aus der Scheide. Das edle, lange Schwert pulsierte förmlich im Sonnenlicht, als der Ritter die mächtige Waffe mit nur einer Hand führte.
„Für die Herrin“, rief er und gab seinem Streitross die Sporen. Der berittene Angreifer sah sich mit der unerwartenden Wendung konfrontiert und ritt dem attackierenden Jerome entgegen, seine bedrohliche Streitaxt in der Einen, den Schild mit seiner Heraldik in der anderen, gepanzerten Hand.

Bertrand wollte bereits dem bedrängten Verteidiger zu Hilfe eilen, da schoss Reynald unvermittelt aus dem Gebüsch. Seine wilde Attacke trampelte den ersten Angreifer nieder, der nicht schnell genug zur Seite gesprungen war. Mit neu entfachtem Mut ging auch der verbliebene Verteidiger der Dame nun zum Angriff über und drängte seinen Gegner mit einer Serie von Hieben zurück.
Bertrand blieb nichts Anderes übrig, als zur Seite der Dame zu reiten und sich schützend vor sie zu stellen.
„Habt keine Angst, Milady“, tröstete er sie.
„Danke“, erwiderte die Dame scheu. Und erst bei diesen Worten erkannte Bertrand zu seiner Überraschung, dass die Adelige jung war, ja sogar noch weitaus jünger, als er selbst. Sie mochte vielleicht vierzehn, allenfalls fünfzehn Sommer, zählen. Bertrand grübelte darüber, warum mehrere Ritter Bretonias, die auf ihren Ehrenkodex so stolz waren, wie gemeine Straßenräuber über eine junge Dame herfielen.

„Keine Sorge, Ihr seid hier in Sicherheit“, versuchte er sie, so gut es ging, zu trösten. Wie zur Bestätigung fiel der berittene Angreifer mit einem lauten Scheppern von seinem Pferd, als ihm Jerome de Montfort mit der flachen Seite seines Langschwerts einen Hieb gegen den Kopf verpasste. Auch die beiden anderen Angreifer ergaben sich und streckten die Waffen. Reynald und Jerome trieben sie vor sich her, wie eine Herde Schafe.
„Milady Beatrice, seid Ihr in Ordnung?“, fragte der alte Verteidiger besorgt, als er herbeigeeilt kam.

Lady Beatrice legte dem ergrauten Verteidiger, der über der Schläfe eine blutende Wunde trug, beruhigend eine Hand auf den Schwertarm. „Keine Sorge, Sir Dicken, mir fehlt Nichts. Dank Eures beherzten Vorgehens und der Hilfe der Fremden.“ Sie warf einen verstohlenen Blick in Bertrands Richtung. Bertrand erwiderte den Blick mit einem Lächeln und kurzem Nicken.
„Ich protestiere gegen diese Behandlung“, rief einer der Angreifer, nachdem er seinen Helm abnahm. Darunter kam ein vor Wut und Anstrengung gerötetes Gesicht zum Vorschein. Die drei Ritter waren allesamt mit kleineren Blessuren und Kratzern übersät, doch keine der Wunden war lebensbedrohend.

„Ihr habt keinerlei Recht hier anmaßend zu werden, Sir Bosrick“, erwiderte Sir Mansbert schneidend. „Wie gemeine Räuber seid Ihr mit euren Kumpanen auf das Territorium Merceauxs eingefallen und bedroht friedlich Reisende.“
„Ha! Wer ist hier anmaßend? Dieses Gebiet gehört seit jeher zu Descloux. Wenn hier jemand ein Dieb ist, dann seid das Ihr.“

Bertrand sah, wie Sir Mansberts Gesicht ebenfalls Purpurfarbe annahm. Doch noch bevor der alte Ritter zu einer Erwiderung anheben konnte, unterbrach ihn Jerome de Montfort.
„Genug“, rief Jerome, und jedermann verstummte sofort. Jerome steckte Oriflammè weg und schob sein Visier hoch. Sein gestrenges Gesicht wanderte über die anwesenden Angreifer. Jeder der Ritter senkte sofort seinen Kopf zu Boden.
„Ich bin nicht gekommen, um mich in eure Fehden ziehen zu lassen. Nehmt eure Verwundeten und bringt sie nach Hause.“

Sir Mansbert wollte bereits protestieren, doch Jeromes erhobene Hand brachte ihn zum Schweigen. Doch Sir Bosrick schien sich davon nicht abbringen.
„Ihr stellt Euch also auf Merceauxs Seite?“, fragte er herausfordernd. Jerome würdigte ihn mit keinem Blick. Reynald le Durie ritt vor, sein Schwert fest in der Hand.
„Ihr habt die Anweisung gehört“, sagte er drohend. „Ich rate euch, sie besser zu befolgen.“
Angeschlagen und im Nachteil durch die berittenen Jerome, Reynald und Bertrand sammelten die Ritter aus Descloux ihre Verwundeten ein und brachten sie zu ihren Pferden, die in einiger Entfernung warteten.

Bertrand selbst half Sir Mansbert seine eigenen Männer zu sammeln. Vielleicht lag es am Segen der Herrin, doch keiner der Männer schien lebensbedrohlich verletzt zu sein.
Reynald fing schließlich Sir Mansberts Pferd ein, während sie die die drei Verwundeten passender weise auf ihren eigenen Reittieren Platz nehmen ließen. Einzig Reynald verdrehte seine Augen bei dem Gedanken, dass ein einfacher Soldat auf seinem edlen Hengst reiten würde, während er selbst zu Fuß gehen musste. So brachen sie nun mit den vier Verwundeten auf den Pferden auf und führten diese an den Zügeln. Sie waren noch nicht weit gekommen, als eine Gruppe von Reitern erschien.

Sir Mansbert schirmte mit seiner Hand sein Gesicht ab. Er hatte sich einen langen Stofffetzen als Verband um seine Stirn gewickelt. „Es ist Sir Hugo, Euer Cousin“, verkündete er erleichtert. Die Gruppe kam näher, an der Spitze eine Ritter in voller Rüstung, dem zahlreiche Bewaffnete folgten, deren Lanzenwimpeln im Wind flatterten. Der Ritter an der Spitze hob seine Hand, und die Gruppe hielt vor ihnen an. Sir Hugo hatte Mühe, sein stürmisches Tier im Zaum zu halten. Vielleicht lag es aber auch daran, dass das Tier die Gemütslage seines Herrn reflektierte. Sir Hugo, dessen Visier hochgeschoben war, bot ein Bild ungezügelter Emotionen.

„Sir Mansbert, seid Ihr wohlauf? Wo ist meine Cousine?“, fragte er erstaunt und erhob sich in seinem Sattel, damit er sie alle überblicken konnte.
„Mir geht es gut“, verkündete die jugendliche Lady Beatrice. Erleichtert atmete Sir Hugo auf, als er sie sah und ließ sich wieder in seinen Sattel fallen.
„Wir wurden angegriffen von Desclouxs Männern. Doch diese edlen Streiter kamen uns in unserer Bedrängnis zur Hilfe“, erklärte Sir Mansbert.

Bei diesen Worten musterte Sir Hugo, Jerome und seine Gefährten. Sein prüfender Blick verriet nicht, was er sich bei seinem Anblick dachte.
„Habt Dank“, sagte er schließlich. „Die Hallen unseres Herrn, des Grafen von Merceaux stehen euch für euren Einsatz offen. Ich bitte euch, edle Herren, nehmt unser Angebot an.“
„Wir danken Euch, für diese herzlichen Worte“, ergriff Jerome de Montfort das Wort. „Und ein solches Angebot geziemt es nicht, auszuschlagen.“
„Seid willkommen in unserer Burg. Doch darf ich fragen, wie eure Namen lauten? Denn euer Wappen zeigt, dass Ihr nicht aus dieser Gegend seid“, sagte Sir Hugo und deutete auf Jeromes Schild.

Jerome de Montfort nickte. „Man nennt mich Jerome de Montfort, dies sind meine Gefährten Reynald le Durie und mein Knappe Bertrand.“
Bei diesen Worten weiteten sich Sir Hugos Augen vor Überraschung. „Dann seid Ihr verwandt mit dem Herzog Montfort?“
„Er ist sein Neffe“, antwortete Reynald le Durie an Jeromes Stelle und nicht ohne Anflug von Stolz.
„Dann seid nochmals herzlich willkommen. Mein Onkel, der Herr von Merceaux wird sich geehrt fühlen, solch hohe Gäste zu bewirten.“
Sir Hugos Reiter vereinigten sich mit ihrer Gruppe und nahmen sogar die Verwundeten auf ihre eigenen Pferde. Sir Hugo ritt mit Jerome an der Spitze, den er in ein Gespräch zu verwickeln suchte. Reynald le Durie ritt gleich dahinter an mit Sir Mansbert und Lady Beatrice an seiner Seite. Bertrand folgte mit zwei berittenen Landsknechten an seiner Seite.

Die größere Gruppe ritt gen Norden und kam gut voran. Nach einer guten halben Stunde sah Bertrand die ersten Dörfer in einer weiten Ebene, die nur von kleinen Wäldchen und den obligatorischen Feldern und Wiesen mit Viehherden. Im Osten wurde der Wald dichter, ein geschlossenes Band undurchdringlicher Wildnis, in die kein Bretone bei gesundem Verstand seinen Fuß setzte.

„Wie heißt dieser Wald?“, fragte Bertrand seinen Reitnachbar.
Der Soldat blickte ihn an, und ein Anflug von Furcht spiegelte sich auf seinem zerfurchten Gesicht. „Das ist Athel Loren, der Wald der Elfenhexen und ihrer Geister, ein verfluchter Ort, den man meiden sollte.“ Der Landsknecht spreizte vor Aberglauben seine Finger von sich.
Bertrand begann bei diesen Worten zu grübeln. Meister Rainheim hatte ihm nur wenig über diesen Ort erzählt. Aber in einem der Bücher, einem beinnahe vergilbten alten Schinken, wie es Sir Haughey gesagt hätte, fand Bertrand doch einige Geschichte, die allesamt mehr nach Märchen, denn nach Tatsachenbericht klangen.

Doch seine Aufmerksamkeit wurde sogleich von einem neuen Anblick gefesselt. Burg Merceaux lag in der Schlinge eine sanft dahinplätschernden Flusses. Es war eine starke Burg, ging Bertrand auf. Hohe, dicke Mauern mit Schießscharten und Hurden gekrönt. Ein tiefer Wassergraben, gespeist aus dem Fluss, trennte die Burg von der restlichen Landzunge. Alleine das Vorwerk, eine kleiner Ausgabe des Torhauses konnte sich mit manch anderer Befestigung messen. Es war im Wesentlichen eine kleinere Ausgabe des Haupttores. Ein starkes Mauerwerk, das mit einem Torhaus samt Giebeldach, Fallgitter und Zugbrücke ausgestattet war. Die Gruppe erreichte das Vorwerk und die Wachen ließen sie passieren. Beeindruckt drehte sich Bertrand nach dem starken Vorwerk um.

Doch dies war nichts im Vergleich mit dem eigentlichen Haupttor. Zwei mächtige Rundtürme, mit Hürden bedeckt und vier Stockwerke hoch flankierten das Torhaus. Das Haupttor selbst war ein Konstrukt aus massiven Steinblöcken. Ein Kamin im Giebeldach verriet, dass direkt über dem Tor sich das Quartier der Wache befand. Ein Gusserker mit Pechnasen war genau über dem sich stetig verengenden Portal platziert, wo man im Falle eines Angriffes aus geschützter Position jedem Feind eine unliebsame Überraschung zu bereiten. Die Zugbrücke war hochgezogen, ein weiterer Wassergraben, der tief und unergründlich aussah, lag zwischen ihnen und dem Inneren der Burg. Erst auf Zuruf von Sir Hugo ging die Zugbrücke hinab, und die Gruppe konnte passieren. Das Torhaus bot im Inneren einen düsteren Anblick, zwei Fackeln an jeder Seite spendeten trotz der Tageszeit nur mäßige Beleuchtung.

Zehn Schritte maß der Gang, dann kam eine weitere Trennung, ein eingebautes Fallgitter, für den unmöglichen Fall, dass ein etwaiger Angreifer so weit kommen sollte. Bertrand bezweifelte, dass solch ein Vorhaben mit Erfolg gekrönt sein würde, denn ihm entgingen nicht die Schießscharten und Pechnasen in der Decke und an den Seiten. Ein Angreifer würde nach allen überwundenen Hindernissen hier vor einer weiteren Barriere zusammengedrängt werden, wo er sich auf dem Präsentierteller für die verborgenen Verteidiger befand.

Im Burghof eilten zahlreiche Diener und Knechte herbei. Wie Sir Hugo trugen sie das Zeichen des Grafen, eine silberne Forelle, die aus einer stilisierten hellblauen Welle sprang.
Bertrand übergab sein Pferd, während die Verletzten abtransportiert wurden. Er folgte seinem Herrn Jerome, den Sir Hugo direkt in den Saal des Grafen geleitete. Beim Überqueren des Hofes betrachtete Bertrand noch einmal die wuchtigen Türme und hohen, mächtigen Mauern.
Forelle und Falke, dachte er. Offenbar waren sie direkt in Fehde zwischen zwei verfeindeten Adelsgeschlechtern geraten. Er rieb sich seinen Kopf, wo die Beule inzwischen vergangen war. Und sandte ein Stoßgebet zur Herrin, dass sie dieses Mal nicht solche Opfer von ihnen abverlangen würde.
 
3.6 Erstaunliche Erkenntnisse

„Sie haben was getan?“, schrie der Graf von Merceaux. Er war ein älterer Mann, Mitte Fünfzig, was man an seinem aschgrauen Vollbart erkennen konnte. Doch trotz seines fortgeschrittenen Alters war der Graf durchaus rüstig. Er ließ es sich nicht nehmen, seine Rüstung zu tragen. Seine Gestalt verriet, dass in dem ganzen Stahl ein muskulöser Körper steckte. Selbst hier, in seinem Thronsaal trug der Graf eine Kettenhaube. Die Hand des Grafs klammerte sich um seinen Schwertknauf.

„Milord, der Feind war zahlreich. Es war Sir Bosrick und zwei weitere Ritter in Begleitung mehrere berittener Knappen. Doch Sir Jerome und seine Gefährten haben sie vertrieben. Sie passten uns ab, als wir eure Tochter nach Hause geleiten wollten. Sie forderten Wegzoll, da wir uns angeblich auf ihrem Land befänden. Ich erwiderte, diese Straße wäre unter eurem Großvater errichtet worden und gehöre seit jeher zu Merceaux. Da zogen sie die Klingen und bedrängten uns.“
„Sie wollen die südlichen Wiesen“, warf Sir Hugo ein.
„Nicht so lange ein Tropfen Blut in meinen Adern fließt!“, grollte der Graf und fuhr von seinem hohen Thron aus fein gearbeiteter, kunstvoll verzierter Eiche auf. Erst jetzt fiel sein Blick auf Jerome de Montfort und Reynald le Durie, und seine Wut wurde augenblicklich gemildert. „Auch ich möchte euch edlen Herren für euren Einsatz danken. Das Angebot meines Neffen erneuere ich frohen Herzens. Seid willkommen als unsere Gäste auf Burg Merceaux. Bleibt, so lange ihr wollt.“

„Habt Dank“, sagte Jerome de Montfort. „Wir werden Eure Gastlichkeit jedoch nur eine Nacht in Anspruch nehmen, da mich ein Eid auf den Gral bindet.“
Der Graf nickte. „So sei es. Doch heute Nacht seid ihr meine Gäste. Und die Gastfreundschaft Merceauxs wird in der ganzen Gegend gerühmt. Ruft den Küchenmeister! Er soll den besten Tropfen Wein kredenzen und alles für ein festliches Mahl vorbereiten.“


Bertrand marschierte vorsichtig durch den Wald. Er vermied es geschickt auf das trockene Laub zu steigen, oder die dürren Äste, welche überall auf dem Boden lagen. Er konnte dies jedoch nicht von seiner Begleitung sagen, die so viel Lärm machte, wie eine ganze Horde grobschlächtiger Orks. Seine Begleitung stolperte über einen am Boden liegenden Ast und verlor beinahe das Gleichgewicht. Bertrand verdrehte die Augen.
„Still“, forderte er.
„Selber still“, fauchte Reynald zurück. Beide trugen einfache Lederkleidung, Bertrand hatte seinen Bogen samt Köcher um die Schulter geschlungen. Reynald trug einen Jagdspeer und sein Schwert am Gürtel.
„Ihr vertreibt die Beute. Jedes Getier in der Umgebung kann Euch hören und wird sofort die Flucht ergreifen.“

Reynald zuckte als Antwort mit den Schultern. Er trat in einen Haufen Blätter, so dass diese hoch in die Luft gewirbelt wurden. „Es ist doch ohnehin egal. Jerome hat mich nur als Begleitung mitgeschickt. Gebt mir ein Pferd, denn zu Fuß auf die Jagd zu gehen, geziemt sich nicht für einen Ritter.“
Bertrand beachtete die Unmutsäußerungen nicht weiter. Auch die Aussage, die ungesagt im Raum stand. Reynald fand, dass es unter seiner Würde war, mit einem Niedriggeborenen zu jagen. Doch Jerome hatte es Reynald, nach der Erlaubnis des Grafen, förmlich befohlen Bertrand zu begleiten. Schließlich war Bertrand letzter Jagdversuch dahingehend eine Lektion für sie alle gewesen.
Aufmerksam betrachtete Bertrand seine Umgebung, das wenige Laub auf den Bäumen und Sträuchern, suchte den Boden nach verräterischen Spuren ab. Doch es war der Himmel, wo er schließlich fündig wurde.
„Seht!“, flüsterte er aufgeregt und zeigte in den Himmel.
„Vögel, und?“, fragte Reynald missmutig.

Bertrand schüttelte angesichts des Desinteresses des jungen Ritters den Kopf. Er zeigte in den Himmel, wo sich von einer Baumgruppe ein Schwarm Vögel in den Himmel stieg.
„Ob Ihr die noch erreichen könnt?“, spottete Reynald.
Zum zweiten Mal an diesem Tag rollte Bertrand mit den Augen. „Die Vögel sind nicht unser Ziel, sondern das, was sie aufgescheucht hat. Um der Götter Willen, Reynald, versucht möglichst wenig Lärm zu machen.“

Bertrand nahm seinen Bogen von der Schulter und legte den ersten Pfeil an. Hinter ihm brummte Reynald eine Antwort in seinen nicht vorhandenen Bart, doch auch er wechselte in eine gebückte Haltung und achtete nun darauf, wo er seine Schritte setzte. Bertrand schlich vorwärts, eine Gruppe von Sträuchern verbarg ihnen noch die Sicht auf ihre Beute.

Die Baumgruppe lag auf einer leichten Anhöhe. Entlang einiger Dornenbüsche, die dennoch die volle Körpergröße eines ausgewachsenen Mannes erreichten. Bertrand stahl sich um den letzten Strauch, womit er endlich eine freie Sicht bekam. Reynald kroch an seine Seite.
Vor ihnen, unter den Ästen einer großen Buche, stand ein braunes, gesatteltes Pferd.
„Da habt Ihr unsere Beute“, flüsterte Reynald. Das Pferd war ein edles Tier, ein Wallach aus der edlen Sorte der bretonischen Kriegsrösser, wie Bertrand an dessen Körperbau erkannte. Auch das Zaumzeug und der prächtig ausgestattete Sattel bezeugten dies ebenso.
„Mich persönlich interessiert ja eher der Besitzer“, erwiderte Bertrand.

„Dann sollten wir ihn suchen“, sagte Reynald und erhob sich unvermittelt. Fassungslos sah Bertrand, wie Reynald auf das Pferd zuging. Das Pferd hob kurz seinen Kopf, doch dann senkte es ihn wieder, um weiter zu grasen. Verärgert erhob sich Bertrand und folgte dem jungen Ritter, der das Pferd bereits umrundete. Bertrand schloss mit schnellem Schritt zu Reynald auf.

An dem Stamm der Eiche lehnte ein junger Mann. Die sorgfältig gearbeitete Kleidung, ein feines Wams, makellose Beinlinge und die Federkappe mit einer schimmernd grünen Pfauenfeder verriet die vornehme Abstammung, da kein Bauer in Bretonia in seinen Lebzeiten nicht genug Geld erwirtschaften konnte, um auch nur eines der Kleidungsstücke zu erwerben. Reynald war bereits wenige Schritte von dem Unbekannten entfernt, doch dieser reagierte immer noch nicht. Der Blick des Fremden war auf Burg Merceaux gerichtet und offenbar bekam der Fremde sonst nichts mit.

„Gebt Euch zu erkennen“, rief Reynald, und riss den Unbekannten aus seiner Lethargie. Erschrocken drehte sich der junge Mann um und legte seine Hand an den Schwertknauf. Seine Augen zeigten gleichermaßen Intelligenz wie Überraschung. Doch nur Augenblicke, nachdem ihm die Farbe aus dem Gesicht gewichen war, kam diese zurück.
„Ihr gehört nicht zu Merceauxs Männern“, stellte der Fremde fest, und Bertrand merkte, dass seine Hand den Schwertknauf nicht mehr so verkrampft festhielt. Er sah die Beiden mehr mit Neugier, denn Angst an.
„Dies ist keine Antwort auf meine Aufforderung“, erwiderte Reynald, und senkte drohend den Speer. Beeindruckt stellte Bertrand fest, dass trotz dieser Bedrohung, der Fremde sichtlich gelassen blieb. Er war zwar jung, aber offensichtlich älter als Reynald oder Bertrand. Mitte Zwanzig, im besten Alter mit grünen Augen und einem rotblonden Schnurrbart, wobei sein Haupthaar bis auf seine Schultern hinab fiel, ein weiteres Indiz für seine vornehme Abstammung. Auch die hohe, gestrenge Stirn, war kein Hindernis, dass sich Bertrand sofort für den Fremden erwärmte.

Reynald teilte diese Auffassung offensichtlich nicht, denn er machte einen Schritt in Richtung des Fremden. „So war ich Reynald le Durie bin, gebt Euch zu erkennen, oder ich werde Euch persönlich vor den Grafen schleppen“, drohte er.
Der Fremde lächelte, und auch Bertrand wurde davon angesteckt. „Jetzt habt Ihr aber Euren Namen preisgegeben“, sagte Bertrand und trat näher.
„Ihr solltet besser auf Euren Freund hören, Sir Reynald“, schmunzelte auch der Fremde.
„Er ist nicht mein Freund, sondern nur ein Knappe“, erwiderte Reynald, in seinem Stolz verletzt, weil er sich überrumpelt fühlte. Für Bertrand waren solche Sticheleien inzwischen an der Tagesordnung, so dass er den letzten Satz einfach ignorierte.

„Und wie lautet Euer Name?“, fragte er stattdessen höflich. Der Fremde zog seine Kappe und verbeugte sich leicht. „Man nennt mich Sir Hubold“, erwiderte er höflich.
„Er gehört zu Descloux“, knurrte Reynald und die Spitze seines Speers zeigte auf Sir Hubolds Herz. Auch Bertrand sah jetzt das dort eingestickte Symbol, einen Falken innerhalb eines stilisierten Schilds. Sollte dieser Mann ein feindlicher Kundschafter sein? Blitzschnell spannte Bertrand den Bogen und zielte damit auf Sir Hubold.
„Ich bin in keiner feindlichen Absicht hier“, beteuerte Sir Hubold und nahm zur Bekräftigung seine Hand vom Schwertknauf. Bertrand zögerte, er setzte den Bogen ab, der Pfeil blieb jedoch an der Sehne, so dass er beim geringsten Zweifel sofort wieder schießen konnte.
„Erklärt Euch, Sir Hubold“, forderte Bertrand diesen auf.
„Wieso?“, unterbrach ihn Reynald verärgert. „Er ist ein Spion, wir sollten ihn gefangen nehmen.“
„Ich versichere euch erneut, meine Herren. Nicht die Fehde zwischen meinem Haus und dem Merceauxs hat mich hierher geführt“, sagte Sir Hubold.
Seine Stimme klang aufrichtig, zumindest nach Bertrands Meinung. Reynald le Durie hingegen machte einen weiteren Ausfallschritt in Sir Hubolds Richtung. Sein Speer zeigte immer noch auf dessen Herz. Die Konfrontation schien unausweichlich, denn Reynald schien nicht gewillt Sir Hubolds Aussage Glauben zu schenken.

Doch in diesem Moment erschien auf dem Ostturm der Burg Merceaux, auf einem breiten Balkon in luftiger Höhe eine Gestalt. Trotz der Entfernung von drei Bogenschussweiten waren die silbern schimmernde Seide des Kleids und der hohe, spitz zulaufend Hut aus weinrotem Damast weithin erkennbar. Für Bertrand stand außer Zweifel, um wen es sich dabei handelte. Und eine Ahnung, beschlich sein Herz.

Reynald le Durie war bereit zum Angriff. Er würde diesen Sir Hubold entwaffnen und ihn als seinen Gefangenen nach Burg Merceaux bringen. Wie viel Ehre im diese Tat einbringen würde, konnte er sich gar nicht richtig ausmalen. Zum schmählichen Dienst als Jagdbegleitung für einen Bauernknappen ausgeschickt, würde er nun als Triumphator auf dem Pferd seines Gefangenen heimkehren. Doch Reynald verdrängte rasch die Gedanken, denn immerhin war der Hase noch nicht gefangen. Doch sie waren zu zweit, und auch sich wenn in der Regel nicht auf die Kampfkraft der Gemeinen verlassen konnte, so musste Reynald doch eingestehen, dass Bertrand in diesem Bereich aus anderem Holz geschnitzt war, als die meisten seiner feigen Standesgenossen. Ja, zu zweit würden sie diesen Sir Hubold entwaffnen und ihn dem Grafen präsentieren, der sich sicher äußerst dankbar sein würde. Reynald war jedoch mehr als überrascht, als Bertrand seine Hand auf den Schaft legte und den Speer nach unten drückte. Mit einer Mischung aus Verärgerung ob Bertrands offensichtlicher Feigheit und seinem ungebührlichen Verhalten, die Anweisung eines Höhergeborenen zu ignorieren, herrschte Reynald den Knappen an.
„Was fällt Euch ein Bertrand? Lasst den Speer los.“
Bertrand schüttelte den Kopf, zu Sir Hubold gewandt sagte er: „Geht in Frieden Sir. Von unserer Seite droht Euch keine Gefahr.“

Die Anmaßung, dass dieser gemeine Knappe für sie beide sprach, raubte Reynald die Sprache. Sir Hubold hingegen wirkte erleichtert und dankbar. „Ich danke euch beiden, edle Herren. Möge die Herrin euch beschützen.“

Sir Hubold ging zu seinem Pferd. Reynald wollte sich ihm in den Weg stellen, doch Bertrand hielt den Speer immer noch in seinem unnachgiebigen Griff. Der andere Ritter schwang sich in den Sattel.
„Eine Frage noch, wenn Ihr gestattet. Seit wann gehört Euer Herz dieser Dame?“
Zu seinem Erstaunen erkannte Reynald, dass der fremde Ritter errötete. „Seit, … seit ich sie bei der letzten Sommersonnenwende in der Gralskapelle zu Parravon erblickte. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht ihr liebliches Gesicht vor meinen Augen habe“, gestand Sir Hubold und der stattliche Krieger wirkte mit einem Mal zerbrechlich. „Ich weiß nicht, warum ich euch beiden dies gestehe. Nicht einmal mein Vater kennt mein Verlangen, steht er doch in Fehde mit dem Haus Merceaux. Doch ich danke euch für euer Verständnis.“
Und mit diesen Worten gab Sir Hubold seinem Pferd die Sporen und jagte davon. Erst als er außer Reichweite war, ließ Bertrand Reynalds Speer los.

„Was fällt Euch ein?“, empörte sich Reynald, dem es nur mit Mühe gelang, seine Beherrschung nicht vollständig zu verlieren. Denn er erinnerte sich daran, dass kein Adeliger jemals seine Gefühle unkontrolliert vor einem Gemeinen offen legen sollte. Bertrand hingegen lächelte ihn an, als wäre das Ganze ein Possenspiel am Narrentag in Quenelles.
„Er war kein Spion“, beharrte Bertrand.
„Ach, und Ihr glaubt ihm das?“, erwiderte Reynald kopfschüttelnd, während er danach trachtete, den Knappen mit einem möglichst missbilligenden Blick zu belegen.
Sein Vorhaben schien offenbar nicht zu fruchten, denn Bertrand zeigte keinerlei Anzeichen von Schuldbewusstsein. „Ja, denn jeder Narr konnte erkennen, dass er nicht als Kundschafter unterwegs war.“
„Also war er nur hier, um Blumen zu pflücken? Und das ausgerechnet an einem Platz, der den besten Ausblick auf die Burg bietet. Ihr seid ein Gemeiner, Bertrand, aber jeder Spion würde diesen Ort auswählen um die Stärke seines Gegners zu beobachten.“
Bertrand sah Reynald entgeistert an. Dann erhellte sich seine Miene. „Ihr versteht es einfach nicht Reynald, oder? Offenbar, weil Ihr selbst der Liebe noch nie begegnet seid.“
An einem wunden Punkt getroffen, entschied sich Reynald, zum Gegenangriff überzugehen. „Und Ihr seid also der große Experte in diesen Dingen? Sagt mir, Bertrand, wie viele Herzen habt Ihr erobert? Zehn? Fünf?“
Bertrand drehte sich weg, es war sinnlos den Tag mit einem Wortgefecht zu vergeuden, während die Jagd noch auf sie wartete.

Doch Reynald ließ nicht locker. „Ah, jetzt weiß ich, wen Ihr meint. Diese Melisande, die Küchengehilfin aus der Burg meines Vaters. Diese kleine Bauern…“
Er kam nicht weiter. Schlagartig drehte sich Bertrand um. Sein Blick reichte, um Reynald verstummen zu lassen.
„Nehmt diesen Namen nie wieder in den Mund, Sir Reynald“, warnte er, und benutzte ausnahmsweise sogar die höfliche Anrede und den Titel des jungen Ritters. Reynald erkannte, dass er zu weit gegangen war. Gerade als Ritter, als Beschützer Bretonias, war man an den Ehrencodex gebunden. Und beinnahe hätte er dagegen verstoßen. Er schluckte all seinen Stolz hinunter und murmelte eine Entschuldigung.
Bertrand wandte sich wortlos wieder ab. Mit weiten Schritten ging er die Anhöhe hinab. Irgendwo in der Nähe musste hoffentlich eine Jagdbeute zu finden sein. Nur einen kurzen Moment zögerte Reynald, dann folgte er dem gleichaltrigen Knappen, der bereits in den Büschen verschwand. Am Himmel stieg eine weitere Schar von Vögeln auf. Es waren Krähen und ihr Krächzen erfüllte schaurig die Luft.
 
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3.7 Nächtlicher Überfall

„Ihr habt richtig gehandelt“, befand Jerome de Montfort.
Sie standen zu dritt in einer Nische des großen Saals, während das Fest noch im vollen Gange war. Zahlreiche Ritter und ihre weibliche Begleitungen saßen an einer langen Tafel, die sich vor Wildbret und anderen Köstlichkeiten nur so bog. Der Wein floss in Strömen, offenbar scheute der Graf aus Anlass der Rettung seiner Tochter weder Kosten noch Mühen. Die Stimmung war ausgelassen, doch es war eine aufgesetzte Heiterkeit. Sichtbar war dies auch an den zahlreichen, schwer bewaffneten Wachen, die sogar hier Posten bezogen. Die Fehde, und die Aussicht in einem Gefecht zu fallen, trübte sogar diesen seltenen, friedlichen Moment.

Reynald war sofort zu Jerome geeilt, und hatte diesem alles über ihre Begegnung im Wald berichtet. Es gab eine Bezeichnung dafür, befand Bertrand, doch diese passte eher zu den alten Weibern, die am Flussufer zusammen kamen um die Wäsche zu waschen, denn zu dem Bild eines Ritters. Doch Jerome de Montfort hatte sich nicht mit Reynalds Version begnügt, sondern auch von Bertrand eine Schilderung verlangt. Er hatte sogar nach Bertrand geschickt, der sich zu diesem Zeitpunkt in der großen Hauptküche befand. Dort hängten auch die beiden Rebhühner kopfüber an einem Balken, damit das Fleisch ausbluten konnte.
„Aber, ein Feind unseres Gastgebers ist entkommen. Wir haben auch die Lady Beatrice gegen die Männer Descloux verteidigt“, warf Reynald ein, der sich nicht kampflos geschlagen geben wollte.
Jerome sah den jüngeren Ritter an. „Dies ist nicht unser Kampf, Reynald. Die Rettung der Lady war ein Gebot unseres Eides, den wir vor der Feenzauberin geschworen haben. Wenn wir uns des Grals würdig erweisen wollen, müssen wir das Unrecht bekämpfen. Aber diese Fehde zwischen Merceaux und Descloux ist keine solche Angelegenheit.“

Die Besprechung war damit beendet. Jerome und Reynald gingen wieder zu ihren Ehrenplätzen an der Seite des Grafen. Bertrand ging zurück in die Küche, wo er weiterhin ein wachsames Auge auf die beiden Rebhühner warf, und andererseits ein Stück Fleisch von den Teilen ergatterte, die von den feiernden Adeligen verschmäht wurden.

Es war weit nach Mitternacht, als Bertrand zu seinen Gemächern torkelte, denn letzten Endes hatten auch mehrere Becher Wein den Weg seine Kehle hinunter gefunden. Er öffnete leise die Türe, wo Jerome und Reynald bereits in den Betten lagen und schliefen. Für ihn, als Knappen von niedriger Herkunft gab es keinen solchen Luxus, doch auch sein Lager war im Vergleich zu der Wildnis oder den dürftigen Unterkünften in den Ställen der Dörfer weitaus angenehmer. Er hatte vielleicht zwei oder drei Stunden geschlafen, als ihn ein lautes Geräusch weckte. Dunkelheit herrschte rings um ihn, doch von außen drang dumpf Lärm herein. Auch Reynald und Jerome waren wach. Bertrand blinzelte, doch dadurch lichtete sich die Dunkelheit auch nicht. Den Boden entlang kroch Bertrand in Richtung des Erkers. Er klappte die hölzernen Fensterläden zur Seite. Kalte Morgenluft drang in das Gemach, doch zugleich wurde es auch heller. Der Morgen graute bereits am Horizont. Im Burghof tanzten Lichtpunkte. Männer mit Fackeln in der Einen, und Waffen in der anderen Hand rannten zu den Mauern.

Jerome und Reynald gesellten sich zu Bertrand. Aus dem Hof kamen Rufe, Wachen die die restlich Burgbesatzung zu den Waffen riefen. Bertrand hörte Satzfragmente wie, „sie haben das Vorwerk“ und „Überfall“.
Reynald eilte zu seiner aufgebahrten Rüstung. Er zog seinen gesteppten Gambeson, das Untergewand an, dann sein Kettenhemd.

„Ich könnte hier Hilfe gebrauchen“, sagte Reynald ungeduldig in Bertrands Richtung. Bertrand eilte zu ihm und half dem jungen Ritter mit den stählernen Arm- und Beinschienen. Reynald stülpte sich noch seinen Wappenrock und die Kettenhaube über. Bertrand drehte sich um, doch Jerome stand bereits vollständig gerüstet da, und legte seinen Schwertgurt um. Das goldene, juwelenbesetzte Heft von Oriflammè funkelte trotz des nur fahlen Morgenlichts. Bertrand legte sein eigenes Kettenhemd, das weitaus weniger stark gepanzert war, als die der beiden Ritter, an und nahm seine Waffen, darunter seinen Langbogen. Reynald griff nach seinem Helm.
„Keine Helme“, befahl Jerome. Es war eine richtige Entscheidung, ihre sperrigen Helme waren im Kampf zu Fuß in der Enge einer Burg nur ein Nachteil. Einzig Bertrand nahm seinen Helm, der keinerlei Federbusch oder Helmflügel aufwies.

Sie verließen ihr Quartier und eilten über den Hof zum Haupttor. Sir Hugo, der Neffe des Grafen erwartete sie bereits, umringt von einer großen Anzahl Wachen.
„Mein Onkel ist oben“, sagte Sir Hugo knapp und grimmig. Sie gingen nach oben, an die Brüstung, über dem Tor. Der Graf war bereits vollständig gerüstet, ein Rundhelm saß auf seinem Kopf, darunter die obligatorische Kettenhaube. Er grüßte kurz und bat sie dann an die Brüstung. Das Vorwerk hob sich im fahlen Licht eines noch nicht vollständig angebrochenen Tages von dem Hintergrund ab. Mehrere Gestalten waren darauf zu sehen, die eine Fahne hissten.

„Descloux“, sagte der Graf und spie die Worte verächtlich aus. „Wir werden uns zurückholen, was uns gehört. Hugo wird den Hauptangriff anführen, mit eurer Hilfe, edle Herren.“
„Sendet mich alleine zur Verhandlung, damit diese Fehde ein Ende hat“, bot Jerome de Montfort an. Bei diesem Vorschlag wich der Graf zwei Schritte zurück und Verachtung machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Ich hatte mehr von Euch gedacht, Sir Jerome. Nein, niemals werde ich mit Descloux verhandeln!“, schrie der Graf. Er hob seine gepanzerte Hand und zeigte auf Jerome. „Wenn Ihr so über die Sache denkt, dann bleibt besser in Euren Gemächern.“

Sir Hugo nahm seinen Schild, auf dem eine silbrige Forelle prangte. Er sah Jerome an, und schüttelte bloß den Kopf, dann ging er die Treppe hinab, wo seine Männer warteten. Reynald sah zu Boden, als würde er am liebsten vor Scham in diesem versinken. Jerome gab einen Wink, und zu dritt verließen sie das Haupttor. So sahen sie den Gegenangriff nicht. Zahlreiche Bogenschützen entlang der Mauern und Türme begannen ihren Beschuss. Im aufgehenden Morgen regnete es Feuer, als die brennenden Pfeile zu Hunderten auf das Vorwerk niederprasselten. Auch wenn ein Großteil nur in den Boden einschlug, trafen zahlreiche ihr Ziel und rächten so die zuvor dahin gemetzelten Verteidiger. Dann rasselten die schweren ehernen Ketten und die große Zugbrücke krachte donnernd herunter. An der Spitze seiner Männer führte Sir Hugo den Ausfall der Verteidiger an, sein Schwert kreiste über seinen Kopf, während er seine Soldaten nach vorne dirigierte. Die überlebenden Angreifer nahmen nun ihrerseits den Beschuss auf. Einige von Sir Hugos Soldaten fielen getroffen zu Boden, doch die große Masse schob sich unaufhörlich weiter. Über all dem feuerten die Bogenschützen Merceauxs weiter ihre feurigen Salven ab. Dann erreichte Sir Hugo das Vorwerk und seine Truppe ging in den Nahkampf, den die verbliebenen Angreifer erbittert erwiderten. Das Geschrei der Sterbenden durchbrach die Morgenstille. Wie ein Omen war der Horizont in ein blutrotes Band getaucht, der von der bald aufgehenden Sonne kündete.

„Ich verstehe dies nicht. So eine Schande“, protestierte Reynald, während sie die Mauer entlang gingen. Obwohl er seine Differenzen mit dem jungen Ritter hatte, musste sich auch Bertrand eingestehen, dass er die Entscheidung seines Herrn nicht nachvollziehen konnte.
„Es waren zu wenige“, sagte dieser schlicht, als wäre damit alles gesagt. Jerome ging die Mauer entlang, in diesem Bereich war keine Menschenseele, da die gesamte Wachmannschaft nun am Haupttor war. Der Kampflärm drang nur noch gedämpft zu ihnen.
„Ich verstehe nicht“, wiederholte Reynald.
„Die Angreifer bestanden höchstens aus fünfzehn Mann“, erklärte Jerome, dann ging er weiter, in Richtung des Wohnturms.
„Und?“, fragte Reynald verständnislos.
„Descloux wäre nicht so töricht, so wenige Männer für einen Angriff auf die Burg seines Feindes abzustellen. Es sei denn…“, erklärte Bertrand, dem allmählich ein Licht aufging.

Reynald erwiderte seinen triumphierenden Blick mit einer giftigen Retourkutsche, doch auch er hatte begriffen. Sie eilten weiter. An einer Ausbuchtung der Mauer warf Reynald einen Blick hinunter.
„Seht!“, rief er aufgeregt. Jerome und Bertrand folgten seiner Aufforderung. Am Fluss tummelten sich unzählige Kähne, Boote, ja sogar Flösse. Der Großteil dockte bereits an dem kleinen Steg an, der über ein Portal zur Burg führte. Das Tor war zwar verschlossen, aber eine Gruppe von Soldaten machte sich bereits mit einer Ramme daran, diesen Umstand zu ändern.

Jerome, Reynald und Bertrand eilten weiter, eine von zwei Mauern begrenzte steinerne Stufe führte zu dem Tor hinunter. Direkt hinter ihnen lag der Wohnturm, das Herz der Burg.
Jerome de Montfort zog Oriflammè, das geweihte Schwert und kniete zum Gebet nieder. Die Ramme donnerte gegen das Tor, dessen eisenbewehrtes Holz bereits Risse bekam. Der große Ritter stand wieder auf und küsste das Heft seiner Klinge, dann wandte er sich Bertrand zu.
„Sucht jemanden, der dem Grafen Nachricht von diesem Angriff überbringt“, befahl er.

Bertrand nickte und beeilte sich widerwillig dem Auftrag zu folgen. Er eilte durch das Tor des Wohnturms und sah sich hektisch um. Von draußen erklang das Pochen der Ramme wie ein drängendes Omen an sein Ohr. Er ging wahllos in den nächsten Raum, eine Vorratskammer. Doch hinten, in dem abgedunkelten Raum sah Bertrand eine Bewegung. Es war eine Gestalt, die sich unruhig im Schlaf hin und her bewegte. Unglaublicherweise hatte sie offenbar nichts von den Vorfällen dieses Morgens mitbekommen. Bertrand weckte diese unsanft aus ihrem Schlummer, es war ein Bediensteter.
„Was?“, fragte der Diener schlaftrunken.
„Wacht auf, wir werden angegriffen!“, sagte Bertrand ungeduldig. Er war in Gedanken bei Jerome und Reynald, die sich alleine dem Hauptangriff entgegen stellten. Mühsam erhob sich der Bedienstete, Bertrand half ihm auf die Beine.
„Hey!“, protestierte der Bedienstete, als ihn Bertrand am Arm nahm und nach draußen zog. Der Protest verstummte, als er die gerüsteten Ritter sah, und das Donnern der Ramme gegen das Seeportal vernahm. Er zuckte förmlich zusammen.

„Rennt zum Grafen. Er ist beim Haupttor. Sagt ihm, dass der eigentliche Angriff hier erfolgt, er soll jeden Mann hierher führen. Beeilt Euch“, forderte ihn Bertrand auf. Der Diener rannte los und verschwand.
Mit einem Krachen barst das Holz des Portals und große Risse wurden sichtbar. Ein zweiter Stoß, und das Tor flog in dutzenden Einzelteilen zu Boden. Die ersten Angreifer erschienen, ein jeder mit dem Zeichen Desclouxs, dem Falken. Sie schwangen schreiend ihre Waffen und stürzten sich auf die drei Verteidiger.
„Es sind Menschen, versucht ihr Leben zu schonen“, ermahnte sie Jerome, dann waren die ersten Gegner bereits in Reichweite. Der Wirkung seines Bogens beraubt, musste sich Bertrand mit seinem Schwert und Schild verteidigen. Zwei bewaffnete Landsknechte sprangen ihn mit Hellebarden an. Die scharfen Spitzen drängten ihn immer weiter zurück. Bertrand hechtete beim nächsten Angriff zur Seite. Sein Schwert fuhr blitzend herab und trennte die zum Stoß vorgeschobene Hellebarde in zwei Stücke. Die siegessichere Miene des Angreifers wich jäher Bestürzung. Mit einem lauten Krachen schlug Bertrand seinen Schild gegen dessen Gesicht und brach ihm dadurch die Nase. Der Landsknecht hielt sich beide Hände vor das blutige Gesicht und sank in die Knie. Der zweite Angreifer sprang vorwärts, bereit, seinen besiegten Kameraden zu rächen. Bertrand ließ den Stoß er Hellebarde mit seinem Schild zur Seite gleiten, seine gepanzerte Faust schoss vorwärts. Es war die zweite gebrochene Nase an diesem Morgen. Bertrand eilte weiter, um seinem Herrn Jerome und Reynald zu helfen.

Die nächste Welle der Angreifer kam durch das geborstene Tor, da immer mehr Boote an dem Steg andockten. Wie zuvor schien Jerome de Montfort in der Schlacht zu wachsen. Der hünenhafte Ritter überragte alle anderen um mindestens eine Kopflänge. Er war wie ein Fels in der Brandung, an dem sich alle Attacken brachen. Doch da sie versuchten, die Angreifer nicht zu töten, wurden sie durch deren schiere Masse zurück gedrängt. Mit jedem Schritt kamen sie dem Wohnturm näher und damit dem Triumph der Angreifer. Sie standen bereits vor dem Eingang des Wohnturms Schulter an Schulter, und immer neue Angreifer strömten durch das Tor herein.

„Für Merceaux“, rief plötzlich jemand. Mit einem Schlag änderte sich das Szenario, als der Graf an der Spitze seiner Soldaten ins Geschehen eingriff. Die Kämpfer erreichten eine neue Heftigkeit, als die Männer aus Merceaux und Desloux erbittert aufeinanderprallten. Verletzte und Sterbende sanken zu Boden, während die Schlacht hin und her wankte. Menschliches Blut netzte in Strömen den Boden, als die Fehde ihren blutigen Tribut einforderte.
Bertrand sah eine vertraute Gestalt. Er trat ihr entgegen, es war Sir Hubold, in voller Rüstung mit hochgeklapptem Visier.
„So denkt Ihr das Herz eurer Geliebten zu erlangen? Indem Ihr ihre Burg erobert“, rief Bertrand über den Schlachtenlärm hinweg.
„Nein, … Ihr missversteht mich. Dies war die Idee meines Vaters. Ich will nur zu Beatrice, um sie zu beschützen“, erwiderte Sir Hubold. Bertrand war bereits gewillt, dem Ritter zu vertrauen, da schoss Reynald vorwärts und griff Sir Hubold an.
„Nein!“, schrie Bertrand, aber Reynald ließ nicht von seinem Gegner ab. Sir Hubold wich zurück, seine Paraden auf bloße Abwehr beschränkt. Aber Reynald deckte den Ritter mit einer Vielzahl von Schlägen ein, so dass dessen Schild sich bereits verbeulte.
Bertrand eilte herbei und riss Reynald zurück.
„Was fällt Euch ein?“, herrschte ihn dieser an. Doch noch bevor er antworten konnte, kamen plötzlich alle Kämpfe zum Erliegen. Weithin hörte man Jerome de Montforts Stimme, die Ruhe befahl.

„Legt die Waffen nieder. Es ist vorbei“, sagte Jerome. Die Männer gehorchten ihm, beeindruckt von seinem Auftreten. Doch da war noch mehr, Bertrand sah auf beiden Seiten betretene Gesichter.
„Was ist passiert?“, fragte er den nächsten Soldaten, der sich eine blutende Wunde am Oberarm hielt.
„Sie sind tot“, erwiderte dieser. „Der Graf und der Baron haben sich im Zweikampf gegenseitig erschlagen.“
Bertrand sah sich um, überall lagen Verletzte oder Tote. Ein sinnloses Gemetzel, und all das nur wegen einiger Wiesen. Fataler Weise hatte ihr grenzenloser Hass die beiden Anführer nun auch ihr Leben gekostet. Sir Hugo kniete bereits neben dem regungslosen Grafen, Sir Hubold eilte, nun unbedrängt, zu der Leiche seines Vaters.
Jerome de Montfort trat hinzu.
„Es ist genug Blut vergossen worden“, verkündete er. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah ihn Sir Hugo an.
„Es tut mir für Euren Onkel Leid“, sagte Jerome mitfühlend. „Doch dieser Kampf hat bereits zu viel gekostet. Auf beiden Seiten.“
„Doch wie?“, fragte nun Sir Hubold, dem die Trauer ebenfalls ins Gesicht geschrieben stand.
„Ich hätte da einen Vorschlag“, sagte Bertrand und trat vor.

Die Sonne war aufgegangen, ein außergewöhnlich strahlender Tag, der so sehr im Kontrast zu dem Leid des Morgens stand. Teile des Vorwerks rauchten immer noch, wo sie infolge der Kampfhandlungen gebrannt hatten. Die Toten waren aufgebahrt, die Verwundeten befanden sich in der Fürsorge geübter Hände. In der Kapelle unter den von der Sonne beleuchteten Buntglasfenstern legte Lady Beatrice zögerlich ihre Hand in die weitaus größere Hand von Sir Hubold und gab ihm ihr Versprechen.
Jerome de Montfort schwang sich in seinen Sattel. Oriflammè hing wieder an seinem Schwertgurt, sein Flügelhelm hing an seinem Sattelknauf. Sir Hugo trat näher und reichte ihm die Hand. Bereitwillig schlug Jerome ein.
„Ihr werdet mir auf ewig ein Rätsel bleiben“, gestand Sir Hugo.
„Solange Ihr mich als Freund in Erinnerung behaltet“, erwiderte Jerome lachend. Sir Hugo lachte ebenfalls.
„Nun habt Ihr, was Ihr Euch gewünscht habt“, sagte Bertrand zu Sir Hubold.
„Ja, doch um welchen Preis?“, fragte Sir Hubold. Bertrand nickte betroffen. Sowohl Sir Hubold, als auch seine frisch angetraute Frau mussten mit dem Verlust ihres Vaters zu Recht kommen. Bertrand war selbst noch ein junges Kind gewesen, als sein Vater von ihm gegangen war und eine seelische Narbe war in seinem Herzen zurück geblieben. Nur die Zukunft konnte zeigen, wie das junge Ehepaar mit diesem Verlust zurande kommen würde. Bertrand betete inständig, dass damit zumindest die Gräben der Fehde überwunden wurden. Er verabschiedete sich und ging zu seinem Pferd, wo Jerome und Reynald bereits auf ihn warteten. Dann ritten sie über die Zugbrücke hinaus und schlugen den Weg ein. Den Weg nach Süden, die Burg Merceaux hinter sich lassend.