Krüger schreckte hoch, stieß mit der Wucht seiner ihn nach vorne schnellen lassenden Beine den Stuhl um. Erst als er schon auf dem Boden lag, den Körper flach auf die kalten Holzbohlen gepresst, die Boltpistole entsichert in der Rechten, nahm er das Knallen der Schüsse bewusst war, gefolgt vom Poltern seines eigenen und kurz darauf von Gauguilles Stuhl.
Er war eingenickt, ein Effekt, der wohl dem Schlafmangel, der Kälte draußen und der spärlichen Wärme des Ofens geschuldet war. Seine Reflexe hatten ihn beim ersten Schuss in Deckung gehen lassen.
„Was zum...?!“, fluchte der Obermaat. Sie klang schlaftrunken. Als sie in Richtung des Plexiglasfensters hechtete traf einer ihrer Stiefel den umgestürzten Stuhl und ließ sie der Länge nach neben Krüger hinschlagen. Sie stöhnte auf und gab ein wenig damenhaftes Schimpfwort von sich.
Weitere Schüsse fielen. Es waren gewöhnliche Projektilwaffen, von der Schussfolge her halbautomatisch. Eine Boltersalve donnerte als Antwort. Jemand brüllte ein Kommando.
Krüger stemmte sich hoch. Neben Gauguille kniend legte er ihr die Hand auf die Schulter. „Alles in Ordnung mit ihnen, Obermaat?“
Sie drehte sich auf die Seite, sich mit dem rechten Unterarm auf dem Boden abstützend. Aus ihrer wahrscheinlich gebrochenen Nase lief dunkles Blut über die helle Haut ihres Kinns. Sie wischte es in einer ihrer Meinung nach wohl entschlossen wirkenden Geste mit dem Handrücken weg, was reichlich sinnlos war und nicht mehr bewirkte, als den Ärmel ihrer grauen Uniform rot zu durchtränken. „Ja.“, murrte sie und schniefte. „Verdammter Stuhl.“
Krüger nickte knapp und drückte ihre Schulter. „Bleiben sie unten.“, befahl er, dann legte er die Linke unterstützend um das Griffstück der Boltpistole und arbeitete sich geduckt auf das Fenster zu. Vorsichtig hob er den Kopf bis knapp über den unteren Rand.
An der Barrikade hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Männer und Frauen in zerrissenen und verschmutzten Kleidern drängten vor und zurück, schwenkten Fäuste und improvisierte Waffen und riefen durcheinander. Zwischen ihnen versteckten sich offensichtlich auch einige Individuen mit Schusswaffen. Immer wieder wurde ein Gewehrlauf oder eine Pistole aus der Menge dem dunklen Himmel entgegengereckt und abgefeuert.
Hinter der Barrikade hielten Gauguilles Männer auf die Menge angelegt. Die Flottensoldaten kauerten hinter den Sandsäcken, die Sturmgewehre in den Schießscharten aufgelegt und die Köpfe weitmöglichst in Deckung gezogen. Etwas hinter ihnen, gut sichtbar für die aufgebrachte Menge, standen zwei weitere Soldaten. Der Eine hielt einen Bolter im Anschlag und zielte über die Köpfe des Mobs. Eine Ansammlung von Patronenhülsen um seine Füße und die rauchende Mündung seiner Waffe verrieten, dass er es gewesen war, der die früheren Schüsse beantwortet hatte. Der andere, neben ihm Stehende hielt die Hände trichterförmig vor den Mund und rief etwas, was Krüger und wahrscheinlich außer ihm auch niemand sonst inmitten des Tumults, des heulenden Windes und der knallenden Schüsse verstehen konnte.
Die Tür des Verschlages wurde aufgestoßen. Krüger wirbelte herum, in den hereinwehenden Stoß kalter Luft hinein, und brachte die Boltpistole in Anschlag. Der Zielmarkerpunkt seiner Waffe leuchtete auf dem schwarzen Brustpanzer eines Flottensoldaten auf, dessen Blick zwischen der noch immer am Boden liegenden Gauguille und dem auf ihn zielenden Krüger hin und her zuckte. Die Hand des Mannes lag fast hilflos auf dem Gehäuse des Sturmgewehrs, das an seinem Trageriemen neben seiner Hüfte hing.
„Ma... Madam...“, stotterte der Soldat, „... die Pilger... sie haben sich zusammengerottet!“
Krüger senkte die Waffe. „Augenscheinlich war ihre Vorsicht berechtigt.“, sagte er zu Gauguille.
Der Obermaat versuchte sich aufzurichten, fand aber mit den Füßen keinen festen Stand. Sie keuchte und zischte wütend und schmerzerfüllt. „Mein Knöchel...“, murrte sie.
Krüger zuckte die Schultern und steckte die Waffe ins Holster. Er stand auf und eilte zu Gauguille hinüber, legte ihren Arm um seine Schultern, fasste sie unter der Achsel und drückte sie beide aus den Knien heraus in die Höhe. Seine Beinmuskulatur, noch immer nicht zu alter Stärke zurückgekehrt, protestierte gegen die Anstrengung, aber schließlich standen sie; Gauguille gegen ihn gelehnt und bemüht, ihren verletztes Fußgelenk nicht zu belasten. Ihr Gewehr drückte hart in seine Seite.
„Danke, Hauptmann.“, keuchte sie.
„Wird es gehen?“, fragte Krüger. Sie rieb beim Nicken den Kopf an seiner Schulter, und er löste sich vorsichtig von ihr. Ihr Blut hatte den Stoff seines Ärmels mit schmutzigem Rostrot gefärbt. Ihr Blick hing an den Flecken. Wieder wischte sie sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang.
„Es... Es tut mir leid, Hauptmann, ich...“, setzte sie an, doch Krüger winkte ab.
„Wir haben wichtigeres zu tun, Obermaat.“, sagte er. Ohne ein weiteres Wort trat er auf die Tür zu, schob den wie erstarrt dastehenden Flottensoldaten beiseite und wollte ins Freie treten, doch Gauguille hielt ihn zurück.
„Was haben sie vor, Hauptmann?“, rief sie ihm nach.
„Ich werde versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bringen.“
„Sie... was?! Krüger, sie haben hier keine Befehlsgewalt! Das ist mein Kommando.“
Krüger hörte die Holzbohlen knarren, als Gauguille einen hopsenden Schritt machte. Er blickte über die Schulter. „Helfen sie ihr, bevor sie sich noch schwerer verletzt.“, sagte er zu dem Flottensoldaten.
Eine neue Boltersalve donnerte. An der Barrikade wurden empörte Schreie laut.
Gauguille schloss hinkend, auf die Schulter des Flottensoldaten gestützt, zu Krüger auf. „Ich habe hier das Kommando, Hauptmann.“, brummte sie. „Die Männer gehören zur Flotte, nicht zur Armee. Ihr Rang bedeutet hier nichts.“
Krüger nickte spöttisch. „Natürlich, Obermaat. Und wie oft haben sie schon mit einer solchen Situation umgehen müssen? Wieviel Kampferfahrung haben sie? Und wie viel Respekt, glauben sie, haben zweihundert aufgebrachte Menschen vor einer hinkenden Frau, der das Blut aus der Nase läuft und die kaum noch alleine stehen kann?“