3.4 Oriflammè
„Die Fährte führt nach Süden“, rief Reynald le Durie schon von Weitem, als er herangeritten kam. Jerome nickte bloß schweigen, aber selbst diese bescheidene Geste führte dazu, dass der junge Ritter beschämt zu Boden blickte. Obwohl er sich nicht viel aus diesem einfachen Knappen, einem Bauernsohn machte, war es während seiner Wache gewesen, als Bertrand verschwunden war. Es war die Pflicht eines Ritters, seine Aufgaben wahrzunehmen, und in diesem Fall hatte Reynald auf ganzer Linie versagt. In aller Eile war das Lager abgebaut worden, nur um dann in möglichst schnellem Tempo die Verfolgung aufzunehmen. Bertrand hatte sich keinerlei Mühe gemacht seine Spur zu verbergen. Querfeldein ging es, eine fast gerade Linie die sich gen Süden erstreckte.
Ihre Schlachtrösser würden sicherlich bald den weitaus schwächeren Klepper Bertrands einholen, dachte Bertrand zuerst. Doch die Sonne zeigte bereits an, dass es Mittag war, und Bertrand war immer noch nicht in Sicht. Zwei weitere Stunden trieben sie ihre Pferde in scharfem Tempo an. Jerome gönnte ihnen keine Pause. Nur einmal tränkten sie die Pferde an einen kleinen Weiher, doch selbst dann blieben sie im Sattel.
Dann ging es weiter.
Langsam spürte Reynald nagenden Hunger, selbst ein Ritter war davor nicht gefeit. Und er merkte, wie seine steigende Wut langsam die Oberhand über seine Scham gewann. Gut, er war in seiner Wache eingenickt. Aber niemand hatte diesen Bertrand dazu gezwungen, einfach ohne ein Wort zu verschwinden. Wie kam dieser Bauernjunge auf eine derart abstruse Idee? Vielleicht war es der Fieberwahn, doch Reynald hielt es für wahrscheinlicher, dass Bertrand sie einfach im Stich gelassen hatte. Denn was wusste ein Gemeiner schon von Treue?
Die Landschaft veränderte sich. Die flachen Wiesen und Wäldchen gingen in eine wellige Hügellandschaft über. In der Ferne erhob sich eine Bergkette blau in den Himmel.
„Welche Berge sind das?“, fragte Reynald um die unangenehme Stille zu überwinden.
„Das Massif Orcal“, erwiderte Jerome de Montfort ungerührt.
Reynald erschauderte bei der Erwähnung dieses Namens. Er hatte von diesem Gebirgszug, der sich am Ostrand des Waldes von Chalon bis in die Herzogtümer Parravon, Quenelles und Bastonne erstreckte, schon gehört. Das Massif Orcal oder auch Orkmassiv war ein beständiger Dorn in den umliegenden Herzogtümern. Es war eine wilde, unwirtliche Gegend. Jeder Besiedelungsversuch seitens der sonst so genügsamen bretonischen Bauern war kolossal gescheitert. Das einzige Leben in dieser Kette waren die Grünhäute. Unter König Louis Orktöters Kreuzzügen war ihre Zahl massiv reduziert worden, dennoch blieb das Massiv weiterhin Grünhautland. Selbst die ehemals errichteten Wachtürme Festungen waren schon seit langer Zeit verlassen, als die Gefahr durch die Orks und Goblins abgeflaut war.
Angesichts der Aussicht in diese verrufene Gegend zu reiten, fühlte Reynald ein flaues Gefühl im Magen.
Als sie die Ausläufer des Orkmassivs erreichten, änderte sich das Landschaftsbild. Die Vegetation wurde spärlicher. Die wenigen Exemplare von Bäumen waren allesamt Kiefern und selbst diese wirkten kränklich. Lediglich das Moos am Boden schien reichlich zu sprießen, doch auch dies war ein Hinweis darauf wie dünn die Erdschicht über dem nackten Felsen hier war.
Die Fährte führte weiter in das Orkmassiv hinein. Reynald beschlich das ungute Gefühl, als würden sie von tausend Augen beobachtet, doch er konnte niemanden auf den kahlen Höhen und Berghängen ausmachen. Als würde es Jerome de Montfort auch spüren trieb er Tourbillon an und Reynald folgte ihm eilig, die Zügel des Packpferdes fest in seinen Händen.
Eine gute Viertelstunde ging es schweigend weiter, das einzige Geräusch waren das Klappern der Hufe ihrer Pferde, welche sich bemühten auf dem kargen Boden ausreichend Halt zu finden. Langsam stieg das Terrain an, als sie die Fährte weiter zwischen zwei hohen Hügeln hinein führte.
Nach einer weiteren Viertelstunde, ohne eine Spur von Bertrand, außer den Hufabdrücken seines Reittieres, ging der Pfad in eine sanfte Kurve, als ihr Weg zu dem Fuß des Hügels führte. Ihre Umgebung wurde noch zerklüfteter, blanke Gesteinsformationen unterschiedlicher Farbtönen waren zu sehen, wo sich ein lang versiegter Fluss seinen Weg durch den Fels gebahnt hatte. Jerome ritt an der Spitze, so dass Reynald die Sicht versperrt war. Mit jedem Schritt seines Hengstes Bèlemnite verstärkte sich das unangenehme Gefühl in seiner Magengrube.
„Wohin reiten wir?“, rief er schließlich, mehr um sein eigenes Unbehagen zu verdrängen. Jerome blieb still, die einzige Antwort kam von dem Echo seiner eigenen Frage, dass sie sich an den engen Felswänden brach.
Doch dann hörte Reynald einen zweiten Laut. Dieses Mal war es nicht seine eigene Stimme.
Es war das Wiehern eines Pferdes, kein Zweifel. Seit seiner Kindheit war er mit Pferden vertraut, schließlich waren sie die treuen Gefährten eines jeden bretonischen Ritters. Und ein Pferd mitten in dieser Wildnis konnte nur eines bedeuten …
Jerome de Montfort war wohl zu demselben Entschluss gekommen, denn er gab seinem Streitross die Sporen. Die eisenbeschlagenen Hufe von Tourbillon, seinem prächtigen Reittiert, schlugen Funken auf dem felsigen Boden, als es vorwärts schoss. Reynald zögerte zuerst, doch dann folgte er Jerome, dem er auf dem Schlachtfeld einen Eid geschworen hatte. Und er wollte verdammt sein, wenn er diesen feierlichen Schwur brach. Selbst wenn man sich deswegen für einen Bauerntölpel wie diesen Bertrand in Gefahr begab.
Seine Sorge erwies sich nach wenigen Sekunden als unbegründet. Sie fanden Bertrands Pferd, ein einfacher Klepper, kein Vergleich zu Reynalds eigenem, weitaus edleren Ross. Hirondelle wieherte erfreut, als es die anderen Pferde witterte. Der Gaul stand neben einer verkrüppelten Fichte, sein einfacher Lederzügel war lose an dem Stamm befestigt. Von Bertrand selbst war keine Spur zu sehen.
Jerome de Montfort schwang sich bereits aus dem Sattel und trat zu Hirondelle. Sanft berührte er dessen ungeschlachten Kopf an den Nüstern und tätschelte diesen, was Hirondelle mit einem Schnauben goutierte. Reynald warf Jerome die Zügel des Packpferdes zu und trieb sein eigenes Ross vorwärts. Nach einigen Schritten wendete er.
„Er ist den Pfad nicht weitergegangen. Zumindest sehe ich keinerlei Spuren.“, rief er zurück. Jerome band derweil sein eigenes Tier und das Packpferd an dem Stamm fest. Er schirmte sein Gesicht mit seiner mächtigen Hand ab und sondierte die beiden Hänge. Dann zeigte er mit seinem anderem Arm, so schnurgerade wie eine Lanze auf den linken Hügel.
„Dort oben sehe ich eine Höhe. Wir versuchen dort unser Glück“, antwortete Jerome.
Reynald kam zurück und stieg aus dem Sattel. Er nahm die mit kleinen Wappen verzierten Zügel und schwang sie ebenfalls um die verkrüppelte Fichte. Ungläubig schaute er auf den Hügel und die lose Geröllwand, die sie durchqueren mussten. Jerome ging voraus, entweder hatte er seine Zweifel nicht bemerkt, oder sie waren ihm egal. In beiden Fällen konnte Reynald entweder bei den Pferden bleiben, oder seinen Eid erfüllen. Die Ehre allerdings ließ nur eine Option zu. Wie ein treuer Hund seinem Herren, folgte Reynald dem hünenhaften Jerome, der unbekümmert in den Hügel stieg.
Der Aufstieg sollte sich allerdings als weitaus schwerer erweisen, und Reynalds diesbezügliche Zweifel als begründet erscheinen lassen. Es lag weniger an der Steigung der Böschung, die durchaus moderat war. Das Terrain war in Wirklichkeit nicht das Problem. Die Böschung entpuppte sich für die beiden Ritter deswegen tückisch, weil der gesamte Hügel mit Geröll von der Größe einer Faust bedeckt war. Mehr als einmal drohte Reynald auf dem lockeren Untergrund auszurutschen, als seine stählernen Stiefel keinen Halt fanden. Nach einer Viertelstunde mühselige Kletterns und mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen erklomm Reynald schließlich eine kleine Plattform. Was auch immer Bertrand zu solch einem Wahnsinn getrieben hatte, Reynald schwor sich, dem jungen Bauern für die erlittenen Mühen zu maßregeln. Und in diesem Moment war es ihm sogar egal was Jerome de Montfort davon hielt. Wenn es nach Reynald ginge, dann wären sie dem Entlaufenen ohnehin nicht gefolgt.
Kein Bauer, und auch kein Knappe, waren solch einen Aufwand wert.
Jerome de Montfort zog sein Schwert und ging in die Höhlenöffnung. Nach wenigen Schritten verschwand er im Dunklen. Einen Moment lang zögerte Reynald, dann zückte auch er seine Klinge und folgte dem älteren Ritter. Für einige wenige Augenblicke umschloss ihn tiefste Finsternis. Nur sein Atem und die hallenden Schritte seines Vorgängers waren zu hören. Dann gewöhnten sich die Augen an das Dunkel und Reynald konnte sich nun immerhin besser orientieren. Der Pfad führte schnurgerade weiter. Vor sich sah Reynald Bewegung, einen Schatten, von dem er hoffte, dass es sich dabei um Jerome handelte.
Der junge Ritter Reynald war noch keine hundert Schritte gegangen. Plötzlich schien es, als wäre Jerome verschwunden. Hastig steigerte Reynald sein Tempo. Eine Entscheidung, die er sehr bald bitterlich bereuen sollte. Inzwischen rannte Reynald schon mehr, als das er ging. Drei weite, raumgreifende Schritte. Doch plötzlich war der Halt gebende Boden verschwunden. Der letzte Schritt führte ins Leere, Reynald verlor sein Gleichgewicht und drohte in einen tiefen Schlund zu fallen.
Ein Panikschrei löste sich von seinen Lippen, als er das Gleichgewicht verlor. Eine Hand fasste mit stählernem Griff seinen rudernden Arm. Mit Bärenkräften zog Jerome de Montfort Reynald von dem tiefen Abgrund weg. Schweiß floss in Strömen von dem keuchenden Reynald, der nun wieder sicheren Boden unter den Füssen hatte.
„Habt Dank“, sagte Reynald atemlos und blickte hinab in das tiefe Nichts, wobei ihm ein Schaudern über den Rücken lief.
„Gebt Acht, und benutzt euer Schwert um den Weg abzutasten“, riet Jerome de Montfort und wandte sich ab. Reynald folgte diesem Rat. Gemeinsam sondierten sie den weiteren Weg.
Der Pfad machte an der Stelle, wo Reynald beinnahe abgestürzt war, eine scharfe Rechtsbiegung und schmiegte sich entlang der Höhlenwand weiter. Es ging nur langsam vorwärts, zu tief saß der Schock noch in den Knochen. Fast eine Viertelstunde bewegten sich die beiden Ritter in ihrer vollen Rüstung im sprichwörtlichen Schneckentempo vorwärts.
Der Pfad wurde schließlich wieder breiter, nun konnten zwei Mann wieder bequem nebeneinander gehen. Jerome und Reynald jedoch entschieden sich wortlos dafür, noch im Gänsemarsch zu bleiben und kein Risiko einzugehen. Der Weg schlängelte sich in nun in zahlreichen Kurven immer tiefer in den Hügel hinein.
„Ich sehe einen schwachen Schimmer voraus“, sagte Jerome, und Reynald sandte sofort ein Dankgebet an die Herrin. Alles war besser, als weiter in dieser Dunkelheit wie ein Blinder herumzustochern.
Mit jedem Schritt wurde der Schein heller. Nach einer weiten Biegung wurde es endlich so hell, dass Reynald seine Umgebung nun eindeutig erkennen konnte. Die Wände waren aus rotem Stein in den unterschiedlichsten Schattierungen, glitzernde Adern durchzogen den Fels. Offenbar gab es hier Erzvorkommen, doch Reynald bezweifelte angesichts ihres mühseligen Weges und des Standpunktes, dass sich jemand für einen Abbau finden würde. Doch es war nicht dieser Anblick, der Reynald den Atem raubte.
Direkt vor ihnen weitete sich der Boden wieder auf die ganze Fläche aus. Künstliche Formen waren in den Fels gehauen worden. Reynald erblickte Statuen und Figuren, verschiedene Ornamente. Die gesamte Front glich dem Eingang eines Gebäudes, es erinnerte fast an eine Kathedrale. Es war kunstvoller als die Gralskapelle von Parravon, die Reynald als junger Knabe einst ehrfurchtvoll bestaunt hatte. Eine Inschrift wand sich entlang der Stirnseite der Gebäudefront. Die Schriftzeichen waren kunstvoll geschwungen, doch Reynald selbst konnte sie nicht entziffern. Er wunderte sich, da die Statuen allesamt Menschen in prunkvollen Rüstungen zeigten. Doch keine der Rüstungen oder Waffen kamen Reynald vertraut vor. Sämtliche Skulpturen verbargen ihre Gesichter ebenfalls hinter herunter geklappten Visieren.
Licht fiel von oben herab. Doch als Reynald seinen Blick hob, konnte er die Quelle nicht ausfindig machen. Offenbar brach sich das Tageslicht mehrmals, bevor es in dieser Höhle ankam. Doch wesentlich wichtiger war das, was sich direkt vor seiner Nase abspielte. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte, dass eine der knienden Figuren gar nicht leblos war. Es handelte sich dabei vielmehr um Bertrand, der völlig lethargisch war, und ihre Ankunft gar nicht zu bemerken schien.
Jerome ging zu seinem Knappen, die Schritte des Hünen hallten in der Stille, und legte diesem seine Hand auf die Schulter. Doch selbst dadurch blickte der Knappe nicht auf, sondern kauerte weiterhin vor einer Struktur, die einem Schrein ähnelte. Bertrand hielt beide Hände vor seinem Gesicht, sein Oberkörper wippte wie in Trance leicht vor und zurück.
Reynald ging ebenfalls zu den beiden anderen.
Nach wie vor kniete Bertrand zusammen gekauert am Boden, und reagierte nicht auf die
Anwesenheit der beiden Ritter. Jerome schüttelte seinen Knappen, doch selbst diese drastische Aktion bewirkte bei diesem keine Veränderung. Weiterhin gab Bertrand murmelnd unverständliche Wortfetzen von sich.
„Dies bringt doch nichts. Er ist eindeutig im Fieberwahn“, bemerkte Reynald resigniert.
„Ihr irrt Euch, junger Ritter“, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Wie von einer Tarantel gestochen, wirbelte sowohl Reynald, als auch Jerome de Montfort herum.
Als wäre sie aus dem Nichts gekommen, stand nun eine Frau in einem schimmernden Seidenkleid neben einer der Statuen. Das Kleid war über und über mit glänzenden Perlen bestickt, ein weiter dunkelblauer Umhang hing ihr an einem kunstvoll gearbeitetem golden Verschluss um die Schultern. Ein Tuch von gleicher Farbe, mit feinen Goldstickereien durchsetzt bedeckt ihr Haupt, das von einem silbern schimmernden Band in Form gehalten wurde. Dennoch fiel der Fremden ihr feuerrotes Haar weit in zahlreichen Locken über die Schultern hinab. Hellblaue Augen blitzten aus einem attraktiven Gesicht und Reynald war sich sicher, dass es in der ganzen Alten Welt keine Frau gab, die es mit dieser Schönheit aufnehmen konnte. Anmutig stieg die Frau von den Stufen hinab, ihre zierlichen Füße steckten in silbernen, feinen Schuhen, um die sie jede Adelige Bretonias beneidet hätte.
Als sie näher kam, drang Reynald der liebliche Geruch ihres Parfüms, welches wie der Duft frischer Blumen roch, in die Nase. Der junge Ritter war in dem Bann der Fremden, wie unter Hypnose stand er regungslos da, unfähig auch nur einen Finger zu rühren.
Jerome de Montfort jedoch hob argwöhnisch sein Schwert. Die Umstände bestärkten seinen Verdacht, dass hier Magie am Werk war und es nicht mit rechten Dingen zuging.
„Erklärt Euch, Lady“, rief er. Sein Ruf hallte durch die leere Höhle. Zur Antwort begann die Schönheit laut zu lachen. In ihrem Lachen lag allerdings keine Häme, es ertönte vielmehr laut und freundlich. Beim Klang dieser Freude spürte Jerome de Montfort, wie sich ein warmes Gefühl in seinem Inneren ausbreitete. Dennoch blieb der Ritter argwöhnisch und hielt sein Schwert weiterhin kampfbereit.
„Wer seid Ihr, Lady?“, fragte er erneut. Dieses Mal war seine Frage drängender in dem Bewusstsein, dass er trotz seiner Kraft gegen die augenscheinliche Macht dieser Frau nicht bestehen konnte. Doch diesem Umstand zum Trotz, würde er sich nicht kampflos ergeben.
Die Frau trat näher zu Jerome de Montfort, der sie um fast zwei Köpfe überragte. Ohne eine Spur eingeschüchtert zu sein legte ihm die Fremde sanft die Hand auf den Schwertarm.
Jerome de Montort spürte, obwohl er eine stählerne Schiene, Kettenhemd und seinen Wappenrock trug, wie an der Stelle der Berührung seine Haut zu kribbeln anfing. Wohliger Frieden und Wärme pulsierten in Wellen von seinem Arm in den ganzen, hünenhaften Körper.
Die Frau blickte direkt in seine Augen, ihre blauen Augen begannen heller zu leuchten, als man bei einer Sterblichen vermuten konnte.
„Habt keine Angst, Jerome de Montfort“, sagte die Frau mit einer melodiösen Stimme, die aus anderen Sphären zu kommen schien. Sie sprach ruhig und zog den Ritter sofort in ihren Bann. Raum und Zeit schienen für Jerome de Montfort, den ehemaligen Schwertträger des Herzogs, ihre Bedeutung zu verlieren, und er hing an jedem einzelnen Wort der mysteriösen Fremden.
„Steckt euer Schwert ein, Jerome“, befahl die Frau, und Jerome gehorchte wie ein Knabe der Anweisung seiner Mutter. Die Frau hakte sich bei Jerome ein und zog ihn vor eine der großen Statuen. Sie lächelte, da ihr Plan aufgegangen war. Alle drei, die beiden Ritter und der Knappe folgten ihr widerstandslos wie Kleinkinder. Nun würden sie genau das tun, was sie ihnen befahl.
Bertrand war immer noch in seinem Traum gefangen. Wieder und wieder fand er sich vor der bezaubernden Maid und lauschte ihren Befehlen. Da spürte er eine Berührung an seiner Schulter. Er öffnete seine Augen und zu seiner eigenen Überraschung fand er die Frau aus seinen Träumen vor, nur dass sie dieses Mal leibhaftig vor ihm stand. Die Frau lächelte und reichte ihm ihren zierlichen Arm, damit er aufstehen konnte. Bertrand schlug dankend diese fürsorgliche Geste aus und erhob sich. Er blickte sich um und sah Reynald, der mit leeren Augen in das Nichts glotzte.
„Was ist mit ihm?“, fragte er die Frau.
Die Fremde lächelte. „Keine Sorge, es wird ihm kein Leid geschehen. Er wird sich an nichts erinnern, nur an einen friedlichen Traum.“
Obwohl in dieser Antwort keine Falschheit lag, beunruhigten sie Bertrand dennoch. Die Frau sah es ihm sofort an. Sie neigte ihr zierliches Kinn nach vorne und studierte Bertrands Gesicht, auf dem sich Sorgenfalten zeigten.
„Wünscht du, dass er wieder erwacht?“, fragte sie.
Bertrand nickte.
Die Frau trat zu Reynald und berührte diesen an dem Arm. Bertrand sah, wie die Bewegung in den jungen Ritter zurück kehrte. Als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht und verwirrt blickte der junge Ritter umher.
„Wo … wo bin ich?“, fragte er verwirrt und sah begriffsstutzig herab auf das Schwert in seiner Hand.
„In Sicherheit“, sagte die fremde Schönheit vieldeutig und ging wieder an Bertrands Seite.
Als wäre die Erstarrung plötzlich aus seinen Knochen gewichen, sprang Reynald vor, das Schwert zum Angriff erhoben.
„Hexe, jetzt bezahlst du“, schrie er laut. Sein Schwert sauste herab. Bertrands eigene Klinge fing den Hieb vor ab, bevor er die Frau an seiner Seite erreichte. Auge in Augen standen sich die beiden Gleichaltrigen gegenüber. Keiner von Beiden war gewillt, seine Waffe zu senken.
„Geht zur Seite, Bertrand, damit die Hexe ihre gerechte Strafe empfangt“, knurrte Reynald, sein Gesicht vor Anstrengung verzerrt.
„Niemals“, erwiderte Bertrand trotzig.
„Genug“, befahl eine Stimme voller Autorität. Doch es war nicht die Frau, die diese Worte gesprochen hatte. Verwundert wandten sowohl Reynald, als auch Bertrand ihren Blick zu dem Ursprung der Worte und ließen ihre Schwerter sinken.
Jerome de Montfort stand vor ihnen. Sein Schwert hing an seinem Gurt, doch der Anblick ihres Herrn bewirkte, dass die beiden jüngeren Männer ihre Feindseligkeiten sofort vergaßen.
„Ihr habt gut gesprochen. Wie man es von einem redlichen Mann wie Euch, mein teurer Jerome de Montfort, nur erwarten kann“, sagte die Frau und zog damit die Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Ihr habt Recht“, erwiderte Jerome trocken und sah ihr furchtlos in die Augen. „ Ich bin ein Ritter des Königs. Doch auch wenn mich der Eid des Königs bindet, ich schwöre Euch, wenn Ihr nicht bald eure Absichten preis gebt, dann werde ich Euch in Fesseln zur nächsten Burg schleifen, auf dass Ihr dort Rede und Antwort gebt. Warum habt Ihr meinen Knappen hierher gelockt? Sprecht schnell, und unterlasst jedwede Zauberei, oder meine Waffe wird Euch eines Besseren belehren.“
Die Frau erkannte, dass es Jerome de Montfort mit diesen Worten ernst war. Sie entschloss sich dafür, dem Ritter reinen Wein einzuschenken, auch wenn dies ihre Pläne vielleicht erschwerte.
„Ihr fragt euch sicher alle, warum ihr hier seid. Nun denn, ich habe euren Knappen gerufen. Das habt Ihr richtig erkannt, Sir Jerome de Montfort. Und ja, ich bin eine Zauberin, auch dies ist nicht von der Hand zu weisen, Sir Reynald le Durie.“
„Wohl eine Hexe, die mit böser Kunst unsere Sinne benebelt“, erwiderte Reynald und trat drohend einen Schritt nach vorne.
Als Antwort lächelte die Frau und Reynald senkte von selbst seine stählerne Klinge. „Es gibt einen Unterschied zwischen einer Hexe die sich dunkler Magie bedient, und einer Zauberin, die im Dienst der Herrin steht“, sagte die Frau.
Bei den Namen der Schutzgöttin Bretonias befiel Bertrand Ehrfurcht. Konnte es sein, dass diese Frau eine Abgesandte der Herrin vom See war? Eine der sagenumwobenen Maiden, die den Rittern und Herren Bretonias mit Rat und Zauberkunst hilfreich zur Seite standen.
„Ihr sagt, Ihr seid eine der Maiden unserer Herrin vom See. Doch wie wollt Ihr dies beweisen. Wer hat davon gehört, dass die Maiden der Herrin an solch verlassenen Orten hausen?“, beharrte Reynald misstrauisch und hielt den festen Griff um sein Schwert für alle Fälle aufrecht.
Die angesprochene Frau wandte sich dem jungen Ritter direkt zu. In ihrem Blick lag keinerlei Anzeichen, dass sie sich durch die Frage in ihrer Ehre gekränkt fühlte.
Ruhig antwortete sie: „Vielleicht genügt Euch mein Name, damit ihr die Wahrheit meiner Worte erkennt.“
„Und wie lautet dieser?“, fragte Reynald ungeduldig.
„Morgiana la Fay.“
Die Antwort war ernüchternd und ließ sie alle unwillkürlich nach Luft schnappen. Reynald le Durie ging bei diesen Worten in die Knie. Morgiana la Fay, die Feenzauberin persönlich! Sie war die Botschafterin des Willens der Herrin vom See. Die leibhaftige Abgesandte und mächtigste Magierin in allen Herzogtümern Bretonias. Und nun stand sie hier, in dieser Höhle und sprach mit ihnen. Ein Blick in das wunderschöne Gesicht der Frau überzeugte ihn von der Wahrheit ihrer Worte, galt die Feenzauberin doch als die schönste Frau der Alten Welt. Auch Bertrand sank vor Ehrfurcht zu Boden.
„Milady“, hauchte er und senkte sein Blick, sowie Reynald der seinen Kopf demütig auf den Knauf seines Schwertes stützte.
„Erhebt euch“, sagte Morgiana la Fay lächelnd. „Erhebt euch, Bertrand.“ Und erst bei diesen Worten realisierte er, dass die Feenzauberin direkt vor ihm stand.
„Milady, ich bin nicht würdig in Eurer Gegenwart zu stehen“, sagte er mit vor Ehrfurcht brüchiger Stimme.
Morgiana lachte und ihr Lachen erfüllte die Höhle wie der Frühlingsbeginn. „Ihr seid ein vorzüglicher junger Mann, mein treuer Bertrand. Und Ihr habt so feine Manieren, dass sich gar mancher Ritter dieser Lande nicht mit Euch messen kann.“
Der Seitenhieb saß, denn der gescholtene Reynald schien noch um ein ganzes Stück zu schrumpfen.
„Vergebt mit, Milady Morgiana“, brachte der junge Ritter resigniert hervor. Die Feenzauberin ging zu dem jungen Ritter und berührte ihn mit ihrer zierlichen Hand an dem Kinn. Sanft zog sie seinen Kopf nach oben, so dass Reynald ihr schließlich in ihr Gesicht sehen konnte. Kein Zorn lag darin, sondern unergründliche Weisheit und Liebe durchströmten ihre hellblauen Augen, die wie die Sterne am Firmament funkelten.
„Ihr habt aus Sorge um eure Gefährten gezweifelt. Euer Misstrauen geschah aus lauteren Motiven. Doch beherzigt dies, mein junger Ritter, auch aus dem Glauben, einer gerechten Sache zu dienen, kann Übles entstehen. Folgt immer eurem Herzen und haltet Euch an den Schwur, denn ihr bei eurer Schwertleite abgegeben habt.“
Dankbar nickte Reynald, unfähig auch nur ein Wort über seine Lippen zu bringen.
„Und nun zu Euch, edler Jerome“, fuhr die Feenzauberin fort und wandte sich dem knienden Angesprochenen zu. Selbst in dieser Körperhaltung war Jerome de Montforts Kopf auf selber Höhe mit Morgianas Gesicht.
„Sprecht, und ich werde euren Auftrag erfüllen, Milady“, sagte Jerome und Bertrand bemerkte in dessen Stimme, dass auch der sonst so emotionslose Ritter von der Szene ergriffen war.
Morgiana lächelte erneut, und es war wie der Sonnenschein nach einem langen Gewitter.
„Ihr müsst keinen Auftrag erfüllen, Sir Jerome. Ihr seid bereits auf der Queste“, erwiderte die Feenzauberin.
Jerome senkte beschämt seinen Kopf. „Eine Queste um meine verlorene Ehre wiederherzustellen. Mein Name ist entehrt. Ich habe nicht das Recht, mich Ritter Bretonias zu nennen, oder in eurer Anwesenheit zu bestehen“, antwortete der Ritter zerknirscht. Bertrand spürte, wie bei diesen Worten auch sein eigenes Herz schwer wurde, als er die Niedergeschlagenheit seines Herrn erkannte.
Morgiana la Fay trat zu dem Ritter hin. „Glaubt nicht den Lügen eurer Feinde, Jerome. Die Herrin hat Euch behütet auf eurer Fahrt, euch alle. So lautet die Botschaft der Herrin an Euch, tapferer Jerome:
„Ich sehe Euch und euer Herz, und ich sehe keine Falschheit darin. Ihr standet jederzeit treu zu eurem Herzog, zu eurem König. Selbst in euren Zweifeln habt ihr nicht abgelassen von euren Pflichten. Und ich sehe, was man Euch gesagt hat, über eure Vergangenheit, über den Fluch der auf Euch seit eurer Kindheit lastet. Doch ich bin die Herrin vom See, die Beschützerin der vierzehn Herzogtümer Bretonias, die Gilles den Einiger zum Herrscher gekrönt hat. Ich spreche Euch frei von dem Dunkel, welches Euch so schwer bedrückt, denn ich habe Euch auserwählt als meinen Kämpen, auf dass Ihr meiner gerechten Sache dient.““
Ergriffen von diesen Worten sah Bertrand staunend, wie Tränen über Jerome de Montforts Gesicht rannen. Eine schwere Last schien von dem hünenhaften Ritter abgefallen zu sein. Erleichterung und ein Rest von Zweifel standen in seine dunklen, unergründlichen Augen geschrieben und er blickte die Feenzauberin wie ein Kleinkind fragend an.
„Die Bürde ist von mit gewichen?“, fragte Jerome staunend.
Morgiana lächelte und nickte. „Dies sind die Worte der Herrin, die ich Euch überbringen soll.“
Sie sah Bertrand mit ihren unergründlichen Augen an, während sie die nächsten Worte sprach. „Auch wenn das Dunkel Euch verflucht, so hat die Herrin vom See die Macht, den Schaden abzuwenden. Was als Fluch gemeint war, soll nun zum Guten dienen.“
Bertrand verstand die Bedeutung dieser Worte nicht. Doch angesichts der Szene vor ihm, drängte er seine Fragen zur Seite.
Jerome zog sein Schwert, sichtlich erleichtert von dieser Botschaft, und bot es der Feenzauberin mit dem Heft nach vorne an.
„Meine Klinge gehört Euch und der Herrin, Milady“, sagte er.
Morgiana betrachtete die Waffe. „Ein treffliches Schwert, doch soll der Kämpe der Herrin auch eine Waffe führen, die seiner wert ist.“
Mit diesen Worten ging sie zu einer Statue, die einen Krieger in einer alten, exquisiten Rüstung zeigte. Der Mann hielt ein Schwert in seiner Hand, dessen Spitze zu Boden zeigte. Leichtfüßig sprang Morgiana auf den Sockel und hielt sich mit einer Hand an der Statue fest. Dann fasste ihre andere Hand den Knauf des Schwertes. Mit einer Mühelosigkeit, die man einer so zierlichen Frau nicht zutraute, zog sie die Waffen aus der steinernen Hand. Morgiana sprang herab und ging, die Klinge an ihrer Brust wie einen Säugling zu dem immer noch knienden Jerome de Montfort.
„Dies ist Oriflammè, die Feuerklinge“, sagte sie ehrfürchtig und überreichte die Waffe an Jerome de Montfort. Staunend nahm der Ritter die Klinge. Das Schwert war ein Anderthalbhänder. Knauf und Heft waren mit Gold beschlagen und kunstvoll mit Juwelen versetzt. Die lange Klinge, Bertrand schätzte sie auf annähern vier Fuß Länge schimmerte hell. Es war die schönste Schmiedearbeit, die er je gesehen hatte. Oriflammès Klinge war mehrfachen gefaltet, sie schien hauchdünn und zugleich robust zu sein. Der Stahl schimmerte bläulich, fast durchsichtig, als wäre dieses Schwert aus Glas und würde das umgebende Licht in sich reflektieren. Auf der gesamten Länge der Klinge, auch in der Blutrinne, waren sonderbare Zeichen eingraviert, doch nicht einmal nach Meister Rainheims eindrücklichem Unterricht konnte Bertrands diese entziffern.
„Nehmt die Klinge, Sir Jerome, und führt sie für die gerechte Sache“, sagte Morgiana la Fay und bot dem Ritter das Schwert an.
Tränen der Rührung rannen über das Gesicht des Ritters, als Jerome sich erhob und das Schwertheft ergriff. Dann, mit einem Mal, als würde er von neuer Kraft erfüllt, hob er Oriflammè über seinen Kopf.
„Für Montfort, den König, und die Herrin vom See!“, rief Jerome und seine Worte hallten durch die Höhle. Angesteckt stimmten Bertrand und Reynald in den Ruf ein.
Der große Ritter kniete sich erneut vor die Feenzauberin hin, Oriflammè zeigte mit seiner Spitze zu Boden. Dann nahm Jerome de Montforts sonst so ruhige Stimme einen feierlichen Tonfall an und er sprach die geheiligten Worte, die jeder Ritter vor ihm gesprochen hatte, wenn er sich auf die Queste begab:
„Nieder lege ich meine Lanze. Symbol meiner Pflicht.
Ich lasse zurück jene, die ich liebe.
Ich löse mich von allem, nehme auf das Rüstzeug meiner Queste.
Kein Hindernis bestehet vor mir, kein Hilferuf bleibet ohne Antwort.
Kein Mond scheinet zwiefach auf mich herab,
denn müßig seien meine Tage nicht.
Ich gebe Leib, Herz und Selle der Herrin, die ich suche …“
Morgiana la Fay lächelte zufrieden. „Geht, meine treuen Kämpen. Geht mit dem Segen der Herrin!“
„Milady, sollen wir Euch nicht Geleit bis zur nächsten Ortschaft geben?“, fragte Bertrand besorgt.
Lächelnd tätschelte lächelnd seinen Arm. „Habt keine Angst, dies ist Bretonia. Jeder Strauch oder Baum ist mir bekannt, und unter dem Segen der Herrin kann mir hier kein Leid widerfahren. Außerdem gehe ich nicht allein. Ein Wächter ist an meiner Seite.“
Die Feenzauberin streckte ihren Arm aus, und Bertrand folgte der Richtung, in welche ihr Zeigefinger wies. Nebel erschien am Boden, dessen Schwaden stetig höher stiegen. Im Nebel sah Bertrand Umrisse, die Statur eines gerüsteten Ritter. Doch seltsamerweise trug dessen Helm keinen Federbusch, sondern war von Efeuranken geziert, wie der Rest seiner Rüstung. Das Gesicht des Ritters war hinter seinem geschlossenen Visier verborgen und seine Rüstung war aus dunklem Grün. In seiner Hand hielt er ein mächtiges Schwert, welches in schwachem grünem Licht leuchtete.
Doch sogleich erinnerte er sich an eine Geschichte aus seiner Kindheit. Konnte es sein, dass dies der legendäre grüne Ritter war? Der mysteriöse Retter der Bedrängten, der Schutzpatron des bretonischen Landes, der die Feinde des Königreichs heimsuchte. Bisher hatte Bertrand gedacht, der grüne Ritter wäre nur eine Figur aus den beliebten Puppentheatern. Doch das Leuchten des Schwertes, und die sonderbare Rüstung, ja sogar die Augen schienen durch das dunkle Visier hindurchzuleuchten, alles das brachte Bertrand dazu, diese Geschichten nun doch für bare Münze zu nehmen.
Morgiana la Fay lächelte ein letztes Mal jeden der Drei an. Sie bot einen wunderschönen Anblick mit ihrem feuerroten Haar, welches ihr über die Schultern fiel, in ihrem schimmernden, perlenbesetzten Kleid.
„Lebt wohl meine Tapferen. Die Herrin wacht über euch.“
Dann ging sie zu dem wartenden grünen Ritter und der Nebel umschloss die Feenzauberin samt ihrem Begleiter. Als sich die Nebelschwaden auflösten, waren beide verschwunden.