4.15 Anführer
Galien saß seelenruhig da und lauschte. Er lauschte dem Wirrwarr der Gesprächsfetzen, da seine Bande allesamt durcheinander redete.
„… es ist ausgemacht, dass das hier MIR gehört!“, ereiferte sich Fragan.
„Niemals! Du hast schon beim letzten Mal…“, erwiderte der dicke Dunvel, der jedoch selbst von einem der Zwillinge unterbrochen wurde.
„Genau wie Du, deshalb sage ich …“, es war Argan, der Blonde. Goustan, der dunkles Haar hatte, trat an die Seite seines Bruders. Seine Augen hatten bereits diesen mörderischen Glanz angenommen.
Einzig der stämmige, muskulöse Brendan schwieg. Er war Galiens Versicherung. So lange der starke Brendand loyal zu ihm stand, war er sicher. Doch es gab noch einen, der sich nicht in den Disput einmischte. Er stand auf der anderen Seite und hielt sich ebenso davon ab, Partei zu ergreifen wie Galien selbst. Eustache musterte die Szene. Er war in seinem Äußeren das genaue Gegenteil von Galien. Was so viel hieß, das er grob statt elegant, und insgesamt wenig gutaussehend war. Dabei lag es nicht daran, dass er Eustache von Natur aus hässlich war, fand Galien. Es lag eher an der hässlichen, gezackten weißen Narbe, die seine Nase spaltete. Wo Galien volles, lockiges Haar hatte, da krönte Eustaches unansehnliches Haupt ein hellbrauner Haarschopf, der in seiner Fülle und Farbe halbverblichenem Stroh ähnelte.
Doch all diese offensichtlichen Nachteile hielten Eustache nicht von seinem brennenden Ehrgeiz ab. Galien hatte Charme, er war der geborene Anführer, um den sich Menschen scheinbar von alleine sammelten. Männer wollten wie er sein, Frauen bewunderten, weshalb er jetzt mit einem vielsagenden Lächeln in Erinnerungen schwelgte. Diese Dinge fielen ihm spielend zu, wodurch sein ohnehin nicht unerhebliches Selbstvertrauen in unbekannte Höhen geführt hatte. Er war ein Schlitzohr, dem man seine Streiche jedoch nachsah. Eustache war das Gegenteil. Es war sein Aussehen, doch vielmehr sein brennender Ehrgeiz. Eustache ging davon aus, dass ihm sein Aussehen keinerlei Sympathie einbringen würde. Deshalb nahm er sich alles nur durch Brutalität. Nur mit dem Ergebnis, dass ihn die Menschen wirklich verabscheuten. Das hielt ihn jedoch nicht ab nach Höherem zu streben.
Ihre Blicke begegneten sich. Galien musterte seinen Herausforderer, der ihn bohrend anblickte. Galien lächelte, überlegen, Eustache grinste ebenfalls. Aber es war eisig und enthielt einen Anflug von Verachtung. Er würde bald seinen Zug setzen. Er war sicher wohlüberlegt und genau geplant. Doch Galien blieb ruhig. Wie bei ihrem letzten Raub, würde sein Gegner den ersten Schritt machen müssen. Wichtig war nun, dass Galien den finalen Zug setzte.
Der Streit der restlichen Bande hatte inzwischen fast ohrenbetäubende Maßstäbe angenommen. Die Spannung lag in der Luft, nur noch wenige Momente, und seine Bandenmitglieder würden sich gegenseitig an die Kehle gehen. Eustache lauerte. Er wartete geduldig, dass Galien einen Fehler machte.
Doch darüber konnte Galien nur lachen.
Es war so offensichtlich!
Eustache hoffte, dass sich die aufgestaute Erregung auf Galiens Haupt entladen würde. Die beste Gelegenheit, um Anführer anstelle des Anführers zu werden. Doch so leicht würde er es ihm nicht machen!
„Genug!“, befahl Galien in gebieterischem Tonfall, und alle Blicke konzentrierten augenblicklich auf ihn. Es waren auch aggressive, ja sogar mörderische darunter, doch davon ließ er sich auf keinen Fall einschüchtern. Hinter ihm verschränkte Brendan seine Arme, die gewaltigen Muskeln spannten an. Galien konnte die Aura spüren und war sich seiner Rückseite nun sicher. Keine Gefahr würde ihm von dort drohen, solange Brendan dort stand. Es war ohne jeden Zweifel ein einschüchternder Anblick. Er konnte es an ihren Blicken ablesen. Brendan trug eine ärmellose Weste, sodass seine muskulösen Arme besser zur Geltung kamen. Fragan, der dicke Dunvel und sogar die vor kurzem noch so streitlustigen Zwillinge Argan und Goustan schwiegen.
Galien nutzte diesen Moment. „Verteilt meinen Anteil an der Beute“, sagte er.
Sie sahen ihn überrascht an, sogar Eustache. Es war ein Zug, mit dem niemand gerechnet hatte. Galien hatte sich als Anführer die besten Stücke gesichert. In jeder Bande war dies so, und das war vielleicht der ausschlaggebendste Punkt, weshalb der ehrgeizige Eustache nach diesem Posten strebte. Galien gestatte sich wiederum nur ein inneres Lächeln. Er stand auf, wohl wissend, dass Brendan auf ihn aufpassen würde, wie eine Bärenmutter auf ihr Junges. Galien stand auf und nahm den Pokal, mit dem er die ganze Zeit über gespielt hatte. Er ging auf Fragan zu, der unwillkürlich einen Schritt zurück wich und es kaum wagte, Galien anzusehen. Eine Reaktion, die Galien innerlich befriedigte, weil sie seine Autorität über seine Bande nur noch mehr unterstrich.
Galien drückte dem verdutzten Fragan den Pokal in die Hände, der ihn mit weit geöffneten Augen anstarrte, als hätte er ihm sämtliche Schätze der Zwerge übergeben. Galien schloss Fragans Finger um den Pokal und wandte sich ab, den Anderen zu. Er wies mit einer Hand auf den kleinen Haufen von Gegenständen, die seinen Anteil der Beute ausmachten.
„Nehmt es!“, sagte er einladend. Erst stutzten sie, dann stürzten sie sich wie gierige Geier darauf. Innerhalb weniger Augenblicke waren sämtliche Gegenstände in die Taschen seiner Helfershelfer gewandert.
Galien hatte sich derweil wieder hingesetzt und lächelte, dieses Mal war es sichtbar.
„Und nun, Boss?“, fragte der dicke Gunvel. Mit seinen herabhängenden feisten Hängebacken wirkte er wie einer diese Doggen, die sich Adelige zur Unterhaltung hielten. In seinen Augen und denen der Anderen sah Galien den Grund, warum sie ihm folgten. Nicht aus Angst, oder weil er einen treuen, furchteinflößenden Wächter namens Brendan hatte. Es gab nur einen Grund, warum sie so loyal waren, wie es eine Gruppe heruntergekommener Strauchdiebe, -Mörder und Halsabschneider nur sein konnte. Es war die Gier, und das Versprechen, mit ihm mehr Beute zu machen, als mit irgendjemand anderen.
Galien sah zu Eustache hinüber, dem das Lachen vergangen war. Er nickte ihm zu, was diesen offensichtlich verärgerte, aber dieses Spiel war gewonnen und er konnte es sich ruhig leisten, dies auch zu zeigen.
Galien blickte nun die restliche Bande an und lächelte erneut, doch es lag eine Entschlossenheit darin, die seine Leute frösteln ließ.
„Du fragst, was wir nun machen, Gunvel?“ Er wartete eine daramtische Pause ab. „Nun holen wir uns mehr! Dieses Land gehört uns!“
Seine Bande jubelte. In der Ferne hörte es sich an, als würde ein Rudel Wölfe zur Jagd heulen.
***
Der Strauch unterschied sich angenehm von seiner Umgebung, ein wärmerer Wind wehte aus den tiefen Ebenen des Westen Bretonias aus der Gegend um Brusse und Laguiller, wo der berühmte, prickelnde Weißwein von Quenelles hergestellt wurde, den die noblen Damen und Herren Bretonias so schätzten. Bald würden auch dort die Reben wieder zu wachsen beginnnen, aufgeweckt durch den Föhn, der sie aus ihrem langen Winterschlaf so sanft wie eine Geliebte ihren Liebsten weckte. Die Finken begannen zu singen, als wüssten sie es bereits. Der Winter war am Gehen, nun kam der Frühling und die harte Zeit schien vorüber. Das alles überdeckende Weiß begann aus dem Blickfeld zu verschwinden und an manchen Stellen erschienen grüne Flecken. Noch waren sie vereinzelt und schmutzig braun untersetzt, doch bald würden die warmen Sonnenstrahlen ihren endgültigen Sieg erlangen.
„Es ist eine Eberesche“, sagte eine Stimme hinter ihm und Bertrand drehte sich um. Es kam ihm ein Ritter entgegen, hoch gewachsen überragte er Bertrand um eine Handbreit. Buschige Augenbrauen und blondes, wallendes Haar rahmten eine kühne Stirn und ein entschlossenes Gesicht ein, deren Augen dennoch anzeigten, dass ihnen bei aller Entschlossenheit, Mitleid und Anteilnahme nicht völlig fremd waren. Sir Anselm zählte vierzig Jahre, doch sein muskulöser Körper, der in Kettenhemd und Rüstung steckte, war immer noch in gleicher Verfassung, als wäre er ein Jüngling im besten Alter.
„Eberesche?“, fragte Bertrand. „Ich kenne sie nur unter dem Namen Vogelbeere.“
Anselm lachte, es klang angenehm und freundlich. Er legte Bertrand die Hand auf die Schulter und griff mit der anderen in den Strauch, wo die farnartigen Blätter bereits kräftig wuchsen und zog eine Handvoll der runden, orangenen Früchte hervor. Anselm hielt sie Bertrand vor die Nase und grinste.
„Man kann beides sagen“, sagte der Ritter.
Bertrand war erstaunt. „Verzeiht Herr, aber ein Ritter der sich mit solchen Dingen auskennt, war mir bisher nicht bekannt.“
„Wir sind auf der Jagd, Knappe Bertrand“, so nannte Sir Anselm, der Schwertführer des Barons Mortimer Bertrand seit ihrem ersten Treffen, doch lag darin keinerlei Geringschätzung seiner niedrigen Geburt. „Und auf der Jagd muss man auf jedes kleine Zeichen achten.“
Ein Reiter kam herbei galoppiert.
Sein Pferd schnaubte und hatte Schaum vor dem Maul, ein untrügliches Zeichen dafür, wie hart der Ritt gewesen war. Der Landsknecht, ein junger Bursche sprang aus dem Sattel und eilte zu Sir Anselm.
„Milord“, stammelte er atemlos.
„Nur mit der Ruhe Pepin“, sagte der Ritter zu dem Landsknecht, der vielleicht nur einen Sommer mehr als Bertrand erlebt hatte. Doch das Gesicht war bereits wettergegerbt und aufgrund der Mühen, wie sie nur ein Leibeigener Bretonias kannte, zerfurcht. Mühen, die Bertrand aus eigener Haut erfahren hatte. Die anderen Männer kamen herbei und umringten den Boten. Sie alle sahen ihn mit großem Interesse an, während der junge Waffenträger sich kurz erholte und sein Atem sich sichtbar wieder normalisierte.
„Sir Gervaise hat die Fährte wieder gefunden, eine Viertelmeile nordwestlich von hier.“
„Ah“, erwiderte Sir Anselm, der sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ. „Hat Sir Gervaise dir nocht etwas mitgeteilt?“
„Nur das Eine, Milord. Die Fährte ist keinen Tag alt. Er bittet Euch, sofort aufzubrechen.“
Anselm nickte, die Entschlossenheit hatte wieder die Oberherrschaft über seine edlen Züge genommen. „Sammelt die Männer, wir reiten los!“
Der Ritter blickte in Richtung von Sir Jerome de Montfort, der still seine Zustimmung durch ein unmerkliches Nicken gab, das nur Bertrand auffiel, weil sämtliche anderen Anwesenden davoneilten, um ihr provisorisches Lager abzubrechen.
Binnen weniger Minuten war das Lagerfeuer verlöscht und ihre Reittiere, sowie die Packpferde gesattelt. Baron Mortimer le Aubertin war ein umsichtiger Herr, der sie sogar mit einigen leichten Zelten ausgestattet hatte. War es doch nicht sicher, dass wie lange ihre Jagd dauern würde, und ob sich die Gesuchten nicht in unzulänglichere Gegenden zurückziehen würden, wo keine angenehme Stube am Einbruch der Nacht auf sie warten würde.
Seit mehreren Tagen waren sie bereits der Verbrecherbande auf der Spur, welche die Ländereien des Barons heimsuchte. Die Götter hatten sich gegen sie verschworen, denn jedes Mal, wenn sie aufschlossen, verschwand die Fährte. Es war, als würden diese Gauner es ahnen, dass sie hinter ihnen her waren, und Katz und Maus mit ihnen spielen. Nur das man sich Bertrand nicht mehr sicher war, wer hier wer war. Ein Blick auf Sir Jerome, der soeben sein prächtiges Streitross Tourbillon stieg, welches erfreut über den Aufbruch wieherte, ließ seine Zweifel verfliegen. Mit solchen Kämpen wie Jerome de Montfort und Sir Anselm auf ihrer Seite bedauerte Bertrand die Unglückseligen, welche sie bald einholen würden. Sir Anselm führte den Zug an. Neben ihm befanden sich Sir Waleran, der dritte Ritter und Bannerträger, sowie Pepin, der Kundschafter und Sir Jerome. Dann formierten sich die restlichen Männer, Reynald le Durie war sehr darauf bedacht, gleich hinter der Spitze zu reiten. Bertrand musste sich weiter hinten eingliedern, da er auch ihr eigenes Packpferd zu führen hatte. Doch auf einen kurzen Befehl von Sir Anselm übernahm ein Berittener diese Aufgabe und Bertrand eilte nach vorne, an die Seite seines Herrn Jerome.
Dann ritt der gesamte Trupp los. Die Pferde griffen weit aus und eilten zügig in die Richtung, die ihnen Pepin wies. Es ging querfeldein, ihre Hufe mochten die geringe Schneedecke aufbrechen und den Boden samt der kostbaren Frühlingssaat aufwühlen, doch Sir Anselm achtete nicht darauf, da die schwache Sonne bereits ihren Zenit erreicht hatte. Mehr als eine Viertelstunde war vergangenen, eine Wegstrecke lag hinter ihnen, die ein normaler Reisender in der doppelten Zeit kaum bewältigt hätte. Es ging wortwörtlich über Stock und Stein. Einen kleinen Bach passierten sie in scharfem Trab, sodass das Wasser zu beiden Seiten hoch aufspritzte. Die Route, der sie folgten, war ein kaum benützter Wald-und Wiesenweg, der sich den Weilern und sich den Dörfern und Weilern der Gegend kaum auf Sichtweite näherte. Obwohl der Wind an sich warm war, zog Bertrand bei ihrem scharfen Tempo doch den Mantel enger um sich, um nicht zu frieren. Ihr Pfad mündete schließlich nach einer guten halben Stunde in einen größeren Weg, der von Nord nach Süd verlief. Wenig überraschend schlug Pepin die Route nach Süden ein, und auf der festen Straße kamen sie noch schneller voran, als vorher.
Das Terrain stieg leicht an, links und rechts wurde ihre Straße von niedrigen Steinmauern umsäumt, die sie von den Feldern der Leibeigenen trennten. Schmale Baumreihen umrahmten diese, als Windschutz und Abgrenzung gegen andere Felder. Sie hatten schließlich die Hügelkuppe erreicht. Bertrand konnte zwei Reiter am Fuß des Hügels erkennen. Sir Anselm hielt nicht inne, sondern führte sie zielstrebig hinab, wo sie auf die Wartenden trafen. Einer der Männer trug einen farbenprächtigen Waffenrock und eine Rüstung, die ihn eindeutig als Ritter auswies. Sein Helm, den er in der Armbeuge hielt, wurde von einem stilisierten Rehbockgeweih gekrönt. Dies war Sir Gervaise, ein noch junger Ritter, der sich erst vor kurzer Zeit seine Sporen verdient hatte. Er war, wie alle jungen Männer noch darauf bedacht, sich einen möglichst ruhmvollen Namen zu machen. Sir Anselm hatte ihm mit einem wissenden Lächeln gestattet, die Suche nach der Fährte aufzunehmen.
„Seid gegrüßt, Sir Gervaise. Habt Ihr gefunden, was wir so lange gesucht haben?“, fragte Sir Anselm ohne jede Umschweife, nachdem er sein Pferd gezügelt und der Reitertrupp zum Stehen gekommen war.
Sir Gervaise nickte, und Bertrand konnte das Feuer in seinen Augen sehen, die Wangen waren vor Eifer gerötet und erinnerten Bertrand an einen gewissen anderen jungen Ritter, der sich direkt hinter ihm befand.
„Die Herrin war uns hold!“, rief der Gefragte erfreut aus. „Die Fährte führt von hier südlich in ein kleines Wäldchen hinein. Wir sind ihm ein Stück lang gefolgt, und sie ist nicht von dem Pfad abgewichen.“
„Seid Ihr euch gewiss, dass die Spur von den Gesuchten stammt, und nicht von einer Gruppe Leibeigener?“, wollte Sir Anselm sicher gehen.
Gervaise schüttelte den Kopf. Er zeigt auf den Landsknecht neben ihm. „Godefroi ist in dieser Gegend aufgewachsen und kennt sie wie seine Westentasche. Es ist noch Winterzeit und die Leibeigenen verlassen ihre Dörfer kaum, und wenn, dann nicht in großer Zahl.“
Anselm gab sich mit dieser Antwort zufrieden, und zeigte dies mit einem Nicken, worüber sich Sir Gervaise sichtlich freute, da seine Augen zu strahlen begannen.
„Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren.“
Er erhob sich im Sattel, so dass in jedermann hören konnte. „Männer! Ihr habt in den letzten Tagen manche Entbehrung erdulden müssen. Doch nun sind wir den Verbrechern ein Stück näher gekommen. Lasst diesen Verbrechern, die unsere geliebte Heimat heimsuchen, des Königs Gerechtigkeit zuteilwerden. Für den König, Quenelles und Baron Mortimer!“
„Für den König, Quenelles und Baron Mortimer!“, erklang es aus mehr als zwanzig Kehlen.
Anselm gab seinem Pferd die Sporen, und die Anderem folgten ihm in zügigen Galopp. Schon waren sie im Schatten der Bäumer, während Licht und Schatten abwechselnd ein Muster auf ihren entschlossenen Gesichtern hinterließen. Bertrand sah die Spur nun auch, in dem weicheren Waldboden war sie besser zu erkennen. Und selbst ein kaum erfahrener Fährtenleser hätte erkannt, dass diese Abdrücke von mehr als einer Person stammten. Doch auch hier hatte der Winter seinen Tribut gefordert, und sie sahen nur an bestimmten Stellen mehrere Fußabdrücke, jedoch niemals Ganze, sondern Teilabdrücke. Doch Sir Gervaises Annahme stimmte, hier waren vor kurzem eine größere Gruppe von Personen vorbei gekommen.
Schon war der kleine Wald hinter ihnen, und mit ihm auch jegliches Anzeichen einer Fährte. Sir Anselm hob seine Hand und der Trupp kam wieder zum Stehen.
„Nein!“, rief Sir Gervaise frustriert aus, und gab damit zum Ausdruck, was alle dachten. Sir Anselm achtete jedoch nicht darauf sondern konzentrierte sich auf einen Punkt am Horizont, der gegen die tiefstehende Sonne kaum zu sehen war.
„Dort, was liegt in dieser Richtung?“, fragte er, wobei sein Arm so gerade wie eine Lanze auf die besagte Stelle zeigte. Sir Gervaise und Sir Waleran zuckten nur mit den Schultern.
Godefroi jedoch, der zuvor genannte Landsknecht trieb sein Pferd nach vorne. „Mein Heimatdorf, Farney, Milord.“
Sir Anselm blickte den Waffenknecht für einen Moment an, dann verengten sich seine Augen und die Entschlossenheit bildete wieder eine Maske.
„Vorwärts“, sagte er knapp und eilte davon, so dass seine Männer zuerst kaum Anschluss fanden. Bertrand wunderte sich zuerst über dieses seltsame Verhalten, doch je näher sie dem Dorf kamen, umso mehr erkannte er, zu seinem Entsetzen.
Sir Anselm zog sein Schwert, auf das es in der Sonne leuchtete.
„Ausschwärmen!“, befahl er und die Männer formierten sich zu beiden Seiten des Ritters, so sehr es die Straße erlaubte. Schwerter wurden gezogen, Lanzen angelegt, das Tempo verschärft.
Nun sah es jedermann, eine fahle Rauchsäule stieg von Faraney auf. Bertrand wappnete sich für das, was da kommen sollte.
Doch auf das, was sie sahen, war niemand vorbereitet. Ihr dicht geschlossener Trupp erreichte Farney unbehelligt. Keine Pfeile schwirrten ihnen entgegen, keine feindlichen Kämpfer stellten sich ihnen brüllend entgegen. Dies lag darin begründet, dass in Farney keine Menschenseele mehr lebte. Die Hütten der Dorfbewohner waren vollständig niedergebrannt. Einzig rauchende, kohlende Stämme zeigten, dass hier einst Leben geherrscht hatte. Scharen von Krähen erhoben sich in den Himmel, krächzend, weil sie in ihrer schaurigen Tätigkeit gestört wurden. Während sie am Horizont verschwanden, erstarben die Geräusche, die sie machten. Dann lag eine Totenstille über den Ort und die Umgebung, selbst ihre Pferde schwiegen, als wüssten sie, dass dies nicht Platz der Lebenden, sondern der Toten sei. Auf der Straße lagen abgeschlachtete Tiere. Schafe, Ziegen, Rinder und Ochsen waren einfach aufgeschlitzt und zum verenden auf der Straße durch das Dorf liegen gelassen worden. Im Zentrum hatte jemand die Eingeweide aufgestapelt, der Gestank nach Blut und Exkrementen war unbeschreiblich und Bertrand rang mit seiner Fassung, um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben.
Godefroi war abgestiegen und kauerte wimmernd vor den Überresten eines Hauses, das nahezu vollständig niedergebrannt war. Sir Anselm trat zu ihm und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter, doch der Mann registrierte dies in seinem Schmerz nicht.
Sir Jerome stand in der Mitte des Dorfes, sein Gesicht eine unbewegliche Miene. Reynald und Bertrand gingen bedrückt zu ihm.
„Es ist ein Alptraum, selbst das Schlachtfeld im Grauen Gebirge mutet dagegen harmlos an“, stammelte ein sichtlich gezeichneter Reynald. Bertrand nickte, unfähig ein Wort zu sprechen.
„Die Dorfbewohner“, sagte Jerome de Montfort schlicht.
„Wie meint Ihr, Sir?“, fragte Reynald verwirrt.
„Seht auf die Kadaver. Nur Tiere, wo sind die Dorfbewohner“, erklärte Jerome de Montfort unerschütterlich. In Momenten wie diesen, wusste Bertrand nicht, ob er seinen Herrn bewundern, oder hassen sollte.
Reynalds Augen weiteten sich jedoch vor Entsetzen, als er die Tragweite des Gesagten erkannte. Er eilte zu Sir Anselm, an der Gruppe von Männern vorbei, die noch im eng beisammen standen, als könnte sie dies vor dem grauenhaften Anblick schützen. Leise unterhielten sich die beiden Ritter, dann eilte Reynald mit einer Anweisung zu der Gruppe, die darauf aus ihrer Lethargie gerissen wurde, und ausschwärmte. Die Männer eilten in die Überreste der Häuser und ihre gedämpften Schreie und bleichen Gesichter verrieten, welch grausame Erkenntnis sie dort erlangt hatten.
Bertrand war dazu nicht in der Lage. Er konnte seinen Anblick nicht von den geschlachteten Tieren abwenden, sein Magen verkrampfte sich immer mehr. Er fühlte, wie sich die toten Augen der Kadaver in die seinen bohrten.
Er spürte die stumme Anklage.
Ihr habt geschworen uns zu beschützen, doch ihr wart nicht zur Stelle und nun liegen wir in unserem eigenen Blut.
Er brauchte frische Luft!
Taumelnd ging er einige Schritt weit, während sich seine Kehle zuschnürte und ihm die Galle hoch stieg.
Und da hörte er das Geräusch. Zuerst wollte er es als eine Einbildung seiner so strapazierten Sinne abtun. Doch dann vernahm Bertrand es erneut. Es war leise, kaum zu hören, doch nun kam es wieder. Seine Hand fuhr unwillkürlich nach dem Griff seines Dolchs, Durak Agril, der ihm von den Zwergen von Karak Norn überreicht worden war. Das Geräusch kam von seiner rechten. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, während er die Umgebung nach verdächtigen Anzeichen absuchte. Was, wenn der Feind nicht wirklich verschwunden war, sondern nur auf der Lauer lag. Dass mit ihm nicht zu spaßen war, bezeugte dieses unglücksselige Dorf, das nun eher die Bezeichnung Friedhof verdiente.
Das Geräusch führte ihm zur Ecke eines Gebäudes, welches bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, und aus dessen Innerem der Geruch von verbranntem Fleisch aufstieg. Bertrand mochte gar nicht daran denken, was dessen Ursprung war. Mit einem Hauch von Erleichterung stellte fest, dass ihn das Geräusch nicht in das Innere, sondern an die Unterseite des Gebäudes führte. An der rechten, unteren Kante befand sich ein Kanal auf festgetretener Erde, dessen Dunkel sich vor seinem Blick vorerst verbarg. Doch das Geräusch kam eindeutig daraus hervor. Bertrand bückte sich, um hineinzublicken, wobei seine Schwerthand jedoch nicht vom Dolchgriff wich.
Da! Da war es wieder! Nun hörte Bertrand es deutlicher. Es klang wie ein leises Wimmern. Vielleicht war es ein verletztes Tier. Ein Schatten fiel auf ihn. Blitzschnell wirbelte Bertrand herum, voller Anspannung. Jerome de Montfort stand hinter ihm, keinerlei Regung lag auf seinem Gesicht, als sich Bertrand entspannte.
Bertrand wandte sich wieder dem Kanal zu und hörte das Wimmern erneut. Er griff in das Unbekannte, bis er auf Widerstand stieß. Mit einem Mal erklang ein schrilles Kreischen, das die Stille durchbrach. Derart alarmiert, fanden sich sämtliche Männer in Windeseile ein, während Bertrand immer noch damit kämpfte, das unbekannte Lebewesen aus dem Kanal zu ziehen. Etwas biss, kratzte und trat nach seiner Hand, doch Bertrand ließ nicht locker. Schließlich förderte er es zutage. Es war verschmutzt, blutete und war sowohl gleichermaßen verstört, wie verdreckt.
Vor allem aber war es ein kreischendes Mädchen von vielleicht vier Jahren, das sich selbst beim Anblick der Männer nicht beruhigen wollte.
„Gebt Raum“, befahl Jerome de Montfort mit seiner mächtigen Stimme und die nah stehende Menge wich einige Schritte zurück.
„Was ist hier los?“, wollte auch Sir Anselm wissen, der soeben mit Godefroi erschienen war.
„Ein Kind“, sagte Bertrand, der versuchte das strampelnde Bündel zu beruhigen, was leichter aussah, als es sich herausstellte. Das Mädchen kreischte immer noch und wehrte sich nach Leibeskräften.
„Aude!“, rief Godefroi plötzlich und schob alle anderen zur Seite. „Kleine Aude!“
Das Mädchen blickte auf und sah dem Landsknecht in das von Tränen gerötete Gesicht, der sich dem Helm vom Kopf nahm und einen Schritt auf Bertrand und das Mädchen zuging. Bertrand spürte, wie der Widerstand des Mädchens nachließ. Er ließ sie los, und das Mädchen stürzte auf den Soldaten zu, der in die Knie ging, und sie in seine Arme schloss, wo sie bitterlich weinend ihre Ruhe fand. Es war eine herzergreifende Szene, die manche der hartgesottenen Landsknechte zu Tränen rührte, und sogar bei den vornehmen Rittern ihre Wirkung nicht verfehlte.
Sir Anselm fragte Godefroi. „Du kennst das Mädchen?“
Der Gefragte blickte auf, während sich das Mädchen immer noch an seiner Brust ausweinte.
„Sie ist die Tochter des Dorfvorstehers. Sie war zwei Jahre alt, als ich in den Dienst unserer Barons eintrat. Aber sie war mir wie eine Schwester.“ Tränen traten ihm dabei in die Augen.
„Sie ist verletzt- holt Verbandszeug und Scharfgarbe, um die Blutung zu stillen!“, befahl Anselm, worauf einige Männer davon eilten, um das Genannte zu holen.
„Bei der Herrin, das werden uns dieses Meuchelmördern büßen!“, zischte Sir Gervaise, die Hand am Heft seines Schwertes. Mehrere Männer murmelten zustimmend.
„Was hat sie gesagt?“, fragte Jerome de Montfort plötzlich.
Godefroi blickte kurz auf, dann flüsterte er leise mit der kleinen Aude, deren Weinen in ein beständiges Wimmern übergegangen war.
Er hob seinen Kopf wieder. „Monster- sie sagt Monster.“
„Man kann beides sagen“, sagte Sir Anselm grimmig, und sein Gesicht war wieder die Maske aus unerbittlicher Entschlossenheit, die weder Rast noch Vergebung kannte.