Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
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Hallo zusammen!
Ich bin Frischling hier im Forum, wie man unschwer an meinem Kurzprofil sehen kann :)D), trotzdem hoffe ich auf euer Wohlwollen mit meiner Geschichte, die ich euch gerne für eure Unterhaltung und euer Urteil empfehlen möchte.

Ich habe mit einem guten Freund zusammen darüber fantasiert, wie großartig, wie überwältigend und schrecklich das Warhammer 40K Universum eigentlich ist. Wir lesen ständig von Spacemarines, Inquisitoren, Imperialen Kommissaren und so vielem mehr und übersehen dabei leicht, wie schrecklich doch schon die kleinste Orkhorde für eine normale Welt ist. Und wie großartig und unbegreiflich ein Astartes in Servorüstung, ganz zu schweigen von einem Cybot auf unserer Welt wirken würde. Auf unserer Welt, die niemals etwas vergleichbares gesehen hat ... zumindest nicht in Echt.

In diesem Zusammenhang entstand der Plan für eine "Was wäre, wenn - Geschichte" - Was wäre, wenn unsere Welt, auf der wir leben, nur eine winzige, unbedeutende und vergesse Kolonialwelt des Imperiums der Menschheit wäre? Wie könnte das aussehen? Und was würde möglicherweise dazu führen, dass sich dieses Imperium wieder an seine Kolonie erinnern würde?

Die Geschichte umfasst derzeit etwas über 60 Seiten Din-A4, ist damit etwa zu einem Drittel fertig, und ich habe eine Weile nicht daran geschrieben.
Ich werde hier Abschnitte der Geschichte veröffentlichen und wenn ihr Spaß am Lesen habt, dann freue ich mich über eure Nachrichten und Posts und schreibe mit Eifer weiter an dieser Geschichte - der Geschichte unserer Erde.

Ich werde hier, in diesem ersten Posting, eine Gesamtfassung von den Teilen der Geschichte aktualisieren, die ich bereits hochgeladen habe, damit es denen die frisch auf "Terra Nostra" gestoßen sind und kein Interesse an Kommentaren haben leichter fällt, flüssig mit zu lesen.

Flatnose

- - - Aktualisiert - - -

Terra Nostra
von Flatnose McKnife

Kapitel 1


„... Berichte der vereinten Nationen sprechen von mehr als zweitausend Menschen. Ihr Verbleib ist weiter ungeklärt. Man geht aber davon aus, dass es sich um eine weitere Tat im Zusammenhang mit den jüngsten Massenverschleppungen in Zentralafrika handelt.
Ein gemeinsamer Entschluss der Mitgliedsstaaten der UN hat der Entsendung von Militär- und Menschenrechtsbeobachtern zugestimmt.
Die Landesführung der Zentralafrikanischen Republik gibt an, keine Hinweise über den Verbleib dieser Menschen zu haben.
Dass es sich hierbei um Vergeltungs- oder Strafaktionen der Regierung handelt wird von Experten als unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich angesehen.
Seit dem Beginn dieser Vorfälle sind nach Angaben der UN wahrscheinlich mehr als zehntausend Menschen verschleppt worden.
Und nun zur Verkehrslage auf den deutschen Autobahnen...“.

Anton streckte sich grunzend und drehte sich dabei auf den Rücken.
Ein dumpfer Schmerz in seinem Hintern. Der gleiche Schmerz in seinen Schultern.
Neben ihm protestierte Anna gegen seine Unruhe und die Bosheit der Welt im Allgemeinen, aber sie war kaum zu verstehen, da sich ihr Kopf unter der Decke befand.
Mit einem Ächzen richtete sich Anton auf und drückte auf die Schlummern Taste des Radios. Dann rollte er sich aus dem Bett.
Dass sein Rücken auch so weh tat! Verdammte Axt!
Als er endlich auf der Toilette saß hatte er Zeit, das Handy an zu machen und nach neuen Nachrichten zu sehen.
Ein unleidiges Ritual denn egal wie spät man ins Bett geht, es gibt immer jemandem, der einem noch ein paar Nachrichten schreibt während man schläft.
Diesmal war es Tom vor 2 Minuten, 05:07 Uhr.

„Altaaa! Ich sterbe! Mir tut alles weh! >_<
Aber geiles Training, Junge. Wie in alten Zeiten!“

Na Danke, wenigstens ging es ihm nicht alleine schlecht. Ein Grinsen brachte er trotzdem nicht zu Stande - zu früh am Morgen.
Ein Schwall kaltes Wasser im Gesicht brachte ihn dann erst richtig zurück ins Leben und während er sich die Zähne putzte musste er doch zugeben, dass er zufrieden mit diesem Morgen war.
Er und Tom hatten das erste Mal seit vielen Wochen Zeit gefunden zusammen zu trainieren. Und auch, wenn die paar Runden am Boxsack und der kleine Zirkel den sie anschließend gemacht hatten, sein altes Ich vor Scham hätten im Boden versinken lassen war es ein Anfang.
Anton war dafür, dass er über eins achtzig groß und bald hundert Kilo schwer war ein ansehnlich gebauter Typ. Fand er zumindest. Und fand auch Anna. Glaubte Anton zumindest.
Man sah ihm an, dass er viel und hart trainiert hatte. Das lag zwar auch schon wieder ein paar Jahre zurück, aber manche Dinge halten sich auch eine Weile.
Anton warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel, beschloss, dass es aber in Zukunft wieder deutlich besser werden musste und zog sich an.
Dann verließ er das Haus und fuhr zur Arbeit.

Dass Bon Jovi zu der frühen Stunde schon so eine Hingabe in sein abgedroschenes „Bed of Roses“ legen konnte. Anton schaltete das Radio aus und konzentrierte sich lieber in aller Stille auf die Fahrt. Er war heute Morgen nicht in Radiostimmung.
Fast eine Stunde später hatte er sich endlich durch den Berufsverkehr Münchens gekämpft und hielt in der Tiefgarage des Redaktionsgebäudes des Münchner Morgens.
Der Münchner Morgen war eine der drei großen und angesehenen Tageszeitungen, die in München verlegt wurden und Anton arbeitete seit sechs Jahren hier, wenn auch erst seit zwei Jahren fest angestellt und hauptberuflich. Davor hatte er kleine Artikel verfasst und an die Zeitung verkauft, meistens über Themen des Nachtlebens und der öffentlichen Sicherheit, und nebenher gejobbt.
Mit einem hellen Klingelton hielt der Aufzug im fünften Stock und Anton verließ die Kabine. Es war jetzt 6 Uhr zwanzig und die Büros waren zu weniger als der Hälfte gefüllt. Trotzdem schienen seine Kollegen ungewöhnlich beschäftigt zu sein und als Anton sich seinem Büro näherte sah er einen Mann, der unruhig im Gang auf und ab lief. Gerade sah dieser auf die Uhr, stutzte, sah auf und begegnete Antons fragendem Blick.
Klaus Kampfer, Antons Chef, hatte keine Zeit für Begrüßungen. Nicht heute.
„Anton! Warum zum Teufel sind Sie ausgerechnet heute zu spät, verdammt?!“
„Ich bin nicht zu spät, Herr Kampfer. Ich,“, Anton sah auf die Uhr, „Bin sogar zehn Minuten früher dran als sonst. Und Gleitzeit bedeutet ...“
„Papperlappap, Mann! Das interessiert mich heute nicht! Sie müssen nach Berlin!“
„Wowowow! Moment! Berlin? Was ist passiert?!“
„Ein Großbrand in einer Diskothek. 132 Menschen tot. Sie fliegen in einer Stunde also packen Sie den Laptop ein und los. Dennis fährt Sie zum Flughafen.“
Anton stutze kurz, schon auf dem Weg zu seinem Schreibtisch.
„Wegen einem Brand fliege ich nach Berlin? Ist es das Wert, Herr Kampfer?“
Dieser durchbohrte Anton mit seinem Blick.
„Machen Sie hinne, Mann. Aber ja, vielleicht ist es das und Sie werden dafür sorgen, wenn es so ist. Man munkelt es war kein Unfall sondern ein Anschlag, oder so. Das bringt Sie auf die erste Seite, wenn Sie es richtig machen.“
Heilige Scheisse.
„Okay! Okay! Ich bin dran. Aber warum haben Sie auf mich gewartet wenn...“, Kampfer unterbrach ihn.
„Nachtleben und Polizeiarbeit, das ist der Deal, das ist ihr Job! Und jetzt Abmarsch!“.
Fünf Minuten später war Anton auf dem Weg zum Flughafen, fünfzig Minuten später – verdammt knapp – saß er im Flieger.
Der ganze Körper ein einziger Schmerz vom Muskelkater, übermüdet, vom Adrenalin hellwach. Was ein verrücktes Leben das doch war.

Der Flieger landete pünktlich um 08:45 Uhr am Flughafen Berlin Tegel. Anton nahm ein Taxi und nannte dem Fahrer sein Ziel, das Polizeipräsidium Berlin, Stab 4, am Platz der Luftbrücke, die Pressestelle der Polizei.
Während der Fahrt hatte er Zeit seine Gedanken noch einmal zu ordnen. In seine Kladde notierte er Fragen, die er unbedingt stellen wollte. Ihm war zwar klar, dass die Polizei vieles aus ermittlungstaktischen Gründen nicht preisgeben würde - das kannte man, das war man gewohnt - aber einen Versuch war es immer Wert.
Einhundertzweiunddreißig Menschen tot. Ort des Unglücks, wenn es denn eines war, war ein Club namens „Nightlife“ gewesen. Soweit Anton in Erfahrung gebracht hatte war das kein super angesagter Club gewesen, aber auch keiner der Verrufenen.
„Einschätzung des Clubs. Szeneeinordnung? Bandenkrieg?“, notierte Anton.
Wenn es Banden waren, dann kamen in Berlin die Großfamilien in Betracht, oder Rocker.
„Rocker? Großfamilien? Mafia?“, Anton betrachtete die Stichworte und klammerte sie dann ein. Die Größenordnung war falsch. So etwas machte man nicht, wenn man bloß seinen Einfluss auf das Drogengeschäft festigen wollte, oder ein Schuppen nicht die vorgeschlagenen Türsteher übernommen hatte.
„Terroranschlag?“, schrieb Anton. Er kaute auf seinem Stift. Das Taxi fuhr über eine Bodenwelle und riss ihn aus seinen Gedanken.
Anton sah kurz aus dem Fenster und sah alte Wohnhäuser, einzelne kahle Bäume und viele Graffiti. Er blinzelte interessiert: Ein Cannabisblatt, mehrere große und grell bunte Schriftzüge, ein brauner Kreis von dessen Zentrum acht Pfeile in alle Richtungen abgingen. Kurz stutze Anton.
Wer machte ein Graffito in braun, dachte er. Dann besann er sich wieder auf seine Kladde.
„Bekennerschreiben? Video?“.
Das war wichtig. Wenn es ein Terroranschlag gewesen war würde sich bald jemand dazu bekennen. Es gab keine Terrororganisation, die sich nicht gerne mit einem Anschlag im Herzen Europas gebrüstet hätte.
Anton kaute auf seinem Stift und das Taxi hupte sich durch Berlin.

„Mehr haben wir zum aktuellen Zeitpunkt nicht für Sie, tut mir Leid.“, Hauptkommissar Weser, der Pressesprecher der Berliner Polizei, lächelte entschuldigend.
„Ich gehe davon aus, dass Sie Fragen haben werden. Also nur zu.“, der Mann lies seinen Blick über die Anwesenden wandern.
Natürlich gab es jede Menge Fragen, dachte Anton. Natürlich gab es die, wenn man zu einer Pressekonferenz Bilder präsentierte die schlechter waren, als das was die Kollegen Fotografen in der Nacht direkt schon gemacht hatten. Natürlich gab es die, wenn die Informationen, die einem gegeben wurden, teilweise noch während sie ausgesprochen wurden von anderen Reportern im Raum dementiert oder widerlegt werden konnte.
Und natürlich gab es die, wenn die Zusammenfassung der Polizei ziemlich genau dem entsprach, was Anton auf dem Flug nach Berlin in seinem Dossier schon gelesen hatte.
Er seufzte.
Desinteressiert hörte Anton zu, wie irrelevante Fragen gestellt und abgespeist wurden.
Wie viele Kinder unter den Toten seien? Herrgott, da hatte mitten in der Nacht eine Diskothek gebrannt! Was sollten Kinder da verloren haben?
Ob es Zeugen gegeben habe? Vermutlich ja! Aber die Polizei würde sicher nicht so leichtfertig sein und Personalien bekannt geben.
Anton schüttelte missmutig den Kopf. Aber gut, das war sein Job. Auch wenn er offensichtlich keine Details bekommen würde, versuchen musste er es.
„Woher nehmen Sie überhaupt die Vermutung, dass es sich nicht bloß um ein Unglück gehandelt haben könnte?“, rief er laut in den Raum.
Hauptkommissar Weser ließ sich mit der Antwort Zeit.
„Weil.“, das Wort verklang, aber niemand sagte etwas.
„Weil wir an den Leichen Verletzungen gefunden haben, die mit einem Tod durch Ersticken, und den Auswirkungen des Feuers, nichts zu tun haben können.“
Aha! Das mussten fatale Verletzungen sein, wenn man sie einem verkohlten Leichnam noch ansah.
„Können Sie das bitte konkretisieren, Herr Weser?“
„Nun, ich denke Sie vermuten selbst ganz richtig, dass ich das noch nicht tun kann.“
Die Frage auf Sprengstoffspuren oder anderen Anzeichen für eine Explosion war schon vorher gestellt und verneint worden.
„Gibt es ein Bekennerschreiben, oder eine Videobotschaft? Irgendwas, das auf einen Täterkreis, im terroristischen Sinne, hindeutet?“
„Nein, weder noch. Wir haben Kollegen der SOKO, vom Staatsschutz und anderen Fachdienststellen, die momentan alle bekannten Netze und Foren durchsuchen, aber bisher haben wir keine Anzeichen dafür gefunden, dass das, was hier passiert ist einen terroristischen Ursprung hat.“
Anton überlegte fieberhaft. Irgendwas musste dabei doch heraus springen! Dafür war er nicht extra nach Berlin geflogen!
Leises Gemurmel setzte ein. Alles gefragt, alles gesagt. Hauptkommissar Weser klappte seinen Ordner zu und griff zur Fernbedienung für den Beamer.
Ein Bild der Diskothek war an eine Tafel an der Wand geworfen worden. Das Schild „Nightlife“ hatte viel Ruß ab bekommen. Wahrscheinlich waren Flammen aus dem Haupteingang geleckt als, naja, die Garderobe oder irgendwas, verbrannt war.
Doch dann blieb Antons Blick an etwas hängen, eine Sekunde, bevor das Bild erlosch.
Der Polizist verließ den Raum.
Anton war dich hinter ihm.
Das war seine Chance auf ein exklusives Detail!

„Eine gute Frage, Herr..?“, Weser sah ihn fragend an.
„Rieder. Anton Rieder vom Münchner Morgen.“
„Also, ja. Möglicherweise, Herr Rieder. Es könnte sein, dass dieses Graffiti eine Rolle spielt. Aber ob, oder ob nicht, wissen wir noch nicht.“
„Aber es ist doch nur ein Graffito, Herr Weser“, Anton tat überrascht.
„Ich meine – es ist mir ja aufgefallen, stimmt. Und ich habe Sie gefragt. Aber welchen Zusammenhang sehen Sie da zu einem eventuellen Verbrechen?“
Wesers Miene verfinsterte sich.
„Mit Spielchen gewinnen Sie keine Sympathie.“
Er funkelte Anton grimmig an.
„Ja, okay. Tut mir Leid.“, ruderte Anton zurück.
„Mit mir geht grad die Müdigkeit ein wenig durch. Heute Morgen noch in München, jetzt hier … naja.“.
„Wem sagen Sie das!“, der Hauptkommissar fuhr sich müde durch das Gesicht. „Also gut, Junge. Kommen Sie heute Abend um 18 Uhr zur zweiten Pressekonferenz, dann kann ich vielleicht mehr sagen.“
„Eine zweite Konferenz? Davon habe ich gar nichts gewusst..“
„Sie nicht, und die anderen auch nicht. Wir streuen das erst heute Abend an die Agenturen. Mal sehen wie viele es pünktlich schaffen.“
Weser schnitt eine ziemlich komische Grimasse. Als wäre er die Unschuld selbst fügte er hinzu: „Ist mir vorhin einfach entfallen.“, dann ging er.
Anton blieb ein wenig sprachlos zurück.

Um 0:41 Uhr setzte der Flieger am Flughafen München auf, 20 Minuten später saß Anton im Taxi.
Sein Kopf sank ihm immer wieder auf die Brust. Und jedes Mal schaffte es der Taxifahrer ihn wieder zu wecken. Mal indem er einen Bordstein schrammte, mal indem er an einem Zebrastreifen zu spät und dafür gut gemeint hart bremste.
Guter Mann, dachte Anton, als er für die Fahrt bezahlte. Was hält besser wach als ein Nahtoderlebnis?
Die zweite Konferenz hatte ein paar interessante Details enthüllt aber bei weitem nicht den Kern der Sache aufgedeckt.
Das Graffito mit den acht Pfeilen war auch im Innenraum der Diskothek zu sehen gewesen. Viel zu oft, um ein Zufall zu sein.
Es hatte Fotos gegeben, wo dieses Zeichen auf Wände geschmiert war. Halb unter Ruß verborgen. Es war allein acht Mal an den Außenwänden des „Nightlife“ zu finden gewesen.
Aber am erschreckendsten war eine Variante auf der Toilette gewesen. Diese war kaum vom Feuer gezeichnet gewesen, klar und deutlich. Bloß verlaufen, war die nasse Farbe. Falls es sich um Farbe gehandelt hatte. Die Polizei ging von einem anderen Grundstoff aus.
Blut.
Bilder der Opfer hatte Anton an diesem Abend nicht zu Gesicht bekommen, aber er war dankbar dafür. Auch so hatte sich ein unbekanntes Grauen in seinem Nacken festgesetzt.
Er hatte Angst, stellte er ohne Erstaunen fest.
Ein Gewaltverbrechen, das so deutlich kultischen, vielleicht sogar satanistischen Ursprungs war. Ihm schauderte.
Er hatte zu viele Filme gesehen, als das ihn so etwas kalt lassen konnte.
Er hoffte bloß, dass er später gut schlafen würde.
Wie ein kleines Kind!, schimpfte er sich in Gedanken. Wie ein verdammtes, kleines Kind.
Die Rohversion des Artikels hatte er schon während des Fluges auf seinem Laptop geschrieben. Diese war schnell kopiert, doch das Korrekturlesen dauerte doch noch eine Weile, und so war es fast 4 Uhr morgens, als Anton endlich ins Bett fiel.
Dass Anna aus dem Tiefschlaf aufschreckte und ihn finster aus verquollenen Augen anfunkelte bemerkte er schon nicht mehr.
Er rollte sich einfach, noch in seinen Sachen, zusammen und schlief ein.

„Anton!“, eine spitze Stimme durchbrach den Nebel in seinem Kopf. Und versank wieder.
„Anton! Telefon!“, näher, lauter.
Anton fühlte sich schwer. So schwer, dass er überhaupt nicht wusste wo er überhaupt war. So schwer, dass er nicht wusste wer da seinen Namen rief. Und zu schwer, als dass sein Geist auf die Idee kommen würde, er hätte einen Körper.
„ANTON!“
Mit einem Ruck war seine Decke weg. Eiseskälte!
„Was...“
Bevor er weiter sprechen konnte hatte er das Telefon am Ohr.
Das Telefon? Welches Telefon? Und warum überhaupt?
„Herr Rieder! Kampfer hier! Ich brauche Sie ihrem Büro!
Anton drehte langsam – sehr langsam – den Kopf zu seinem Wecker.
06:27 Uhr.
„Herr Rieder?!“
Anton legte auf.

Tuut! Tuut! Tuut!
Sein Kopf war immer noch wie in Watte gepackt, die Augen verquollen, der Nacken verspannt und schmerzhaft.
Klack!
„Kampfer.“
„Herr Kampfer, Rieder hier. Tut mir Leid, das war unhöflich von mir aber ich war erst seit etwas mehr als zwei Stunden im Bett und .. ja.“, sagte Anton, während der Schwierigkeiten hatte Anna zu fokussieren, die vor ihm im Badezimmer gerade dabei war, sich die Haare zu machen.
Stille auf der anderen Seite der Leitung.
Scheisse, dachte Anton. Scheisse, Scheisse...
„Rieder... Okay.“
Anton konnte sein Seufzen hören.
„Okay, kommen Sie her. Das ist wichtig und Sie haben den Kontakt, also ja. Glück gehabt. Ich hätte den Auftrag sonst schon weiter gegeben.“
„Um was geht es denn genau, Herr Kampfer?“
„Berlin, ein Massaker in einem Nachtclub.“
Dejá-Vu?, dachte Anton.
„Tut mir Leid, Herr Kampfer, aber...“, schüttelte den Kopf, verzweifelt bemüht seine Gedanken zu ordnen. Dann fuhr er gequält fort:
„... war ich da nicht gestern?“
„Gleiches Muster, neuer Fall, Rieder.“
Scheisse.

Zwei Kaffee und einen Energiedrink später stieg Anton aus dem Wagen. Der Berufsverkehr war quälend gewesen und er war froh endlich da zu sein. Er war immer noch ziemlich müde, sein Magen spielte verrückt und schwankte zwischen Heißhunger und akuter Übelkeit, aber sein Muskelkater hatte nachgelassen – man musste die kleinen Dinge sehen.
Der Fahrstuhl war voll und so entschied er sich doch für die Treppe.
Im zweiten Stock pfiff er auf dem letzten Loch.
Im Fünften war sein Kreislauf kurz vor dem Zusammenbruch. Kalten Schweiß auf der Stirn versuchte er halbwegs gerade zu laufen während sein Sichtfeld zwischen verschwommen und schwarz hin und her pendelte.
Hin und Her.
„Rieder!“
Anton schaffte es die Erschöpfung ein wenig ab zu schütteln als er seinem Chef gegenüber trat.
„Ich habe die Bilder auf ihren Schreibtisch legen lassen. Der Fotograf war einer der ersten am Tatort und konnte ein paar gute Schnappschüsse machen. Wir werden kaum etwas davon drucken können, fürchte ich, aber schauen Sie mal, was Sie draus machen können!“
„Ich fliege also nicht nach Berlin?“, sagte Anton und atmete tief durch.
Gott! War er erleichtert!
„Nein, nicht nötig. Das Thema ist so groß, dass es verschiedene Telefonkonferenzen geben wird; wir haben sie auf acht Uhr angemeldet... naja, und für den Fall, dass sie es nicht geschafft hätten auch noch einmal um zehn Uhr.“
Anton sah auf sein Handy.
07:52 Uhr.
Manchmal hasste er seinen Beruf mehr, als er je zugeben würde.

Als Anton an diesem Abend das Bürogebäude verließ konnte er sich kaum auf den Beinen halten. 2 1/5 Stunden Schlaf in 36 Stunden. Das war nicht menschenwürdig.
Er ging zu seinem Auto, startete und fuhr los.
Was für ein Chaos da in Berlin los war, einfach unglaublich.
In der vergangenen Nacht, ungefähr um den Zeitraum als Anton gerade erschöpft und zerschlagen in sein Bett gefallen war, hatten Männer einen Nachtclub namens „R-Club“ gestürmt. Regelrecht gestürmt. Türsteher waren, wo sie standen, mit brutaler Waffengewalt hingemetzelt worden, dann waren die Täter im Club verschwunden und hatten die Türen von innen verschlossen.
Schockierte Zeugen hatten sofort die Polizei gerufen, aber bis das Sondereinsatzkommando vor Ort war, waren dreißig lange Minuten vergangen. Als man sich dann zum Zugriff entschloss musste man feststellen, dass die doppelflügelige Tür von innen verbarrikadiert worden war und als man es endlich, in den Hauptsaal der im Keller gelegenen Diskothek geschafft hatte war nur noch der Tod anwesend.
64 Menschen, schätzte die Polizei, waren in dieser Nacht gestorben aber sicher konnte man das erst nach Abschluss der rechtsmedizischen Beurteilung sagen.
Zu viele Einzelteile - von zu vielen Menschen.
Und über allem hatte ein bereits bekanntes Zeichen geschwebt. Es war mit Edding an die Fliesen der Toiletten gemalt. Und es war mit Blut an die Wände gemalt worden. Wieder, und wieder.
Ein achtstrahliger Stern aus Pfeilen. Und etwas Neues.
Bilder von umgekehrten Schädeln an den Wänden und darüber gemalt eine Rune, wie Anton sie noch nie gesehen hatte.
Bis auf einen einzigen der Täter waren alle Leichen zerstückelt und geschändet worden. Es hatte den Eindruck gemacht, als hätten sich die Täter in ihrem Blutrausch am Ende gegenseitig zerfleischt. Auch der einzige halbwegs intakte Körper war übersät gewesen mit schrecklichen Verletzungen, Schnitten, die Knochen frei gelegen hatten.
Er wollte wissen, wie der Fotograf dazu gekommen war, diese Bilder zu machen aber er vermutete, dass der Mann schlimme Alpträume haben würde. Ihm selbst ging es ja schon nicht gut und er ertappte sich dabei, aus den Augenwinkeln Fratzen zu sehen, die nicht da waren.
Er hätte sich nie ausmalen können, dass sein neuer Beruf ihn einmal so weit bringen würde, dass er Angst im Dunkeln haben würde.
Damals, als er noch für Andi Finke als Türsteher gearbeitet hatte, da hatte er hin und wieder Angst haben müssen. Er hatte lange Nächte durchlebt, weil mal wieder Revierstreitigkeiten im Milieu ausgebrochen waren, aber das jetzt war eine ganz neue Erfahrung.
Ein übles Gefühl in der Magengrube und im Nacken. Als würde man gejagt.
Anton schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.
Doch sein Artikel war ein Renner gewesen, der Absatz der Zeitung hoch und er würde nach dem heutigen Tag noch höher sein. Die Polizei hatte einen Teil ihrer Politik zur Zurückhaltung von Informationen aufgegeben und viele Details offenbart.
Das ganze war mit einem Zeugenaufruf verknüpft: Jeder dem etwas komisches aufgefallen ist bei dem Leute Klingenwaffen und Werkzeuge gekauft, getragen, damit posiert oder sonst irgendetwas getan hatten sei umgehend der Polizei zu melden.
Denn genau das war es, was auch schon im ersten Fall so schrecklich auffällig gewesen war.
Die Leichen waren zerstückelt gewesen, bevor man sie verbrannte.
Zerstückelt von Macheten, Messern, Äxten, und sogar Schwertern.
Nicht ganz so spät, aber müde wie nie, ging er nach einer heißen Dusche schlafen.
Anna war nicht da, er vermisste es jetzt schon, Zeit mit ihr zu verbringen. Aber sie hatte Training, Jazz-Dance.
Sie nahm das sehr ernst.
Anton gönnte ihr das Hobby. Sie hatte genug zu arbeiten durch die Doppelbelastung von Nebenjob und Studium, und so dämmerte er alleine in den Schlaf. Vielleicht würde er ja heute genug davon bekommen bekommen.

Es war schon 10 Uhr durch, als er erwachte. Jede Faser seines Körpers tat weh, er war verspannt wie selten und in Kopf fühlte sich heiß und seine Augen verquollen an.
Was ein riesen Luxus, dachte Anton. Einen Kater zu haben, ohne gesoffen zu haben.
Er rollte sich noch unzufrieden hin und her und stand dann doch auf.
Komisch eigentlich, dass er ungehindert so lange schlafen konnte.
Er wusch sich das Gesicht kalt ab und merkte sofort, wie er wacher wurde. Während er sich die Zähne putzte machte er das Handy an, das er über Nacht zum Laden ausgemacht hatte, und sah auf das Display.
Drei verpasste Anrufe, 17 Nachrichten, 3 ausstehende Updates.
Kurz kniff er die Augen zusammen, um klarer denken zu können – Nein, keine Chance, nichts wurde klarer – und beschloss dann das Handy erst einmal Handy sein zu lassen und sich einen Kaffee zu machen.
15 Minuten spät saß er auf der ledernen Couch in seinem Wohnzimmer und legte mit einem Seufzen die Beine hoch als sein Handy klingelte.
Pfff.
„Rieder?“
„RIEDER! Was soll der Quatsch? Hatten Sie ihr Scheiß-Handy aus, oder was?“
„Herr Kampfer? Sie…“
„Hier geht die Welt unter und ich hab keinen Bock meine Zeit mit ihnen zu verschwenden. Wenn Sie arbeiten wollen, kommen Sie her - Und wenn nicht, lassen Sie es bleiben!“
„Was ist denn überhaupt passiert?“, Anton wurde wütend,
„Ich hab in den letzten zwei Tagen verfickte 36 Stunden gearbeitet und kann immer noch nicht wieder richtig denken also lassen Sie es verdammt nochmal locker angehen und erklären Sie mir was los ist!“
„Sehen Sie fern!“, Anton hörte ein sehr erschöpftes Seufzen am anderen Ende der Leitung.
„Und vergessen Sie was ich eben gesagt hab. Ich brauch Sie hier nicht, wir sind genug. Kommen Sie am Montag wieder!“
Klick!
Hm, dachte Anton. Hm.
Müde wuchtete er sich von der Couch hoch und langte nach der Fernbedienung. Er schaltete den Apparat ein und zappte ein paar Programme durch, bis er bei einer Nachrichtensendung angekommen war.
„Köln! In der letzten Nacht kam es zu einem Brand in einem Asylantenheim. Die Feuerwehr ist noch vor Ort dabei, den Brand zu löschen. Die Polizei spricht momentan von 120 Toten. Ein rechtsradikaler Hintergrund hat sich bisher noch nicht erhärtet, wurde aber von der Polizei noch nicht dementiert. Die Ermittlungen dauern noch an.“
Eine Rauchsäule über einem altertümlichen Plattenbau. Zuckende Blaulichter in der Morgendämmerung und in scheinbarer Ruhe herumlaufende, uniformierte Menschen.
Totale. Übersichtsaufnahme. Dann eine Großaufnahme auf den Plattenbau mit den verrußten Fensteröffnungen. Die Wände voller Graffiti. Anton traute seinen Augen nicht.
Ein achtstrahliger Stern war da. Mit leuchtend roter Farbe an die Wand gemalt.
Unbeachtet. Außer von Anton.

Den Rest des Tages verbrachte Anton zuhause in tiefer Konzentration. Der Fernseher lief und quäkte die immer selben Informationen in den Raum. Die Ermittler tappten weiter im Dunkeln, aber kein Wunder. War ja auch kaum zwölf Stunden her.
Das Internet ist voller Informationen, Verschwörungstheoretikern und Videos, die irgendjemand zitterig mit seinem Handy gefilmt hatte.
Er fand heraus, dass sich die ansässigen Graffitiszenen schon mit dem achtstrahligen Stern und der Rune aus Berlin, man nannte Sie eine „Schädelrune“ auseinander gesetzt hatte. Aber auch dort war man ratlos, woher diese kam - und wer dahinter steckte.
Auch die Bedeutung der Zeichen war unklar. Es gab Spekulationen: Fantasiezeichen aus irgendwelchen Comics wurden ins Rennen gebracht, genauso wie Hieroglyphen, Maya-Zeichnungen und vieles mehr. Aber eigentlich interessierte die Bedeutung niemanden in den öffentlichen Foren im Internet. Das Einzige was den vielen Sprayern wichtig war, war die eigene kleine Berühmtheit.
Anton sah auf als sich der Ton im Fernseher änderte. Ein Jingle wurde gespielt . Eine Fanfare.
„Gerade erreicht uns die Meldung von einer Geiselnahme in München. Eine unbekannte Anzahl Personen hat dort eine Messehalle gestürmt. Die Halle ist abgeriegelt und alle Türen sind aktuell verschlossen. Ein Großaufgebot der Polizei hat die Gegend großflächig abgeriegelt und Spezialisten der Landespolizei versuchen derzeit Kontakt mit den Tätern auf zu nehmen. Forderungen der Geiselnehmer sind bislang noch nicht bekannt.“.

Polizeimeisteranwärter Ergün war kalt. Es war schon nach zehn Uhr abends. Er rechnete kurz nach – Ja, er saß jetzt seit mehr als 2 Stunden hier draußen im Streifenwagen. Allein. Und nach der ersten Stunde hatte die Kälte angefangen, in den Wagen zu kriechen.
Mittlerweile war ihm bitterkalt und ein Tropfen hielt sich hartnäckig an seiner Nase. So konzentriert war er am Leiden, dass er heftig zusammen zuckte als plötzlich die Tür neben ihm aufgerissen wurde. Es war Toni, sein Bärenführer.
„Komm mit, Junge. Wir gehen mal vor. Ist alles soweit abgeriegelt und sicher jetzt. Kannst du dir das mal anschauen.“
Mit heftig klopfendem Herz stieg er aus und stolperte hinter Polizeihauptmeister Zeller her. Dorthin wo der Himmel von den Scheinwerfern hell erleuchtet war und Werbebanner an hohen Fahnenmasten flatterten.
Alles war vertreten was die Landespolizei zu bieten hatte: Zwei Hubschrauber kreiste über dem Areal, dutzende Streifenwagen standen an jeder Seite der Halle, in sicherer Entfernung und Spezialeinheiten in ihren schwarzen Overalls bereiteten sich in Seitenstraßen auf den Notzugriff vor, während sich etwas weiter Züge der Bereitschaftspolizei um eine Feldküche scharten und dampfende Suppe aßen, damit sie in wenigen Minuten ihre Kollegen an der Umstellung heraus lösen konnten.
Die Stimmung war angespannt aber ruhig. Viele der Beamten hatten so etwas, oder ähnliches, schon erlebt. Und jeder wusste, wenn überhaupt, dann würden die Spezialeinheiten Kontakt mit den Tätern haben. Wenn überhaupt.
Man lernte als Polizist schnell, abzuwarten, und sich nicht zu viele Sorgen zu machen.
All das saugte der junge Polizeischüler Baran Ergün in sich auf, als er mit seinem Mentor durch die Menge der Kollegen ging.
All die vielen Eindrücke. Er fragte sich, wann er so viel Sicherheit wie seine Kollegen würde ausstrahlen können.
Natürlich war ihm auch klar, dass diese Situation ungewöhnlich war. So viele Geisel. Baran dachte kurz nach: 400 hatte er gehört. Schon komisch. Er konnte sich gar nicht wirklich vorstellen, wie man sowas lösen sollte. Und wie viele Täter da drin waren wusste man auch nicht. Oder doch?
„Toni?“
„Hm?“
„Weißt du, wie viele da drin sind? Täter, meine ich.“
„Hast du den Funk nicht mit gehört?“
„Der Wagen war aus und der Funk…“
„Oh Baran. Dann hättest du das Auto halt an gemacht.“
Toni sah ihn belustigt an und schüttelte denn grinsend den Kopf.
„Du darfst gerne mit denken, Junge. Aber Nein, Sie wissen noch nix. Und die da drin reden auch nicht mit unseren Jungs von der Verhandlungsgruppe.“
Irrte Baran sich, oder machte sein Mentor einen ratlosen Eindruck?
Nein, nicht möglich, dachte er. Ich muss mich irren.
Toni wusste immer alles.
Er sah an der langen Reihe Polizisten entlang und weidete sich an ihrem Anblick. So viele entschlossene Gesichter, Konzentration im Angesicht der Gefahr. Sicherheit durch Training.
Er sah weiter, sah über die Dächer der Autos zur Halle.
War das eine Bewegung, die er gerade gesehen hatte? Da am Tor?
Er kniff die Augen zusammen und meinte nun einen schmalen Streifen Dunkelheit zu sehen, der sich in der Lücke zwischen den Torflügeln zur Messehalle abzeichnete.
Doch, sicher! Der Spalt wurde immer breiter. Ein metallenes Quietschen von den Scharnieren des Tores erreichte jetzt die Beamten.
Baran starrte. Und sah.
Er sah, wie sich das Tor der Halle öffnete.
Er sah aus der Dunkelheit der unerleuchteten Halle Schatten auftauchen, Menschen, Männer die langsam in Laufschritt verfielen. Ein Heulen erfüllte die Luft, ein Jaulen und ein Kreischen.
Lichtreflexe blitzten auf nassen Klingen und das Trappeln dutzender rennender Schritte lag in der Luft und bevor jemand richtig verstand was da passierte; Warnungen wurden in den Funk gebrüllt, Waffen gezogen, Vorgesetzten fragende Blicke zugeworfen; waren die stillen Entführer unter ihnen und Wahnsinnige hielten lachend Ernte.

Baran Ergün verlor quasi sofort den Überblick. Er sah ein halbes dutzend schwer gepanzerte Kollegen der Spezialeinheit an ihm vorbei rennen, während sich einer noch versuchte, im vollen Lauf den fast 10kg schweren ballistischen Helm an zu ziehen und ein anderer beinahe über die Riemen der hastig zugeschnürten Beinschoner stolperte. Er sah einen Beamten der hastig über das Dach eines Streifenwagens kletterte und dabei seine Dienstwaffe aus der Hand verlor. Er sah überall rennende Menschen, aufgerissene Augen und hörte ihre Schreie.
Dann sah er die erste Verletzte.
Eine Polizistin stolperte an einem Streifenwagen vorbei, auf ihn zu, seltsam still und mit weit offenen Augen. Dann fiel Sie flach auf das Gesicht. Rings um sie herum herrschte jetzt ein unglaublicher Lärm, und trotzdem konnte er hören, wie ihr Kopf den Asphalt traf. Ihre Arme bewegten sich in Zeitlupe über den Boden während sich von ihrem Kopf ausgehend eine Pfütze ausbreitete. Ein tiefer Spalt klaffte in ihrem Hinterkopf und die wirren Haare verklebten Haut, Knochen und Hirnmasse während der pulsierende Strom Blut erstarb.
Verzweifelt stand er auf. Blut klebte auch an seinen Händen, ohne dass er verstand, wo es her kam.
Er sah sich um und sein Puls rauschte in seinen Ohren. Ihm war schlecht.
Toni war weg.
Nicht weit von ihm ging ein Polizist zu Boden, während ein von Kopf bis Fuß mit Blut besudelter Mann mit einer Machete in der Hand auf ihn einschlug. Sein Kopf ruckte herum als ihn ein Schuss in den Kopf traf und ihm das Ohr aus dem Kopf gesprengt wurde. Jemand kam angerannt, beugte sich über die beiden Männer, schüttelte den Kopf und lief weiter.
„TONI!“, Baran schrie aus vollem Hals aber sein Schrei ging unter – jeder schrie.
„TONI!“, er lief los, stolperte zwischen den Rennenden und Kämpfenden hindurch. Ein Sanitäter vom Roten Kreuz kauerte in einer Hecke. Eine rote Spur zeigte den letzten, kurzen Weg eines Verwundeten unter ein Auto. Ein Beil lag da, direkt zu seinen Füßen, klebrig von Blut und Haaren. Ein schwer verletzter, aus zahllosen Schnitten blutender Mann mit Tätowierungen im Gesicht bäumte sich unter dem Gewicht von vier Polizisten auf und verbiss sich in einen Arm.
Er taumelte weiter und kam überhaupt nicht auf die Idee, seine Waffe zu ziehen. Er taumelte weiter, und weiter, und dann stand er vor dem weit offenen Tor der Messehalle.
Der Halle, in der 400 Geiseln überraschend still auf ihre Befreiung warteten.
Er trat einen Schritt näher. Die Dunkelheit wich zurück als er ihr näher kam. Sein erster Schritt auf den Teppich der Halle verursachte ein saugendes Geräusch und als sich seine Augen langsam an das Zwielicht der Halle gewöhnt hatten, stockte sein schwerer Atem.
Eine unförmige Silhouette war zu erkennen und zeichnete sich dunkel und unscharf gegen das graue Zwielicht der Halle ab. Ein Berg ragte vor ihm auf. Baran sah den Schattenriss eines Armes, das Profil eines im Schrei erstarrten Gesichts. Dieser Berg bestand aus Körpern, verdreht und grausam verstümmelt. Bäche von Blut waren auf dem Boden und gerannen im Teppichboden.
Das Grauen verdichtete sich je länger er diesen Berg anstarrte. Die Temperatur fiel und sein Atem wallte weiß vor ihm und nahm ihm die Sicht. Er schluckte trocken. Die Geräusche drangen nur dumpf zu ihm als es ihm wie ein Dorn in die Eingeweide stach: Das Gefühl beobachtet zu werden.
Der Berg auf verdrehten Leibern begann sich zu bewegen, tote Arme wedelten durch das Dunkel und Köpfe wippten auf und ab.
Der junge Polizeischüler zog seine Waffe – wusste es nicht, spürte es nicht – dann berührte sein eigener, kalter Lauf seine Schläfe und während eine kalte Träne zu Boden fiel schrie er auf. Dann löste sich sein Kopf in einem roten Nebel auf.

Kapitel 2

„Lass den Scheiss! Franzi, ernsthaft!“
„Du bist nicht unsere Mutter, Toni!“, Franziska überlegt kurz,
„Und selbst wenn du es wärst würde es mich nicht interessieren!“
„Nenn mich nicht so...“, Anton seufzte.
„Ich bin dein großer Bruder, also hör mir einmal zu. Hör mir einfach zu und glaub mir, dass du das Haus nicht verlassen solltest. Warte...“
„Du willst mir also verbieten mich mit meinen Freunden zu treffen!? Spinnst du?“
Anton hatte Schwierigkeiten ruhig zu bleiben. Er war echt zu alt dafür, Babysitter für seine Schwester zu spielen. Aber er versuchte es noch einmal mehr.
„Warte. Einfach. Ab. Bis. Sich. Alles. Wieder. Beruhigt. Hat!
Letzte Woche haben in jeder großen Stadt täglich Clubs gebrannt...!“
„Scheiss drauf! Die Terroristen wollen doch nur, dass wir uns verstecken!“
Franzi, Antons jüngere Schwester, warf ihm einen letzten vernichtenden Blick zu, drehte sich dann ruckartig um und ging. Die langen blonden Haare wippten auf ihren Schultern und ihr Mantel flatterte.

Anton stand auf dem Gehweg, den Arm leicht ausgestreckt, und sah seiner Schwester nach, während sich ihre füllige Gestalt durch die Passanten drängte. Er blickte sich finster um und begegnete vielen Blicken – schnell niedergeschlagen als er in die jeweilige Richtung schaute.
Vermutlich dachten viele wie sie. Terroristen! Anton glaubte nicht wirklich daran, dass die Erklärung so einfach war.
Sehr ärgerlich. Wirklich.
Er wollte sich heute einen entspannten Abend machen, sich vor den Fernseher klemmen und ein wenig Nachrichten schauen bevor er zu etwas lockerer Unterhaltung, einem guten Film oder so, übergegangen wäre.
Und was jetzt? Er wollte es nicht wirklich eingestehen, aber natürlich machte er sich Sorgen um seine Schwester.
Er sorgte sich immer um seine Familie!
Und genau aus diesem Grund würde er heute Nacht am „Sinners“ sein. Das war Franzis Stammdisko. Er brauchte sie nicht danach fragen – sie würde da sein.
Er wählte mit seinem Handy Anna's Nummer. Wenn er sich schon die Nacht um die Ohren schlagen musste, dann würde Sie sich sicher freuen, mit zu gehen.
Sie hatten eh viel zu wenig Zeit miteinander.
Was sollte schon passieren? Er war einfach paranoid.
Schlimme Dinge passierten doch immer nur anderen.
Sie ging nicht dran.
Oh Mann, Frau!

Es war schon dunkel als er vor seiner Wohnung hielt. Der Winter hatte seine Versprechen gehalten und, so wie man es aus den vergangenen Jahren gewohnt war, Regen und Nebel gebracht.
Herrlich! Die frische, kalte, klare Luft auf dem Gesicht!
Beschwingt sprang Anton die Stufen der Treppe in den zweiten Stock hinauf und schloss die Tür auf. Er merkte dass er wieder trainiert hatte. Und auch wenn es nur ein Training gewesen war, wie er sich beschämt eingestehen musste, fühlte er sich gesünder, beweglicher, fitter. Jetzt wo sein Muskelkater abgeklungen war.
Ein tolles Gefühl, einen gesunden Körper zu haben!
Spielerisch schlug er ein paar Geraden und Haken in die Dunkelheit des Flurs, dann schaltete er das Licht ein und befreite sich von seinen nassen Sachen.
Anna war im Wohnzimmer, das hörte er am Geklapper und der leisen Musik. Rasch streifte er seine Schuhe ab und öffnete die Wohnzimmertür.
Anna sah ihn missmutig an, als er hinein ging, und widmete sich dann wieder dem Geschirr.
Es stapelte sich mehrere Schichten hoch neben der Spüle. Die Spülmaschine lief. Anton hatte ein schlechtes Gewissen.
„Hi, Kleine.“, sagte er vorsichtig.
„Hi.“
Der Ton war nicht gerade euphorisch also tat Anton das Beste, was er seiner Meinung nach tun konnte.
Nachdem sie beide gute zwanzig Minuten schweigen neben einander her gearbeitet hatten – das Geschirr war abgetrocknet und verräumt, die Arbeitsflächen gewischt und der Esstisch aufgeräumt und sauber – sah Anna ihn endlich direkt an. Sie seufzte, wenn auch mit einem Lächeln.
„Das war soooo was von nötig! Ich kann einfach auf Dauer nicht in so einem Saustall leben.“
Anton grinste schief und entschuldigend.
„Ja, ich weiß ja. Hast ja mitbekommen, wie es drunter und drüber ging die letzten Tage. Ich war einfach zu platt um mich drum zu kümmern.“
Er sah ihr in die Augen und schob ein „Sorry“ hinterher, als er sich zu ihr beugte und ihr einen leichten Kuss gab.
„Ja, ich weiß.“, Anna zog ihn an sich und er spürte, wie sie sich in seinen Armen kurz versteifte, um sich dann langsam zu entspannen.
Er hatte mit ihr schon darüber gesprochen - das tat sie nämlich jedes Mal, wenn er sie in den Arm nahm - aber sie hatte es ihm nicht erklären können.
Sie hatte es ihm nicht direkt ins Gesicht gesagt, aber aus irgendeinem Grund fühlte sie sich unwohl und musste das Gefühl ganz bewusst abschütteln. Es wunderte Anton, aber ein Problem für ihre Beziehung war es nicht. Er hatte sich schon gefragt, ob es in ihrer Vergangenheit etwas gab, das sie ihm nicht gesagt hatte aber er hatte das Thema nie weiter vertieft.
Sie löste sich nach ein paar Augenblicken von ihm und sah ihm auf eine Weise in die Augen, dass er schon ahnen konnte was jetzt kam. Keine Bitte – eine Forderung.
„Ich war schon seit Wochen nicht mehr feiern, Babe! Was hältst du davon, wenn wir heute Abend weg gehen?“
Dieser Blick. Ein wenig trotzig. Ein wenig flehend.
„Alles klar. Ich besorg Limetten und Crushed Ice und mache Caipi. Und um elf heute Abend geht’s in die Stadt zum Sinners.“
Er wusste genau, dass sein Einlenken zu schnell für ihren Geschmack war.
Grinsend beobachtete er, wie sich ihre Augen verengten. Sie musterte ihn und suchte nach dem Haken.
„Du meinst das ernst? Ich muss dich nicht überreden?“, fragte sie misstrauisch.
„Najaaaa..“, er lies seinen Blick scheinbar nachdenklich über ihren Körper wandern. „Wenn du drauf bestehst, kannst du mich auch gerne überreden, Kleine.“
Er weiteten sich ihre Augen empört, doch im nächsten Moment strahlte ein Lachen über ihr Gesicht. Sie macht einen kleinen Luftsprung vor Freude. Ihre schönen braunen Haare fielen ihr dabei über die Schultern und ins Gesicht und sie strich sie mit einem Grinsen zur Seite.
„Wenn das so ist, Cowboy, dann hol du mal das Eis und ich überlege mir ein paar … Argumente.“

Es war fast zwölf Uhr als sie aus der Straßenbahn stiegen. Anna sah wundervoll aus, fand Anton. Sie hatte eine enge schwarze Hose, ein lockeres helles Top und eine kurze Jeansjacke an. Viel zu kalt für diese Jahreszeit und Anton hatte ihr auf dem Weg zum Club seine Jacke geben müssen.
Als sie ankamen waren gerade ein paar finstere Typen mit schwarzen Bomberjacken dabei, die Türsteher zu begrüßen. Ein paar von ihnen sahen Anton, nickten ihm kurz zu und verschwanden dann im Club. Natürlich hatten sie keinen Eintritt bezahlt.
Anna schaute ihnen finster hinterher, sagte aber nichts. Sie hatte es nie gut geheißen, dass Anton engere Kontakte mit den „Black Wrath“ gepflegt hatte und ihm angedroht, sollte er versuchen sich bei diesem 'Verein', wie sie es abfällig nannte, anzubiedern, wäre das das Aus für ihre Beziehung.
Auch Anton sah ihnen nach, hing aber anderen Gedanken nach. Er kannte viele der Mitglieder mit Namen. Das stimmte. Aber warum sollte er jetzt noch Mitglied werden wollen? Er war jetzt Journalist und die Zeit, als er im Rotlichtmilieu an der Tür gearbeitet hatte war lange vorbei und schon fast vergessen. Damals hätte es ihm sehr genutzt Full Member der „Black Wrath“ zu sein – der Gruppe, die die Hälfte der Türsteher in den Puffs und Stripschuppen stellte und kontrollierte. Es hätte ihm Ärger erspart, Respekt eingebracht und ihm Unterstützung versprochen, falls er einmal richtig in der Scheisse gesessen hätte. Aber jetzt? Jetzt konnte es nur noch seinen Ruf schädigen denn die meisten Aktivitäten, zu denen die „Black Wrath“ ihre Member motivierte waren eher zwielichtiger Natur.
Er musste grinsen. Wie sehr sich die Dinge ändern konnten. Die Ansichten und die Notwendigkeiten.
„Denk garnicht dran!“, zischte Anna und Antons Grinsen gefror ihm auf den Lippen. Er drehte sich zu ihr um.
„Das Thema ist durch, Anna. Ehrlich und versprochen!“
„Mhm!“
„Antoin!“, grölte eine Stimme dazwischen und Anton stutzte: Was machte Seymon hier?
Als er sich umdrehte, sah er gerade noch eine massige, dunkelhäutige Gestalt die seinen Arm packte. Dann presst jemand alle Luft aus Antons Lungen, als dieser Jemand viele dutzend Kilo Muskelmasse zu einer schraubstockartigen Umarmung verdichtete. Anton wurde kurz schwarz vor Augen und mehrere Gelenke knackten.
„Seymon, ach du Scheisse.“, krächzte er. Sein Nacken schrie vor Schmerzen und seine Arme fühlten sich taub und geschwollen als er endlich abgesetzt wurde.
Ihm gegenüber stand ein hünenhafter, schwarzer Mann. Zwei, 120 Kilogramm schwere, Meter grinsten ihn an. Ein geblecktes Raubtiermaul in einem kaum sichtbaren Gesicht.
„Schön disch zu sähen, Antoin! Mann! Ist immer gutt, gute Leute auf där Straße zu 'aben!“, Seymon freute sich wie ein Schuljunge und auch Anton musste grinsen. Doch Seymon war schon einen Schritt weiter.
„Schönne Anna!“, mit einem großen Schritt zog er Anna in seine Arme. Anna quietschte kurz auf, dann war sie verschwunden.
„Seymon! Alter! Lange nicht gesehen!“
Seymon drehte sich zu ihm um während Anna wieder ins Freie taumelte.
Sie wirkte ein wenig desorientiert.
„Du schläfst ja in die Nacht, Antoin! Keine Wunder, also!“
Der Hüne verzog ein wenig schmollend das Gesicht. Seymon war schon immer ein viel zu gutherziger Kerl in einem viel zu mächtigen Körper gewesen. Zum Glück hatte er ein dermaßen kindliches Gemüt, dass es ihm nichts aus machte ein paar böse Jungen, böse zu verhauen. Man musste ihm nur sagen, wer die bösen Jungs waren und hoffen, dass er es auch richtig verstand.
Anton und er hatten zusammen für einige Monate im „Paradiso“ gearbeitet, als Anton dort Cheftürsteher gewesen war und sie hatten damals auch viel zusammen trainiert. Gute Zeiten, dachte Anton. Echt gute Zeiten.
„Aber was machst du hier, Junge. Warum bist du nicht bei Andi und passt weiter aufs Paradiso auf?!“
„Zu viele Strähss, Antoin!“, Seymon rollte mit den Augen.
„War bässer als du noch bist gewese' dort! Nix mehr gut Arbeit.“, bei diesen Worten rollte er seinen dunklen Pullover ein wenig hoch und entblößte eine lange Narbe an seinem Bauch.
Anton sog zischend die Luft ein. Messer waren oft im Spiel, gerade wenn man mit Ausländern zu tun hatte und die waren schon immer gerne und viel in die Puffs gegangen. Anton selbst hatte nie echten Stress gehabt. Die Leute hatten ihn gemieden, auch wenn sie auf Ärger und eine Schlägerei aus waren aber früher oder später erwischte es jeden Mal.
„Isch 'abe jetzt neue Job 'ier.“, Seymon grinste wieder. „Nur Kindär, Antoin. Easypeasy.“
Anton nickte abwesend. Dann boxte er seinem alten Freund auf die Brust – wofür er sich ein wenig strecken musste.
„Ich ruf dich mal wieder an, Dicker. Ehrlich! Aber ich muss jetzt mit der Lady hier ein wenig Feiern. Versprochen ist versprochen! Und du weißt, man muss gut mit den Ladys umgehen!“
Seymon grinste, wie immer.
„Oh, ja! Viele Spasss, Antoin.“
Er wuschelte Anna durch ihre perfekte Frisur und lachte laut auf, als sie versuchte ihn zu schlagen. Anton streckte ihm einen Zwanziger hin und nickte in Richtung des Eingangs, aber Seymon winkte ab.
„Nix Gäld, Antoin. Viel Spasss!“.

Anton war wirklich lange nicht mehr anständig feiern gewesen. Die Anspannung der letzten Wochen und Monate, sich immer wieder beweisen zu müssen, hatten sehr an ihm gezehrt. Man hielt sich das selten vor Augen, aber je intellektueller das eigene Umfeld war, desto anspruchsvoller war es, Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig selbstbewusst als auch hörig zu erscheinen.
Das alles konnte er jetzt hinter sich lassen. Er wusste natürlich, dass die Erleichterung nur von kurzer Dauer sein würde, aber: Besser als nichts.
Anna war ein Traum und tanzte ausgelassen und sah einfach fabelhaft aus.
Auch ihr tat es gut, mal wieder unterwegs zu sein.
Und seinen alten Freund Seymon mal wieder gesehen zu haben – sie sollten unbedingt mal zusammen einen trinken gehen! - erfüllte ihn mit dem zufriedenen Gefühl zuhause zu sein. So lange war das Nachtleben sein Alltag gewesen. Und der hünenhafte Franzose afrikanischer Abstammung, mit dem Gemüt eines Kindes und der Kraft eines Ochsen, war die ganze Zeit wie ein Bruder für ihn gewesen. Die seltsame Unruhe, die viele Meschen zu empfinden schienen, wenn sie in Antons Nähe waren, war für Seymon nie ein Thema gewesen. Im Gegenteil entwickelte er nur in Antons Nähe diese glückliche Ausgelassenheit, die Anton gerade fast einen Nackenwirbel gekostet hätte.
Der Club war voll und die Luft schwer.
Sie hatten Franziska ziemlich schnell gefunden. Diese war zwar etwas reserviert gewesen, ob des Streites, den sie und Anton gehabt hatten, aber das hatte sich bald gelegt.
Gerade legten sie und Anna einen albern-gut gelaunten Tanz auf das Parkett, als sich plötzlich etwas veränderte.
Anton selbst bemerkte nichts Besonderes, aber er las es in der Haltung und den Blicken der übrigen Gäste. Er hatte das schon oft gesehen, wenn Ärger in der Luft lag und die Leute nur auf eine Gelegenheit warteten, auf einander los zu gehen. Aber bei diesen Situationen hatte es Gründe gegeben. Kleine, haarsträubend unnötige Gründe. Aber nichts desto trotz Anlässe, die für einen Menschen mit zu viel Kraft und Ego ausreichten, ein Messer zu ziehen.
Jetzt war es anders. Plötzlich spannten sich Leute an, oder zuckten verängstigt zurück, und Anton kniff verwirrt die Augen zusammen. Von einem Lidschlag auf den anderen hatte sich der Club in eine Arena verwandelt und egal wohin Anton blickte, überall sah er diese gehetzten Augen jagender Menschen.
Was war da los?
Ben Keller, ein breit gebauter Anabolika-Junkie war der erste, der loslegte.
Er gehörte zur Gruppe der „Black Wrath“ Jungs, die Anton schon am Eingang gesehen hatte und hatte, still und weit von Anton entfernt, in einer Ecke gestanden und die Umstehenden gemustert. Sein zufrieden überheblicher Blick war gerade noch über heranwachsende junge Frauen geschweift. Anton warf den „Black Wrath“ gerade einen misstrauischen Blick zu, denn diese waren vermutlich mit Abstand die gefährlichsten Leute im Raum, als er sah wie Ben ins Leere starrte. Seine Brust hob und senkte sich hektisch und seine Stirn begann zu glänzen.
Dessen Kumpel Ahmed, ein untersetzter Südländer mit aufgepumptem Bizeps, der sich ihm gegenüber gerade mit einem überschminkten Mädchen unterhalten hatte schüttelte verwirrt den Kopf und stricht sich mit der Hand über das Gesicht.
Dann traf Bens Faust die junge Frau. Hart. Der Ring den er trug riss ihr die Hälfte des Gesichts auf und die Wucht des Schlages ließ sie zurückprallen, als wäre sie angefahren worden. Sie ging zu Boden wo sie aufkam. Blut spritzte über die Leute. Anton traute seinen Augen nicht.
Ein junger Mann, unscheinbar und schüchtern, der direkt in ihrem Weg gestanden hatte bekam einen großen Spritzer Blut ins Gesicht. Er zuckte nicht einmal zusammen.
Anton konnte sehen, wie sich die Augen des Jungen weiteten und ein glasiger Blick in seine Augen trat. Dann hob er das Bein trat er mit aller Kraft nach unten, vermutlich auf das unglückliche Mädchen und im nächsten Moment hatte er schon seine Bierflasche im Gesicht eines dicken Jungen zerschmettert. Das Klatschen des Schlages war sogar durch die Musik zu hören.
Anton starrte. Schockiert vom Irrsinn am anderen Ende des Saales.
Er sah, wie sich immer mehr Leute, aufgepumpte Freaks genauso wie unscheinbare Studenten, in das Gewühl stürzten, es immer mehr ausweiteten als sie wahllos Umstehende attackierten. Er sah Blut nass über die Wand spritzen als ein weiteres Mitglied der „Black Wrath“ den Kopf eines älteren Mannes mit Nackentattoo so brutal gegen den Putz schlug, dass sich der Kopf verformte.
Binnen Augenblicken war der gesamte Saal ein kreischendes Chaos. Nicht jeder war von diesem Wahnsinn betroffen. Anton sah schreckgeweitete Blicke von Menschen, die sich zusammen kauerten oder sich wie geschlagene Tiere in den Ecken zusammen drängten.
Er hörte einen Schrei hinter sich und sah einen wilden Tumult. Im Zentrum stand ein junger Türke, das weiße Hemd rot verschmiert.
Gerade drehte sich einer seiner Freunde langsam im Kreis und versprühte sein Blut auf die Umstehenden, das aus einer klaffenden Halswunde spritzte. Der andere war wieder in Bewegung. Ruckartig riss er seinen Arm auf und ab während er sich langsam durch seine Gruppe bewegte. Kurz sah Anton Stahl aufblitzen und Blut färbte alles im Umkreis des Messerstechers dunkel. Stoff klaffte auf und Fleisch teilte sich während der Mann in ein wahnsinniges Lachen verfiel. Im nächsten Moment zogen andere aus seiner Gruppe Messer aus ihren Gürtelschnallen und Unterhosen und begannen systematisch alles anzugreifen, was in ihrer Reichweite war.
Eine junge Frau, dicklich und alles andere als hübsch rannte mit gefletschten Zähnen in diese Schlachterei. Sie biss einem der jungen Türken in den Nacken, riss mit einer heftigen Bewegung des Kopfes ein großes Stück Muskel heraus und zerrte ihn an seinen Haaren zu Boden, wo sie außer Sicht gerieten.
Anton sah sich gehetzt nach Anna und Franzi um. Sie standen nicht weit weg. Wenige Schritte von ihm entfernt hatten sie sich erschreckt in die Arme genommen.
Er registrierte, dass alle Gefahrenstellen weit von ihnen entfernt waren. Schnell und grob drängte er sich zu Franzi und Anna durch. Bier und andere Getränke spritzen durch die Luft als die Leute panisch versuchten, den Innenraum der Diskothek zu verlassen und Anton klebten die Haare im Gesicht, als er die beiden Frauen endlich erreichte.
„Raus hier!“, schrie er über den Lärm und hoffte, dass sie ihn verstanden.
Er deutete zur Sicherheit auf die Treppe.
„Raus! Los! Nach oben!“
Die beiden Mädchen starrten ihn erschrocken an, dann zur Treppe. Energisch schob Anton sie voran, durch die Leute die zu zögern schienen als er näher kam.
Dann stürmte ein Koloss von einem Mann durch den Raum. Blut verschmierte die Gestalt und Männer und Frauen wurden von seinem Ansturm beiseite gefegt und fielen über einander. Es war Ben Keller, einen Ausdruck idiotischer Freude auf dem Gesicht. Sein Kiefer hing ihm schief herab, vermutlich gebrochen und eines seiner Augen lag zu tief in seiner Höhle. Voller Rage brüllte er als er sich der Treppe näherte und Anton hörte ihn schreien.
„Hiergeblieben! Opfer! Blut für den …“
Aber je näher Keller kam, desto weniger war er zu verstehen. Seine Schritte wurden ungezielt. Langsam. Er schob sich durch die Masse und blieb vor der Treppe stehen, nur wenige Meter von Anton entfernt.
Anton war, als würden sich seine Schultern entspannen. Als würde sich sein Blick klären. Als würde er nicht begreifen was er sah und sein kleines Gehirn aus einem Rausch erwachen.
Dann traf ihn Antons Rechte seitlich am ohnehin gebrochenen Kiefer und riss ihn von den Beinen.
Anton sah ihm nicht beim Fallen zu, sondern packte Franzi grob am Arm, während er Anna vor sich schob. Auf diese Weise erreichten sie den oberen Treppenabsatz und taumelten ins Freie.
Zwei Türsteher stürzten an ihnen vorbei nach unten in den Kellerraum, Schlagring und Stahlrohr in den Händen. Auf den Gesichtern eine Mischung aus Verwirrung und blanker Tobsucht. Als Anton sich an ihnen vorbei drängte blieben beide stehen. Sie sahen sich an, dann Anton.
„Geht da nicht runter!“, rief er im Laufen: „Ruft die Polizei!“.
„Aber was...?“, versuchte der eine zu fragen aber Anton war schon an ihm vorbei.
Er warf einen Blick über seine Schulter. Die beiden standen da, ratlos. Dann verkrampfte sich der Rechte, und im nächsten Augenblick zerschmetterte er seinem Freund die Schulter. Kreischend fiel dieser die Treppe hinab, und sein Freund mit dem Stahlrohr stürzte ihm nach.
Der DJ machte derweil seinen ganz eigenen Amok-Trip durch. Die Musik kreischte und dröhnte von unten herauf. Der Bass ließ die Wände beben. Anton kämpfte mit der Übelkeit als die Schwingungen seinen Körper schüttelten. Schritt für Schritt schob er sich und die Mädchen die Treppe hinauf. Dann war es geschafft. Er stieß die Tür auf und taumelte ins Freie, dann brach auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster zusammen.

Anna's Schluchzen weckte ihn und er spürte den rauen Stein an seiner Wange. Er schmeckte Blut und riss sich zusammen. Rappelte sich auf. Blinzelte die dunklen Schleier vor seinen Augen fort.
Seymon saß vor ihm, auf den Knien. Anton konnte ihn nur von hinten, seinen Rücken und die breiten Schultern sehen. Konnte sehen, wie sie zuckten. Der dunkle Kopf pendelte hilflos, haltlos.
Anton stemmte sich auf ein Knie. Das Pflaster glänzte dunkel. Anton sah eine männliche Gestalt in einer riesigen Blutlache an der Wand liegen – der Kopf nicht mehr als haariger Brei und die Glieder verdreht. Aus den Augenwinkeln sah er rennende Gestalten, vereinzelt und hektisch im Licht der Straßenlampen. Er hörte Sirenen. Hörte Schreie in der Ferne. Lichter drangen dumpf und gelb durch den Nebel, der sich gebildet hatte. Der Nebel dämpfte auch die Geräusche; Das Lauteste war Seymons Schluchzen und Anton wankte zu ihm und versuchte die Sicherheit seiner Schritte wieder zu finden.
Anna's leise Stimme die Franzi fragte, ob sie verletzt sei.
Anton erreichte die massige Gestalt von seinem Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. Unkontrolliert zuckten die Muskeln unter seinen Fingern und Anton sah einen Arm, zierlich und blass, der in Seymons riesigen Händen lag. Eine dünne silberne Kette lag um das Handgelenk und der Oberarm endete in Fleischfetzen und dem Kopf des Oberarmknochens.
Er blickte auf. Eine einsame Gestalt lag etliche Meter weiter. Nein, sie lag nicht. Sie schob sich voran. Mit den Füßen scharrend schob sie sich über das Pflaster.
Während Anton die Gestalt beobachtete rutschte ihr Fuß von einer Kante am Boden ab. Ihr Kopf zuckte zittrig herum. Sie fixierte Seymon, voller Panik und blankem Horror, dann sank ihr Kopf auf das Pflaster uns sie lag still. Es war ein junges Mädchen, sah er. Vermutlich keine 17 Jahre alt – sicher der Grund, weshalb sie hier draußen und nicht unten in der Disko war. Kein Umstand der ihr Glück gebracht hatte. Ihr blondiertes Haar lag in nassen Strähnen über ihrem Rücken. Ihr Rücken, der gerade aufhörte, sich mit der Atmung zu bewegen.
Anton war zu leer um zu denken. Unfähig zu verstehen. Er starrte auf dieses Bild vor sich mit leerem Blick. Auch, als Anna und Franzi eng an einander geklammert zu ihm kamen und er ihr Entsetzen hören konnte. Hören konnte, wie eine von ihnen zu hyperventilieren begann. Wie sich ihr Atmen mit jedem Atemzug mehr in ein schrilles Greinen verwandelte.
Er erstarrte über diesem Grauen und die Welt hielt gleichsam den Atem an als sein Blick auf einen achtstrahligen Stern fiel, den jemand ungeschickt an die Wand geschmiert hatte.

Erst die Sirene riss ihn aus seiner Erstarrung. Das Heulen des Martinshorns wurde lauter und immer lauter, dann bog ein Streifenwagen unter Vollgas um die Ecke. Quietschend rutschten die Reifen über den Boden als der Wagen zum Stillstand kam. Ein angststarres Gesicht blinzelte ihn durch die nasse Scheibe hindurch an, die Augen zuckten von einer Seite zur anderen, registrierten die beiden liegenden Körper. Mit einem sichtlichen Ruck nahm sich der Polizist zusammen. Der Motor erstarb und die Tür des Wagens wurde aufgedrückt. Der Mann der ausstieg war vermutlich ein paar Jahre jünger als Anton selbst. Zitternd, aber beherrscht zog er die Waffe aus dem Holster an seiner Seite.
Sich immer wieder umsehend ging der Beamte an den Kofferraum. Er öffnete ihn und ein furchteinflößendes Bellen hallte über den Platz.
Er sah noch einmal zu ihnen, seine Augen bohrten sich in die von Anton, schweiften ab über den knienden Seymon, Anna und Franzi.
Er zog an dem Bügel, der die Box des Hundekäfigs verriegelte. Es gab einen hellen, metallischen Schlag als die Tür aufgestoßen wurde. Dann gruben sich scharfe Fänge in seinen Bauch und sie konnte nur kurz sein überraschtes, verwirrtes Gesicht sehen bevor er zu Boden ging.
Anton sprang auf und rannte los. Er wusste gar nicht was er tat, da stand er schon über den Kämpfenden. Der Hund knurrte und entblößte seine Reißer, ließ jedoch nicht von seiner Beute ab.
Gequält schrie der Uniformierte auf als der Hund den Kopf schüttelte. Schon blutete seine Uniform durch. Anton griff zu, griff nach der Kehle des Hundes. Ein unheimliches, rotes Glühen, das unstet flackerte, erfüllte die Augen des Tieres aber es winselte gequält auf als Anton es berührte. Mit einem Jaulen lies es von seiner Beute ab. Um sich schnappend, geifernd und langsam zog es sich rückwärts gehend zurück, die Augen starr auf Anton gerichtet. Eine unheilige Intelligenz brannte in diesem Blick und Anton lief es kalt den Rücken hinunter.
Auf und ab ging die Bestie, sabbernd und hechelnd, während Anton seinen Blick nicht von ihr lösen konnte. Es war ihm, als würde sie ihn spöttisch angrinsen.
Aber es war ein Hund! Verdammt! Er war da um den Menschen zu dienen oder eingeschläfert zu werden.
Weiter lief die Bestie. Immer auf und ab während sie ihn taxiert als würde sie auf eine Unachtsamkeit warten.
Anton bemerkte, dass der Hund langsam aber sicher näher an Anna und Franzi heran kam. Die beiden Frauen waren neben Seymon auf dem Pflasterboden zusammen gesunken und starrten das seltsame Tier an als es ihnen langsam aber sicher immer näher kam.
„Anton?“, wimmerte Anna.
Er stemmte sich hoch und schüttelte die Angst vor einem Biss dieser Kreatur ab. Er musste Anna helfen! Was war da schon ein Hundebiss?
So ganz glaubte er sich diese Verharmlosung selbst nicht, als er einen Schritt auf das Tier zu machte. Aber es wich zurück!
Er trat noch einen Schritt näher und wieder ging es rückwärts. Es begann zu knurren, heiser und schrecklich. Er hielt an und das Tier betrachtete ihn starr.
Es hörte auf zu Knurren und Anton sah, dass es begann seinen Mund zu bewegen. Fast menschlich sah es aus, aber Anton hörte keinen Ton.
Ungläubig sah er zu. Dann drehte sich die Bestie um und duckte sich für einen Satz in die Schatten.
Ein Schuss peitschte in den Hund, der zusammen zuckte, hallte an den Wänden nach und verlor sich in den Gassen. Der Polizist hatte sich auf einen Arm gestützt. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er lag in einer Pfütze seines eigenen Blutes.
Der Hund reagierte im Bruchteil eines Wimpernschlags. Die Bewegung war kaum zu sehen, als er herum fuhr und wie ein Schatten an Anton vorbei raste.
Anton erhaschte nur aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Kreatur. Die Lefzen waren weit zurückgezogen und die Zähne glänzten gelb. Ein Rachedämon aus einer fremden Welt. Dann zuckte es zusammen. Zuckte wie von einem gewaltigen Schlag. Die Fratze Anton zugewandt schrie das Wesen einen fast menschlichen Schrei heraus und dann war die Bestie nur noch ein Hund. Ein Hund der sich im Kreise drehte, nach einem blutigen Loch in seiner Seite schnappte und dann zu Boden fiel. Kurz war ein jämmerliches Winseln das einzige Geräusch auf dem Platz vor der Diskothek „Sinners“ - untermalt vom psychotischen Wummern einer Bassbox unter der Erde.

Als er zu Anna und Franzi hinüber ging konnte er sehen, dass sie am ganzen Körper zitterten. Sie hielten sich eng umschlungen und hatten die Gesichter verborgen, als wollten sie damit die letzten Minuten ungeschehen machen. Er hockte sich neben Anna und legte eine Hand auf ihren Rücken. Sie zuckte zusammen, versuchte sich nunmehr in den Armen von Franzi zu vergraben, aber Anton redete behutsam auf sie ein und befreite sie vorsichtig aus der gegenseitigen Umklammerung. Franzi war nicht besser dran, sah er und er umfing beide mit seinen Armen. Er hielt sie bis das Zittern langsam nachlies.
„Was hat der Hund gemeint, Anton?“, hörte er das heisere Flüstern von Franzi. Kaum zu verstehen durch den Rotz und die vom Weinen raue Kehle. „Warum hat er gesprochen? Und was hat er gemeint?“
Anton zögerte. Er war auch eingeschüchtert und schockiert von den Ereignissen, aber es machte ihn noch hilfloser zu sehen, wie schutzlos die beiden Frauen waren. Als seien sie der Realität nicht gewachsen. Eine verstörende Vorstellung.
Er wollte ihnen helfen, wollte einfühlsam sein – musste aber erst einmal sein Unverständnis eingestehen. Und daher zögerte er.
„Anton? Hörst du?“, ihre Stimme war kaum zu verstehen.
„Er kann doch nicht gesprochen habe!“, Sie schluchzte und zitterte wieder.
„Was soll das bedeuten? Wer sind die Diener?“
Anton schüttelte ratlos den Kopf während er sich aufmerksam umsah. Irgendwo zu seiner Rechten hörte er einen Mann etwas unverständliches Brüllen und Sirenen hallten durch die Nacht.
„Schwesterchen“, er sprach sanft aber drängend mit ihr,
„Das war gerade sehr schlimm. Wir schauen jetzt, dass wir hier weg kommen. Ich passe auf euch auf!“
Anna regte sich in seinen Armen, befreite ihren Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren rot und ihr Make up verlaufen. Es lief Anton kalt den Rücken herunter, als sie ihn ebenso leise fragte:
„Der Hund hat mit dir geredet, Anton! Warum?“
„Ich weiß nicht wovon ihr redet.“, er war schockiert. Hatten beide den Verstand verloren? Standen sie unter Schock?! Sie schienen wie in einer eigenen Welt gefangen zu sein und phantasierten.
Er hatte nie gehört, dass der Schock so etwas machen konnte. Sachte schüttelte er den Kopf, um es dann anders zu versuchen.
„Was hat er denn gesagt? Ich habe ihn wirklich nicht verstanden.“.
Spiel erst einmal mit, dachte er sich. Für alles andere ist später noch Zeit.
Hinter sich hörte er ein Stöhnen, das ihn an den verletzten Polizisten erinnerte. Noch etwas um das er sich dringend kümmern musste!
„Er hat gesagt: 'Es wird dich nicht schützen!' Das hat er gesagt. In meinem Kopf. Und seine Stimme war ….“, sie schüttelte sich. Tränen brannten in ihren Augen und ihr blieb der Atem weg, als sie sich den Moment ins Gedächtnis rief, „... schrecklich.“, wisperte sie.
Alles in ihr schien gegen diesen Moment zu rebellieren.
Es war Franzi, die sich fasste und den Faden aufnahm. Mit den Haaren wirr vor ihrem Gesicht sah sie gespenstisch aus als sie flüsterte:
„Unsichtbarer! Ich spüre dich! Wir werden deinen… Kadaver bekommen und dann... werden wir mit deinen... Knochen spielen.“, seine Schwester schluckte heftig, „...die Diener werden dich töten... und die, die du liebst,... und dann werden sie... uns deine Hülle bringen.“, ihre Stimme war jetzt flach. Emotionslos. Tot. Sie sah ihn ohne eine Regung an und Anton war sich nicht sicher, ob sie etwas aus ihrer Erinnerung wiederholt, oder ihn gerade angesprochen hatte.
Er saß da und wusste nicht, was er denken sollte, während sich eine Gänsehaut über seinen Armen ausbreitete. Beide Mädchen weinten jetzt leise, aber nicht mehr hysterisch, und er befreite sich aus ihren Armen und überließ sie für das Erste sich selbst.
Er stand aus der Hocke auf, dann ging er unsicher hinüber zu dem verletzten Polizisten. Dieser hatte sich zur Fahrertür seines Streifenwagens geschleppt und war dort erschöpft in sich zusammen gesunken. Kurz dachte Anton, dass er gestorben sei, aber ein flacher, rauer Atemzug bewies ihm das Gegenteil.
Er kniete sich hin und seine Hände verharrten als er zögerte.
Komm schon! Polizist hin oder her, dachte er. Allen Vorbehalten und Ängsten zum Trotz, ist das ein normaler Mensch. Und Angst, Berührungsängste oder was auch immer spielen keine Rolle wenn es darum geht, ein Leben zu retten. Also tu etwas!
Er streckte die Hände aus und begann dem jungen Beamten das Hemd auf zu knöpfen. Es dauerte lange, denn seine Hände zitterten und waren rutschig vom Blut. Er betrachtete den jungen Mann – kurze Haare und ein markantes Gesicht. Jemand der gerne und viel Sport trieb. Lachfalten.
Dann hatte er das Hemd offen und zog es beiseite, zog auch das Unterhemd, das der Mann trug, hoch und besah sich die Verletzung.
Es war dunkel. Es war alles voller dunklem Blut. Aber das wenige das er sah, sah nicht gut aus. Die Wunde war stark geschwollen und die Wundränder hatten sich durch die Schwellung ein wenig geschlossen, aber nur dort, wo die Verletzung von den äußeren Zähnen her rührte. Im Zentrum der Verletzung war die aufgerissene Bauchdecke zu sehen und ein kleines pulsierendes Rinnsal versickerte in Hemd und Hose des Beamten. Der Hund hatte mit unglaublicher Kraft an dem Mann gerissen. Mit mehr Kraft als er haben durfte.
Er sah dem Mann ins Gesicht und sah dessen Augen offen, trüb von Schmerz und Erschöpfung. Dieser fixierte ihn als wollte er seiner Miene eine Antwort auf die Frage abringen, ob er diese Nacht überleben würde.
„Haben Sie in ihrem Streifenwagen ein Erste Hilfe Set?“, fragte Anton ihn leise.
Der Polizist nickte. Zuckte dann mit den Schultern. Lächelte trotz der Schmerzen leicht.
„Ja.“, sagte er. „Vielleicht. Wahrscheinlich! Im Kofferraum.“, seine Stimme erstarb. „Rechts neben der Box.“, die Augen fielen wieder zu und Schmerz verkrampfte sein Gesicht.

Anton lenkte den Streifenwagen in einer halsbrecherischen Fahrt durch München. Es war ein Wunder, dass er bisher noch niemanden überfahren hatte, denn die Menschen rannte kopflos und wie auf Drogen kreuz und quer durch die Stadt. Zuckende Blaulichter und flackernde Flammen erhellten die Straßen und mehr als einmal sah ein hilflos aussehender Polizeibeamter hinter ihnen her und fragte sich wahrscheinlich, warum Anton nicht anhielt und im zur Hilfe kam. Woher sollte er auch wissen, bei der Dunkelheit und den spiegelnden Scheiben, dass nur ein verängstigter Zivilist am Steuer saß.
Der junge Beamte, dem das Auto gehört hatte, hatte wenige Minuten nachdem Anton ihm einen Verband angelegt hatte aufgehört zu atmen. Vermutlich waren innere Verletzungen dafür verantwortlich gewesen, dass er so schnell verblutet war.
Sein Auto aber war ihre einzige Möglichkeit gewesen, schnell und halbwegs sicher zu verschwinden, aber Anton fühlte sich schrecklich. Unberechtigt, sagte er sich. Unberechtigt, Anton. Es war das Beste was wir machen konnten. Und der Mann ist tot. Verdammt! Du hast versucht ihn zu reanimieren und alles was passiert ist war, dass aus seinem Bauch quietschende Geräusche und rosa Schaum gekommen waren!
Es gibt Grenzen für das, was Menschen tun können...
Er war erschöpft, aber sein Kopf raste. Das Adrenalin hielt in wach, machte ihn aber auch fahrig, reizbar und unbeherrscht. Er bemerkte es an der Art, wie er fuhr. Das zu harte Bremsen. Die geschnittenen , ruckartigen Kurven. Aber niemand beschwerte sich. Sie alle saßen da, still und in sich gekehrt. Anna vorne. Franzi und Seymon hinten.

Kapitel 3


Anton öffnete die Augen. Still lag das Haus da.
Er brauchte einen Augenblick, sah sich um und erkannte dann erst, wo er sich befand. Das schien ihm zur Gewohnheit zu werden.
Er schüttelte den Kopf und setzt sich auf. Sein Elternhaus hatte schon immer eher einen rustikalen Charme für ihn gehabt, aber jetzt fiel ihm auf, wie alt hier alles war. Die Gardinen hatten einen Gelbstich. Leicht fadenscheinig hingen sie vor den sauberen Fenstern. Sonnenlicht fiel von draußen herein und es war überraschend still.
Anna lag nicht neben ihm, musste aber über Nacht da gewesen sein, denn die andere Seite des alten Bettes, das immer noch in seinem ehemaligen Kinderzimmer im ersten Stock stand, war zerwühlt und unordentlich.
Anton rollte unter der Decke hervor. Dann saß er noch einen Moment auf der Bettkante, bis sich sein Kreislauf stabilisiert hatte. Er war wirklich ziemlich zerschlagen nach dieser Nacht.
Er gestattete sich noch nicht darüber nachzudenken, was passiert war. Er stand auf, und ging die wenigen Schritte zum Fenster. Er zog die Gardine zur Seite.
Kurz blendete ihn das Sonnenlicht und Anton kniff die Augen zusammen und nur langsam gewöhnte er sich an die Helligkeit – wie gut die Sonne im Gesicht ihm tat – und betrachtete dann die vertraute Straße. Die Vorgärten. Die Bäume. Obwohl da einer zu fehlen schien. Links, im Vorgarten der Familie Schlier. Eine alte Weide! Verdammt, das war ein toller Kletterbaum gewesen!
Klappernd klangen Küchengeräusche zu ihm hinauf. Anton seufzte schwer, rollte die Schultern, dehnte seinen Nacken und zog dann seine Jeans und den Pullover an – beide seltsam fleckig, wie von Rost und sie rochen nach Rauch und Eisen und kurz ekelte er sich, als er den Pullover über seinen Kopf zog.
Natürlich hatte er bei seiner Mutter keine Wechselsachen mehr deponiert und daher hatte er in seiner Unterwäsche geschlafen.
Immer noch hielt er seine Gedanken in Schach. Geduld, Geduld! Die Probleme kommen schnell und hart genug, alter Junge.
Er zog die Zimmertür auf und lauschte als er nach unten ging. Jemand arbeitete in der Küche, der Fernseher lief: eine Nachrichtensendung.
Er hörte leise Stimmen und meinte Anna und Seymon zu hören.
„... wurden insgesamt 62 Beamte der städtischen Polizei getötet und 232 Beamte teils schwer verletzt.“, meldete der Fernseher.
„Polizeipräsident Blässer gab bei einer Pressekonferenz heute morgen bekannt, dass jeder Polizeibeamte verpflichtet worden sei, zum Dienst zu erscheinen. Ausgenommen sind nur solche Beamten, die sich in stationärer Behandlung in einem Krankenhaus befinden. Die ersten Schätzungen wurden derweil nach oben korrigiert. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste gehen mittlerweile davon aus, dass in der letzten Nacht mehr als eintausend Menschen, allein in München, zu Tode gekommen sind. Die Lage in den anderen deutschen Großstädten ist ähnlich dramatisch und auch auf dem Land ist die Situation nicht besser.
Der Bundestag hat heute morgen eine Krisensitzung einberufen, die Beteiligung ist allerdings, aufgrund der chaotischen Zustände in der Bundeshauptstadt, gering und wird unter schweren Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt.
Wir schalten nun zu unserem Berlin-Korrespondenten ….“.
Anton ging weiter in Richtung Küche. Die Nachrichten hatten ihn jäh gezwungen sich der Realität zu stellen und er stand eine Weile wie betäubt in der der Küchentür, bis Anna und Seymon ihn bemerkten.
„Anton!“, Anna sah auf. Dann ging sie zum Kühlschrank und holte eine Packung einer heraus.
„Wir haben gerade was gegessen. Ich mach dir ein paar Eier, okay?“
„Okay.“
Anton sah zu Seymon hinüber. Er wusste nicht genau, wie er mit seinem alten Freund umgehen sollte. Wenn ihn seine Augen gestern nicht betrogen hatten, dann hatte Seymon gestern zwei Menschen getötet. Eines war ein junges Mädchen gewesen, vermutlich nicht einmal volljährig!
Vor seinem inneren Auge sah er noch einmal ihren Arm in Seymons großen Händen liegen.
Seymon sah es auch. Das erkannte Anton als sich ihre Augen trafen. Kurz starrten sie sich an. Anna war auffallend still.
Schließlich nickte Anton leicht. Seymon nickte ebenfalls, langsam und nachdenklich, und der Bann war gebrochen.
Er kannte Seymon schon lange. Wahrscheinlich war es Notwehr gewesen. Außerdem hatte er andere Probleme. Sie alle hatten andere Probleme als jetzt und hier Gericht darüber zu halten, was passiert war.
Die einfachste Möglichkeit wäre gewesen, Seymon einfach zu fragen., doch Anton verwarf den Gedanken. Er hatte die Augen seines Freundes gesehen und er wollte nicht derjenige sein, der diese Wunde aufriss. Alles zu seiner Zeit.
Anton ging hinüber zum Brotkasten und begann, sich ein paar grobe Butterbrote zu machen. Das Brot war nicht mehr ganz frisch, aber elastisch und würde wunderbar schmecken.
„Wo ist Franzi?“, fragte er.
„Habt ihr sie heute morgen schon gesehen? Und Mama?“
„Die sind zusammen einkaufen gegangen. Wir haben, naja, beschlossen, dass wir ein paar Vorräte anlegen. In den Nachrichten haben sie gesagt, dass der Lieferverkehr teilweise zum Erliegen gekommen ist und der Nachschub an den Supermärkten knapp werden könnte.“
Anton schloss kurz die Augen. Bricht so alles zusammen?, fragte er sich.
„Okay. Wird das Beste sein, ja. Keine Ahnung was los ist und was noch kommt. Wir sollten uns zusammen setzen, wenn die beiden wieder da sind.“

Später saßen sie zusammen im Wohnzimmer. Anton auf dem Sessel, den sein Vater immer benutzt hatte, bevor ihn ein Schlaganfall bettlägerig gemacht hatte und er wenige Monate später gestorben war. Zwei Jahre war das her.
Anna, neben ihm auf dem Hocker, der zum Sessel gehörte. Seymon stand in der Nähe des Fensters. Franziska und Claudia, ihre Mutter, hatten zusammen auf der Couch Platz genommen.
Claudia war eine kleine Frau, rundlich vom Alter, faltig und ein wenig bucklig. Sie war ein gutes Beispiel für eine Generation, die mit dem wirtschaftlichen Aufschwung aufgewachsen war, sich aber nie ihre eigenen Gesundheit gekümmert hatte. Trotzdem war sie wach, intelligent und resolut, wenn es sein musste. Ihr grauen Haare trug sie in einer der Kurzhaarfrisuren, die immer mehr in Mode zu kommen schienen.
Gerade erzählten die beiden Frauen von ihrem gemeinsamen Einkauf.
„... war weniger los, als man meinen sollte. Die Regale sind auch voll. Vielleicht ist das alles nur ein bisschen Hysterie und nichts weiter.“
Claudia wollte nicht wahr haben, dass etwas Großes im Gange. Anton, Anna und Seymon waren noch in der Küche zu dem Schluss gekommen, dass es sicherer war, die Situation zu überschätzen, anstatt später überrascht zu werden, wenn es schlimmer kam.
„Was habt ihr denn jetzt gekauft, Claudia?“, fragte Anna.
„Ach, Sachen für ein paar Tage. Eier, Milch und so.“
„Ich denke, wir sollten mehr holen.“, Anton sah seine Mutter an auf deren Stirn sich gerade die Falten vertieften.
„Ich weiß sehr wohl wie man einkauft, junger Mann!“, sie klang eingeschnappt.
„Nur weil ihr nicht mehr hier wohnt heißt das nicht, dass eure Mutter plötzlich alt und dumm geworden ist!“
„Da sagt auch keiner.“, Anton knirschte mit den Zähnen. Er hasste diese zickige Art wie die Pest! Franzi konnte genauso sinnlos zickig sein, hatte aber seit dem vergangenen Abend kein Wort mehr gesprochen.
„Aber ich denke es bringt nichts, wenn wir später in die Röhre schauen, bloß weil wir nicht übertreiben wollten.“
„Glaubst du etwa, was die da die ganze Zeit sagen?!“, Claudia zeigte anklagend auf den Fernseher.
„Die übertreiben doch maßlos! Tote Polizisten und so, die übertreiben nur um dann die Gesetze verschärfen zu können!“
„Also!“, Anton war etwas lauter geworden. Er wollte nicht, dass seine Mutter sich in Rage redete. Er kannte ihr Abneigung gegen alles, was Staat und Polizei anging. Vermutlich ein Erbe ihrer Generation. Alt-Achtundsechziger, sagte man.
Das Problem war, dass sie Claudia nicht gesagt hatten, was gestern nach alles passiert war. Sie hatten ihr nur eine sehr entschärfte Version erzählt, gerade über Seymon in der Hoffnung, sie damit nicht zu sehr zu beunruhigen. Außerdem hatten sie gestern Nacht noch den Polizeiwagen versteckt und waren auf Antons Auto umgestiegen. Wer wusste schon, was man ihnen alles anhängen könnte.
Claudias Mangel an Einsicht stellte aber jetzt die Nerven aller auf eine harte Probe. Er fuhr fort:
„Ich fahre gleich noch einmal los und kaufe ein. Was ist eigentlich mit den Nachbarn, Mam. Sind die weg? Ich hab heute morgen kaum jemanden gesehen.“
Während sich seine Mutter darüber ausließ, wer im Urlaub, verzogen, Einkaufen oder zuhause war nutzte Anton die Zeit, um mit einem Ohr dem Fernseher zu zu hören. Auf allen großen Sendern liefen Dauersendungen über die aktuellen Entwicklungen. Gerade flimmerte das Bild einer geordneten Reihe Soldaten über das Bild, die sich vor mehreren Truppentransporter, Bussen und Jeeps versammelt hatten.
Die Laufschrift am unteren Bildband verkündete in dicken Lettern: BUNDESTAG BESCHLIEßT DEN EINSATZ DER BUNDESWEHR IM INLAND!
Gleichzeitig erklärte der Nachrichtensprecher:
„Die Soldaten, die schon seit heute morgen in Einsatzbereitschaft versetzt werden, sollen demzufolge Sicherheitsaufgaben in deutschen Städten übernehmen und die Polizei unterstützen. In einer Pressemitteilung hieß es, dass insbesondere Plünderungen und das entstehen rechtsfreier Räume unterbunden werden soll. Der Innenminister...“
Anton hatte genug gehört. Wenn das die offizielle Einschätzung war, dann sollten sie schleunigst ihre Vorräte zusammen bekommen, bevor andere auf die Idee kamen, die Läden leerzuräumen. Er stand auf.
„Hey! Wir sind noch nicht fertig!“, keifte Claudia.
Alle sahen ihn an, verwundert, ein wenig genervt.
Er deutete auf den Fernseher.
„Die Bundeswehr wird bald alles abriegeln. Keine Ahnung was das bedeutet aber es kann sein, dass sie dann einschränken wie viel jemand kaufen darf. Ich geh jetzt los. Wir reden später weiter.“
Anton sah wie sich die Augen seiner Mutter verengten als die begann, Verrat der Bundesregierung und das Entstehen eines neuen Faschismus zu wittern.
„Ich komme mit.“, sagte Anna und stand auf.
„Ischauch!“, Seymon und Anna wechselten einen kurzen Blick der Anton nicht entging, „Jäman' muss 'elfe trage!“.
„Alles klar.“
Franziska sah ihn nur groß an und es war Claudia die das Wort erhob.
„Wir bleiben hier! Wir waren ja schon einkaufen!“
Sie wendete sich brüsk dem Fernseher zu.
Anton warf ihr noch einen Blick zu, wie sie da klein, grau und grimmig auf der Couch saß. Dort in diesem großen, alten, abgewetzten Wohnzimmer mit dem angegrauten Teppich.
Dann ging er. Anna und Seymon auf seinen Fersen.

Sie waren noch keine fünf Minuten unterwegs als ihnen die ersten Militärfahrzeuge entgegen kamen. Ungewöhnlich, dachte Anton, dass die Reaktion so schnell erfolgte. Normal dauerte es in der Politik doch immer ewig, bis eine Entscheidung getroffen wurde.
Der Konvoi aus einem Lastwagen, zwei Geländewagen und einem Schützenpanzer hielt sich aber nicht weiter auf, sondern fuhr weiter, verließ vermutlich den Ort, einem anderen Ziel entgegen.
Sie passierten eine Kreuzung an der ein weiteres Geländefahrzeug der Bundeswehr geparkt stand. Fünf Soldaten standen neben dem Fahrzeug und machten einen verlorenen Eindruck. Ein Unteroffizier stand etwas abseits, studierte eine Karte und glich sie mit seiner Umgebung ab, während die Männer seines Trupps in einem lockeren Kreis mit einander redeten und sich immer wieder zweifelnd umsahen. Während Anton, Anna und Seymon an ihm vorbei fuhren schüttelte der Unteroffizier zweifelnd den Kopf und warf ihnen einen verlorenen Blick zu. Anton sah ein langes, noch recht junges Gesicht ohne Bartwuchs und helle Augen. Dann waren sie vorbei.
Sie hielten wenig später vor dem örtlichen Supermarkt. Schon als sie auf den Parkplatz fuhren achtete Anton darauf, wie stark dieser besucht war aber abgesehen von zwei handvoll Fahrzeugen war kaum etwas zu sehen, was auf Panik oder Hamsterkäufe hätte schließen lassen.
Zwei weitere Jeeps im vertraut-unvertrauten Flecktarn der Bundeswehr standen rechts neben dem Eingangsportal, direkt bei den Einkaufswägen. Auf der anderen Seite des Portals standen ein VW-Bus und ein Unimog - der Bus im Flecktarn, der Unimog in einem einheitlichen olivgrün.
Anton parkte und sie gingen auf den Eingang des Supermarktes zu. Sie konnten sehen, dass das Dutzend Soldaten, das zu den Fahrzeugen gehörte, beim Unimog versammelt war. Gerade riss jemand die Plane am hinteren Ende der Ladefläche zurück und Anton konnte einen kurzen Blick auf Sandsäcke und Maschendrahtrollen werfen. Mit einem Stirnrunzeln ging er weiter.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie endlich der Meinung waren, alles zu haben was sie für eine längere Isolation benötigten. Sie hatten lange darüber diskutiert wie viel Klopapier notwendig war und wie viel ein normaler Mensch am Tag trank. Am Ende hatten sie einen zweiten Einkaufswagen holen müssen und standen nun an der Kasse. Ein dutzend Sechserpackungen mit großen Wasserflaschen, mehr Konserven als Anton bereit war zu zählen und Süßigkeiten, 'für die Moral'. Verderbliche Lebensmittel wie frisches Obst oder Gemüse hatten sie weg gelassen, statt dessen Multivitamintabletten eingepackt und Eier und Brot mitgenommen. Die Eier zum Kochen, das Brot zum Einfrieren.
Während sie damit beschäftigt waren ihre beiden Wägen voll zu laden hatte sich der Laden merklich gefüllt. Wahrscheinliche hatte die Nachricht von den Soldaten und die Angst vor einer Verkaufssperre, oder zumindest einer Einschränkung des Handels, ihr übriges getan. Die meisten Leute luden demnach auch ähnlich viel in ihre Wägen wie es Anton, Anna und Seymon getan hatten und Anton schüttelte den Kopf, als er eine dicke Frau sah, die schnaufend Packungen mit Limonade in ihrem Wagen stapelte.
Sie zahlten und verließen den Laden. Anton staunte.
In der kurzen Zeit, die sie im Laden gewesen waren, hatte sich das Bild am Eingang drastisch verändert. Die Soldaten hatten die Sandsäcke zu einem niedrigen Halbrund aufgeschichtet. Begrenzt wurde die Barrikade, die auf die Ausfahrt des Parkplatzes ausgerichtet war, links und rechts durch die beiden Geländewagen. Innerhalb des 'geschützten' Raumes stand der Unimog. Der VW-Bus stand etwas abseits und spielte für das Verteidigungskonzept wohl keine bedeutende Rolle. Ein Rasseln ließ Anton den Kopf drehen und er sah einen jungen Soldaten, der gerade eine Rolle des Maschendrahtes an einem Zaun befestigte. Bloß, dass es sich bei der Maschendraht um Stacheldraht handelte.
Sie luden die Einkäufe ein und waren kurz davor los zu fahren, doch Anton wollte noch nicht weg. Es juckte ihn in den Fingern mehr darüber zu erfahren, was die Soldaten hier tun sollten und was man erwartete.
„Was ist los, Anton?“, Anna sah ihn ungeduldig an. „Sollten wir nicht los?“.
„Wartet hier.“, er schnallte sich wieder ab und öffnete die Fahrertür. „Ich bin gleich wieder da.“.
Als er auf die Soldaten zu ging wurde ihm doch ein wenig mulmig. Er hatte ja durch seinen Beruf viel mit Polizisten zu tun, aber da war er offiziell als Pressevertreter unterwegs und unterstand dem Schutz durch das Grundgesetz. Aber als Zivilist einfach auf einen Haufen bewaffneter Soldaten zuzugehen, ohne zu wissen, was die dachten oder planten, war eine neue Erfahrung für ihn.
Die sind zu unserem Schutz da, dachte er immer wieder. Wofür sonst?
Er stand direkt vor den Sandsäcken, als der Erste überhaupt auf ihn aufmerksam wurde. Ein neugieriger Blick und eine eingehende Musterung vom Kopf bis zu den Sportschuhen, dann drehte sich der Soldat wieder herum und sagte etwas zu einem weiteren Mann in der Runde, einem Oberfeldwebel und wahrscheinlich dem Ranghöchsten in der Runde.
Dieser sah auf und Anton sah stahlblaue Augen, eine sauber getrimmte blonde Kurzhaarfrisur und eine Narbe unter dem rechten Auge.
Der Mann schien resigniert zu seufzen, ganz sicher konnte Anton das durch die Männer die zwischen ihnen standen nicht sagen, und kam dann auf ihn zu. Sein markantes und glatt rasiertes Kinn mahlte ein wenig.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er gerade heraus aber freundlich mit leicht russischem Akzent. Anton war überrascht! Sein grimmiges Auftreten schien mehr Show zu sein. Er bemerkte unglücklich, dass er gerade Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Menschen auf dem Parkplatz, sowohl der Soldaten als auch der Einkaufenden, geworden war, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Kann ich Sie was fragen?“, begann er mit der offensichtlichsten und dümmsten Eröffnung, die einem Menschen in dieser Situation einfallen würde. Der Oberfeldwebel nickte einladend.

Eine halbe Stunde später saßen sie wieder im Auto. Sie hatten sich entschieden zuerst nach München hinein zu fahren um noch ein paar Sachen aus ihrer Wohnung zu holen. Auch Seymon brauchte noch einige Dinge bevor man sich für die nächsten Tage - oder Wochen, gestand sich Anton ein - bei seiner Mutter einquartieren würde. Sie hatten im stillen Einverständnis beschlossen, dass es auf dem Land sicherer sein würde falls irgendetwas passieren würde,.
„Aber was hat er damit gemeint, dass sie auf alles vorbereitet sein wollen?“, Anna ließ nicht locker. „Ich meine, das sind Soldaten. Mit Maschinengewehren! Auf was wollen sie im kleinen Domborn denn schießen, bitte schön?“. Ihre Stimme gewann immer mehr Spitze, je mehr sie sich in die Situation hineinsteigerte.
„Siche' ist siche'!“, schaltete sich Seymon mit ernster Miene ein. „Du weis' nie, wann kommt de Angriff von Kuh mit Rinde'wahnsinn.“. Kurz blieb er todernst, dann strahlte er über das ganze Gesicht über den gelungenen Witz. Niemand lachte.
„Anna, du hast es doch selbst gesagt. Das sind Soldaten. Die denken anders! Die denken an Sachen, die uns vermutlich nicht einmal im Traum einfallen würden.“, er sah sie genervt an. „Lass die Männer mal machen. Solange sie uns nichts tun kann es uns doch egal sein. Und warum sollten sie?! Die sollen uns beschützen!“.
Anna schnaubte höhnisch und Anton wurde wütend. Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die Fahrt.
„Ich vertraue keinem Menschen der eine Waffe braucht, um sich stark zu fühlen!“, sagte sie selbstgefällig.
Anton knurrte tatsächlich ein wenig bei diesen Worten. Zum Glück waren das Radio und die Fahrtgeräusche zu laut als das es jemand gehört hätte.

Es dämmerte bereits, als sie an Seymons Wohnung ankamen. Sie selbst hatten nur wenige Minuten gebraucht um die nötigsten Sachen zusammen zu suchen. Das lag aber auch daran, dass er und Anna nicht wirklich damit rechneten mehr als ein paar Tage auf dem Dorf zu bleiben. Bei ihrer Fahrt durch das geschäftige München hatten sie nur wenig gesehen, das auf das Chaos der letzten Nacht - war das wirklich erst letzte Nacht gewesen?! - hingedeutet hatte. Der deutlichste Hinweis waren die schwarzen Silhouette zweiter niedriger, herunter gebrannter Gebäude gewesen und eine Seitenstraße war mit Absperrband trassiert gewesen, von Polizisten war hier aber aber keine Spur zu sehen. Immer wieder waren ihnen Fahrzeuge der Bundeswehr begegnet und einmal hatten sie an einer großen Kreuzung halten müssen, als Soldaten mit vorgehaltener Waffe einen Lkw durchsucht hatten. Anton las in den Gesichtern der Soldaten, dass sie selbst nicht so wirklich wussten, was sie eigentlich suchten.
Den gesamten Weg wurden sie von zuckendem Blaulicht begleitet, das in den Straßenzügen umher geisterte, aber nur selten sahen sie ein Polizeifahrzeug und die dazu gehörigen Beamten.
Einer wies gerade einige Soldaten ein, zeigte auf Straßen und Gebäude – aber niemand beachtete ihn.
Neben einem Einkaufszentrum standen gleich zwei Streifenfahrzeuge und eine handvoll Polizisten überwachten den Abtransport von weißen, und verdächtig menschengroßen Säcken. An der Fassade des Gebäudes prangte noch der rote Schriftzug „Lange Einkaufsnacht!“.Anton wurde übel und er blickte wieder stur geradeaus.
Zwei Straßen vor Seymons Wohnung stand ein ausgebranntes Auto. Das Fahrzeug war ein rußgeschwärztes Wrack aber man erkannte noch deutlich den geschmolzenen Aufbau des Blaulichts. Eine Horde Jugendlicher saß darauf, ihre Haltung drückte Überheblichkeit und Arroganz aus. Niemand sagte etwas. Und Anton hatte die klamme Befürchtung, dass es eine Weile dauern würde, bis sich in diesem schäbigen, randseitigen Teil Münchens die nächste Polizeistreife verirren würde.
Kurz darauf stieg Seymon aus und ging ins Haus. Es war ein herunter gekommener Block, mit einem Verputz der grau war von den Abgasen und der nicht nur an einer Stelle großflächig abbröckelte. In den untersten Fenstern brannten schwache Lichter und beleuchteten von innen die nikotingelben Vorhänge.
Anton und Anna blieben im Auto sitzen, geschützt vor der liederlichen kalten Witterung.
Die Dunkelheit kam jetzt mit großen Schritten und hier in den Häuserschluchten war es doppelt dunkel. Anton sah eine Gruppe Männer auf der Straße gehen. Sie waren gerade um eine Straßenecke gebogen und ihr Gang stach ihm sofort ins Auge. Die Männer fühlten sich sicher, und unangreifbar.
Es waren vermutlich mehr als zehn, die breitschultrig und O-beinig die Straße herab kamen. Anton sah einen Baseballschläger, und eine Machete. Neben ihm stieß Anna ein leises Wimmern aus und versuchte, sich auf ihrem Sitz unsichtbar zu machen. Anton lief ein eisiger Schauer über den Rücken aber er bewegte sich keinen Milimeter.
Die Männer kamen näher. Gemächlich. Selbstsicher.
Eine einzige Nacht voller Chaos und Gewalt, dachte Anton, und die Ordnung ist schon so weit zusammen gebrochen? Das waren keine irren Amokläufer, wie sie es gestern überall gesehen hatten. Die hier waren grobe Typen, Mitglieder irgendeiner Gang, ohne Zweifel. Gefährlich, ganz sicher sogar sehr gefährlich wenn man sich ihnen widersetzte. Aber es waren am Ende nur Kriminelle, die die neu gewonnene Freiheit ausnutzten, um ihr Revier zu vergrößern und dabei offen Waffen bei sich trugen. 'Nur Kriminelle'.
Sie hatten den Wagen gegenüber auf der anderen Straßenseite von Seymons Wohnhaus aus geparkt und so war es ihr Glück, dass sie weit genug weg und im Schatten standen, als die Gruppe an ihnen vorbei lief. Niemand bemerkte sie.
Doch Seymon hatte nicht so viel Glück. Der Knall, mit dem die Haustüre ins Schloss fiel, war noch auf der anderen Straßenseite, und durch die geschlossene Tür des Autos zu hören. Einige der Schläger zuckten leicht zusammen, einige griffen tief in ihre Taschen, aber alle drehten sich Seymon zu. Der stand jetzt vor dem Haus, wie erstarrt, und glotzte.
Anton konnte nicht hören, was gesprochen wurde. Aber einer der Männer, ein glatzköpfiger Hüne mit einer Tätowierung auf dem blanken Schädel, grölte etwas. Es klang, als mache er sich über den Schwarzen lustig und Anton meinte, auch Seymons Namen gehört zu haben.
Er sah, wie die Hand seines Freundes unwillkürlich zu der langen Messernarbe auf seinem Bauch wanderte.
Wieder grölte der Riese etwas. Etwas böses. Aggressives.
Dann hämmerte er seinen Baseballschläger gegen eine Mülltonne, die neben ihm am Straßenrand stand. Anton konnte die Tonne drei Meter weit fliegen sehen, bevor sie hohl und dröhnend auf der Straße aufschlug.
Die Schläger johlten und Anton sah vereinzelt Messer aufblitzen. Die Menge rückte zusammen, näher auf Seymon zu, der sich jetzt anspannte, einen Ausdruck fatalistischer Entschlossenheit auf dem Gesicht und einen alten ledernen Koffer in der Faust.
Anton hatte gerade den Türgriff in der Hand als Scheinwerfer über die Szenerie gleißten. Ein Geländewagen kam um die Kurve gefahren, zusätzliche Scheinwerfer auf dem Dach strahlten die Straße aus als er gemächlich näher kam. Unsicher, ob der vielen Personen auf der Straße, wurde das Fahrzeug langsamer, fuhr eine unbeholfene leichte Schlangenlinie und kam dann zum Stillstand.
Die Schläger hatten die Arme gegen das Licht erhoben aber Anton konnte auch schon die ersten sehen, die sich herausfordernd vor dem Neuankömmling aufzubauen begannen.
Jetzt oder nie!
Er fiel geradezu aus seinem Auto als er die Tür aufriss. Taumelnd kam er wieder auf die Beine und sah aus den Augenwinkeln Köpfe in seine Richtung zucken. Doch offenbar waren die Brutalos noch mit der Situation überfordert, denn niemand unternahm etwas, als er auf das Licht zu stolperte und die Arme schwenkte.
Bitte, lass mich richtig geraten haben!, betete er inständig. Bitte! Bitte! Bitte!
„Hilfe!“, schrie er aus vollem Hals. „Helfen Sie uns!“. Er stand jetzt mitten im Lichtkegel und sah selbst kaum noch etwas. „Bitte! Hilfe!“, jammerte er. Ein Klacken ertönte. Eine Autotür! Dann traten Schatten vor den Jeep. Zwei, drei, vier, fünf Mann. Er sah Flecktarn.
Oh Gott! Danke! Bundeswehr.
„Was ist hier los?“, bellte eine befehlsgewohnte, dunkle Stimme. Einer der Schattenrisse bewegte auffordernd die Hand. „Wer hat um Hilfe gerufen?“.
„Das war ich.“. Anton war sich der bohrenden Blicke der Schläger im Rücken mehr als bewusst.
„Also was ist los, junger Mann! Sie sollten wissen, dass man nicht einfach zum Spaß um Hilfe ruft!“.
Bevor Anton antworten konnte kam ihm jemand zuvor. Es war der große Glatzkopf und er tat das, was er am Besten konnte. Und damit das Falscheste, das ihm in dieser Situation einfallen konnte: Er drohte.
Grimmig grollte seine Stimme über die Straße zu den Soldaten: „Verpisst euch! Ihr seid keine Bullen. Ihr habt hier nix zu melden, ihr Pisser!“, leises Gelächter aus den eigenen Reihen stärkte ihm den Rücken. „Holt doch die Bullen! Wenn noch genug davon übrig sind!“. Lauteres Gelächter diesmal. Die Schläger holten ihre Messer und Knüppel wieder hinter den Rücken hervor.
„Hören Sie mir jetzt mal sehr gut zu.“, der Soldat klang weder beeindruckt noch wütend. „Wir haben ein Mandat erhalten, für Ordnung zu sorgen. Wir sind jetzt hier die Polizei! Also verpisst euch selbst! Eine zweite Chance bekommt ihr nicht.“. Seine Stimme hatte einen leicht erheiterten Unterton, als gäbe es da einen Witz, den nur er verstand. Anton hielt die Luft an.
„Ein Mandant also, was? Wir haben ein Mandant erhalten!“, äffte der Glatzkopf ihn nach. „Was faselst du für einen Scheiss! Haut ab jetzt! Wir haben hier ...“, er drehte sich wieder Seymon zu, „... zu tun.“.
Ein Soldat sagte etwas Unverständliches zu dem Sprecher.
Anton fragte sich, was jetzt wohl passieren würde. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und das Blut rauschte in seinen Ohren.
Das metallische Schnappen, als fünf Sturmgewehre gleichzeitig durchgeladen wurden, hallte wie Donnerschlag durch die Straße. Die Wirkung war ähnlich. Jede Bewegung erstarrte und Anton hörte, wie hinter ihm irgendwo ein Fenster zu geschlagen wurde. Der neugierige Nachbar flüchte gerade vermutlich hinter die Couch.
Die Stimme des Soldaten war kälter, als Anton es jemals gehört hatte.
„Mein Oberst,“, sagte der Mann gedehnt, „hat mir den Befehl gegeben die öffentliche Ordnung zu erhalten.“. Etwas rasselte, und Anton sah, wie einer der Schatten das Gewehr in Anschlag brachte. Die anderen Schatten verteilten sich und legten ebenfalls an.
„Du Wurm, wirst nicht verstehen wovon ich spreche.“, seine Stimme triefte vor ätzender Abscheu, „Aber ich schwöre dir, dass ich dich und deine Freunde in eurem eigenen Blut hier zurück lassen werde wenn IHR EUCH NICHT SOFORT VERPISST!“.
Anton taumelte. Die letzten Worte waren so laut heraus gebrüllt worden, dass ihm die Knie weich wurden. Er sah, dass sogar einer der Soldaten leicht taumelte, bevor er wieder Haltung annahm.
„He, komm mal wieder runter..“, kam es unsicher von den Schlägern. Der peitschende Knall eines Schuss fetzte ihre letzte Courage hinweg und wenige Sekunden später war die Straße und der Platz vor dem Wohnblock leer. Rennende Schritte verloren sich in der Dunkelheit. Nur Seymon stand noch da, wie erstarrt.
Anton hockte auf dem Boden. Er fröstelte. Hinter sich konnte er Anna im Auto leise schluchzen hören.
Die Soldaten aber waren entspannt.
„Ich glaub ich hab nen Hörsturz.“, murmelte einer und leises Lachen aus der Runde antwortete ihm. Einer der Schatten löste sich aus der Gruppe und kam zu Anton hinüber. Der Mann kniete sich neben ihn und er erkannte an der Stimme, dass es der Truppführer dieses Haufens Soldaten war. Der Mann war die Ruhe selbst. Ein angegrauter Schnauzbart ließ sein Gesicht väterlich erscheinen.
„Ich habe ihnen hoffentlich keine Angst gemacht.“, sein Plauderton passte so gar nicht dazu, wie er gerade eben noch geklungen hatte.
„Wissen Sie: es tut mir Leid, wenn es so wäre. Aber manchmal gehört ein bisschen … Show … einfach dazu.“, er wartete, bekam aber keine Antwort. Er klopfte Anton leicht auf die Schulter und stand wieder auf. „Packen Sie besser ihre Sachen und machen sich vom Acker! Wer weiß, wann die Kerle ihren Mut wieder finden. Und ich möchte nicht wirklich jemanden erschießen müssen.“.
Anton zitterte, als er aufstand. Er nickte dem Soldaten stumm zu, dann ging er zum Auto zurück.

Die Rückfahrt war still. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Der Schreck saß ihnen noch in den Knochen doch was Anton am meisten erschreckt hatte war, dass es so schnell gegangen war. Keine 24 Stunden war es her, dass München das blanke Chaos erlebt hatte, keine 24 Stunden, dass dutzende Polizisten und hunderte Menschen mehr ihre Leben verloren hatten und schon griff Anarchie mit gierigen Fingern nach Straßenzügen und Stadtteilen.
Anton traute sich nicht sich auszumalen, wie es weiter gehen könnte. Er hoffte inständig, dass sich alles in ein paar Tagen wieder normalisiert haben würde.
München hatte jetzt, wo es dunkel war, einer Geisterstadt geglichen. Regelmäßig waren Posten der Bundeswehr zu sehen gewesen und sie hatten zwei mal langsam fahren müssen, waren aber nach einem Blick ins Fahrzeug weiter gewunken worden. Niemand schien so wirklich zu wissen, wie es weiter gehen sollte.
Die Dauersendungen im Radio hatten sie auch nicht schlauer gemacht.
In Frankfurt war es zu Plünderungen gekommen. Diese waren gewaltsam beendet worden und ein Mann war durch Bundeswehrsoldaten erschossen worden. Oppositionspolitiker forderten umgehend eine Aufhebung des Bundeswehrmandats und eine lückenlose Aufklärung.
In Berlin waren zwei Polizeiwachen von maskierten Männern gestürmt worden. Über den Verbleib und den Zustand der Polizisten war nichts bekannt. Bundeswehrkonvois waren mit Schusswaffen angegriffen worden und man hatte die betreffenden Stadtteile abgeriegelt und vorerst sich selbst überlassen. Namenlose Experten vermuteten eine osteuropäische Mafia als Drahtzieher, rätselten aber über die Motive. Ständig wurden durch die Nachrichtensprecher die selben Mantras wiederholt und Reden von Politikern eingespielt. Von großen Prüfungen war da die Rede, von unvorstellbaren Gräueln und davon, dass alle die Ruhe behalten sollen. Aber von einem Plan war nie die Rede. Kein Wort davon was überhaupt passiert war, wie so etwas sein konnte.
Es hatte alle deutschen Städte gleichermaßen getroffen und auch wenn sich plötzlich niemand mehr für die europäischen Nachbarn und internationalen Verbündeten interessierte, waren die wenigen Nachrichten, die von dort kamen, kein bisschen besser.
Eine einzige Nacht. Tausende Tote. Was kam als nächstes?

Shawi Khalid schwitzte stark unter dem Kontaminationsschutzanzug. Der war zwar in reinem Weiß gehalten und auch einer der leichteren Sorte, ohne Atemschutzgerät sondern bloß mit einer Maske, aber eben ansonsten komplett geschlossen. Und das in Nigeria. Tropisch. Heiß. Feucht. Einfach Ätzend.
Er liebte seine Arbeit für die Vereinten Nationen, aber manchmal musste er sich daran erinnern, warum.
So auch hier. Sie waren seit Wochen im Einsatz. Und nicht nur, dass das ganze Land einem kollektiven Wahnsinn anheim gefallen zu sein schien. Sie waren Sie von Moskitos zerstochen, und von Durchfall durch das schlechte Wasser schwer gezeichnet.
Die Expertenkommission war hierher geschickt worden, um über das Verschwinden unzähliger Menschen und eventueller Kriegsverbrechen zu berichten, die damit einhergingen.
Die UN trug sich mit dem Gedanken, sich militärisch im Kampf gegen Warlords und paramilitärische Banden zu beteiligen. Aber wie so oft reichten die Berichte von Menschenrechtsorganisationen und freien Journalisten, die tagtäglich in diesem Landstrich ihr Leben riskierten, und oft auch verloren, nicht aus. Man brauchte eigene Berichte. Von eigenen Experten. Von Shawi Khalid. Unter anderem.
Hinter und neben ihm schnauften und schwitzten die drei anderen 'Experten' seines Teams unter ihren Anzügen und sahen dabei so erbärmlich aus wie er sich selbst fühlte.
Bald geschafft, sagte er sich. Dann können wir nach Hause. Heute finden wir den entscheidenden Hinweis.
Begleitet wurden die vier Wissenschaftler von zwei nigerianischen Soldaten. Diese steckten auch komplett in Schutzanzügen, waren aber zudem bewaffnet. Beide trugen alte, aber gut gepflegte Sturmgewehre sowjetischer Herkunft bei sich. Das Land befand sich ja im Bürgerkrieg und sie suchten nicht gerade nach einem Allheilmittel für Krebs.
Wobei selbst das gefährlich gewesen wäre, gestand sich Shawi ein. Ein solches Mittel wäre zu wertvoll, als das jemand in diesem opportunistischen Land sie damit einfach ziehen lassen würde.
Er warf einen Seitenblick auf die beiden Soldaten, die zu ihrem Schutz dabei waren und ihm schauderte. Im Zweifelsfall wäre auch diesen beiden Männern dann wohl nicht mehr zu trauen. Ihr Schutz, aber auch eine Gefahr. Fluch und Segen.
Er hätte auf Blauhelme bestehen sollen. Shawi seufzte.
Langsam aber stetig stiegen sie in den Kraterkessel hinab. Das Ali Mountain Wildlife Sanctuary war ein Naturschutzgebiet. Wenige verirrten sich hierher. Ein paar Touristen, Wildhüter, Wilderer – und UN Experten.
Es hatte Hinweise darauf gegeben, dass etwas in dieser Region nicht stimmte. Die Bürgerkriege wüteten wild und nicht kontrollierbar, das war bekannt. Aber dann verschwanden Menschen in großer Zahl. Unzählige, wenn man es so sagen wollte. Sie verschwanden und niemand wusste wohin.
Normal hätte sich die UN nicht weiter dafür interessiert. Afrika geriet selten in den Blick der Öffentlichkeit und war dann so weit weg von den wohlhabenden Staaten, dass sich eine Intervention nicht wirklich lohnen würde. So funktionierte die Welt leider. Doch die UN hatte ihr Gewissen gefunden, munkelte man, und wollte Verantwortung übernehmen. Militärische Verantwortung. Shawi selbst war skeptisch.
Doch man sagte, dass Afrika in weiten Teilen seiner einzelnen Staaten so marode und kaputt war, dass auch eine militärische Intervention keine nennenswerte Verschlimmerung bringe könne. Und ein paar Warlords und fanatische Banden psychotischer Männer und ihrer Kindersoldaten weniger konnten ja kaum schlecht sein?
Mit einem lauten Knirschen verrutschte der Stein, auf den Shawi gerade getreten war. Sein Fuß knickte um und ein reißender Schmerz stach in sein Bein. Er fluchte!
Verdammte Scheiße! Das hast du vom Grübeln!
Er stand eine Weile da während seine Begleiter warteten. Die Kollegen zu erschöpft um ihn nach seinem Befinden zu fragen – die Soldaten zu desinteressiert.
Nach ein paar Sekunden war der Schmerz soweit abgeebbt, dass er den Fuß wieder belasten konnte. Schmerzhaft, aber es ging. Er wollte nicht hier und jetzt fußlahm werden. Allein bei dem Gedanken zog sich sein Magen zusammen.
Er ging weiter, langsam und vorsichtig, und suchte sich seinen Weg über das Geröllfeld. Die anderen taten es ihm gleich.
Der Krater erstreckte sich weit vor ihnen, war aber kaum einsehbar. Bäume und Büsche hatten seine Hänge unregelmäßig besiedelt und jahrzehntelang hatten Regenfälle und andere Umwelteinflüsse den Boden verformt, hatten Täler und Grate geschaffen.
Den Boden des Kraters sollte eine Kultstätte bedecken. Alt und geheimnisumwittert schrieb man ihren Ursprung einem alt-afrikanischen animistischen Kult zu. Was auch sonst.
Sie brauchten lange. Shawis Kehle war ausgedörrt und er bekam Kopfschmerzen.
Ich liebe meinen Job, dachte er gerade, als er den Fuß entdeckte.
Er kam stolpernd zum Stehen und sah genauer hin.
Dort! Unter dem Busch!
Ein Fuß ragte dort hervor!
Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Irgendetwas stimmte da nicht. War das wirklich ein Fuß oder nur ein Stück knorriges Holz? Seine Kollegen standen jetzt neben ihm und sahen genauso starr zu dem Gebüsch hinüber. Fillip Svenson, ein Politologe aus Norwegen, machte einen Schritt vor. Dann noch einen.
„Das ist ein Fuß!“, sagte er, leicht durch die Maske des Anzugs verzerrt.
„Kein Stück Holz?“, fragte Shawi nach, wusste aber bereits die Antwort.
„Ich denke nicht. Aber das sieht nicht gut aus. Er hat Beulen und eine komische Farbe. Gut, dass wir die Anzüge angezogen haben!“, Fillip klang nervös. Es war aber auch sein erster Einsatz dieser Art.
„Hm.“, machte Shawi. Ihm als Leiter oblag nun die Entscheidung über ihr Vorgehen. Alle Blicke wendeten sich ihm zu. „Also los. Schauen wir uns das an“.
Seine Leute gingen an die Arbeit. Sie waren zögerlich und unwillig, aber das war bei der ersten Leiche noch normal und würde sich bald legen. Shawi machte sich keine Illusionen.
Die einzige die mit großem Interesse und scheinbar ohne Berührungsängste vorging, war Lian Chi So, seine Forensikerin. Sie hatte mehrere Jahre auf einer Bodyfarm geforscht, und war ihm von einem alten Freund und Studienkollegen empfohlen worden. Eine kluge Frau, auch wenn Shawi manchmal mutmaßte, dass Lian eine tiefe Abscheu für lebende Menschen empfand denn sie war verschlossen und zynisch und schien nur an toter Materie wirklich Gefallen zu finden.
Als sie eine halbe Stunde später wieder auf dem Weg tiefer in den Krater waren, waren sie um eine Erkenntnis reicher, aber weiter ahnungslos.
Der Mann, den sie unter dem Gebüsch gefunden hatten war seit einiger Zeit tot gewesen und seine Haut hatte sich durch die Sonne und die Hitze dunkel verfärbt. Man hatte jedoch deutlich die Beulen und verschorfte Krätze erkannt. Der Mann war an einer Krankheit gestorben, die ein wenig an die Beulenpest erinnerte. Doch war Lian nicht überzeugt gewesen und bestand darauf, dass das Krankheitsbild zwar ähnlich, aber nicht identisch sei. Die äußerlichen Symptome würden nicht überein stimmen und wären zu vielfältig.
Dann halt mehrere Krankheiten an einem Menschen, hatte Shawi gedacht, es aber für sich behalten. Wo war das Problem?
Außerdem, so Lian, war die Pest so weit im Norden Afrikas nicht verbreitet. Sie waren also schlauer und unwissender zugleich.
Müde schleppten sie sich weiter das Geröllfeld hinab.
Sie gingen eine Weile schweigend hinter einander her, als Shawi mit einem sachten Lufthauch der Geruch auffiel. Er erkannte Verwesung. Mit einer Handbewegung und einem leisen Ruf lies er die Gruppe anhalten.
Der Wind frische auf und gleichzeitig wurde der Gestank schlimmer. Shawi's Nase zuckte. Er war schon immer empfindlich gegen Verwesungsgeruch gewesen und dieser war unheimlich penetrant.
Auf seine Anweisung suchten sie den näheren Umkreis nach der Quelle ab, konnten aber nichts finden. Die naheliegendste Erklärung war der Wind. Die Quelle des Gestanks, der Ort des Todes, musste entgegen der Windrichtung zu finden sein.
Mit einem Ruck zog er sich die Haube seines Schutzanzuges herunter und die Handschuhe aus. Während er mit einer Hand einen Minzbalsam unter seiner Nase verteilte blickte er belustigt auf die schockierten Gesichter um ihn herum.
„Tote übertragen keine Keime mehr, wenn sie so lange tot sind wie der da oben.“, sagte er lächelnd, „und ohnehin nicht über so große Distanzen.“.
Er nestelte an den Handschuhen und zog auch dann die Haube wieder über den Kopf. Sein Eigengeruch, stärker als erwartet, umfing ihn und sperrte zusammen mit dem Balsam den Verwesungsgeruch aus.
„Frau Chi So! Wenn Sie so freundlichen wären uns zu führen!“, grinste er zu seiner Kollegin hinüber. Die zuckte nur die Schultern und ging voran. Shawi sah einen der Soldaten den Kopf schütteln.
 
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Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
24
0
4.756
Kapitel 1 / Teil 2

Um 0:41 Uhr setzte der Flieger am Flughafen München auf, 20 Minuten später saß Anton im Taxi.
Sein Kopf sank ihm immer wieder auf die Brust. Und jedes Mal schaffte es der Taxifahrer ihn wieder zu wecken. Mal indem er einen Bordstein schrammte, mal indem er an einem Zebrastreifen zu spät und dafür gut gemeint hart bremste.
Guter Mann, dachte Anton, als er für die Fahrt bezahlte. Was hält besser wach als ein Nahtoderlebnis?
Die zweite Konferenz hatte ein paar interessante Details enthüllt aber bei weitem nicht den Kern der Sache aufgedeckt.
Das Graffito mit den acht Pfeilen war auch im Innenraum der Diskothek zu sehen gewesen. Viel zu oft, um ein Zufall zu sein.
Es hatte Fotos gegeben, wo dieses Zeichen auf Wände geschmiert war. Halb unter Ruß verborgen. Es war allein acht Mal an den Außenwänden des „Nightlife“ zu finden gewesen.
Aber am erschreckendsten war eine Variante auf der Toilette gewesen. Diese war kaum vom Feuer gezeichnet gewesen, klar und deutlich. Bloß verlaufen, war die nasse Farbe. Falls es sich um Farbe gehandelt hatte. Die Polizei ging von einem anderen Grundstoff aus.
Blut.
Bilder der Opfer hatte Anton an diesem Abend nicht zu Gesicht bekommen, aber er war dankbar dafür. Auch so hatte sich ein unbekanntes Grauen in seinem Nacken festgesetzt.
Er hatte Angst, stellte er ohne Erstaunen fest.
Ein Gewaltverbrechen, das so deutlich kultischen, vielleicht sogar satanistischen Ursprungs war. Ihm schauderte.
Er hatte zu viele Filme gesehen, als das ihn so etwas kalt lassen konnte.
Er hoffte bloß, dass er später gut schlafen würde.
Wie ein kleines Kind!, schimpfte er sich in Gedanken. Wie ein verdammtes, kleines Kind.
Die Rohversion des Artikels hatte er schon während des Fluges auf seinem Laptop geschrieben. Diese war schnell kopiert, doch das Korrekturlesen dauerte doch noch eine Weile, und so war es fast 4 Uhr morgens, als Anton endlich ins Bett fiel.
Dass Anna aus dem Tiefschlaf aufschreckte und ihn finster aus verquollenen Augen anfunkelte bemerkte er schon nicht mehr.
Er rollte sich einfach, noch in seinen Sachen, zusammen und schlief ein.

„Anton!“, eine spitze Stimme durchbrach den Nebel in seinem Kopf. Und versank wieder.
„Anton! Telefon!“, näher, lauter.
Anton fühlte sich schwer. So schwer, dass er überhaupt nicht wusste wo er überhaupt war. So schwer, dass er nicht wusste wer da seinen Namen rief. Und zu schwer, als dass sein Geist auf die Idee kommen würde, er hätte einen Körper.
„ANTON!“
Mit einem Ruck war seine Decke weg. Eiseskälte!
„Was...“
Bevor er weiter sprechen konnte hatte er das Telefon am Ohr.
Das Telefon? Welches Telefon? Und warum überhaupt?
„Herr Rieder! Kampfer hier! Ich brauche Sie ihrem Büro!
Anton drehte langsam – sehr langsam – den Kopf zu seinem Wecker.
06:27 Uhr.
„Herr Rieder?!“
Anton legte auf.

Tuut! Tuut! Tuut!
Sein Kopf war immer noch wie in Watte gepackt, die Augen verquollen, der Nacken verspannt und schmerzhaft.
Klack!
„Kampfer.“
„Herr Kampfer, Rieder hier. Tut mir Leid, das war unhöflich von mir aber ich war erst seit etwas mehr als zwei Stunden im Bett und .. ja.“, sagte Anton, während der Schwierigkeiten hatte Anna zu fokussieren, die vor ihm im Badezimmer gerade dabei war, sich die Haare zu machen.
Stille auf der anderen Seite der Leitung.
Scheisse, dachte Anton. Scheisse, Scheisse...
„Rieder... Okay.“
Anton konnte sein Seufzen hören.
„Okay, kommen Sie her. Das ist wichtig und Sie haben den Kontakt, also ja. Glück gehabt. Ich hätte den Auftrag sonst schon weiter gegeben.“
„Um was geht es denn genau, Herr Kampfer?“
„Berlin, ein Massaker in einem Nachtclub.“
Dejá-Vu?, dachte Anton.
„Tut mir Leid, Herr Kampfer, aber...“, schüttelte den Kopf, verzweifelt bemüht seine Gedanken zu ordnen. Dann fuhr er gequält fort:
„... war ich da nicht gestern?“
„Gleiches Muster, neuer Fall, Rieder.“
Scheisse.

Zwei Kaffee und einen Energiedrink später stieg Anton aus dem Wagen. Der Berufsverkehr war quälend gewesen und er war froh endlich da zu sein. Er war immer noch ziemlich müde, sein Magen spielte verrückt und schwankte zwischen Heißhunger und akuter Übelkeit, aber sein Muskelkater hatte nachgelassen – man musste die kleinen Dinge sehen.
Der Fahrstuhl war voll und so entschied er sich doch für die Treppe.
Im zweiten Stock pfiff er auf dem letzten Loch.
Im Fünften war sein Kreislauf kurz vor dem Zusammenbruch. Kalten Schweiß auf der Stirn versuchte er halbwegs gerade zu laufen während sein Sichtfeld zwischen verschwommen und schwarz hin und her pendelte.
Hin und Her.
„Rieder!“
Anton schaffte es die Erschöpfung ein wenig ab zu schütteln als er seinem Chef gegenüber trat.
„Ich habe die Bilder auf ihren Schreibtisch legen lassen. Der Fotograf war einer der ersten am Tatort und konnte ein paar gute Schnappschüsse machen. Wir werden kaum etwas davon drucken können, fürchte ich, aber schauen Sie mal, was Sie draus machen können!“
„Ich fliege also nicht nach Berlin?“, sagte Anton und atmete tief durch.
Gott! War er erleichtert!
„Nein, nicht nötig. Das Thema ist so groß, dass es verschiedene Telefonkonferenzen geben wird; wir haben sie auf acht Uhr angemeldet... naja, und für den Fall, dass sie es nicht geschafft hätten auch noch einmal um zehn Uhr.“
Anton sah auf sein Handy.
07:52 Uhr.
Manchmal hasste er seinen Beruf mehr, als er je zugeben würde.

Als Anton an diesem Abend das Bürogebäude verließ konnte er sich kaum auf den Beinen halten. 2 1/2 Stunden Schlaf in 36 Stunden. Das war nicht menschenwürdig.
Er ging zu seinem Auto, startete und fuhr los.
Was für ein Chaos da in Berlin los war, einfach unglaublich.
In der vergangenen Nacht, ungefähr um den Zeitraum als Anton gerade erschöpft und zerschlagen in sein Bett gefallen war, hatten Männer einen Nachtclub namens „R-Club“ gestürmt. Regelrecht gestürmt. Türsteher waren, wo sie standen, mit brutaler Waffengewalt hingemetzelt worden, dann waren die Täter im Club verschwunden und hatten die Türen von innen verschlossen.
Schockierte Zeugen hatten sofort die Polizei gerufen, aber bis das Sondereinsatzkommando vor Ort war, waren dreißig lange Minuten vergangen. Als man sich dann zum Zugriff entschloss musste man feststellen, dass die doppelflügelige Tür von innen verbarrikadiert worden war und als man es endlich, in den Hauptsaal der im Keller gelegenen Diskothek geschafft hatte war nur noch der Tod anwesend.
64 Menschen, schätzte die Polizei, waren in dieser Nacht gestorben aber sicher konnte man das erst nach Abschluss der rechtsmedizischen Beurteilung sagen.
Zu viele Einzelteile - von zu vielen Menschen.
Und über allem hatte ein bereits bekanntes Zeichen geschwebt. Es war mit Edding an die Fliesen der Toiletten gekritzelt. Und es war mit Blut an die Wände gemalt worden. Wieder, und wieder.
Ein achtstrahliger Stern aus Pfeilen. Und etwas Neues.
Bilder von umgekehrten Schädeln an den Wänden und darüber gemalt eine Rune, wie Anton sie noch nie gesehen hatte.
Bis auf einen einzigen der Täter waren alle Leichen zerstückelt und geschändet worden. Es hatte den Eindruck gemacht, als hätten sich die Täter in ihrem Blutrausch am Ende gegenseitig zerfleischt. Auch der einzige halbwegs intakte Körper war übersät gewesen mit schrecklichen Verletzungen, Schnitten, die Knochen frei gelegen hatten.
Er wollte wissen, wie der Fotograf dazu gekommen war, diese Bilder zu machen aber er vermutete, dass der Mann schlimme Alpträume haben würde. Ihm selbst ging es ja schon nicht gut und er ertappte sich dabei, aus den Augenwinkeln Fratzen zu sehen, die nicht da waren.
Er hätte sich nie ausmalen können, dass sein neuer Beruf ihn einmal so weit bringen würde, dass er Angst im Dunkeln haben würde.
Damals, als er noch für Andi Finke als Türsteher gearbeitet hatte, da hatte er hin und wieder Angst haben müssen. Er hatte lange Nächte durchlebt, weil mal wieder Revierstreitigkeiten im Milieu ausgebrochen waren, aber das jetzt war eine ganz neue Erfahrung.
Ein übles Gefühl in der Magengrube und im Nacken. Als würde man gejagt.
Anton schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.
Doch sein Artikel war ein Renner gewesen, der Absatz der Zeitung hoch und er würde nach dem heutigen Tag noch höher sein. Die Polizei hatte einen Teil ihrer Politik zur Zurückhaltung von Informationen aufgegeben und viele Details offenbart.
Das ganze war mit einem Zeugenaufruf verknüpft: Jeder dem etwas komisches aufgefallen ist bei dem Leute Klingenwaffen und Werkzeuge gekauft, getragen, damit posiert oder sonst irgendetwas getan hatten sei umgehend der Polizei zu melden.
Denn genau das war es, was auch schon im ersten Fall so schrecklich auffällig gewesen war.
Die Leichen waren zerstückelt gewesen, bevor man sie verbrannte.
Zerstückelt von Macheten, Messern, Äxten, und sogar Schwertern.
Nicht ganz so spät, aber müde wie nie, ging er nach einer heißen Dusche schlafen.
Anna war nicht da, er vermisste es jetzt schon, Zeit mit ihr zu verbringen. Aber sie hatte Training, Jazz-Dance.
Sie nahm das sehr ernst.
Anton gönnte ihr das Hobby. Sie hatte genug zu arbeiten durch die Doppelbelastung von Nebenjob und Studium, und so dämmerte er alleine in den Schlaf. Vielleicht würde er ja heute genug davon bekommen bekommen.

Es war schon 10 Uhr durch, als er erwachte. Jede Faser seines Körpers tat weh, er war verspannt wie selten und in Kopf fühlte sich heiß und seine Augen verquollen an.
Was ein riesen Luxus, dachte Anton. Einen Kater zu haben, ohne gesoffen zu haben.
Er rollte sich noch unzufrieden hin und her und stand dann doch auf.
Komisch eigentlich, dass er ungehindert so lange schlafen konnte.
Er wusch sich das Gesicht kalt ab und merkte sofort, wie er wacher wurde. Während er sich die Zähne putzte machte er das Handy an, das er über Nacht zum Laden ausgemacht hatte, und sah auf das Display.
Drei verpasste Anrufe, 17 Nachrichten, 3 ausstehende Updates.
Kurz kniff er die Augen zusammen, um klarer denken zu können – Nein, keine Chance, nichts wurde klarer – und beschloss dann das Handy erst einmal Handy sein zu lassen und sich einen Kaffee zu machen.
15 Minuten spät saß er auf der ledernen Couch in seinem Wohnzimmer und legte mit einem Seufzen die Beine hoch als sein Handy klingelte.
Pfff.
„Rieder?“
„RIEDER! Was soll der Quatsch? Hatten Sie ihr Scheiß-Handy aus, oder was?“
„Herr Kampfer? Sie…“
„Hier geht die Welt unter und ich hab keinen Bock meine Zeit mit ihnen zu verschwenden. Wenn Sie arbeiten wollen, kommen Sie her - Und wenn nicht, lassen Sie es bleiben!“
„Was ist denn überhaupt passiert?“, Anton wurde wütend,
„Ich hab in den letzten zwei Tagen verfickte 36 Stunden gearbeitet und kann immer noch nicht wieder richtig denken also lassen Sie es verdammt nochmal locker angehen und erklären Sie mir was los ist!“
„Sehen Sie fern!“, Anton hörte ein sehr erschöpftes Seufzen am anderen Ende der Leitung.
„Und vergessen Sie was ich eben gesagt hab. Ich brauch Sie hier nicht, wir sind genug. Kommen Sie am Montag wieder!“
Klick!
Hm, dachte Anton. Hm.
Müde wuchtete er sich von der Couch hoch und langte nach der Fernbedienung. Er schaltete den Apparat ein und zappte ein paar Programme durch, bis er bei einer Nachrichtensendung angekommen war.
„Köln! In der letzten Nacht kam es zu einem Brand in einem Asylantenheim. Die Feuerwehr ist noch vor Ort dabei, den Brand zu löschen. Die Polizei spricht momentan von 120 Toten. Ein rechtsradikaler Hintergrund hat sich bisher noch nicht erhärtet, wurde aber von der Polizei noch nicht dementiert. Die Ermittlungen dauern noch an.“
Eine Rauchsäule über einem altertümlichen Plattenbau. Zuckende Blaulichter in der Morgendämmerung und in scheinbarer Ruhe herumlaufende, uniformierte Menschen.
Totale. Übersichtsaufnahme. Dann eine Großaufnahme auf den Plattenbau mit den verrußten Fensteröffnungen. Die Wände voller Graffiti. Anton traute seinen Augen nicht.
Ein achtstrahliger Stern war da. Mit leuchtend roter Farbe an die Wand gemalt.
Unbeachtet. Außer von Anton.
 

Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
24
0
4.756
Kapitel 1 / Teil 3

Den Rest des Tages verbrachte Anton zuhause in tiefer Konzentration. Der Fernseher lief und quäkte die immer selben Informationen in den Raum. Die Ermittler tappten weiter im Dunkeln, aber kein Wunder. War ja auch kaum zwölf Stunden her.
Das Internet ist voller Informationen, Verschwörungstheoretikern und Videos, die irgendjemand zitterig mit seinem Handy gefilmt hatte.
Er fand heraus, dass sich die ansässigen Graffitiszenen schon mit dem achtstrahligen Stern und der Rune aus Berlin, man nannte Sie eine „Schädelrune“ auseinander gesetzt hatte. Aber auch dort war man ratlos, woher diese kam - und wer dahinter steckte.
Auch die Bedeutung der Zeichen war unklar. Es gab Spekulationen: Fantasiezeichen aus irgendwelchen Comics wurden ins Rennen gebracht, genauso wie Hieroglyphen, Maya-Zeichnungen und vieles mehr. Aber eigentlich interessierte die Bedeutung niemanden in den öffentlichen Foren im Internet. Das Einzige was den vielen Sprayern wichtig war, war die eigene kleine Berühmtheit.
Anton sah auf als sich der Ton im Fernseher änderte. Ein Jingle wurde gespielt . Eine Fanfare.
„Gerade erreicht uns die Meldung von einer Geiselnahme in München. Eine unbekannte Anzahl Personen hat dort eine Messehalle gestürmt. Die Halle ist abgeriegelt und alle Türen sind aktuell verschlossen. Ein Großaufgebot der Polizei hat die Gegend großflächig abgeriegelt und Spezialisten der Landespolizei versuchen derzeit Kontakt mit den Tätern auf zu nehmen. Forderungen der Geiselnehmer sind bislang noch nicht bekannt.“.

Polizeimeisteranwärter Ergün war kalt. Es war schon nach zehn Uhr abends. Er rechnete kurz nach – Ja, er saß jetzt seit mehr als 2 Stunden hier draußen im Streifenwagen. Allein. Und nach der ersten Stunde hatte die Kälte angefangen, in den Wagen zu kriechen.
Mittlerweile war ihm bitterkalt und ein Tropfen hielt sich hartnäckig an seiner Nase. So konzentriert war er am Leiden, dass er heftig zusammen zuckte als plötzlich die Tür neben ihm aufgerissen wurde. Es war Toni, sein Bärenführer.
„Komm mit, Junge. Wir gehen mal vor. Ist alles soweit abgeriegelt und sicher jetzt. Kannst du dir das mal anschauen.“
Mit heftig klopfendem Herz stieg er aus und stolperte hinter Polizeihauptmeister Zeller her. Dorthin, wo der Himmel von den Scheinwerfern hell erleuchtet war und Werbebanner an hohen Fahnenmasten flatterten.
Alles war vertreten was die Landespolizei zu bieten hatte: Zwei Hubschrauber kreiste über dem Areal, dutzende Streifenwagen standen an jeder Seite der Halle, in sicherer Entfernung und Spezialeinheiten in ihren schwarzen Overalls bereiteten sich in Seitenstraßen auf den Notzugriff vor, während sich etwas weiter Züge der Bereitschaftspolizei um eine Feldküche scharten und dampfende Suppe aßen, damit sie in wenigen Minuten ihre Kollegen an der Umstellung heraus lösen konnten.
Die Stimmung war angespannt aber ruhig. Viele der Beamten hatten so etwas, oder ähnliches, schon erlebt. Und jeder wusste, wenn überhaupt, dann würden die Spezialeinheiten Kontakt mit den Tätern haben. Wenn überhaupt.
Man lernte als Polizist schnell, abzuwarten, und sich nicht zu viele Sorgen zu machen.
All das saugte der junge Polizeischüler Baran Ergün in sich auf, als er mit seinem Mentor durch die Menge der Kollegen ging.
All die vielen Eindrücke. Er fragte sich, wann er so viel Sicherheit wie seine Kollegen würde ausstrahlen können.
Natürlich war ihm auch klar, dass diese Situation ungewöhnlich war. So viele Geisel. Baran dachte kurz nach: 400 hatte er gehört. Schon komisch. Er konnte sich gar nicht wirklich vorstellen, wie man sowas lösen sollte. Und wie viele Täter da drin waren wusste man auch nicht. Oder doch?
„Toni?“
„Hm?“
„Weißt du, wie viele da drin sind? Täter, meine ich.“
„Hast du den Funk nicht mit gehört?“
„Der Wagen war aus und der Funk…“
„Oh Baran. Dann hättest du das Auto halt an gemacht.“
Toni sah ihn belustigt an und schüttelte denn grinsend den Kopf.
„Du darfst gerne mit denken, Junge. Aber Nein, Sie wissen noch nix. Und die da drin reden auch nicht mit unseren Jungs von der Verhandlungsgruppe.“
Irrte Baran sich, oder machte sein Mentor einen ratlosen Eindruck?
Nein, nicht möglich, dachte er. Ich muss mich irren.
Toni wusste immer alles.
Er sah an der langen Reihe Polizisten entlang und weidete sich an ihrem Anblick. So viele entschlossene Gesichter, Konzentration im Angesicht der Gefahr. Sicherheit durch Training.
Er sah weiter, sah über die Dächer der Autos zur Halle.
Er sah, wie sich das Tor der Halle öffnete.
Er sah aus der Dunkelheit der unerleuchteten Halle Schatten auftauchen, Menschen, Männer die langsam in Laufschritt verfielen. Ein Heulen erfüllte die Luft, ein Jaulen und ein Kreischen.
Lichtreflexe blitzten auf nassen Klingen und bevor jemand richtig verstand was da passierte; Warnungen wurden in den Funk gebrüllt, Waffen gezogen, Vorgesetzten fragende Blicke zugeworfen; waren jene unter ihnen und Wahnsinnige hielten lachend Ernte.

Baran Ergün verlor quasi sofort den Überblick. Er sah ein halbes dutzend schwer gepanzerter Kollegen der Spezialeinheit an ihm vorbei rennen, während sich einer noch versuchte, im vollen Lauf den fast 10kg schweren ballistischen Helm anzuziehen und ein anderer beinahe über die Riemen der hastig zugeschnürten Beinschoner stolperte. Er sah einen Beamten der hastig über das Dach eines Streifenwagens kletterte und dabei seine Dienstwaffe aus der Hand verlor. Er sah überall rennende Menschen, aufgerissene Augen und hörte ihre Schreie.
Dann sah er die erste Verletzte.
Eine Polizistin stolperte an einem Streifenwagen vorbei, auf ihn zu, seltsam still und mit weit offenen Augen. Dann fiel Sie flach auf das Gesicht. Rings um Baran herum herrschte jetzt ein unglaublicher Lärm, und trotzdem konnte er hören, wie ihr Kopf den Asphalt traf. Ihre Arme schrammten in Zeitlupe über den Boden während sich von ihrem Kopf ausgehend eine Pfütze ausbreitete. Ein tiefer Spalt klaffte in ihrem Hinterkopf und die wirren Haare verklebten Haut, Knochen und Hirnmasse während ihr Puls plätschernd erstarb.
Verzweifelt stand er auf. Blut klebte auch an seinen Händen, ohne dass er verstand, wo es her kam.
Er sah sich um und sein Puls rauschte in seinen Ohren. Ihm war schlecht.
Toni war weg.
Nicht weit von ihm ging ein Polizist zu Boden, während ein von Kopf bis Fuß mit Blut besudelter Mann mit einer Machete in der Hand auf ihn einschlug. Dessen Kopf ruckte herum als ihn ein Schuss in den Kopf traf und ihm das Ohr aus dem Kopf gesprengt wurde. Jemand kam angerannt, beugte sich über die beiden Männer, schüttelte den Kopf und lief weiter.
„TONI!“, Baran schrie aus vollem Hals aber sein Schrei ging unter – jeder schrie.
„TONI!“, er lief los, stolperte zwischen den Rennenden und Kämpfenden hindurch. Ein Sanitäter vom Roten Kreuz kauerte in einer Hecke. Eine rote Spur zeigte den letzten, kurzen Weg eines Verwundeten unter ein Auto. Ein Beil lag da, direkt zu seinen Füßen, klebrig von Blut und Haaren. Ein schwer verletzter, aus zahllosen Schnitten blutender Mann mit Tätowierungen im Gesicht bäumte sich unter dem Gewicht von vier Polizisten auf und verbiss sich in einen Arm.
Er taumelte weiter und kam überhaupt nicht auf die Idee, seine Waffe zu ziehen. Er taumelte weiter, und weiter, und dann stand er vor dem weit offenen Tor der Messehalle.
Der Halle, in der 400 Geiseln überraschend still auf ihre Befreiung warteten.
Er trat einen Schritt näher. Die Dunkelheit wich zurück als er ihr näher kam. Sein erster Schritt auf den Teppich der Halle verursachte ein saugendes Geräusch und als sich seine Augen langsam an das Zwielicht der Halle gewöhnt hatten, stockte sein schwerer Atem.
Ein Berg ragte vor ihm auf. Und dieser Berg bestand aus Körpern, verdreht und grausam verstümmelt. Bäche von Blut waren auf dem Boden und gerannen im Teppichboden.
Das Grauen verdichtete sich je länger er diesen Berg anstarrte. Die Temperatur fiel und sein Atem wallte weiß vor ihm und nahm ihm die Sicht. Er schluckte trocken. Die Geräusche drangen nur dumpf zu ihm als es ihm wie ein Dorn in die Eingeweide stach: Das Gefühl beobachtet zu werden.
Der Berg auf verdrehten Leibern begann sich zu bewegen, tote Arme wedelten durch das Dunkel und Köpfe wippten auf und ab.
Der junge Polizeischüler zog seine Waffe – wusste es nicht, spürte es nicht – dann berührte sein eigener, kalter Lauf seine Schläfe und während eine kalte Träne zu Boden fiel schrie er auf. Dann löste sich, mit einem donnernden Krachen, sein Kopf in einem roten Nebel auf.
 

Thyrant

Codexleser
22 Dezember 2014
245
0
6.371
Muss sagen bis jetzt bin ich begeistert! Bereits auf den wenigen Seiten präsentierst du einen tollen Schreibstil. Irgendwie muss ich unweigerlich an Stuart MacBride denken der es ebenfalls fantastisch versteht, Horror und Wahnsinn in den allseits bekannten Alltag zu verpacken. Bitte Bitte hör nicht auf!
 
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Deathwalker

Testspieler
30 September 2013
122
0
5.711
Also da muss ich Thyrant beipflichten gut geschrieben das Grauen das Erlebt wird ist gut rüber gebracht und ich schließe mich dem Aufruf an: Bitte Bitte Hör nicht auf!

Die Idee gefällt mir habe auch schon mal überlegt was wäre wenn ....hier mal ne Kompanie Space Marines eine Sturmlandung in Washington durchführt wäre bestimmt sehr interessant so während der Präsidentschaftswahlen :cool:
 

Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
24
0
4.756
Kapitel 2

„Lass den Scheiss! Franzi, ernsthaft!“
„Du bist nicht unsere Mutter, Toni!“, Franziska überlegt kurz,
„Und selbst wenn du es wärst würde es mich nicht interessieren!“
„Nenn mich nicht so...“, Anton seufzte.
„Ich bin dein großer Bruder, also hör mir einmal zu. Hör mir einfach zu und glaub mir, dass du das Haus nicht verlassen solltest. Warte...“
„Du willst mir also verbieten mich mit meinen Freunden zu treffen!? Spinnst du?“
Anton hatte Schwierigkeiten ruhig zu bleiben. Er war echt zu alt dafür, Babysitter für seine Schwester zu spielen. Aber er versuchte es noch einmal mehr.
„Warte. Einfach. Ab. Bis. Sich. Alles. Wieder. Beruhigt. Hat!
Letzte Woche haben in jeder großen Stadt täglich Clubs gebrannt...!“
„Scheiss drauf! Die Terroristen wollen doch nur, dass wir uns verstecken!“
Franzi, Antons jüngere Schwester, warf ihm einen letzten vernichtenden Blick zu, drehte sich dann ruckartig um und ging. Die langen blonden Haare wippten auf ihren Schultern und ihr Mantel flatterte.

Anton stand auf dem Gehweg, den Arm leicht ausgestreckt, und sah seiner Schwester nach, während sich ihre füllige Gestalt durch die Passanten drängte. Er blickte sich finster um und begegnete vielen Blicken – schnell niedergeschlagen als er in die jeweilige Richtung schaute.
Vermutlich dachten viele wie sie. Terroristen! Anton glaubte nicht wirklich daran, dass die Erklärung so einfach war.
Sehr ärgerlich. Wirklich.
Er wollte sich heute einen entspannten Abend machen, sich vor den Fernseher klemmen und ein wenig Nachrichten schauen bevor er zu etwas lockerer Unterhaltung, einem guten Film oder so, übergegangen wäre.
Und was jetzt? Er wollte es nicht wirklich eingestehen, aber natürlich machte er sich Sorgen um seine Schwester.
Er sorgte sich immer um seine Familie!
Und genau aus diesem Grund würde er heute Nacht am „Sinners“ sein. Das war Franzis Stammdisko. Er brauchte sie nicht danach fragen – sie würde da sein.
Er wählte mit seinem Handy Anna's Nummer. Wenn er sich schon die Nacht um die Ohren schlagen musste, dann würde Sie sich sicher freuen, mit zu gehen.
Sie hatten eh viel zu wenig Zeit miteinander.
Was sollte schon passieren? Er war einfach paranoid.
Schlimme Dinge passierten doch immer nur anderen.
Sie ging nicht dran.
Oh Mann, Frau!

Es war schon dunkel als er vor seiner Wohnung hielt. Der Winter hatte seine Versprechen gehalten und, so wie man es aus den vergangenen Jahren gewohnt war, Regen und Nebel gebracht.
Herrlich! Die frische, kalte, klare Luft auf dem Gesicht!
Beschwingt sprang Anton die Stufen der Treppe in den zweiten Stock hinauf und schloss die Tür auf. Er merkte dass er wieder trainiert hatte. Und auch wenn es nur ein Training gewesen war, wie er sich beschämt eingestehen musste, fühlte er sich gesünder, beweglicher, fitter. Jetzt wo sein Muskelkater abgeklungen war.
Ein tolles Gefühl, einen gesunden Körper zu haben!
Spielerisch schlug er ein paar Geraden und Haken in die Dunkelheit des Flurs, dann schaltete er das Licht ein und befreite sich von seinen nassen Sachen.
Anna war im Wohnzimmer, das hörte er am Geklapper und der leisen Musik. Rasch streifte er seine Schuhe ab und öffnete die Wohnzimmertür.
Anna sah ihn missmutig an, als er hinein ging, und widmete sich dann wieder dem Geschirr.
Es stapelte sich mehrere Schichten hoch neben der Spüle. Die Spülmaschine lief. Anton hatte ein schlechtes Gewissen.
„Hi, Kleine.“, sagte er vorsichtig.
„Hi.“
Der Ton war nicht gerade euphorisch also tat Anton das Beste, was er seiner Meinung nach tun konnte.
Nachdem sie beide gute zwanzig Minuten schweigen neben einander her gearbeitet hatten – das Geschirr war abgetrocknet und verräumt, die Arbeitsflächen gewischt und der Esstisch aufgeräumt und sauber – sah Anna ihn endlich direkt an. Sie seufzte, wenn auch mit einem Lächeln.
„Das war soooo was von nötig! Ich kann einfach auf Dauer nicht in so einem Saustall leben.“
Anton grinste schief und entschuldigend.
„Ja, ich weiß ja. Hast ja mitbekommen, wie es drunter und drüber ging die letzten Tage. Ich war einfach zu platt um mich drum zu kümmern.“
Er sah ihr in die Augen und schob ein „Sorry“ hinterher, als er sich zu ihr beugte und ihr einen leichten Kuss gab.
„Ja, ich weiß.“, Anna zog ihn an sich und er spürte, wie sie sich in seinen Armen kurz versteifte, um sich dann langsam zu entspannen.
Er hatte mit ihr schon darüber gesprochen - das tat sie nämlich jedes Mal, wenn er sie in den Arm nahm - aber sie hatte es ihm nicht erklären können.
Sie hatte es ihm nicht direkt ins Gesicht gesagt, aber aus irgendeinem Grund fühlte sie sich unwohl und musste das Gefühl ganz bewusst abschütteln. Es wunderte Anton, aber ein Problem für ihre Beziehung war es nicht. Er hatte sich schon gefragt, ob es in ihrer Vergangenheit etwas gab, das sie ihm nicht gesagt hatte aber er hatte das Thema nie weiter vertieft.
Sie löste sich nach ein paar Augenblicken von ihm und sah ihm auf eine Weise in die Augen, dass er schon ahnen konnte was jetzt kam. Keine Bitte – eine Forderung.
„Ich war schon seit Wochen nicht mehr feiern, Babe! Was hältst du davon, wenn wir heute Abend weg gehen?“
Dieser Blick. Ein wenig trotzig. Ein wenig flehend.
„Alles klar. Ich besorg Limetten und Crushed Ice und mache Caipi. Und um elf heute Abend geht’s in die Stadt zum Sinners.“
Er wusste genau, dass sein Einlenken zu schnell für ihren Geschmack war.
Grinsend beobachtete er, wie sich ihre Augen verengten. Sie musterte ihn und suchte nach dem Haken.
„Du meinst das ernst? Ich muss dich nicht überreden?“, fragte sie misstrauisch.
„Najaaaa..“, er lies seinen Blick scheinbar nachdenklich über ihren Körper wandern. „Wenn du drauf bestehst, kannst du mich auch gerne überreden, Kleine.“
Er weiteten sich ihre Augen empört, doch im nächsten Moment strahlte ein Lachen über ihr Gesicht. Sie macht einen kleinen Luftsprung vor Freude. Ihre schönen braunen Haare fielen ihr dabei über die Schultern und ins Gesicht und sie strich sie mit einem Grinsen zur Seite.
„Wenn das so ist, Cowboy, dann hol du mal das Eis und ich überlege mir ein paar … Argumente.“

Es war fast zwölf Uhr als sie aus der Straßenbahn stiegen. Anna sah wundervoll aus, fand Anton. Sie hatte eine enge schwarze Hose, ein lockeres helles Top und eine kurze Jeansjacke an. Viel zu kalt für diese Jahreszeit und Anton hatte ihr auf dem Weg zum Club seine Jacke geben müssen.
Als sie ankamen waren gerade ein paar finstere Typen mit schwarzen Bomberjacken dabei, die Türsteher zu begrüßen. Ein paar von ihnen sahen Anton, nickten ihm kurz zu und verschwanden dann im Club. Natürlich hatten sie keinen Eintritt bezahlt.
Anna schaute ihnen finster hinterher, sagte aber nichts. Sie hatte es nie gut geheißen, dass Anton engere Kontakte mit den „Black Wrath“ gepflegt hatte und ihm angedroht, sollte er versuchen sich bei diesem 'Verein', wie sie es abfällig nannte, anzubiedern, wäre das das Aus für ihre Beziehung.
Auch Anton sah ihnen nach, hing aber anderen Gedanken nach. Er kannte viele der Mitglieder mit Namen. Das stimmte. Aber warum sollte er jetzt noch Mitglied werden wollen? Er war jetzt Journalist und die Zeit, als er im Rotlichtmilieu an der Tür gearbeitet hatte war lange vorbei und schon fast vergessen. Damals hätte es ihm sehr genutzt Full Member der „Black Wrath“ zu sein – der Gruppe, die die Hälfte der Türsteher in den Puffs und Stripschuppen stellte und kontrollierte. Es hätte ihm Ärger erspart, Respekt eingebracht und ihm Unterstützung versprochen, falls er einmal richtig in der Scheisse gesessen hätte. Aber jetzt? Jetzt konnte es nur noch seinen Ruf schädigen denn die meisten Aktivitäten, zu denen die „Black Wrath“ ihre Member motivierte waren eher zwielichtiger Natur.
Er musste grinsen. Wie sehr sich die Dinge ändern konnten. Die Ansichten und die Notwendigkeiten.
„Denk garnicht dran!“, zischte Anna und Antons Grinsen gefror ihm auf den Lippen. Er drehte sich zu ihr um.
„Das Thema ist durch, Anna. Ehrlich und versprochen!“
„Mhm!“
„Antoin!“, grölte eine Stimme dazwischen und Anton stutzte: Was machte Seymon hier?
Als er sich umdrehte, sah er gerade noch eine massige, dunkelhäutige Gestalt die seinen Arm packte. Dann presst jemand alle Luft aus Antons Lungen, als dieser Jemand viele dutzend Kilo Muskelmasse zu einer schraubstockartigen Umarmung verdichtete. Anton wurde kurz schwarz vor Augen und mehrere Gelenke knackten.
„Seymon, ach du Scheisse.“, krächzte er. Sein Nacken schrie vor Schmerzen und seine Arme fühlten sich taub und geschwollen als er endlich abgesetzt wurde.
Ihm gegenüber stand ein hünenhafter, schwarzer Mann. Zwei, 120 Kilogramm schwere, Meter grinsten ihn an. Ein geblecktes Raubtiermaul in einem kaum sichtbaren Gesicht.
„Schön disch zu sähen, Antoin! Mann! Ist immer gutt, gute Leute auf där Straße zu 'aben!“, Seymon freute sich wie ein Schuljunge und auch Anton musste grinsen. Doch Seymon war schon einen Schritt weiter.
„Schönne Anna!“, mit einem großen Schritt zog er Anna in seine Arme. Anna quietschte kurz auf, dann war sie verschwunden.
„Seymon! Alter! Lange nicht gesehen!“
Seymon drehte sich zu ihm um während Anna wieder ins Freie taumelte.
Sie wirkte ein wenig desorientiert.
„Du schläfst ja in die Nacht, Antoin! Keine Wunder, also!“
Der Hüne verzog ein wenig schmollend das Gesicht. Seymon war schon immer ein viel zu gutherziger Kerl in einem viel zu mächtigen Körper gewesen. Zum Glück hatte er ein dermaßen kindliches Gemüt, dass es ihm nichts aus machte ein paar böse Jungen, böse zu verhauen. Man musste ihm nur sagen, wer die bösen Jungs waren und hoffen, dass er es auch richtig verstand.
Anton und er hatten zusammen für einige Monate im „Paradiso“ gearbeitet, als Anton dort Cheftürsteher gewesen war und sie hatten damals auch viel zusammen trainiert. Gute Zeiten, dachte Anton. Echt gute Zeiten.
„Aber was machst du hier, Junge. Warum bist du nicht bei Andi und passt weiter aufs Paradiso auf?!“
„Zu viele Strähss, Antoin!“, Seymon rollte mit den Augen.
„War bässer als du noch bist gewese' dort! Nix mehr gut Arbeit.“, bei diesen Worten rollte er seinen dunklen Pullover ein wenig hoch und entblößte eine lange Narbe an seinem Bauch.
Anton sog zischend die Luft ein. Messer waren oft im Spiel, gerade wenn man mit Ausländern zu tun hatte und die waren schon immer gerne und viel in die Puffs gegangen. Anton selbst hatte nie echten Stress gehabt. Die Leute hatten ihn gemieden, auch wenn sie auf Ärger und eine Schlägerei aus waren aber früher oder später erwischte es jeden Mal.
„Isch 'abe jetzt neue Job 'ier.“, Seymon grinste wieder. „Nur Kindär, Antoin. Easypeasy.“
Anton nickte abwesend. Dann boxte er seinem alten Freund auf die Brust – wofür er sich ein wenig strecken musste.
„Ich ruf dich mal wieder an, Dicker. Ehrlich! Aber ich muss jetzt mit der Lady hier ein wenig Feiern. Versprochen ist versprochen! Und du weißt, man muss gut mit den Ladys umgehen!“
Seymon grinste, wie immer.
„Oh, ja! Viele Spasss, Antoin.“
Er wuschelte Anna durch ihre perfekte Frisur und lachte laut auf, als sie versuchte ihn zu schlagen. Anton streckte ihm einen Zwanziger hin und nickte in Richtung des Eingangs, aber Seymon winkte ab.
„Nix Gäld, Antoin. Viel Spasss!“.
 

Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
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Bitte Bitte hör nicht auf!

Danke! :) Das ist Balsam für die Seele :)
Immerhin ist das die erste Geschichte die ich überhaupt mal veröffentliche :blushing:

Die Idee gefällt mir habe auch schon mal überlegt was wäre wenn ....

Ja, ich finde auch, dass das faszinierend wäre. Oder leicht erschreckend .. vielleicht sogar sehr erschreckend :D
Ob es meine Protagonisten noch in die USA verschlägt kann ich noch nicht so richtig sagen. In Deutschland kenne ich mich einfach am Besten aus :p
Aber du hast Recht, die Vorstellung hat was faszinierendes; aber der Grund für eine solche Landung muss halt auch gegeben sein, weil einfach nur die imperiale Wahrheit bringen wäre witzlos - unser Militär hätte dem kaum etwas entgegen zu setzen.
 
Zuletzt bearbeitet:

Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
24
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Kapitel 2 / Teil 2

Anton war wirklich lange nicht mehr anständig feiern gewesen. Die Anspannung der letzten Wochen und Monate, sich immer wieder beweisen zu müssen, hatten sehr an ihm gezehrt. Man hielt sich das selten vor Augen, aber je intellektueller das eigene Umfeld war, desto anspruchsvoller war es, Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig selbstbewusst als auch hörig zu erscheinen.
Das alles konnte er jetzt hinter sich lassen. Er wusste natürlich, dass die Erleichterung nur von kurzer Dauer sein würde, aber: Besser als nichts.
Anna war ein Traum und tanzte ausgelassen und sah einfach fabelhaft aus.
Auch ihr tat es gut, mal wieder unterwegs zu sein.
Und seinen alten Freund Seymon mal wieder gesehen zu haben – sie sollten unbedingt mal zusammen einen trinken gehen! - erfüllte ihn mit dem zufriedenen Gefühl zuhause zu sein. So lange war das Nachtleben sein Alltag gewesen. Und der hünenhafte Franzose afrikanischer Abstammung, mit dem Gemüt eines Kindes und der Kraft eines Ochsen, war die ganze Zeit wie ein Bruder für ihn gewesen. Die seltsame Unruhe, die viele Meschen zu empfinden schienen, wenn sie in Antons Nähe waren, war für Seymon nie ein Thema gewesen. Im Gegenteil entwickelte er nur in Antons Nähe diese glückliche Ausgelassenheit, die Anton gerade fast einen Nackenwirbel gekostet hätte.
Zufrieden atmete Anton jetzt die schwere, süßliche Luft des Clubs ein.
Sie hatten Franziska ziemlich schnell gefunden. Sie war zwar etwas reserviert gewesen, ob des Streites, den sie und Anton gehabt hatten, aber das hatte sich bald gelegt.
Gerade legten sie und Anna einen albern-gut gelaunten Tanz auf das Parkett, als sich plötzlich etwas veränderte.
Anton selbst spürte nichts Besonderes, aber er las es in der Haltung und den Blicken der übrigen Gäste. Er hatte das schon oft gesehen, wenn Ärger in der Luft lag und die Leute nur auf eine Gelegenheit warteten, auf einander los zu gehen. Aber bei diesen Situationen hatte es Gründe gegeben. Kleine, haarsträubend unnötige Gründe. Aber nichts desto trotz Anlässe, die für einen Menschen mit zu viel Kraft und Ego ausreichten, ein Messer zu ziehen.
Jetzt war es anders. Plötzlich spannten sich Leute an, oder zuckten verängstigt zurück, und Anton kniff verwirrt die Augen zusammen. Von einem Lidschlag auf den anderen hatte sich der Club in eine Arena verwandelt und egal wohin Anton blickte, überall sah er diese gehetzten Augen jagender Menschen.
Was war da los?
Ben Keller, ein breit gebauter Anabolika-Junkie war der erste, der loslegte.
Er gehörte zur Gruppe der „Black Wrath“ Jungs, die Anton schon am Eingang gesehen hatte und hatte, still und weit von Anton entfernt, in einer Ecke gestanden und die Umstehenden gemustert. Sein zufrieden überheblicher Blick war gerade noch über heranwachsende junge Frauen geschweift. Anton warf den „Black Wrath“ gerade einen misstrauischen Blick zu, denn diese waren vermutlich mit Abstand die gefährlichsten Leute im Raum, als er sah wie Ben ins Leere starrte. Seine Brust hob und senkte sich hektisch und seine Stirn begann zu glänzen.
Dessen Kumpel Ahmed, ein untersetzter Südländer mit aufgepumptem Bizeps, der sich ihm gegenüber gerade mit einem überschminkten Mädchen unterhalten hatte schüttelte verwirrt den Kopf und stricht sich mit der Hand über das Gesicht.
Dann traf Bens Faust die junge Frau. Hart. Der Ring den er trug riss ihr die Hälfte des Gesichts auf und die Wucht des Schlages ließ sie zurückprallen, als wäre sie angefahren worden. Sie ging zu Boden wo sie aufkam. Blut spritzte über die Leute. Anton traute seinen Augen nicht.
Ein junger Mann, unscheinbar und schüchtern, der direkt in ihrem Weg gestanden hatte bekam einen großen Spritzer Blut ins Gesicht. Er zuckte nicht einmal zusammen.
Anton konnte sehen, wie sich die Augen des Jungen weiteten und ein glasiger Blick in seine Augen trat. Dann hob er das Bein trat er mit aller Kraft nach unten, vermutlich auf das unglückliche Mädchen und im nächsten Moment hatte er schon seine Bierflasche im Gesicht eines dicken Jungen zerschmettert. Das Klatschen des Schlages war sogar durch die Musik zu hören.
Anton starrte. Schockiert vom Irrsinn am anderen Ende des Saales.
Er sah, wie sich immer mehr Leute, aufgepumpte Freaks genauso wie unscheinbare Studenten, in das Gewühl stürzten, es immer mehr ausweiteten als sie wahllos Umstehende attackierten. Er sah Blut nass über die Wand spritzen als ein weiteres Mitglied der „Black Wrath“ den Kopf eines älteren Mannes mit Nackentattoo so brutal gegen den Putz schlug, dass sich der Kopf verformte.
Binnen Augenblicken war der gesamte Saal ein kreischendes Chaos. Nicht jeder war von diesem Wahnsinn betroffen. Anton sah schreckgeweitete Blicke von Menschen, die sich zusammen kauerten oder sich wie geschlagene Tiere in den Ecken zusammen drängten.
Er hörte einen Schrei hinter sich und sah einen wilden Tumult. Im Zentrum stand ein junger Türke, das weiße Hemd rot verschmiert.
Gerade drehte sich einer seiner Freunde langsam im Kreis und versprühte sein Blut auf die Umstehenden, das aus einer klaffenden Halswunde spritzte. Der andere war wieder in Bewegung. Ruckartig riss er seinen Arm auf und ab während er sich langsam durch seine Gruppe bewegte. Kurz sah Anton Stahl aufblitzen und Blut färbte alles im Umkreis des Messerstechers dunkel. Stoff klaffte auf und Fleisch teilte sich während der Mann in ein wahnsinniges Lachen verfiel. Im nächsten Moment zogen andere aus seiner Gruppe Messer aus ihren Gürtelschnallen und Unterhosen und begannen systematisch alles anzugreifen, was in ihrer Reichweite war.
Eine junge Frau, dicklich und alles andere als hübsch rannte mit gefletschten Zähnen in diese Schlachterei. Sie biss einem der jungen Türken in den Nacken, riss mit einer heftigen Bewegung des Kopfes ein großes Stück Muskel heraus und zerrte ihn an seinen Haaren zu Boden, wo sie außer Sicht gerieten.
Anton sah sich gehetzt nach Anna und Franzi um. Sie standen nicht weit weg. Wenige Schritte von ihm entfernt hatten sie sich erschreckt in die Arme genommen.
Er registrierte, dass alle Gefahrenstellen weit von ihnen entfernt waren. Schnell und grob drängte er sich zu Franzi und Anna durch. Bier und andere Getränke spritzen durch die Luft als die Leute panisch versuchten, den Innenraum der Diskothek zu verlassen und Anton klebten die Haare im Gesicht, als er die beiden Frauen endlich erreichte.
„Raus hier!“, schrie er über den Lärm und hoffte, dass sie ihn verstanden.
Er deutete zur Sicherheit auf die Treppe.
„Raus! Los! Nach oben!“
Die beiden Mädchen starrten ihn erschrocken an, dann zur Treppe. Energisch schob Anton sie voran, durch die Leute die zu zögern schienen als er näher kam.
Dann stürmte ein Koloss von einem Mann durch den Raum. Blut verschmierte die Gestalt und Männer und Frauen wurden von seinem Ansturm beiseite gefegt und fielen über einander. Es war Ben Keller, einen Ausdruck idiotischer Freude auf dem Gesicht. Sein Kiefer hing ihm schief herab, vermutlich gebrochen und eines seiner Augen lag zu tief in seiner Höhle. Voller Rage brüllte er als er sich der Treppe näherte und Anton hörte ihn schreien.
„Hiergeblieben! Opfer! Blut für den …“
Aber je näher Keller kam, desto weniger war er zu verstehen. Seine Schritte wurden ungezielt. Langsam. Er schob sich durch die Masse und blieb vor der Treppe stehen, nur wenige Meter von Anton entfernt.
Anton war, als würden sich seine Schultern entspannen. Als würde sich sein Blick klären. Als würde er nicht begreifen was er sah und sein kleines Gehirn aus einem Rausch erwachen.
Dann traf ihn Antons Rechte seitlich am ohnehin gebrochenen Kiefer und riss ihn von den Beinen.
Anton sah ihm nicht beim Fallen zu, sondern packte Franzi grob am Arm, während er Anna vor sich schob. Auf diese Weise erreichten sie den oberen Treppenabsatz und taumelten ins Freie.
Zwei Türsteher stürzten an ihnen vorbei nach unten in den Kellerraum, Schlagring und Stahlrohr in den Händen. Auf den Gesichtern eine Mischung aus Verwirrung und blanker Tobsucht. Als Anton sich an ihnen vorbei drängte blieben beide stehen. Sie sahen sich an, dann Anton.
„Geht da nicht runter!“, rief er im Laufen: „Ruft die Polizei!“.
„Aber was...?“, versuchte der eine zu fragen aber Anton war schon an ihm vorbei.
Er warf einen Blick über seine Schulter. Die beiden standen da, ratlos. Dann verkrampfte sich der Rechte, und im nächsten Augenblick zerschmetterte er seinem Freund die Schulter. Kreischend fiel dieser die Treppe hinab, und sein Freund mit dem Stahlrohr stürzte ihm nach.
Der DJ machte derweil seinen ganz eigenen Amok-Trip durch. Die Musik kreischte und dröhnte von unten herauf. Der Bass ließ die Wände beben. Anton kämpfte mit der Übelkeit als die Schwingungen seinen Körper schüttelten. Schritt für Schritt schob er sich und die Mädchen die Treppe hinauf. Dann war es geschafft. Er stieß die Tür auf und taumelte ins Freie, dann brach auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster zusammen.

Anna's Schluchzen weckte ihn und er spürte den rauen Stein an seiner Wange. Er schmeckte Blut und riss sich zusammen. Rappelte sich auf. Blinzelte die dunklen Schleier vor seinen Augen fort.
Seymon saß vor ihm, auf den Knien. Anton konnte ihn nur von hinten, seinen Rücken und die breiten Schultern sehen. Konnte sehen, wie sie zuckten. Der dunkle Kopf pendelte hilflos, haltlos.
Anton stemmte sich auf ein Knie. Das Pflaster glänzte dunkel. Anton sah eine männliche Gestalt in einer riesigen Blutlache an der Wand liegen – der Kopf nicht mehr als haariger Brei und die Glieder verdreht. Aus den Augenwinkeln sah er rennende Gestalten, vereinzelt und hektisch im Licht der Straßenlampen. Er hörte Sirenen. Hörte Schreie in der Ferne. Lichter drangen dumpf und gelb durch den Nebel, der sich gebildet hatte. Der Nebel dämpfte auch die Geräusche; Das Lauteste war Seymons Schluchzen und Anton wankte zu ihm und versuchte die Sicherheit seiner Schritte wieder zu finden.
Anna's leise Stimme die Franzi fragte, ob sie verletzt sei.
Anton erreichte die massige Gestalt von seinem Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. Unkontrolliert zuckten die Muskeln unter seinen Fingern und Anton sah einen Arm, zierlich und blass, der in Seymons riesigen Händen lag. Eine dünne silberne Kette lag um das Handgelenk und der Oberarm endete in Fleischfetzen und dem Kopf des Oberarmknochens.
Er blickte auf. Eine einsame Gestalt lag etliche Meter weiter. Nein, sie lag nicht. Sie schob sich voran. Mit den Füßen scharrend schob sie sich über das Pflaster.
Während Anton die Gestalt beobachtete rutschte ihr Fuß von einer Kante am Boden ab. Ihr Kopf zuckte zittrig herum. Sie fixierte Seymon, voller Panik und blankem Horror, dann sank ihr Kopf auf das Pflaster uns sie lag still. Es war ein junges Mädchen, sah er. Vermutlich keine 17 Jahre alt – sicher der Grund, weshalb sie hier draußen und nicht unten in der Disko war. Kein Umstand der ihr Glück gebracht hatte. Ihr blondiertes Haar lag in nassen Strähnen über ihrem Rücken. Ihr Rücken, der gerade aufhörte, sich mit der Atmung zu bewegen.
Anton war zu leer um zu denken. Unfähig zu verstehen. Er starrte auf dieses Bild vor sich mit leerem Blick. Auch, als Anna und Franzi eng an einander geklammert zu ihm kamen und er ihr Entsetzen hören konnte. Hören konnte, wie eine von ihnen zu hyperventilieren begann. Wie sich ihr Atmen mit jedem Atemzug mehr in ein schrilles Greinen verwandelte.
Er erstarrte über diesem Grauen und die Welt hielt gleichsam den Atem an als sein Blick auf einen achtstrahligen Stern fiel, den jemand ungeschickt an die Wand geschmiert hatte.

Erst die Sirene riss ihn aus seiner Erstarrung. Das Heulen des Martinshorns wurde lauter und immer lauter, dann bog ein Streifenwagen unter Vollgas um die Ecke. Quietschend rutschten die Reifen über den Boden als der Wagen zum Stillstand kam. Ein angststarres Gesicht blinzelte ihn durch die nasse Scheibe hindurch an, die Augen zuckten von einer Seite zur anderen, registrierten die beiden liegenden Körper. Mit einem sichtlichen Ruck nahm sich der Polizist zusammen. Der Motor erstarb und die Tür des Wagens wurde aufgedrückt. Der Mann der ausstieg war vermutlich ein paar Jahre jünger als Anton selbst. Zitternd, aber beherrscht zog er die Waffe aus dem Holster an seiner Seite.
Sich immer wieder umsehend ging der Beamte an den Kofferraum. Er öffnete ihn und ein furchteinflößendes Bellen hallte über den Platz.
Er sah noch einmal zu ihnen, seine Augen bohrten sich in die von Anton, schweiften ab über den knienden Seymon, Anna und Franzi.
Er zog an dem Bügel, der die Box des Hundekäfigs verriegelte. Es gab einen hellen, metallischen Schlag als die Tür aufgestoßen wurde. Dann gruben sich scharfe Fänge in seinen Bauch und sie konnte nur kurz sein überraschtes, verwirrtes Gesicht sehen bevor er zu Boden ging.
Anton sprang auf und rannte los. Er wusste gar nicht was er tat, da stand er schon über den Kämpfenden. Der Hund knurrte und entblößte seine Reißer, ließ jedoch nicht von seiner Beute ab.
Gequält schrie der Uniformierte auf als der Hund den Kopf schüttelte. Schon blutete seine Uniform durch. Anton griff zu, griff nach der Kehle des Hundes. Ein unheimliches, rotes Glühen, das unstet flackerte, erfüllte die Augen des Tieres aber es winselte gequält auf als Anton es berührte. Mit einem Jaulen lies es von seiner Beute ab. Um sich schnappend, geifernd und langsam zog es sich rückwärts gehend zurück, die Augen starr auf Anton gerichtet. Eine unheilige Intelligenz brannte in diesem Blick und Anton lief es kalt den Rücken hinunter.
Auf und ab ging die Bestie, sabbernd und hechelnd, während Anton seinen Blick nicht von ihr lösen konnte. Es war ihm, als würde sie ihn spöttisch angrinsen.
Aber es war ein Hund! Verdammt! Er war da um den Menschen zu dienen oder eingeschläfert zu werden.
Weiter lief die Bestie. Immer auf und ab während sie ihn taxiert als würde sie auf eine Unachtsamkeit warten.
Anton bemerkte, dass der Hund langsam aber sicher näher an Anna und Franzi heran kam. Die beiden Frauen waren neben Seymon auf dem Pflasterboden zusammen gesunken und starrten das seltsame Tier an als es ihnen langsam aber sicher immer näher kam.
„Anton?“, wimmerte Anna.
Er stemmte sich hoch und schüttelte die Angst vor einem Biss dieser Kreatur ab. Er musste Anna helfen! Was war da schon ein Hundebiss?
So ganz glaubte er sich diese Verharmlosung selbst nicht, als er einen Schritt auf das Tier zu machte. Aber es wich zurück!
Er trat noch einen Schritt näher und wieder ging es rückwärts. Es begann zu knurren, heiser und schrecklich. Er hielt an und das Tier betrachtete ihn starr.
Es hörte auf zu Knurren und Anton sah, dass es begann seinen Mund zu bewegen. Fast menschlich sah es aus, aber Anton hörte keinen Ton.
Ungläubig sah er zu. Dann drehte sich die Bestie um und duckte sich für einen Satz in die Schatten.
Ein Schuss peitschte in den Hund, der zusammen zuckte, hallte an den Wänden nach und verlor sich in den Gassen. Der Polizist hatte sich auf einen Arm gestützt. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er lag in einer Pfütze seines eigenen Blutes.
Der Hund reagierte im Bruchteil eines Wimpernschlags. Die Bewegung war kaum zu sehen, als er herum fuhr und wie ein Schatten an Anton vorbei raste.
Anton erhaschte nur aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Kreatur. Die Lefzen waren weit zurückgezogen und die Zähne glänzten gelb. Ein Rachedämon aus einer fremden Welt. Dann zuckte das Ding zusammen. Zuckte wie von einem gewaltigen Schlag. Die Fratze Anton zugewandt schrie das Wesen einen fast menschlichen Schrei heraus und dann war die Bestie nur noch ein Hund. Ein Hund der sich im Kreise drehte, nach einem blutigen Loch in seiner Seite schnappte und dann zu Boden fiel. Kurz war ein jämmerliches Winseln das einzige Geräusch auf dem Platz vor der Diskothek „Sinners“ - untermalt vom psychotischen Wummern einer Bassbox unter der Erde.
 

Thyrant

Codexleser
22 Dezember 2014
245
0
6.371
Mach es doch lieber wie Thyrant und bring lieber an einem festen Tag einein Teil.
Hat sich für mich auf bewährt. Wer in Xenojäger I guckt sieht, dass ich auch erst damit angefangen hab sehr viel mehr sehr viel schneller zu posten und dann zum wöchentlichen Rhythmus übergegangen bin. Denn unter Druck zu schreiben war zumindest bei mir eher kreativitätshemmend.
 

Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
24
0
4.756
Danke für die Tipps :) Ich schaue mal, wie ich das für mich mache, aber noch zehre ich ja noch von fertigen Teilen der Geschichte die ich bloß noch querlesen muss um grobe Schnitzer auszubügeln. Die weiteren, neueren Kapitel kosten mehr Zeit. Mal sehen welcher Rhythmus für mich am Ende der Beste sein wird.

- - - Aktualisiert - - -

Als er zu Anna und Franzi hinüber ging konnte er sehen, dass sie am ganzen Körper zitterten. Sie hielten sich eng umschlungen und hatten die Gesichter verborgen, als wollten sie damit die letzten Minuten ungeschehen machen. Er hockte sich neben Anna und legte eine Hand auf ihren Rücken. Sie zuckte zusammen, versuchte sich nunmehr in den Armen von Franzi zu vergraben, aber Anton redete behutsam auf sie ein und befreite sie vorsichtig aus der gegenseitigen Umklammerung. Franzi war nicht besser dran, sah er und er umfing beide mit seinen Armen. Er hielt sie bis das Zittern langsam nachlies.
„Was hat der Hund gemeint, Anton?“, hörte er das heisere Flüstern von Franzi. Kaum zu verstehen durch den Rotz und die vom Weinen raue Kehle. „Warum hat er gesprochen? Und was hat er gemeint?“
Anton zögerte. Er war auch eingeschüchtert und schockiert von den Ereignissen, aber es machte ihn noch hilfloser zu sehen, wie schutzlos die beiden Frauen waren. Als seien sie der Realität nicht gewachsen. Eine verstörende Vorstellung.
Er wollte ihnen helfen, wollte einfühlsam sein – musste aber erst einmal sein Unverständnis eingestehen. Und daher zögerte er.
„Anton? Hörst du?“, ihre Stimme war kaum zu verstehen.
„Er kann doch nicht gesprochen habe!“, Sie schluchzte und zitterte wieder.
„Was soll das bedeuten? Wer sind die Diener?“
Anton schüttelte ratlos den Kopf während er sich aufmerksam umsah. Irgendwo zu seiner Rechten hörte er einen Mann etwas unverständliches Brüllen und Sirenen hallten durch die Nacht.
„Schwesterchen“, er sprach sanft aber drängend mit ihr,
„Das war gerade sehr schlimm. Wir schauen jetzt, dass wir hier weg kommen. Ich passe auf euch auf!“
Anna regte sich in seinen Armen, befreite ihren Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren rot und ihr Make up verlaufen. Es lief Anton kalt den Rücken herunter, als sie ihn ebenso leise fragte:
„Der Hund hat mit dir geredet, Anton! Warum?“
„Ich weiß nicht wovon ihr redet.“, er war schockiert. Hatten beide den Verstand verloren? Standen sie unter Schock?! Sie schienen wie in einer eigenen Welt gefangen zu sein und phantasierten.
Er hatte nie gehört, dass der Schock so etwas machen konnte. Sachte schüttelte er den Kopf, um es dann anders zu versuchen.
„Was hat er denn gesagt? Ich habe ihn wirklich nicht verstanden.“.
Spiel erst einmal mit, dachte er sich. Für alles andere ist später noch Zeit.
Hinter sich hörte er ein Stöhnen, das ihn an den verletzten Polizisten erinnerte. Noch etwas um das er sich dringend kümmern musste!
„Er hat gesagt: 'Es wird dich nicht schützen!' Das hat er gesagt. In meinem Kopf. Und seine Stimme war ….“, sie schüttelte sich. Tränen brannten in ihren Augen und ihr blieb der Atem weg, als sie sich den Moment ins Gedächtnis rief, „... schrecklich.“, wisperte sie.
Alles in ihr schien gegen diesen Moment zu rebellieren.
Es war Franzi, die sich fasste und den Faden aufnahm. Mit den Haaren wirr vor ihrem Gesicht sah sie gespenstisch aus als sie flüsterte:
„Unsichtbarer! Ich spüre dich! Wir werden deinen… Kadaver bekommen und dann... werden wir mit deinen... Knochen spielen.“, seine Schwester schluckte heftig, „...die Diener werden dich töten... und die, die du liebst,... und dann werden sie... uns deine Hülle bringen.“, ihre Stimme war jetzt flach. Emotionslos. Tot. Sie sah ihn ohne eine Regung an und Anton war sich nicht sicher, ob sie etwas aus ihrer Erinnerung wiederholt, oder ihn gerade angesprochen hatte.
Er saß da und wusste nicht, was er denken sollte, während sich eine Gänsehaut über seinen Armen ausbreitete. Beide Mädchen weinten jetzt leise, aber nicht mehr hysterisch, und er befreite sich aus ihren Armen und überließ sie für das Erste sich selbst.
Er stand aus der Hocke auf, dann ging er unsicher hinüber zu dem verletzten Polizisten. Dieser hatte sich zur Fahrertür seines Streifenwagens geschleppt und war dort erschöpft in sich zusammen gesunken. Kurz dachte Anton, dass er gestorben sei, aber ein flacher, rauer Atemzug bewies ihm das Gegenteil.
Er kniete sich hin und seine Hände verharrten als er zögerte.
Komm schon! Polizist hin oder her, dachte er. Allen Vorbehalten und Ängsten zum Trotz, ist das ein normaler Mensch. Und Angst, Berührungsängste oder was auch immer spielen keine Rolle wenn es darum geht, ein Leben zu retten. Also tu etwas!
Er streckte die Hände aus und begann dem jungen Beamten das Hemd auf zu knöpfen. Es dauerte lange, denn seine Hände zitterten und waren rutschig vom Blut. Er betrachtete den jungen Mann – kurze Haare und ein markantes Gesicht. Jemand der gerne und viel Sport trieb. Lachfalten.
Dann hatte er das Hemd offen und zog es beiseite, zog auch das Unterhemd, das der Mann trug, hoch und besah sich die Verletzung.
Es war dunkel. Es war alles voller dunklem Blut. Aber das wenige das er sah, sah nicht gut aus. Die Wunde war stark geschwollen und die Wundränder hatten sich durch die Schwellung ein wenig geschlossen, aber nur dort, wo die Verletzung von den äußeren Zähnen her rührte. Im Zentrum der Verletzung war die aufgerissene Bauchdecke zu sehen und ein kleines pulsierendes Rinnsal versickerte in Hemd und Hose des Beamten. Der Hund hatte mit unglaublicher Kraft an dem Mann gerissen. Mit mehr Kraft als er haben durfte.
Er sah dem Mann ins Gesicht und sah dessen Augen offen, trüb von Schmerz und Erschöpfung. Dieser fixierte ihn als wollte er seiner Miene eine Antwort auf die Frage abringen, ob er diese Nacht überleben würde.
„Haben Sie in ihrem Streifenwagen ein Erste Hilfe Set?“, fragte Anton ihn leise.
Der Polizist nickte. Zuckte dann mit den Schultern. Lächelte trotz der Schmerzen leicht.
„Ja.“, sagte er. „Vielleicht. Wahrscheinlich! Im Kofferraum.“, seine Stimme erstarb. „Rechts neben der Box.“, die Augen fielen wieder zu und Schmerz verkrampfte sein Gesicht.

Anton lenkte den Streifenwagen in einer halsbrecherischen Fahrt durch München. Es war ein Wunder, dass er bisher noch niemanden überfahren hatte, denn die Menschen rannte kopflos und wie auf Drogen kreuz und quer durch die Stadt. Zuckende Blaulichter und flackernde Flammen erhellten die Straßen und mehr als einmal sah ein hilflos aussehender Polizeibeamter hinter ihnen her und fragte sich wahrscheinlich, warum Anton nicht anhielt und im zur Hilfe kam. Woher sollte er auch wissen, bei der Dunkelheit und den spiegelnden Scheiben, dass nur ein verängstigter Zivilist am Steuer saß.
Der junge Beamte, dem das Auto gehört hatte, hatte wenige Minuten nachdem Anton ihm einen Verband angelegt hatte aufgehört zu atmen. Vermutlich waren innere Verletzungen dafür verantwortlich gewesen, dass er so schnell verblutet war.
Sein Auto aber war ihre einzige Möglichkeit gewesen, schnell und halbwegs sicher zu verschwinden, aber Anton fühlte sich schrecklich. Unberechtigt, sagte er sich. Unberechtigt, Anton. Es war das Beste was wir machen konnten. Und der Mann ist tot. Verdammt! Du hast versucht ihn zu reanimieren und alles was passiert ist war, dass aus seinem Bauch quietschende Geräusche und rosa Schaum gekommen waren!
Es gibt Grenzen für das, was Menschen tun können...
Er war erschöpft, aber sein Kopf raste. Das Adrenalin hielt in wach, machte ihn aber auch fahrig, reizbar und unbeherrscht. Er bemerkte es an der Art, wie er fuhr. Das zu harte Bremsen. Die geschnittenen , ruckartigen Kurven. Aber niemand beschwerte sich. Sie alle saßen da, still und in sich gekehrt. Anna vorne. Franzi und Seymon hinten.



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Nur ein kurzer Absatz heute. Damit das zweite Kapitel abgeschlossen wird.
 

Flatnose McKnife

Aushilfspinsler
12 Februar 2016
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Kapitel 3

Kapitel 3

Anton öffnete die Augen. Still lag das Haus da.
Er brauchte einen Augenblick, sah sich um und erkannte dann erst, wo er sich befand. Das schien ihm zur Gewohnheit zu werden.
Er schüttelte den Kopf und setzt sich auf. Sein Elternhaus hatte schon immer eher einen rustikalen Charme für ihn gehabt, aber jetzt fiel ihm auf, wie alt hier alles war. Die Gardinen hatten einen Gelbstich. Leicht fadenscheinig hingen sie vor den sauberen Fenstern. Sonnenlicht fiel von draußen herein und es war überraschend still.
Anna lag nicht neben ihm, musste aber über Nacht da gewesen sein, denn die andere Seite des alten Bettes, das immer noch in seinem ehemaligen Kinderzimmer im ersten Stock stand, war zerwühlt und unordentlich.
Anton rollte unter der Decke hervor. Dann saß er noch einen Moment auf der Bettkante, bis sich sein Kreislauf stabilisiert hatte. Er war wirklich ziemlich zerschlagen nach dieser Nacht.
Er gestattete sich noch nicht darüber nachzudenken, was passiert war. Er stand auf, und ging die wenigen Schritte zum Fenster. Er zog die Gardine zur Seite.
Kurz blendete ihn das Sonnenlicht und Anton kniff die Augen zusammen und nur langsam gewöhnte er sich an die Helligkeit – wie gut die Sonne im Gesicht ihm tat – und betrachtete dann die vertraute Straße. Die Vorgärten. Die Bäume. Obwohl da einer zu fehlen schien. Links, im Vorgarten der Familie Schlier. Eine alte Weide! Verdammt, das war ein toller Kletterbaum gewesen!
Klappernd klangen Küchengeräusche zu ihm hinauf. Anton seufzte schwer, rollte die Schultern, dehnte seinen Nacken und zog dann seine Jeans und den Pullover an – beide seltsam fleckig, wie von Rost und sie rochen nach Rauch und Eisen und kurz ekelte er sich, als er den Pullover über seinen Kopf zog.
Natürlich hatte er bei seiner Mutter keine Wechselsachen mehr deponiert und daher hatte er in seiner Unterwäsche geschlafen.
Immer noch hielt er seine Gedanken in Schach. Geduld, Geduld! Die Probleme kommen schnell und hart genug, alter Junge.
Er zog die Zimmertür auf und lauschte als er nach unten ging. Jemand arbeitete in der Küche, der Fernseher lief: eine Nachrichtensendung.
Er hörte leise Stimmen und meinte Anna und Seymon zu hören.
„... wurden insgesamt 62 Beamte der städtischen Polizei getötet und 232 Beamte teils schwer verletzt.“, meldete der Fernseher.
„Polizeipräsident Blässer gab bei einer Pressekonferenz heute morgen bekannt, dass jeder Polizeibeamte verpflichtet worden sei, zum Dienst zu erscheinen. Ausgenommen sind nur solche Beamten, die sich in stationärer Behandlung in einem Krankenhaus befinden. Die ersten Schätzungen wurden derweil nach oben korrigiert. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste gehen mittlerweile davon aus, dass in der letzten Nacht mehr als eintausend Menschen, allein in München, zu Tode gekommen sind. Die Lage in den anderen deutschen Großstädten ist ähnlich dramatisch und auch auf dem Land ist die Situation nicht besser.
Der Bundestag hat heute morgen eine Krisensitzung einberufen, die Beteiligung ist allerdings, aufgrund der chaotischen Zustände in der Bundeshauptstadt, gering und wird unter schweren Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt.
Wir schalten nun zu unserem Berlin-Korrespondenten ….“.
Anton ging weiter in Richtung Küche. Die Nachrichten hatten ihn jäh gezwungen sich der Realität zu stellen und er stand eine Weile wie betäubt in der der Küchentür, bis Anna und Seymon ihn bemerkten.
„Anton!“, Anna sah auf. Dann ging sie zum Kühlschrank und holte eine Packung einer heraus.
„Wir haben gerade was gegessen. Ich mach dir ein paar Eier, okay?“
„Okay.“
Anton sah zu Seymon hinüber. Er wusste nicht genau, wie er mit seinem alten Freund umgehen sollte. Wenn ihn seine Augen gestern nicht betrogen hatten, dann hatte Seymon gestern zwei Menschen getötet. Eines war ein junges Mädchen gewesen, vermutlich nicht einmal volljährig!
Vor seinem inneren Auge sah er noch einmal ihren Arm in Seymons großen Händen liegen.
Seymon sah es auch. Das erkannte Anton als sich ihre Augen trafen. Kurz starrten sie sich an. Anna war auffallend still.
Schließlich nickte Anton leicht. Seymon nickte ebenfalls, langsam und nachdenklich, und der Bann war gebrochen.
Er kannte Seymon schon lange. Wahrscheinlich war es Notwehr gewesen. Außerdem hatte er andere Probleme. Sie alle hatten andere Probleme als jetzt und hier Gericht darüber zu halten, was passiert war.
Die einfachste Möglichkeit wäre gewesen, Seymon einfach zu fragen., doch Anton verwarf den Gedanken. Er hatte die Augen seines Freundes gesehen und er wollte nicht derjenige sein, der diese Wunde aufriss. Alles zu seiner Zeit.
Anton ging hinüber zum Brotkasten und begann, sich ein paar grobe Butterbrote zu machen. Das Brot war nicht mehr ganz frisch, aber elastisch und würde wunderbar schmecken.
„Wo ist Franzi?“, fragte er.
„Habt ihr sie heute morgen schon gesehen? Und Mama?“
„Die sind zusammen einkaufen gegangen. Wir haben, naja, beschlossen, dass wir ein paar Vorräte anlegen. In den Nachrichten haben sie gesagt, dass der Lieferverkehr teilweise zum Erliegen gekommen ist und der Nachschub an den Supermärkten knapp werden könnte.“
Anton schloss kurz die Augen. Bricht so alles zusammen?, fragte er sich.
„Okay. Wird das Beste sein, ja. Keine Ahnung was los ist und was noch kommt. Wir sollten uns zusammen setzen, wenn die beiden wieder da sind.“

Später saßen sie zusammen im Wohnzimmer. Anton auf dem Sessel, den sein Vater immer benutzt hatte, bevor ihn ein Schlaganfall bettlägerig gemacht hatte und er wenige Monate später gestorben war. Zwei Jahre war das her.
Anna, neben ihm auf dem Hocker, der zum Sessel gehörte. Seymon stand in der Nähe des Fensters. Franziska und Claudia, ihre Mutter, hatten zusammen auf der Couch Platz genommen.
Claudia war eine kleine Frau, rundlich vom Alter, faltig und ein wenig bucklig. Sie war ein gutes Beispiel für eine Generation, die mit dem wirtschaftlichen Aufschwung aufgewachsen war, sich aber nie ihre eigenen Gesundheit gekümmert hatte. Trotzdem war sie wach, intelligent und resolut, wenn es sein musste. Ihr grauen Haare trug sie in einer der Kurzhaarfrisuren, die immer mehr in Mode zu kommen schienen.
Gerade erzählten die beiden Frauen von ihrem gemeinsamen Einkauf.
„... war weniger los, als man meinen sollte. Die Regale sind auch voll. Vielleicht ist das alles nur ein bisschen Hysterie und nichts weiter.“
Claudia wollte nicht wahr haben, dass etwas Großes im Gange. Anton, Anna und Seymon waren noch in der Küche zu dem Schluss gekommen, dass es sicherer war, die Situation zu überschätzen, anstatt später überrascht zu werden, wenn es schlimmer kam.
„Was habt ihr denn jetzt gekauft, Claudia?“, fragte Anna.
„Ach, Sachen für ein paar Tage. Eier, Milch und so.“
„Ich denke, wir sollten mehr holen.“, Anton sah seine Mutter an auf deren Stirn sich gerade die Falten vertieften.
„Ich weiß sehr wohl wie man einkauft, junger Mann!“, sie klang eingeschnappt.
„Nur weil ihr nicht mehr hier wohnt heißt das nicht, dass eure Mutter plötzlich alt und dumm geworden ist!“
„Da sagt auch keiner.“, Anton knirschte mit den Zähnen. Er hasste diese zickige Art wie die Pest! Franzi konnte genauso sinnlos zickig sein, hatte aber seit dem vergangenen Abend kein Wort mehr gesprochen.
„Aber ich denke es bringt nichts, wenn wir später in die Röhre schauen, bloß weil wir nicht übertreiben wollten.“
„Glaubst du etwa, was die da die ganze Zeit sagen?!“, Claudia zeigte anklagend auf den Fernseher.
„Die übertreiben doch maßlos! Tote Polizisten und so, die übertreiben nur um dann die Gesetze verschärfen zu können!“
„Also!“, Anton war etwas lauter geworden. Er wollte nicht, dass seine Mutter sich in Rage redete. Er kannte ihr Abneigung gegen alles, was Staat und Polizei anging. Vermutlich ein Erbe ihrer Generation. Alt-Achtundsechziger, sagte man.
Das Problem war, dass sie Claudia nicht gesagt hatten, was gestern nach alles passiert war. Sie hatten ihr nur eine sehr entschärfte Version erzählt, gerade über Seymon in der Hoffnung, sie damit nicht zu sehr zu beunruhigen. Außerdem hatten sie gestern Nacht noch den Polizeiwagen versteckt und waren auf Antons Auto umgestiegen. Wer wusste schon, was man ihnen alles anhängen könnte.
Claudias Mangel an Einsicht stellte aber jetzt die Nerven aller auf eine harte Probe. Er fuhr fort:
„Ich fahre gleich noch einmal los und kaufe ein. Was ist eigentlich mit den Nachbarn, Mam. Sind die weg? Ich hab heute morgen kaum jemanden gesehen.“
Während sich seine Mutter darüber ausließ, wer im Urlaub, verzogen, Einkaufen oder zuhause war nutzte Anton die Zeit, um mit einem Ohr dem Fernseher zu zu hören. Auf allen großen Sendern liefen Dauersendungen über die aktuellen Entwicklungen. Gerade flimmerte das Bild einer geordneten Reihe Soldaten über das Bild, die sich vor mehreren Truppentransporter, Bussen und Jeeps versammelt hatten.
Die Laufschrift am unteren Bildband verkündete in dicken Lettern: BUNDESTAG BESCHLIEßT DEN EINSATZ DER BUNDESWEHR IM INLAND!
Gleichzeitig erklärte der Nachrichtensprecher:
„Die Soldaten, die schon seit heute morgen in Einsatzbereitschaft versetzt werden, sollen demzufolge Sicherheitsaufgaben in deutschen Städten übernehmen und die Polizei unterstützen. In einer Pressemitteilung hieß es, dass insbesondere Plünderungen und das entstehen rechtsfreier Räume unterbunden werden soll. Der Innenminister...“
Anton hatte genug gehört. Wenn das die offizielle Einschätzung war, dann sollten sie schleunigst ihre Vorräte zusammen bekommen, bevor andere auf die Idee kamen, die Läden leerzuräumen. Er stand auf.
„Hey! Wir sind noch nicht fertig!“, keifte Claudia.
Alle sahen ihn an, verwundert, ein wenig genervt.
Er deutete auf den Fernseher.
„Die Bundeswehr wird bald alles abriegeln. Keine Ahnung was das bedeutet aber es kann sein, dass sie dann einschränken wie viel jemand kaufen darf. Ich geh jetzt los. Wir reden später weiter.“
Anton sah wie sich die Augen seiner Mutter verengten als die begann, Verrat der Bundesregierung und das Entstehen eines neuen Faschismus zu wittern.
„Ich komme mit.“, sagte Anna und stand auf.
„Ischauch!“, Seymon und Anna wechselten einen kurzen Blick der Anton nicht entging, „Jäman' muss 'elfe trage!“.
„Alles klar.“
Franziska sah ihn nur groß an und es war Claudia die das Wort erhob.
„Wir bleiben hier! Wir waren ja schon einkaufen!“
Sie wendete sich brüsk dem Fernseher zu.
Anton warf ihr noch einen Blick zu, wie sie da klein, grau und grimmig auf der Couch saß. Dort in diesem großen, alten, abgewetzten Wohnzimmer mit dem angegrauten Teppich.
Dann ging er. Anna und Seymon auf seinen Fersen.

Sie waren noch keine fünf Minuten unterwegs als ihnen die ersten Militärfahrzeuge entgegen kamen. Ungewöhnlich, dachte Anton, dass die Reaktion so schnell erfolgte. Normal dauerte es in der Politik doch immer ewig, bis eine Entscheidung getroffen wurde.
Der Konvoi aus einem Lastwagen, zwei Geländewagen und einem Schützenpanzer hielt sich aber nicht weiter auf, sondern fuhr weiter, verließ vermutlich den Ort, einem anderen Ziel entgegen.
Sie passierten eine Kreuzung an der ein weiteres Geländefahrzeug der Bundeswehr geparkt stand. Fünf Soldaten standen neben dem Fahrzeug und machten einen ratlosen Eindruck. Ein Unteroffizier stand etwas abseits, studierte eine Karte und glich sie mit seiner Umgebung ab, während die Männer seines Trupps in einem lockeren Kreis mit einander redeten und sich immer wieder zweifelnd umsahen. Während Anton, Anna und Seymon an ihm vorbei fuhren schüttelte der Unteroffizier unzufrieden den Kopf und warf ihnen einen langen Blick zu. Anton sah ein schmales, noch recht junges Gesicht ohne Bartwuchs und helle Augen. Dann waren sie vorbei.
Sie hielten wenig später vor dem örtlichen Supermarkt. Schon als sie auf den Parkplatz fuhren achtete Anton darauf, wie stark dieser besucht war aber abgesehen von zwei handvoll Fahrzeugen war kaum etwas zu sehen, was auf Panik oder Hamsterkäufe hätte schließen lassen.
Zwei weitere Jeeps im vertraut-unvertrauten Flecktarn der Bundeswehr standen rechts neben dem Eingangsportal, direkt bei den Einkaufswägen. Auf der anderen Seite des Portals standen ein VW-Bus und ein Unimog - der Bus im Flecktarn, der Unimog in einem einheitlichen olivgrün.
Anton parkte und sie gingen auf den Eingang des Supermarktes zu. Sie konnten sehen, dass das Dutzend Soldaten, das zu den Fahrzeugen gehörte, beim Unimog versammelt war. Gerade riss jemand die Plane am hinteren Ende der Ladefläche zurück und Anton konnte einen kurzen Blick auf Sandsäcke und Maschendrahtrollen werfen. Mit einem Stirnrunzeln ging er weiter.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie endlich der Meinung waren, alles zu haben was sie für eine längere Isolation benötigten. Sie hatten lange darüber diskutiert wie viel Klopapier notwendig war und wie viel ein normaler Mensch am Tag trank. Am Ende hatten sie einen zweiten Einkaufswagen holen müssen und standen nun an der Kasse. Ein dutzend Sechserpackungen mit großen Wasserflaschen, mehr Konserven als Anton bereit war zu zählen und Süßigkeiten, 'für die Moral'. Verderbliche Lebensmittel wie frisches Obst oder Gemüse hatten sie weg gelassen, statt dessen Multivitamintabletten eingepackt und Eier und Brot mitgenommen. Die Eier zum Kochen, das Brot zum Einfrieren.
Während sie damit beschäftigt waren ihre beiden Wägen voll zu laden hatte sich der Laden merklich gefüllt. Wahrscheinliche hatte die Nachricht von den Soldaten und die Angst vor einer Verkaufssperre, oder zumindest einer Einschränkung des Handels, ihr übriges getan. Die meisten Leute luden demnach auch ähnlich viel in ihre Wägen wie es Anton, Anna und Seymon getan hatten und Anton schüttelte den Kopf, als er eine dicke Frau sah, die schnaufend Packungen mit Limonade in ihrem Wagen stapelte.
Sie zahlten und verließen den Laden. Anton staunte.
In der kurzen Zeit, die sie im Laden gewesen waren, hatte sich das Bild am Eingang drastisch verändert. Die Soldaten hatten die Sandsäcke zu einem niedrigen Halbrund aufgeschichtet. Begrenzt wurde die Barrikade, die auf die Ausfahrt des Parkplatzes ausgerichtet war, links und rechts durch die beiden Geländewagen. Innerhalb des 'geschützten' Raumes stand der Unimog. Der VW-Bus stand etwas abseits und spielte für das Verteidigungskonzept wohl keine bedeutende Rolle. Ein Rasseln ließ Anton den Kopf drehen und er sah einen jungen Soldaten, der gerade eine Rolle des Maschendrahtes an einem Zaun befestigte. Bloß, dass es sich bei der Maschendraht um Stacheldraht handelte.
Sie luden die Einkäufe ein und waren kurz davor los zu fahren, doch Anton wollte noch nicht weg. Es juckte ihn in den Fingern mehr darüber zu erfahren, was die Soldaten hier tun sollten und was man erwartete.
„Was ist los, Anton?“, Anna sah ihn ungeduldig an. „Sollten wir nicht los?“.
„Wartet hier.“, er schnallte sich wieder ab und öffnete die Fahrertür. „Ich bin gleich wieder da.“.
Als er auf die Soldaten zu ging wurde ihm doch ein wenig mulmig. Er hatte ja durch seinen Beruf viel mit Polizisten zu tun, aber da war er offiziell als Pressevertreter unterwegs und unterstand dem Schutz durch das Grundgesetz. Aber als Zivilist einfach auf einen Haufen bewaffneter Soldaten zuzugehen, ohne zu wissen, was die dachten oder planten, war eine neue Erfahrung für ihn.
Die sind zu unserem Schutz da, dachte er immer wieder. Wofür sonst?
Er stand direkt vor den Sandsäcken, als der Erste überhaupt auf ihn aufmerksam wurde. Ein neugieriger Blick und eine eingehende Musterung vom Kopf bis zu den Sportschuhen, dann drehte sich der Soldat wieder herum und sagte etwas zu einem weiteren Mann in der Runde, einem Oberfeldwebel und wahrscheinlich dem Ranghöchsten in der Runde.
Dieser sah auf und Anton sah stahlblaue Augen, eine sauber getrimmte blonde Kurzhaarfrisur und eine Narbe unter dem rechten Auge.
Der Mann schien resigniert zu seufzen, ganz sicher konnte Anton das durch die Männer die zwischen ihnen standen nicht sagen, und kam dann auf ihn zu. Sein markantes und glatt rasiertes Kinn mahlte ein wenig.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er gerade heraus aber freundlich mit leicht russischem Akzent. Anton war überrascht! Sein grimmiges Auftreten schien mehr Show zu sein. Er bemerkte unglücklich, dass er gerade Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Menschen auf dem Parkplatz, sowohl der Soldaten als auch der Einkaufenden, geworden war, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Kann ich Sie was fragen?“, begann er mit der offensichtlichsten und dümmsten Eröffnung, die einem Menschen in dieser Situation einfallen würde. Der Oberfeldwebel nickte einladend.
 
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