Kapitel 1: Dämmerung / Teil 1.1
Kapitel 1
Daemmerung
Makropole Damasia, 310.994, M41
„Und ist es nicht so, dass wir alle wie Schafe sind, die langsam zur Schlachtbank trotten? Blind sind wir, weil wir blind sein wollen, das sage ich euch!“
- ein unbekannter Prediger
Es würde ein guter Tag werden. Danach sah es schon am frühen Morgen aus, als sich nach vielen Wochen das erste Mal wieder die Sonne durch die dichten Smogwolken über der Makropole schob. Ihr Abbild war nur kränklich bleich zu erkennen, und doch hatte das diffuse Licht, das in meine Wohnung drang, etwas Angenehmes.
Die Kapitäne riesiger Frachtschiffe, Soldaten auf Urlaub oder Reisende von anderen Planeten – gerade von Agrarwelten wie Talithe I und II – beklagten oft, dass man sich unter dem bedeckten Himmel wie eingesperrt fühlen würde.
Menschen wie ich jedoch, die ihr ganzes Leben tagein, tagaus in Damasia oder einer der beiden anderen Hauptmakropolen verbringen – und auch nie etwas anderes gesehen haben – sind sich dieses Umstandes nicht einmal wirklich mehr bewusst.
Nur manchmal, an Morgen wie diesen, konnte ich erahnen, was die Fremdweltler meinen, wenn sie pathetisch von wahrer Freiheit reden.
Wenn ich heute in den Spiegel blicke, sehe ich ein bleiches, ausgemergeltes Gesicht, das mir aus tief eingesunkenen Augen entgegenblickt. Die Haare sind verfilzt, der Lidschatten verwischt, und ich habe schon seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen.
Es ist so anders als früher, als ich das war, was man gemeinhin eine „kühle Schönheit“ nannte. Ich war mir dessen durchaus bewusst, und Phelan, der erst relativ spät zur Behörde gestoßen war, machte sich oft einen Spaß daraus, mich damit aufzuziehen, indem er meine „strahlend grünen Augen“ pries, mein etwa schulterlanges, schwarzes Haar mit dem einzelnen Zopf, mein scharf geschnittenes Gesicht. Was ist davon geblieben?
An diesem Morgen jedoch war ich guter Dinge, als ich die Bürotürme der Sicherheitsbehörde, die zentral im Herzen der Makropole liegen, betrat..
Der Erste, den ich traf, war eben jener Phelan. Er ist etwas jünger als ich, schlaksig und nicht besonders groß. Die schmutzig blonden Haare ließen ihn stets verschmitzt erscheinen, und man konnte ihm eine gewisse Ausstrahlung nicht absprechen. Er war einer, der schnell überall beliebt wurde. Auch hier, in der Sicherheitsbehörde, flogen ihm die Sympathien förmlich zu, und er war rasch befördert worden. Seit kurzem ging das Gerücht herum, Janus Galt, der Gouverneur höchstpersönlich, sei schon auf ihn aufmerksam geworden.
Es gibt nicht Wenige, die ihn als eine große Ausnahme sehen. Viele glauben, dass wir kaum mehr sind als ein Haufen von Verlorenen und Verlierern, eine Ansammlung derjenigen, die es zu nichts anderem gebracht haben. Man sieht uns im Allgemeinen bestenfalls als einen Geheimdienst, vor dem man besser den Mund hält. Noch verbreiteter ist allerdings die Ansicht, dass wir vielmehr nur eine Schlägertruppe im Dienste der Obrigkeit sind.
Auch für mich war die Behörde zu einem Ort der Resignation geworden, zu einer Arbeit, die ich bis zum Ende meines Lebens beibehalten würde. Und vielleicht wäre das auch das Beste gewesen, was ich hätte kriegen können.
Phelan kam mir schon im Erdgeschoss entgegen, in einem der Korridore, die auf die Hauptaufzüge zuführten. Offensichtlich war er in Eile, denn er rannte fast in einen der Wartungsservitoren, die frühmorgentlich ihren Dienst verrichteten.
„Oh, Felkyo, gut das ich dich treffe. Kettler möchte uns beide gleich sehen, oben in der Versammlungshalle“
„Kettler?“, erwiderte ich überrascht. Ich hatte den Inspektor nur einige Male flüchtig gesehen, ein Mann, der in der Behörde hauptsächlich auf Grund seiner gewaltigen Nase bekannt war.
„Richtig, der. Beeil dich lieber, als er mich geschickt hat, dich zu suchen, kam er mir mächtig ungeduldig vor, und das war vor einer halben Stunde“
Ich seufzte auf, folgte Phelan aber widerstrebend. Mit Sicherheit würden sich Akten auf meinem Schreibtisch ansammeln, doch ich war vor allem neugierig, was der Inspektor zu sagen haben würde.
Die Versammlungshalle ist ein von uns so titulierter Abstellraum im achten Stock, der für inoffizielle Gespräche unter den Inspektoren diente. Schon lange ausgediente Cogitoren und Panele ließen kaum Platz, und alles war von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt. Ich achtete sorgsam darauf, möglichst wenig davon auf meine Kleidung kommen zu lassen.
Unter den Jalousien vor den breiten Fenstern, die nahezu eine gesamte Seite des Raums einnahmen, drang nur ein matter Schein in das Zimmer.
Als wir dort ankamen, waren schon drei andere anwesend: Harkon Kettler, ein breitgesichtiger Mann mit einer Nase, die sein gesamtes Gesicht auszufüllen schien. Die getuschelten Beschreibungen der Kollegen schienen nicht übertrieben.
Die anderen beiden waren Gerret Arkian, einer der Veteranen der Behörde und schon lange im Rang eines Majors, und Montis Killian. Der Inspektor glich einen Raubvogel. Mit einer schmalen Hakennase und tief eingegrabenen Gesichtszügen schien es immer, als würde er auf etwas lauern.
„Nun, ihr seid endlich gekommen. Dann können wir ja anfangen“, begann Killian, kaum dass wir eingetreten waren.
Sorgsam zog ich die Tür hinter mir zu, um mich anschließend an den Rahmen zu lehnen.
„Harkon?“, übergab Killian, und der Angesprochene nickte eifrig, was die riesige Nase auf und ab wippen ließ.
„Ich – beziehungsweise wir – glauben, nach langwierigen Ermittlungen den Hauptumschlagplatz der Fänge, ihren Stützpunkt und Zufluchtsort, gefunden zu haben“
Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch, schwieg aber. „Fänge“ war ein allgemeiner Slang unter uns für die Schmugglergruppe, die derzeit fast ganz Damasia mit Juvenor versorgte, jener Droge vor allem für die wohlhabenderen imperialen Bürger, die den Alterungsprozess drastisch verlangsamte.
Insgeheim vermuteten wir, dass die Ermittlungen überhaupt erst zugelassen worden waren, weil die Gruppe in Ungnade gefallen war. Diesen Gedanken sprach jedoch niemand laut aus; keiner ist gerne bloß ein Werkzeug, und allein die Tatsache, dass wir den Umschlagplatz überhaupt erst gefunden hatten, war schon ein riesiger Erfolg.
Arkians säuerlicher Miene nach schien er den selben Gedanken zu verfolgen wie ich, Phelan jedoch pfiff überrascht durch die Zähne.
Killian zeigte ein selbstsicheres Lächeln – er war es also gewesen, den Kettler mit „wir“ gemeint hatte. Der Mann mit der markanten Nase fuhr fort.
„Die Frage, die wir uns gestellt haben, war einfach: wo könnten sie sich am ehesten versteckt halten, wenn sie zum einen einen schnellen und direkten Zugang zum Raumhafen brauchen, zum anderen aber nicht auffallen wollen? Vermutlich geben sie ihren Umtrieben den Anstrich legaler Aktivitäten, deshalb haben wir uns auf das Industriegebiet um den Raumhafen konzentriert. Unsere gesamte Arbeit zu beschreiben würde zu weit ausufern, doch haben wir heute Morgen die Nachricht bekommen, dass auf einem der Schlachthöfe ein Adliger die Fänge getroffen haben will“
„Wie sicher ist diese Information?“, warf ich sofort ein. Das Ganze kam mir zu simpel vor. Zumindest sagte ich mir das, vermutlich wollte ich nur einen Fehler in Killians Ermittlungen offenlegen. Kettler schien wenig mehr als ein Strohmann zu sein.
„So sicher wie es nur möglich ist“, erwiderte er in einem Tonfall, der verdeutlichte, wie wenig er von diesem Einwand hielt.
Ich knirschte ob dieser Geringschätzung mit den Zähnen. Kettler war wohl einer derjenigen, die immer noch nicht mit Frauen in der Behörde klar kamen. Ein Idiot.
„Was soll denn bitte 'so sicher wie nur möglich' heißen? Wie vertrauenswürdig ist die Quelle nun? Und weiß sie überhaupt, wovon sie redet?“
Das erste Mal während des Gesprächs schaltete sich Killian ein. Er lächelte immer noch.
„Unsere Quelle zählt zum engsten Kreis um Janus Galt und genießt das Vertrauen des Gouverneurs“
Überrascht stieß ich meinen Atem zwischen den Zähnen aus und schwieg.
„Je eher wir dieses räuberische Nest ausräuchern, desto besser“, fuhr Kettler ungerührt fort. Ich fühlte mich in der Vermutung bestätigt, dass er vor allem ein Mann der großen Worte war. Er schien zudem Killians Sprachrohr zu sein.
„Ich habe mich jedoch dazu entschieden, bei diesem Unternehmen erfahrenere Kräfte um Hilfe zu bieten – hier kommt ihr ins Spiel“, merkte er mit einem Blick in die Richtung von Arkian, Phelan und mir an. Ich war beeindruckt, offensichtlich hatte es der Mann mit der markanten Nase geschafft, gegen Killians Willen auch mich miteinzubeziehen. Ich war misstrauisch. Warum ich mir sicher bin, dass es gegen Killians Willen war?
Wenn Kollegen in der Behörde miteinander tuschelten, hatten sie nicht nur Kettlers Nase zum Thema. Mindestens ebenso beliebt war die Rivalität zwischen Killian und mir, die nicht selten an offene Feindschaft grenzte. Montis war ungefähr so lange wie ich dabei, wir hatten beide unter dem gleichen Mentor gedient und gelernt. Schon nach kurzer Zeit versuchten wir, uns gegenseitig zu übertrumpfen, wir belauerten uns, bereit, jeden Fehler des anderen sofort auszunutzen.
Die aufkommende Verachtung hing vermutlich mit einer gewissen Ähnlichkeit zwischen uns zusammen. Wie ich neigte er dazu, einen Sachverhalt eher nüchtern und kühl anzugehen und den Lauf der Dinge abzuwarten. Bei unserem Abschluss an der behördeeigenen imperialen Schule hatten wir ähnliche Noten aufweisen können, sodass wir auf bestimmten Gebieten in direkter Konkurrenz zueinander standen. Allerdings schien es mir, als ob Killian stetig höher in der Gunst unserer Vorgesetzten stand.
Ich war ungern mit dem früh ergrauten Mann mit den kurzen Haaren zusammen, und er ebenso ungern mit mir.
Arkian räusperte sich geräuschvoll, ehe er mit einer für einen Mann von seiner Statur – der Veteran glich in fast jeder Hinsicht einem ergrauten Stier – unpassend sanft klingenden Stimme zu sprechen anfing.
„Ich stimme Harkon in dieser Angelegenheit zu. Wir sollten zusammenarbeiten und diese Sache so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Jeder von euch sollte sich eine Gruppe zusammenstellen, damit wir schon heute schnell und hart zuschlagen können“
Niemand widersprach, als Arkian die Führung übernahm und begann, befehlsgewohnt Vorgehen, Ausrüstung und ähnliches vorzugeben. Er war innerhalb der Behörde schon fast eine Legende, einer derjenigen, die zum engsten Kreis um Brennain gehörten, dem Leiter der Institution. Mit ihm zu dienen war eine Ehre.
„Dann ist also alles klar?“, fragte der Major und sah in die Runde. Wir nickten. Schon während
seiner Ausführungen waren nur wenige Zwischenfragen gestellt worden. An seinem Sachverstand zweifelte keiner.
„Es ist Zeit zu beweisen, dass der Arm des imperialen Gesetzes hier noch stark ist!“, bekundete Kettler mit feierlicher Miene, und alle außer mir nickten erneut. Ich hielt nichts auf derlei Geschwätz, wir waren oft wenig mehr als der Spielball anderer Mächte.