4.4 Die lachende Lillie
Bei diesem Anblick wurde Bertrand klar, warum die Straßen der Stadt so leer waren. Offensichtlich war die gesamte Einwohnerschaft von Montlac hier versammelt. Es gab Fahnen und die Menschen erzeugten Geräusche, wie es jede Menge tat, doch Bertrand hörte den Unterschied. Dies war nicht die lärmende Betriebsamkeit eines Marktes oder eines Turniers, bei dem man den stolzen Rittern in ihren blank polierten Rüstungen zujubelte. Nein, dem Raunen der Menge fehlte jegliche Form von ausgelassener Heiterkeit. Zwei Reihen grimmiger Hellebardenträger bildeten eine breite Gasse im dem Meer von ungewaschener Leiber, die in ihren ärmlichen Kleidern steckten. Doch das, was die Menschenansammlung von sich gab, war mehr ein unterdrücktes Raunen, denn ausgelassene Feierstimmung. Bertrand und der Rest der Gruppe fanden sich nun in dieser Szenerie wider und steckten förmlich am hinteren Ende der Ansammlung fest.
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei“, raunte der Zwerg Gurni Haarikson. Vielleicht fühlte er sich auch unwohl, weil er nicht in seiner Rüstung, sondern in einfacher Kleidung steckte, dachte sich Bertrand. Doch auch ihm wurde beim Anblick der rauen Soldaten zunehmend unwohl. Am Ende der Straße kam Bewegung in die Sache. Vier Reiter kamen, die am Ende der langen Speere Banner gehisst hatten. Widerwillig begann die Menge zu jubeln, allerdings zeigte sie dabei nur wenig Begeisterung.** Die Wächter blickten noch grimmiger und die Menschen steigerten ihre Bemühungen, so dass es am Ende fast aufrichtig klang. Ein einzelner Reiter erschien, er trug feine Kleidung, die stark in Kontrast zu der dürftigen Bekleidung der Stadtbewohner stand, und einen goldbestickten Pelzmantel. Ein feines Barrett nach imperialer Mode mit geschlitzter Krempe aus rotem und schwarzem Brokat, geschmückt mit Pfauenfedern vervollständigte die Ausstattung. Der Mann ritt auf einem edlen, weißen Zelter, das Zaumzeug war mit Gold bestickt. Für Bertrand bestand kein Zweifel, wen er vor sich hatte. Es war niemand Geringerer als Leofric, der selbsternannte Herzog von Montlac. Leofric schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Dass der Jubel erzwungen war, machte ihm offensichtlich nichts aus. Ein Blick in die kalten Augen bewies Bertrand, dass dieser Usurpator auch keinerlei Mitleid kannte.
„Eigenartig, nicht wahr?“, sagte eine Stimme neben Bertrand. Bertrand blickte überrascht auf und sah einen Mann neben sich. Dieser Mann war Mitte vierzig und erinnerte ihn mit seinem kurzen grauen Haar und dem stoppeligen Dreitagesbart in frappierender Art und Weise an seinen Onkel Jean. Der Mann trug ein ledernes Wams und ebensolche Hosen, die an ihren Enden schon Spuren von Abnützung zeigten. Dennoch war die Kleidung hochwertig verarbeitet und war, trotz ihres offensichtlichen Alters, sauber gepflegt. Kurzum, dieser Fremde schien in allen seiner Erscheinung das genaue Gegenteil von Leofric, der gerade auf seinem Pferd vorbeitrabte. Eine weitere Gruppe von schwerbewaffneten Reitern folgte ihrem Herrscher. Die Menge löste sich langsam auf, schweigend ging jedermann seines Weges. Nur der Unbekannte blieb bei Bertrand stehen.
„Verzeiht, was meint Ihr?“, antwortete Bertrand mit einer Gegenfrage. Der Mann begann zu lachen und zeigte dabei zwei Reihen weißer Zähne. Ein weiterer Beweis für einen gewissen Wohlstand, erkannte Bertrand. Nur Menschen, die sich eine ausgewogene Ernährung leisten konnten, hatten in diesem Alter noch alle Zähne.
„Ich meine, dass ihr nicht von hier seid“, sagte der Fremde. „Und dass euch der Anblick unserer Herrschers ungewohnt vorkam. Aber vor allem, mein junger Freund, solltet Ihr besser Eure Gefühle verbergen. Eure Miene hat gezeigt, was Ihr von Leofric haltet.“
Bertrand zog den Mann zur Seite, weg von möglicher Aufmerksamkeit. „Guter Mann wie kommt Ihr auf solch abstruse Gedanken? Ich bin nur ein einfacher Bauernsohn, diese Dinge, von denen Ihr sprecht, überlasse ich den hohen Herrschaften.“
Der Mann lachte und Bertrand wurde langsam wütend. Noch schlimmer, was war, wenn er ein Spion Leofrics war? Dann wären sie alle in höchster Gefahr. Er fasste sein Gegenüber fester am Arm. Doch plötzlich verspürte Bertrand ein stechendes Gefühl an seinen Rippen. Er sah hinab und erblickte zu seiner Überraschung einen Dolch, der an seinem Leib platziert war.
Das Gesicht des Mannes war todernst. „Ihr solltet wirklich vorsichtiger sein. Was kann mich nun daran hindern, Euch den Dolch zwischen die Rippen zu stoßen? Bevor Ihr daran denkt, eure Freunde um Hilfe zu rufen, der Stahl ist allemal schneller, als Eure Stimme.“
Doch dann wirbelte der Mann den Dolch in seiner Hand herum, so dass das Heft auf Bertrand zeigte. „Doch glücklicherweise bin will ich Euch kein Übel. Mein Name ist Jacques, der Weinhändler. Ich bin Euer Kontakt hier in Montlac.“
Bertrand nahm den Dolch, unsicher wie er reagieren sollte. „Ihr habt eine merkwürdige Art Euch vorzustellen, Meister Jacques. Und sollten uns nicht im Goldenen Hirschen treffen?“ Der Weinhändler lachte, nahm den Dolch von Bertrand zurück und steckte ihn weg.
„Es schien mir besser euch vorher abzupassen, der Goldene Hirsch steht unter der Beobachtung von Leofrics Schergen. Und ich gebe Euch erneut den Rat, Eure Gesinnung besser zu verbergen. In ganz Montlac haben die Mauern oft unliebsame Ohren. Und nun kommt.“ Jacques wandte sich zum Gehen ab. Bertrand hielt ihn zurück.
„Kommt mit, dies ist wahrlich kein Ort für solch ein vertrauliches Gespräch. Noch dazu wo eure Tarnung bald auffliegen wird, da ich nicht davon ausgehe, dass ihr daran denkt diese Pferde wirklich zu verkaufen.“ Der Weinhändler lächelte erneut. „Vertraut mir, ich kenne einen Ort wo wir besser reden können.“
Die lachende Lilie war ein unscheinbar wirkendes, zweistöckiges Gebäude. An der einfachen Fassade konnte man nicht erahnen, was sich dahinter verbarg. Doch die Ströme, die sich Richtung Eingang bewegten, bezeugten, dass sich dieses Etablissement großer Beliebtheit erfreute. Denn die lachende Lilie war kein gewöhnliches Gasthaus. Ein weiteres Hinweis darauf waren die beiden muskulösen Torwächter, die beiderseits vor dem Eingang Position bezogen hatten, und deren gestrenger, prüfender Blick jedem Eintretenden einschärfte, dass sie sich besser benehmen sollten.
Als Bertrand das Innere der lachenden Lilie erblickte, wurde ihm klar, dass die beiden Wachen am Tor durchaus angebracht waren. Es lag nicht an dem Mobiliar, obwohl jedes der kostbar verzierten Stücke aus Rosenholz dem Wert eines Jahreseinkommens eines Bauern entsprach. Nein, der Wert der lachenden Lilie lag vielmehr in ihrem beweglichen Hab und Gut. Zahlreiche Frauen in tief ausgeschnittenen, äußerst knappen Kleidern bewegten sich anmutig durch die gaffende Menge der Männer. Die Glücklicheren, vor allem solche mit klingendem Geldbeutel, fanden sich bereits in der Gesellschaft einer der liebreizenden Schönheiten. Bertrand sah hochgewachsene Blondinen, kurvige Brünette und Frauen, mit einer exotischen, dunkleren Hautfarbe, als dies bei Bretonen üblich war. So unterschiedlich diese Frauen auch waren, sie hatten eines gemeinsam, ihre unglaubliche Schönheit und ihre explizit und eindeutige Ausstrahlung. Bertrand musste die Augen schließen und sich Melisandes Bild vor Augen führen, um bei diesem Anblick nicht schwach zu werden.
Eine Person ließen die Schönheiten der lachenden Lillie jedoch völlig kalt. Der Zwerg saß völlig ungerührt am Tresen der Bar auf einem Hocker, der für seine Statur viel zu hoch war. Bertrand wunderte sich, wie Gurni Haarikson angesichts seiner Körperfülle auf diesen gelangt war. Die Bretonen mieden den mürrisch dreinblickenden Zwerg, doch Haarikson schien dies nicht im Geringsten zu stören, der mit seinen beiden Händen einen Humpen bretonischen Ale in den kräftigen Händen hielt. Selbst ohne seine verzierte Rüstung sah die Gestalt des Zwerges immer noch imposant aus. Obwohl imposant vielleicht das falsche Wort war, überlegte Bertrand. Einschüchternd traf es viel eher. Gurni schüttete das Ale mit einem Zug in sich hinein und knallte den Becher auf den Tresen.
„Noch ein Spülwasser, Wirt!“, donnerte er. Mehrere Bretonen warfen dem Zwerg feindselige Blicke zu, doch diesen schien das kalt zu lassen. Bertrand legte dem Zwerg beschwichtigend die Hand auf den muskulösen Oberarm. Seltsamerweise schien es zu wirken. Gurni Haarikson nahm einen weiteren Becher von dem verängstigt blickenden Wirt, ohne zu grollen. Bertrand setzte sich neben den Zwerg und prostete ihm zu. Gurni hob seinen Becher und erwiderte den Gruß. Bertrand nahm einen tiefen Schluck und spürte, wie der Alkohol perlend seine Kehle hinunter rann. Es war ein gutes Gefühl. Ein Blick in Haariksons Gesicht jedoch ließ vermuten, dass es sich bei dem Getränk eher um Katzenpisse, denn bestes bretonischen Ales handelte. Wie zu Bestätigung schnaubte der Zwerg verächtlich durch die Nase und setzte seinen Becher ab.
„Mundet es Euch nicht, Herr Haarikson?“, erkundigte sich Bertrand.
Angewidert schüttelte der Zwerg den Kopf. „Dieses Gesöff!“, grollte er so laut, dass Bertrand die Blicke der näheren und weiteren Umgebung förmlich spürte. „Mein Junge, was gebe ich nur für einen Becher Bugman’s XXX oder Trollbock.“ Gurni Haarikson schmatzte dabei genüsslich mit der Zunge und seine Augen leuchteten, als er in der Erinnerung schwelgte. Bertrand wusste damit weniger anzufangen, beide Bezeichnungen waren ihm nicht bekannt. Aber, was wusste er als junger bretonischer Bauernsohn schon von der Alten Welt? Doch seine Neugier war geweckt, Haarikson entstammten einem anderen Teil der Welt, war noch dazu Angehörigerer einer fremden Rasse, über die Bertrand so gut wie gar nichts wusste.
„Verzeiht, Herr Haarikson. Aber diese Namen sagen mir nichts“, sagte Bertrand in der Hoffnung, dass der Zwerg dadurch mitteilsamer wurde. Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht.
Haarikson sah Bertrand an, zuerst verwundert, dann schien ihm ein Licht aufzugehen. „Ich verstehe, mein Junge, bist wohl nicht viel in der Welt herumgekommen?“
Bertrand schüttelte bloß bedauernd den Kopf. Haarikson lachte und nahm einen tiefen Schluck. „Dann hast du etwas verpasst, das kann ich dir sagen, mein Junge. Solltest du einmal in einer Taverne einkehren, die diese Bezeichnung auch verdient-“, der Wirt zog ein empörtes Gesicht, wagte es aber nicht, lautstarken Protest einzulegen, „-dann bestelle eines von Bugmans Bieren. Doch bedenken, dass du dafür mit klingender Münze wirst zahlen müssen. Doch bei den Ahnengöttern, es ist den Preis wert.“
Gurni Haariksons Augen leuchteten erneut und Bertrand schwor sich, sollte sich ihm diese Gelegenheit bieten, er würde sie beim Schopf packen. Doch eine Frage lag ihm auf der Zunge, und er nahm allen Mut zusammen, um sie zu stellen.
„Wenn Ihr mir die Frage gestattet, -warum seid Ihr hier?“ Der Zwerg maß Bertrand vom Scheitel bis zur Sohle und Bertrand fürchtete bereits, zu weit gegangen zu sein.
„Es ist eine Rechnung, die im Buch des Grolls getilgt werden muss. Und ich bin hier, um sie zu begleichen.“ Auch dies war ein Begriff, den Bertrand nicht kannte. Vielleicht hatte Meister Rainheim ihn einmal während einer Unterrichtsstunde erwähnt, aber er hatte ihm so viele verschiedene Dinge gelehrt. Haarikson fuhr fort. „Meine Heimat, Karak Norn im Grauen Gebirge hat Eisen nach Montlac geliefert. Doch im letzten Monat kehrten unsere Händler nicht zurück. Unsere Nachforschungen ergaben, dass sie nicht auf der Heimreise überfallen wurden, sondern dass der Herrscher von Montlac, Leofric, sie eingekerkert hat. Kein Zwerg kann dieses Verbrechen ungesühnt lassen.“
„Ihr sagtet, ihr hättet Eisen geliefert? Ich dachte Zwerge wären berühmt dafür Gold und Edelsteine zu schürfen.“
„Ha! Es gibt kein Gold im Grauen Gebirge. Aber glaub mir mein Junge, unser Eisen ist mit Gold nicht aufzuwiegen. Zumindest dachten wir es und der Handel mit Montlac versprach hohe Gewinne. Leofric versprach uns einen guten Preis, aber stattdessen warf er meine Brüder in die Tiefen seines Gefängnisses. Leofric ist ein Unbaraki, mögen ihn die Ahngötter zerschmettern!“ Der Zwerg hatte sich in Rage geredet, sein Bart war feucht vom Schaum des Ale. Offensichtlich zeigte das Bier bei Haarikson doch mehr Wirkung, als sich der Zwerg eingestehen wollte. Vor allem, wenn man bedachte, wie schnell er dieses in sich hineinkippte, bemerkte Bertrand.
Ein Schatten fiel auf ihn. Zuerst befürchtete Bertrand, es wäre einer von Leofrics Schergen.
„Wir gehen jetzt“, sagte Reynald le Durie. Bertrand erhob sich, er zeigte mit einem leichten Nicken auf den Zwerg, der bereits das nächste Bier hinunterspülte.
Reynald schüttelte den Kopf. „Alleine. Er ist hier sicher in bester Gesellschaft.“
Bertrand zog skeptisch eine Augenbraue hoch, behielt seine Meinung aber lieber für sich. Sie verließen den lärmenden, großen Hauptsaal über eine breite Treppe und erreichten das erste Stockwerk. Am oberen Ende stand ein weiterer, muskelbepackter Wächter, der sie mit einem grimmigen Nicken passieren ließ. Reynald und Bertrand durchschritten einen langen Gang, der mit kostbar verarbeiteten Tischchen möbliert war, auf denen stimulierende Duftkerzen brannten. Teuer aussehende Wandteppiche und Gemälde hingen alle paar Schritte an den Wänden. Zahlreiche verschlossene Türen befanden sich auf beiden Seiten des Ganges. Doch die Geräusche, die aus den Zimmern kamen waren so eindeutig, dass man sich leicht vorstellen konnte, was genau hinter diesen Türen vor sich ging. Bertrand sah, dass Reynald errötete und stellte nicht sonderlich überrascht fest, dass es ihm genauso erging. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, blieb Reynald vor einer Türe stehen, die sich am Kopfende des Ganges befand. Dahinter war kein Geräusch zu hören, als Reynald sie öffnete. Das Gemach war erstaunlich weiträumig. Bertrand sah einen großen Schrank aus dunklem Holz, einen Tisch mit mehreren Stühlen vor. Ein mit Brokatvorhängen versehenes Doppelbett war ebenso Teil des Mobiliars. Jacques der Weinhändler und Jerome de Montfort waren bereits in dem Raum. Doch sie waren nicht alleine. Die Frau war jung, vielleicht nur ein oder zwei Jahre älter als Bertrand selbst. Sie trug einfache Kleider, wie eine Magd, doch ihre angespannte Körperhaltung verriet, dass sie sich darin unwohl fühlte.
„Dies ist Lady Sandrille“, sagte Jacques, wobei er sich in Richtung der jungen Dame verbeugte.
„Woher wissen wir, dass sie zur Herrscherfamilie gehört?“, murmelte Reynald leise.
„Wer sind diese Männer? Ich habe sie nicht zu mir befohlen“, sagte Sandrille. Ihre Stimme klang jung, doch der Ton machte offensichtlich, dass sie das Erteilen von Befehlen gewohnt war, und deren sofortige Ausfüllung erwartete.
„Ich glaube, wir haben die richtige Person gefunden“, erwiderte Bertrand ebenso leise wie schnippisch.
Jerome de Montfort hob eine Hand und sah den hochgewachsenen Ritter an. Obwohl er nur einfache Kleider und keine Rüstung trug, war seine Gestalt doch ehrfurchtgebietend. „Verzeiht Mademoiselle“, Bertrand registrierte, dass Jerome Sandrille nicht mit dem Titel Lady ansprach, sondern diesen Begriff verwendete, der in der Regel für Mädchen benutzt wurde. „Doch welchen Zweck dient dieses Treffen?“
Lady Sandrille machte einen empörten Gesichtsausdruck, als hätte Jerome sie auf das Tödlichste beleidigt und sog tief Luft ein. Jacques trat vor und begann zu sprechen bevor, so war sich Bertrand sicher, Lady Sandrille mit schriller Stimme eine Szene machen würde.
„Ihr seid hier, um die Lady in Sicherheit zu bringen“, in Jacques Stimme war der Zweifel deutlich zu hören. Bertrand erkannte, dass es offensichtlich ein verhängnisvolles Missverständnis gab. Offenbar war die Kontaktaufnahme der bretonischen Armee mit den loyalen Bürgern der Stadt nicht so reibungslos gewesen, wie es den Anschein hatte. Die Loyalisten waren der falschen Annahme erlegen, ihre Mission gelte der Rettung der herrschenden Familie. Wenn dem so war, standen ihnen nun ernüchternden Momente bevor.
Jerome schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, Euch so zu enttäuschen Meister Jacques. Aber Sir Aloys de Montjoie hat uns beauftragt die Ikone zu bergen, nicht mit der Rettung von Personen.“
„Eine Ikone?“ Lady Sandrille hatte offensichtlich ihre Stimme wiedergefunden, und ihre Empörung klang so schrill, wie sie Bertrand erwartet hatte. „Wie könnt ihr es wagen, eine Ikone über mein Wohlbefinden zu stellen? Wisst ihr denn nicht, wen ihr vor euch habt?“
Jacques trat zu der jungen Dame und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm, aber die junge Adelige war zu aufgebracht, um sich abhalten zu lassen. Ihr Redeschwall, der unvermeidlich schien wurde jedoch durch ein lautes Klopfen verhindert, das beinahe die Türe aus den Angeln gehoben hätte. Gurni Haarikson trat ein.
„Ein Gnom? Was macht der hier?“ Offenbar gab es Dinge, die Lady Sandrilles Empörung noch steigern konnten. Gurni Haarikson warf der jungen Dame einen giftigen Blick zu, der diese ängstlich zwei Schritte zurückweichen ließ, als könnte sie der Zwerg mit einem Satz verschlingen. Ein Gedanke, der Bertrand belustigte, doch die Neuigkeit des Zwerges war gar nicht zum Lachen.
„Es sind Wachen unten. Sie untersuchen jeden der Gäste“, sagte Haarikson. Die niederschmetternde Nachricht ließ sogar Sandrille verstummen.
„Gibt es einen anderen Weg nach draußen, als durch den Haupteingang?“, fragte Jerome. Sie waren alle ohne ihre Waffen gekommen, nur mit einfachen Dolchen. Außerdem widersprach es ihrer Mission, sich den Weg freizukämpfen. Dennoch sah Reynald aus, als wäre er enttäuscht darüber, einem vielleicht ruhmvollen Kampf aus dem Weg zu gehen. Jacques trat zu dem Schrank und öffnete ihn. Er schob die Kleider beiseite und nahm die hintere Wand ab.
„Hier entlang, schnell!“, sagte er und zeigte auf die dunkle Öffnung. Haarikson ging furchtlos als Erster hindurch. Sandrille schien sich zu weigern, doch Jacques nahm sie an der Hand und führte sie in den Geheimgang. Reynald und Bertrand folgten. Den Abschluss machte Jerome. Als die Dunkelheit Bertrand verschluckte, hoffte er, dass sie nicht in die nächste Falle tappen würden. Denn ein Teil fragte sich, wie Leofrics Schergen sie so schnell hatten finden können. Konnte es möglich sein, dass es einen Verräter unter ihnen gab?
Bei diesem Anblick wurde Bertrand klar, warum die Straßen der Stadt so leer waren. Offensichtlich war die gesamte Einwohnerschaft von Montlac hier versammelt. Es gab Fahnen und die Menschen erzeugten Geräusche, wie es jede Menge tat, doch Bertrand hörte den Unterschied. Dies war nicht die lärmende Betriebsamkeit eines Marktes oder eines Turniers, bei dem man den stolzen Rittern in ihren blank polierten Rüstungen zujubelte. Nein, dem Raunen der Menge fehlte jegliche Form von ausgelassener Heiterkeit. Zwei Reihen grimmiger Hellebardenträger bildeten eine breite Gasse im dem Meer von ungewaschener Leiber, die in ihren ärmlichen Kleidern steckten. Doch das, was die Menschenansammlung von sich gab, war mehr ein unterdrücktes Raunen, denn ausgelassene Feierstimmung. Bertrand und der Rest der Gruppe fanden sich nun in dieser Szenerie wider und steckten förmlich am hinteren Ende der Ansammlung fest.
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei“, raunte der Zwerg Gurni Haarikson. Vielleicht fühlte er sich auch unwohl, weil er nicht in seiner Rüstung, sondern in einfacher Kleidung steckte, dachte sich Bertrand. Doch auch ihm wurde beim Anblick der rauen Soldaten zunehmend unwohl. Am Ende der Straße kam Bewegung in die Sache. Vier Reiter kamen, die am Ende der langen Speere Banner gehisst hatten. Widerwillig begann die Menge zu jubeln, allerdings zeigte sie dabei nur wenig Begeisterung.** Die Wächter blickten noch grimmiger und die Menschen steigerten ihre Bemühungen, so dass es am Ende fast aufrichtig klang. Ein einzelner Reiter erschien, er trug feine Kleidung, die stark in Kontrast zu der dürftigen Bekleidung der Stadtbewohner stand, und einen goldbestickten Pelzmantel. Ein feines Barrett nach imperialer Mode mit geschlitzter Krempe aus rotem und schwarzem Brokat, geschmückt mit Pfauenfedern vervollständigte die Ausstattung. Der Mann ritt auf einem edlen, weißen Zelter, das Zaumzeug war mit Gold bestickt. Für Bertrand bestand kein Zweifel, wen er vor sich hatte. Es war niemand Geringerer als Leofric, der selbsternannte Herzog von Montlac. Leofric schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Dass der Jubel erzwungen war, machte ihm offensichtlich nichts aus. Ein Blick in die kalten Augen bewies Bertrand, dass dieser Usurpator auch keinerlei Mitleid kannte.
„Eigenartig, nicht wahr?“, sagte eine Stimme neben Bertrand. Bertrand blickte überrascht auf und sah einen Mann neben sich. Dieser Mann war Mitte vierzig und erinnerte ihn mit seinem kurzen grauen Haar und dem stoppeligen Dreitagesbart in frappierender Art und Weise an seinen Onkel Jean. Der Mann trug ein ledernes Wams und ebensolche Hosen, die an ihren Enden schon Spuren von Abnützung zeigten. Dennoch war die Kleidung hochwertig verarbeitet und war, trotz ihres offensichtlichen Alters, sauber gepflegt. Kurzum, dieser Fremde schien in allen seiner Erscheinung das genaue Gegenteil von Leofric, der gerade auf seinem Pferd vorbeitrabte. Eine weitere Gruppe von schwerbewaffneten Reitern folgte ihrem Herrscher. Die Menge löste sich langsam auf, schweigend ging jedermann seines Weges. Nur der Unbekannte blieb bei Bertrand stehen.
„Verzeiht, was meint Ihr?“, antwortete Bertrand mit einer Gegenfrage. Der Mann begann zu lachen und zeigte dabei zwei Reihen weißer Zähne. Ein weiterer Beweis für einen gewissen Wohlstand, erkannte Bertrand. Nur Menschen, die sich eine ausgewogene Ernährung leisten konnten, hatten in diesem Alter noch alle Zähne.
„Ich meine, dass ihr nicht von hier seid“, sagte der Fremde. „Und dass euch der Anblick unserer Herrschers ungewohnt vorkam. Aber vor allem, mein junger Freund, solltet Ihr besser Eure Gefühle verbergen. Eure Miene hat gezeigt, was Ihr von Leofric haltet.“
Bertrand zog den Mann zur Seite, weg von möglicher Aufmerksamkeit. „Guter Mann wie kommt Ihr auf solch abstruse Gedanken? Ich bin nur ein einfacher Bauernsohn, diese Dinge, von denen Ihr sprecht, überlasse ich den hohen Herrschaften.“
Der Mann lachte und Bertrand wurde langsam wütend. Noch schlimmer, was war, wenn er ein Spion Leofrics war? Dann wären sie alle in höchster Gefahr. Er fasste sein Gegenüber fester am Arm. Doch plötzlich verspürte Bertrand ein stechendes Gefühl an seinen Rippen. Er sah hinab und erblickte zu seiner Überraschung einen Dolch, der an seinem Leib platziert war.
Das Gesicht des Mannes war todernst. „Ihr solltet wirklich vorsichtiger sein. Was kann mich nun daran hindern, Euch den Dolch zwischen die Rippen zu stoßen? Bevor Ihr daran denkt, eure Freunde um Hilfe zu rufen, der Stahl ist allemal schneller, als Eure Stimme.“
Doch dann wirbelte der Mann den Dolch in seiner Hand herum, so dass das Heft auf Bertrand zeigte. „Doch glücklicherweise bin will ich Euch kein Übel. Mein Name ist Jacques, der Weinhändler. Ich bin Euer Kontakt hier in Montlac.“
Bertrand nahm den Dolch, unsicher wie er reagieren sollte. „Ihr habt eine merkwürdige Art Euch vorzustellen, Meister Jacques. Und sollten uns nicht im Goldenen Hirschen treffen?“ Der Weinhändler lachte, nahm den Dolch von Bertrand zurück und steckte ihn weg.
„Es schien mir besser euch vorher abzupassen, der Goldene Hirsch steht unter der Beobachtung von Leofrics Schergen. Und ich gebe Euch erneut den Rat, Eure Gesinnung besser zu verbergen. In ganz Montlac haben die Mauern oft unliebsame Ohren. Und nun kommt.“ Jacques wandte sich zum Gehen ab. Bertrand hielt ihn zurück.
„Kommt mit, dies ist wahrlich kein Ort für solch ein vertrauliches Gespräch. Noch dazu wo eure Tarnung bald auffliegen wird, da ich nicht davon ausgehe, dass ihr daran denkt diese Pferde wirklich zu verkaufen.“ Der Weinhändler lächelte erneut. „Vertraut mir, ich kenne einen Ort wo wir besser reden können.“
Die lachende Lilie war ein unscheinbar wirkendes, zweistöckiges Gebäude. An der einfachen Fassade konnte man nicht erahnen, was sich dahinter verbarg. Doch die Ströme, die sich Richtung Eingang bewegten, bezeugten, dass sich dieses Etablissement großer Beliebtheit erfreute. Denn die lachende Lilie war kein gewöhnliches Gasthaus. Ein weiteres Hinweis darauf waren die beiden muskulösen Torwächter, die beiderseits vor dem Eingang Position bezogen hatten, und deren gestrenger, prüfender Blick jedem Eintretenden einschärfte, dass sie sich besser benehmen sollten.
Als Bertrand das Innere der lachenden Lilie erblickte, wurde ihm klar, dass die beiden Wachen am Tor durchaus angebracht waren. Es lag nicht an dem Mobiliar, obwohl jedes der kostbar verzierten Stücke aus Rosenholz dem Wert eines Jahreseinkommens eines Bauern entsprach. Nein, der Wert der lachenden Lilie lag vielmehr in ihrem beweglichen Hab und Gut. Zahlreiche Frauen in tief ausgeschnittenen, äußerst knappen Kleidern bewegten sich anmutig durch die gaffende Menge der Männer. Die Glücklicheren, vor allem solche mit klingendem Geldbeutel, fanden sich bereits in der Gesellschaft einer der liebreizenden Schönheiten. Bertrand sah hochgewachsene Blondinen, kurvige Brünette und Frauen, mit einer exotischen, dunkleren Hautfarbe, als dies bei Bretonen üblich war. So unterschiedlich diese Frauen auch waren, sie hatten eines gemeinsam, ihre unglaubliche Schönheit und ihre explizit und eindeutige Ausstrahlung. Bertrand musste die Augen schließen und sich Melisandes Bild vor Augen führen, um bei diesem Anblick nicht schwach zu werden.
Eine Person ließen die Schönheiten der lachenden Lillie jedoch völlig kalt. Der Zwerg saß völlig ungerührt am Tresen der Bar auf einem Hocker, der für seine Statur viel zu hoch war. Bertrand wunderte sich, wie Gurni Haarikson angesichts seiner Körperfülle auf diesen gelangt war. Die Bretonen mieden den mürrisch dreinblickenden Zwerg, doch Haarikson schien dies nicht im Geringsten zu stören, der mit seinen beiden Händen einen Humpen bretonischen Ale in den kräftigen Händen hielt. Selbst ohne seine verzierte Rüstung sah die Gestalt des Zwerges immer noch imposant aus. Obwohl imposant vielleicht das falsche Wort war, überlegte Bertrand. Einschüchternd traf es viel eher. Gurni schüttete das Ale mit einem Zug in sich hinein und knallte den Becher auf den Tresen.
„Noch ein Spülwasser, Wirt!“, donnerte er. Mehrere Bretonen warfen dem Zwerg feindselige Blicke zu, doch diesen schien das kalt zu lassen. Bertrand legte dem Zwerg beschwichtigend die Hand auf den muskulösen Oberarm. Seltsamerweise schien es zu wirken. Gurni Haarikson nahm einen weiteren Becher von dem verängstigt blickenden Wirt, ohne zu grollen. Bertrand setzte sich neben den Zwerg und prostete ihm zu. Gurni hob seinen Becher und erwiderte den Gruß. Bertrand nahm einen tiefen Schluck und spürte, wie der Alkohol perlend seine Kehle hinunter rann. Es war ein gutes Gefühl. Ein Blick in Haariksons Gesicht jedoch ließ vermuten, dass es sich bei dem Getränk eher um Katzenpisse, denn bestes bretonischen Ales handelte. Wie zu Bestätigung schnaubte der Zwerg verächtlich durch die Nase und setzte seinen Becher ab.
„Mundet es Euch nicht, Herr Haarikson?“, erkundigte sich Bertrand.
Angewidert schüttelte der Zwerg den Kopf. „Dieses Gesöff!“, grollte er so laut, dass Bertrand die Blicke der näheren und weiteren Umgebung förmlich spürte. „Mein Junge, was gebe ich nur für einen Becher Bugman’s XXX oder Trollbock.“ Gurni Haarikson schmatzte dabei genüsslich mit der Zunge und seine Augen leuchteten, als er in der Erinnerung schwelgte. Bertrand wusste damit weniger anzufangen, beide Bezeichnungen waren ihm nicht bekannt. Aber, was wusste er als junger bretonischer Bauernsohn schon von der Alten Welt? Doch seine Neugier war geweckt, Haarikson entstammten einem anderen Teil der Welt, war noch dazu Angehörigerer einer fremden Rasse, über die Bertrand so gut wie gar nichts wusste.
„Verzeiht, Herr Haarikson. Aber diese Namen sagen mir nichts“, sagte Bertrand in der Hoffnung, dass der Zwerg dadurch mitteilsamer wurde. Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht.
Haarikson sah Bertrand an, zuerst verwundert, dann schien ihm ein Licht aufzugehen. „Ich verstehe, mein Junge, bist wohl nicht viel in der Welt herumgekommen?“
Bertrand schüttelte bloß bedauernd den Kopf. Haarikson lachte und nahm einen tiefen Schluck. „Dann hast du etwas verpasst, das kann ich dir sagen, mein Junge. Solltest du einmal in einer Taverne einkehren, die diese Bezeichnung auch verdient-“, der Wirt zog ein empörtes Gesicht, wagte es aber nicht, lautstarken Protest einzulegen, „-dann bestelle eines von Bugmans Bieren. Doch bedenken, dass du dafür mit klingender Münze wirst zahlen müssen. Doch bei den Ahnengöttern, es ist den Preis wert.“
Gurni Haariksons Augen leuchteten erneut und Bertrand schwor sich, sollte sich ihm diese Gelegenheit bieten, er würde sie beim Schopf packen. Doch eine Frage lag ihm auf der Zunge, und er nahm allen Mut zusammen, um sie zu stellen.
„Wenn Ihr mir die Frage gestattet, -warum seid Ihr hier?“ Der Zwerg maß Bertrand vom Scheitel bis zur Sohle und Bertrand fürchtete bereits, zu weit gegangen zu sein.
„Es ist eine Rechnung, die im Buch des Grolls getilgt werden muss. Und ich bin hier, um sie zu begleichen.“ Auch dies war ein Begriff, den Bertrand nicht kannte. Vielleicht hatte Meister Rainheim ihn einmal während einer Unterrichtsstunde erwähnt, aber er hatte ihm so viele verschiedene Dinge gelehrt. Haarikson fuhr fort. „Meine Heimat, Karak Norn im Grauen Gebirge hat Eisen nach Montlac geliefert. Doch im letzten Monat kehrten unsere Händler nicht zurück. Unsere Nachforschungen ergaben, dass sie nicht auf der Heimreise überfallen wurden, sondern dass der Herrscher von Montlac, Leofric, sie eingekerkert hat. Kein Zwerg kann dieses Verbrechen ungesühnt lassen.“
„Ihr sagtet, ihr hättet Eisen geliefert? Ich dachte Zwerge wären berühmt dafür Gold und Edelsteine zu schürfen.“
„Ha! Es gibt kein Gold im Grauen Gebirge. Aber glaub mir mein Junge, unser Eisen ist mit Gold nicht aufzuwiegen. Zumindest dachten wir es und der Handel mit Montlac versprach hohe Gewinne. Leofric versprach uns einen guten Preis, aber stattdessen warf er meine Brüder in die Tiefen seines Gefängnisses. Leofric ist ein Unbaraki, mögen ihn die Ahngötter zerschmettern!“ Der Zwerg hatte sich in Rage geredet, sein Bart war feucht vom Schaum des Ale. Offensichtlich zeigte das Bier bei Haarikson doch mehr Wirkung, als sich der Zwerg eingestehen wollte. Vor allem, wenn man bedachte, wie schnell er dieses in sich hineinkippte, bemerkte Bertrand.
Ein Schatten fiel auf ihn. Zuerst befürchtete Bertrand, es wäre einer von Leofrics Schergen.
„Wir gehen jetzt“, sagte Reynald le Durie. Bertrand erhob sich, er zeigte mit einem leichten Nicken auf den Zwerg, der bereits das nächste Bier hinunterspülte.
Reynald schüttelte den Kopf. „Alleine. Er ist hier sicher in bester Gesellschaft.“
Bertrand zog skeptisch eine Augenbraue hoch, behielt seine Meinung aber lieber für sich. Sie verließen den lärmenden, großen Hauptsaal über eine breite Treppe und erreichten das erste Stockwerk. Am oberen Ende stand ein weiterer, muskelbepackter Wächter, der sie mit einem grimmigen Nicken passieren ließ. Reynald und Bertrand durchschritten einen langen Gang, der mit kostbar verarbeiteten Tischchen möbliert war, auf denen stimulierende Duftkerzen brannten. Teuer aussehende Wandteppiche und Gemälde hingen alle paar Schritte an den Wänden. Zahlreiche verschlossene Türen befanden sich auf beiden Seiten des Ganges. Doch die Geräusche, die aus den Zimmern kamen waren so eindeutig, dass man sich leicht vorstellen konnte, was genau hinter diesen Türen vor sich ging. Bertrand sah, dass Reynald errötete und stellte nicht sonderlich überrascht fest, dass es ihm genauso erging. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, blieb Reynald vor einer Türe stehen, die sich am Kopfende des Ganges befand. Dahinter war kein Geräusch zu hören, als Reynald sie öffnete. Das Gemach war erstaunlich weiträumig. Bertrand sah einen großen Schrank aus dunklem Holz, einen Tisch mit mehreren Stühlen vor. Ein mit Brokatvorhängen versehenes Doppelbett war ebenso Teil des Mobiliars. Jacques der Weinhändler und Jerome de Montfort waren bereits in dem Raum. Doch sie waren nicht alleine. Die Frau war jung, vielleicht nur ein oder zwei Jahre älter als Bertrand selbst. Sie trug einfache Kleider, wie eine Magd, doch ihre angespannte Körperhaltung verriet, dass sie sich darin unwohl fühlte.
„Dies ist Lady Sandrille“, sagte Jacques, wobei er sich in Richtung der jungen Dame verbeugte.
„Woher wissen wir, dass sie zur Herrscherfamilie gehört?“, murmelte Reynald leise.
„Wer sind diese Männer? Ich habe sie nicht zu mir befohlen“, sagte Sandrille. Ihre Stimme klang jung, doch der Ton machte offensichtlich, dass sie das Erteilen von Befehlen gewohnt war, und deren sofortige Ausfüllung erwartete.
„Ich glaube, wir haben die richtige Person gefunden“, erwiderte Bertrand ebenso leise wie schnippisch.
Jerome de Montfort hob eine Hand und sah den hochgewachsenen Ritter an. Obwohl er nur einfache Kleider und keine Rüstung trug, war seine Gestalt doch ehrfurchtgebietend. „Verzeiht Mademoiselle“, Bertrand registrierte, dass Jerome Sandrille nicht mit dem Titel Lady ansprach, sondern diesen Begriff verwendete, der in der Regel für Mädchen benutzt wurde. „Doch welchen Zweck dient dieses Treffen?“
Lady Sandrille machte einen empörten Gesichtsausdruck, als hätte Jerome sie auf das Tödlichste beleidigt und sog tief Luft ein. Jacques trat vor und begann zu sprechen bevor, so war sich Bertrand sicher, Lady Sandrille mit schriller Stimme eine Szene machen würde.
„Ihr seid hier, um die Lady in Sicherheit zu bringen“, in Jacques Stimme war der Zweifel deutlich zu hören. Bertrand erkannte, dass es offensichtlich ein verhängnisvolles Missverständnis gab. Offenbar war die Kontaktaufnahme der bretonischen Armee mit den loyalen Bürgern der Stadt nicht so reibungslos gewesen, wie es den Anschein hatte. Die Loyalisten waren der falschen Annahme erlegen, ihre Mission gelte der Rettung der herrschenden Familie. Wenn dem so war, standen ihnen nun ernüchternden Momente bevor.
Jerome schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, Euch so zu enttäuschen Meister Jacques. Aber Sir Aloys de Montjoie hat uns beauftragt die Ikone zu bergen, nicht mit der Rettung von Personen.“
„Eine Ikone?“ Lady Sandrille hatte offensichtlich ihre Stimme wiedergefunden, und ihre Empörung klang so schrill, wie sie Bertrand erwartet hatte. „Wie könnt ihr es wagen, eine Ikone über mein Wohlbefinden zu stellen? Wisst ihr denn nicht, wen ihr vor euch habt?“
Jacques trat zu der jungen Dame und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm, aber die junge Adelige war zu aufgebracht, um sich abhalten zu lassen. Ihr Redeschwall, der unvermeidlich schien wurde jedoch durch ein lautes Klopfen verhindert, das beinahe die Türe aus den Angeln gehoben hätte. Gurni Haarikson trat ein.
„Ein Gnom? Was macht der hier?“ Offenbar gab es Dinge, die Lady Sandrilles Empörung noch steigern konnten. Gurni Haarikson warf der jungen Dame einen giftigen Blick zu, der diese ängstlich zwei Schritte zurückweichen ließ, als könnte sie der Zwerg mit einem Satz verschlingen. Ein Gedanke, der Bertrand belustigte, doch die Neuigkeit des Zwerges war gar nicht zum Lachen.
„Es sind Wachen unten. Sie untersuchen jeden der Gäste“, sagte Haarikson. Die niederschmetternde Nachricht ließ sogar Sandrille verstummen.
„Gibt es einen anderen Weg nach draußen, als durch den Haupteingang?“, fragte Jerome. Sie waren alle ohne ihre Waffen gekommen, nur mit einfachen Dolchen. Außerdem widersprach es ihrer Mission, sich den Weg freizukämpfen. Dennoch sah Reynald aus, als wäre er enttäuscht darüber, einem vielleicht ruhmvollen Kampf aus dem Weg zu gehen. Jacques trat zu dem Schrank und öffnete ihn. Er schob die Kleider beiseite und nahm die hintere Wand ab.
„Hier entlang, schnell!“, sagte er und zeigte auf die dunkle Öffnung. Haarikson ging furchtlos als Erster hindurch. Sandrille schien sich zu weigern, doch Jacques nahm sie an der Hand und führte sie in den Geheimgang. Reynald und Bertrand folgten. Den Abschluss machte Jerome. Als die Dunkelheit Bertrand verschluckte, hoffte er, dass sie nicht in die nächste Falle tappen würden. Denn ein Teil fragte sich, wie Leofrics Schergen sie so schnell hatten finden können. Konnte es möglich sein, dass es einen Verräter unter ihnen gab?
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