Verfluchte Mäusekacke, meine Fresse, wo verschwindet die ganze Zeit hin! Fast zwei Monate (dafür jetzt 1,5 in 1) und viel schlimmer: fast ein ganzes Jahr, seit Schneider das letzte mal vorkam. Dem wird jetzt Abhilfe geschafft. Aber dennoch, oh mein Gott, wieso vergeht die Zeit so schnell? :X
Kapitel XVII
Geweihter Sigmars
"Ich hatte einmal eine Geliebte... sie ist nun tot und liegt im Keller meines Schlosses, auf einem Tisch aus schwarzem Stein, umgeben von einem Meer aus schwarzen Rosen..."
- Kasimir von Carstein, Die Kinder Sigmars, XL, Ein letztes mal ein Held
„Unfassbar“, hauchte Aurora verblüfft. Sie blinzelte ein paar mal, aber dennoch blieb der Turm eine baufällige Ruine. Augenscheinlich. „Es ist nötig, um uns zu schützen“, erklärte Lazarica ihr und ein düsteres Lächeln umspielte ihre dunklen Lippen. „Man möchte es wohl als auffällig bezeichnen, wenn stramme Jünglinge ohne jeden Grund aus den Dörfern verschwinden. Ein prunkvoller Turm mitten in der Ungastlichkeit des Gebirges neigt dazu, Gerüchten fruchtbaren Nährboden zu bieten. Vermutlich wäre längst eine Schar wütender Dorftölpel hier hinaufgekommen, um meinen Wohnsitz anzustecken.“
Sie verschränkte die Arme und warf Aurora einen vielsagenden Blick zu, sagte aber nichts weiter und beobachtete das Erstaunen der jungen Lahmia mit gewisser Belustigung. „Du scheinst überrascht?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens. Aurora nickte. „Das vermagst du? Du allein?“
„Gewiss.“
„Wie?“
Lazarica ließ ein liebliches, helles Lachen ertönen, das trotz des sanftes Spottes, der darin mitschwang, ehrliche Zuneigung in Aurora weckte. „Mit Magie natürlich, du Dummerchen! Wir Vampire sind Geschöpfe, die einst durch Zauberei geboren worden. Ein wenig davon steckt in jedem von uns.“
Aurora warf ihr einen fragenden Blick zu und ohne dass sie ihren Mund aufmachen musste, antwortete ihr Lazarica mit einem Lächeln: „Auch in dir.“
Auch in mir... In jedem Vampir. Bilder des blonden Wanderers zuckten auf einmal vor ihrem inneren Auge empor, zeigten sein höhnisch herab lächelndes Gesicht, seine dunklen, roten Augen, seine weiße Haut. Auch er ist einer von uns, begriff sie endlich. Er musste Magie verwendet haben, um Wotan und sie zu trennen. Sie konnte nicht beschreiben, was genau er getan hatte, sie wusste nur, wie es sich angefühlt hatte. Schmerzvoll. Zerreißend. Endgültig.
Wollte sie ihm begegnen, ihn umbringen und leiden lassen und er hatte solche Fähigkeiten, würde sie nicht gegen ihn bestehen können! Sie musste ebenfalls solche Macht besitzen und Lazarica hatte ihr eben eröffnet, dass sie in der Lage dazu war, sie zu erringen! Außerdem schien sie selbst sehr mächtig zu sein und würde ihr vielleicht helfen können. Möglicherweise würde sie ihr auch gegen den geheimnisvollen Wanderer beistehen? Kannte sie ihn womöglich sogar? Wusste sie, wer er war? Sicherlich hatte sie Kontakt zu anderen ihrer Art, die hier in der Gegend lebten und bestimmt wusste sie auch, mit was für einem Fluch dieser Teufel sie belegt hatte!
„Leben noch andere Vampire in diesen Bergen?“, fragte Aurora vorsichtig. Sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Zwar fühlte sie sich sehr zu der erfahreneren Lahmia hingezogen und war ihr mehr als dankbar dafür, dass sie ihr Leben gerettet hatte, doch trauen tat sie ihr deshalb noch lange nicht. Betört, ja. Dumm, nein. Sie wusste nichts über sie, ihre Absichten oder ihre Ziele. Und gnadenlose Tücke traute sie ihr durchaus zu.
„Nicht, dass ich wüsste“, gab Lazarica zurück. „Doch du fragst sicher nicht ohne Grund?“ Aurora wurde mit einem strengen Blick bemessen und ein düsteres Interesse blitzte in den Augen ihrer Gastgeberin auf. Sie war sich nicht sicher, ob Lazarica ihr ins Gesicht log oder ob sie die Wahrheit sagte. Scheinbar hatte sie sofort verstanden, dass es hier um mehr als eine belanglose Frage ging, dass mehr dahinter steckte. Insofern erschien ihr eine einfache Ausrede zwecklos. Sie überlegte kurz ehe sie antwortete und entschied, ihr so weit wie möglich die Wahrheit zu sagen und nur bestimmte Einzelheiten auszulassen. So unverfänglich wie möglich zuckte sie mit den Achseln. „Ich glaube ich traf einen, vor einiger Zeit. Er wanderte durch ein Tal, ein paar Tagesmärsche von hier entfernt. Ich dachte mir, du kennst ihn vielleicht?“ Doch zu Auroras Enttäuschung schüttelte Lazarica nur den Kopf und durchbohrte sie mit einem sonderbarem Blick. Glaubte sie ihr nicht? Oder war sie alarmiert, weil ein anderer Vampir sich vermutlich in der Nähe befand? „Wann hast du ihn getroffen?“, fragte sie ruhig. Ihrer Stimme war weder Vorsicht noch Misstrauen anzumerken.
„Vor ein paar Wochen wohl.“
„Hast du mit ihm gesprochen?“
Aurora schüttelte den Kopf. Nein, das hatte sie nicht. Gedankenverloren starrte sie die zerfallene Ruine des Turms an. Sie brauchte diese Macht ebenfalls! Sie wandte sich ab und sah zu Lazarica, die nachzudenken schien. Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatte, ergänzte Aurora ihre Geschichte freiwillig ein bisschen, um sie glaubwürdiger zu machen und ihrer Gastgeberin ein paar mehr Informationen zu geben. Vielleicht fiel ihr ja doch noch etwas ein. Oder jemand. "Ich traf ihn, genauer gesagt, er fand mich. ebenso wie du. Ich war sehr schwach und nicht in der Lage das Wort an ihn zu richten, doch er zog einfach weiter und ließ mich liegen."
Das war gelogen. Nein, er hatte sie nicht einfach nur liegen lassen. Er hatte ihre Seele mit schwelenden Verbrennungen überzogen! Wotan von ihrem Herzen gerissen. Auf ewig. Dann erst war er weitergezogen und hatte sie dort liegen gelassen! "Er war nicht wie du! Nicht so gnädig, schön und liebenswert", fuhr Aurora fort und versuchte, sich Zorn und Trauer nicht anmerken zu lassen, die wieder mal ungnädig nach ihrem Gemüt griffen. Dann näherte sich ihrer Gastgeberin behutsam und strich ihr zärtlich mit den Fingern über die Schultern. Doch Lazarica blieb ernst und schwieg.
"Ich kenne ihn nicht", sprach sie erst nach einer Weile und ihre Stimme klang angespannt. "Doch es ist nicht gut, wenn sich andere Vampire hier herum treiben. Sie erregen zu viel Aufmerksamkeit. Ich kann es nicht gebrauchen, wenn hier Sigmariten oder Ulric-Priester durch die Lande ziehen, hier jeden Stein umdrehen auf der Suche nach unsereins. Ich werde sehen, was ich herausfinde, du aber vergisst diese Sache am besten ganz schnell wieder. Wir sollten nun allmählich wieder reingehen." Mit diesen Worten löste sie sich von Aurora und schritt, ohne sich noch einmal umzusehen, zum Turm. Aurora folgte ihr und musterte sie unschlüssig. Hatte sie sie irgendwie verärgert? Oder machte sie sich nur ehrlich Sorgen? Sie musste vorsichtig sein, denn sie versprach sich viel von der Freundschaft zu Lazarica und es wäre sicherlich unklug, ihr Missfallen so früh zu erregen. Besser sie blieb noch für eine Weile das kleine, dumme Spielzeug. Sie erreichten den Turm, traten ein und sobald sie den ersten Fuß über die Schwelle gesetzt hatten, zerfiel die Illusion, die Lazarica um die Steine gesponnen hatte und gab die wahre Gestalt des Gemäuers preis. Eine wohlige Wärme schlug ihnen aus den heiß befeuerten Kaminen entgegen, der Duft von Ölen und Parfüm hing in der angenehm trockenen Luft und generell wäre jeder Fürst der Menschen neidisch auf diese Heimstätte gewesen. Fürstlich eingerichtet, mit teuersten Möbeln und edler Zierde dekoriert. Fein verputzte Wände und ornamentierte Säulen, gewaltige Gemälde an den Wänden, die Katzen und herrschaftliche Fürstinnen und Gräfinnen zeigten. Es war ein malerischer Ort. Von außen überhaupt nicht annehmbar. Aurora war immer noch überwältigt von der Macht des Zaubers, der diese Pracht zu verschleiern mochte. Sie wünschte, sie würde solch' atemberaubende Magie beherrschen.
"Ich möchte das auch vermögen", hauchte sie ehrfürchtig und umfasste die Hand ihrer Gastgeberin. "Kannst du mir das beibringen?"
"Selbstredend nicht!", zischte Lazarica wütend und schien mit einem mal wie ausgewechselt. "Ich bin dir nicht zu Diensten! Du bist hier zu meiner Unterhaltung, nichts anders herum!" Das Gesicht der Vampirin verzerrte sich vor Zorn und glich dem einer drohenden Schlange, den Kiefer weit nach unten gezogen, die geschlitzten Pupillen aufgebracht funkelnd. Aurora wich erschrocken zurück und starrte sie wie ein geprügeltes Tier an. Augenblicklich beruhigte Lazarica sich wieder, nahm ihr gewöhnliches, bezauberndes Äußeres an, strich sich die Haare glatt und richtete ihre Kleider, auch wenn ohnehin alles perfekt aussah. "Verzeih", sagte sie knapp und räusperte sich leise, ehe sie fortfuhr, "die Geschichte mit deinem Vampir hat mich ein wenig gereizt. Ich wollte es nicht an dir auslassen. Dennoch bin ich nicht hier, um dir irgendetwas beizubringen. Erinnere dich allerdings an meine Worte; dieser Turm ist nun dein zu Hause! Tu meinen Katzen kein Leid und was mein ist sei dein. Jedes Buch, jeder Foliant und jede Schriftrolle stehen dir offen. Lies sie, wenn du etwas lernen willst. Du findest hier nicht nur Heldengeschichten und Gedichte, glaub mir. Doch nun entschuldige mich, ich habe noch etwas zu erledigen!" Lazarica wandte sich ab und stieg ohne ein weiteres Wort die Treppe in ihre Gemächer hinauf. "Wie lange hast du gebraucht, das hier zu lernen?", rief Aurora ihr noch hinterher.
"Jahre, Liebes, Jahre...“, erklang die Stimme der Lahmia, während ihre Gestalt im Schatten verschwand, nun wieder zuckersüß. Jahre also. Aber als Vampir hatte sie Zeit, ebenso wie ihr Widersacher. Sie konnte sich diese Jahre nehmen und da Lazarica nun ohnehin beschäftigt war, könnte sie gleich damit anfangen. Noch einmal rief sie sich das Gesicht dieses Ungetüms ins Gedächtnis.
Der Gedanke an Rache trieb sie an.
Mit besorgtem Blick betrachtete Schneider Odinoki, die immer noch zitternd zwischen zwei Kisten saß. Zabota, wie sie es selbst immer nannte. Zabota in seinem Blick. Neben ihm schwafelte der dicke Oswald irgendwas von Kindern und ihren Launen und dass das alles vergehen werde, wenn sie nur ein wenig älter sei und er habe ja selbst zwei stolze Jungen und, und, und... Schneider hörte nur mit halbem Ohr hin, in Gedanken war er bei Odinoki. Er hatte genug von der Welt und ihren Unheilen gesehen, dass er wusste, dass es sich bei ihr nicht nur um die Wirren eines Kindes handelte. Nein. Ein Schatten lag auf ihrer Seele. Etwas belastete sie, nahm ihr die Unbekümmertheit, die ein Mädchen in ihrem Alter verdient hätte. Er ertappte sich selbst immer wieder dabei, wie er sie noch als kleines Kind betrachtete, obwohl sie beinahe schon eine junge Frau war, doch sie schien ihm immer so hilflos und verloren. Dass sie in wenigen Jahren bereits selber Söhne und Töchter haben könnte, war ihm undenkbar.
Seufzend wandte er den Blick ab und starrte auf den breiten Rücken des Ochsen, der den Karren über die matschige Straße zog. Er wusste nicht was er tun sollte. Es hatte lange gedauert, ehe Odinoki sich überhaupt getraut hatte, mit ihm zu sprechen und nun, nach dem Vorfall vor ein paar Stunden, sprach sie kein einziges Wort mehr. Nichts hatte geholfen, kein Versprechen, kein Flehen, keine Freundlichkeit, kein Verständnis und kein Ärger. Sie blieb stumm. Und er wusste einfach nicht, was los war oder was er tun könnter. Würde sie es ihm sagen, zu ihm sprechen, vielleicht könnte er ihr dann helfen, diese Last von ihren Schultern nehmen und dafür sorgen, dass es ihr wieder gut ging, dass sie wieder lächeln konnte. Doch so? Er war machtlos.
Oswalds Stimme war zu einem anhaltenden, verzerrten, dumpfen Ton verkommen, der taub durch seine Ohren pfiff und seinen Schädel mit Mattigkeit füllte, auch wenn er kein Wort mehr von dem verstand, was der Mann sagte. Trübe Gedanken hingen wie Nebelfäden hinter seiner Stirn und machten ihm das Denken schwer. Er fühlte sich müde und erschöpft. Ihm fiel auf, dass er, nun da er Tag und Nacht wandeln konnte, im Licht des Mondes und der Sonne, wie es ihm beliebte, so gut wie gar nicht mehr schlief, die Augen immer nur für ein paar kurze Momente schloss. Eigentlich hatte er nicht angenommen, dass ein Wesen wie er es war überhaupt noch Schlaf brauchte, aber anscheinend irrte er sich in diesem Punkt. Nicht viel vielleicht, aber ein bisschen? Es erschien ihm reizvoll die Lider fallen zu lassen und für einige, wenige Augenblicke weg zu dämmern, doch er wollte nicht unhöflich gegenüber Oswald sein, der, zumindest für seinen Teil, ein angeregtes Gespräch mit ihm führte. Oswald war ein guter, ehrlicher Mann, vermutlich einer der letzten auf dieser elenden, sich verdunkelnden Welt. Er wollte ihn nicht verärgern. Er hatte es nicht verdient. Ohne jede Rückfrage hatte Oswald sie auf seinem Karren mitgenommen, ihnen Speise und Trank geboten. Sie Freunde genannt, ehe sie noch kaum drei Worte miteinander gewechselt hatten. Ein seltener Lichtblick in diesen Zeiten. Alles war so finster. Alles war so kalt. So taub. Was hatte sich in den Jahren verändert? Nur er selbst. Das Land kam ihm so trist vor, die Bäume knorrig, die Sträucher voller Dornen, die Wiesen grau und ersoffen im Regen, der Boden kalt, nass und verschlammt, der Himmel schwarz, der Wind eisig, donnernde Wolkenberge und grelles, geisterhaftes Leuchten in der Ferne. Nicht nur jetzt, im Sturm, nein, seit Jahren. Seit seiner Verwandlung. Monatelang hatte er die Sonne nicht gesehen, doch jetzt, wo er sie wieder sehen konnte, war ihr Licht kalt und blau und sie hüllte sich in einen Mantel aus Nebel, Dunst und Wolken, war nur als grelle, unangenehm beißende Scheibe hinter einem dunklen Vorhang zu sehen. Aber nicht nur die Sonne und der Himmel schienen ihm verändert. Auch die Menschen. Dreckig, verlogen, mit eingefallenen Gesichtern und toten, leeren Augen, als lebten sie nur von Tag zu Tag, nicht weil sie leben wollten, sondern weil sie es mussten, da sie sich vor dem Sterben fürchteten. Vor dem Leben, wahrem Leben, allerdings auch. Er fragte sich, ob er früher auch so war und nur jetzt, wo er kein gewöhnliches Leben mehr führen konnte, sah, wie die Menschen ihre Zeit auf dieser Welt vergeudeten, doch es kam ihm nicht so vor. Als er noch lebendig gewesen war, ja, da hatte die Sonne golden gestrahlt, den blauen Himmel mit glänzendem Licht geflutet, schöner und leuchtender als alle Diamanten dieser Welt es konnten. Grünes Gras hatte sich sanft im lauen Wind gewiegt, die Erde war fest, warm und von einem satten Braun gewesen, hatte nach Leben geduftet. Das Lachen der Menschen, sein eigenes ebenfalls, hatte fröhlich und voll geklungen, heute klang es nur noch lieblos und hohl, falsch und vorgetäuscht. Oswald erinnerte ihn an diese alte Zeit, wie er so offenherzig über dieses und jenes plauderte, ihm von seinen Kindern erzählte, seinem Beruf, der ihn glücklich machte, seiner Frau, die ihn liebte, seinen Nachbarn, die er schätzte, sein Handelshaus, das ihn nährte und seinem Heim, das ihn wärmte. Er sprach nicht über Gerüchte von Schatten, Orks und wandelnden Toten, er sprach nicht über Krieg und Tod, nicht über den Imperator, der ja alles viel besser hätte machen können, nicht über Sigmar und seine gerüsteten Priester, von denen er sich so viel erwartete und die nie für ihn da waren, nein. Er sprach nur über gute Dinge. Und Schneider konnte es genießen, ohne ihm auch nur eine Sekunde lang zu zu hören. Es war angenehm, ruhig und machte sein Herz leicht. Keine schlimmen Geschichten, keine dunklen Legenden. Ehrliche Worte eines ehrlichen Mannes.
Er blinzelte verwirrt und es war ihm, als sei er doch für eine kurze Zeit weggenickt, denn Oswald sprach plötzlich nicht mehr und die Gegend schien leicht verändert. Weniger Bäume, mehr Schlamm. Der Himmel hatte ein kränkliches Weiß angenommen, ein ungesundes, diesiges Licht stach durch die Wolken. Ihm fiel auf, dass er auf dem Kutschbock in sich zusammengesunken war und setzte sich wieder auf, rieb sich mit einer Hand die juckenden Augen. "Ihr wart kurz weggetreten, mein Freund", lachte Oswald und schlug ihm herzlich auf die Schulter. "Ihr habt geschnarcht wie ein alter Zwerg!"
"Verzeiht", murmelte Schneider und spürte, wie das taube Gefühl der Müdigkeit langsam aus seinen Armen und Beinen wich.
"Ich bitte Euch, eine Entschuldigung ist nicht von Nöten, es war ein anstrengender Tag für Euch, mit ein paar anstrengenden Stunden."
Oswalds Stimme hatte einen sehr vertraulichen Ton bekommen und er nickte Schneider mit ernstem Blick zu. Bei diesen Worten schälte sich die Erinnerung an Odinoki aus seinem bleiernen Verstand und er sah sich nach ihr um. Auch sie schien eingenickt, hatte jedenfalls die Augen geschlossen, saß aber immer noch in der gleichen Haltung wie vorhin zwischen den Kisten und Säcken. Leise rief er ihren Namen, doch sie reagierte nicht. Wenn sie ihn gehört hatte, dann wollte sie es ihm nicht zeigen. Mit niedergeschlagener Miene wandte sich Schneider wieder an Oswald: "Wie lange war ich weg?"
"Nur eine Stunde, vielleicht zwei. Kein Grund sich zu schämen, mein Freund, ich hatte hier alles wunderbar im Griff." Er zwinkerte und nickte Schneider aufmunternd zu. Die Wulst seines Halses schob sich dabei hoch in seine Wangen, formte sie zu zwei großen Kugeln und ließ ihn aussehen wie ein freundliches, dickes Nagetier, mit einem breiten Lächeln auf den aufgeplusterten Zügen. Schneider musste grinsen, ob der gesunden, fleischigen Erscheinung des großen Mannes, doch es war kein Hohn darin, sondern nur ehrliche Freude. Bei jeder Bodenwelle wackelte Oswalds gesamter Leib und sein Bauch sprang in die Höhe, als verberge sich ein aufgeregter Welpe darin.
"Habt vielen Dank dafür, für alles", antwortete er ihm mit einem Lachen.
"Ach nicht doch, eigentlich müsst ihr auch gar nicht mir danken. Sondern Grolo, dem alten Ochsen, schließlich zieht er den Karren und meinen dicken Hintern. Auch wenn er manchmal zieht wie ein greises Maultier!" Oswald ließ ein bäriges Lachen hören und schlug dem Ochsen mit der Rute ein paar mal sanft auf das Hinterteil. Ein tiefes, ruhiges Blöken war die Antwort. Schneider muss erneut lachen. Grolo und Oswald kamen ihm vor wie zwei alte Freunde, auf gemeinsamer Reise in die unbekannte Fremde. "So dick ist Euer Hintern auch nicht, Oswald, immerhin nicht so dick wie seiner" , sagte er und deutete auf den Ochsen. "Das will ich aber überhört haben", antwortete Oswald mit gespieltem Ernst, "Niemand sagt etwas gegen meine alte Milchkuh!"
Plötzlich ging ein Ruck durch den Karren, Grolo schnaubte nervös und zog mächtig an und Schneider, der nicht damit gerechnet hatte, wäre beinahe vom Kutschbock gefallen. "He", rief Oswald, der auch sichtlich überrascht war, "so war das doch gar nicht gemeint, du alter Sturkopf!" Doch mit Worten schien sich der Ochse nicht beruhigen zu lassen, im Gegenteil. Grolo zog immer stärker und schneller, verfiel in leichten Trab und war scheinbar völlig außer sich. Er blökte und schnaubte und befand sich in heller Panik. Doch die Geschwindigkeit war zu hoch für die unebene Straße und wenn sich der Ochse nicht beruhigte und sie nicht wieder langsamer wurden, dann würde bei dem schwer beladenen Karren noch die Achse brechen. Oswald meckerte und fluchte, hieb seinen Ochsen mit der Rute, doch auch wenn Schneider keine Ahnung von Vieh hatte, bezweifelte er dennoch, dass das irgendetwas nützte. Der dicke Kaufmann konnte nichts tun. Jemand tippte ihm auf die Schulter und er wandte sich um und sah in Odinokis besorgte Augen, die fragend mit den Schultern zuckte. Er befahl ihr, sich wieder nach hinten zu setzen und ruhig zu bleiben, dann sprang er mit einem Satz vom Bock. Matsch spritzte auf, als er bis zu den Knöcheln in den braunen Boden sank, doch der rutschige Schlamm störte ihn nicht. Mit wenigen, schnellen Sprüngen hatte er den wildgewordenen Ochsen überholt und stellte sich breitbeinig vor ihm auf die Straße. Ungebremst donnerte Grolo auf ihn zu, warf den Kopf in wilder Angst umher, Schaum stand ihm vorm Maul. "Was tut Ihr da? Seid ihr wahnsinnig? Verschwindet da!", hörte er Oswalds Stimme durch das panische Blöken, des Ochsen hindurch. Er konnte das ängstliche Gesicht des Mannes sehen, verzerrt durch die Schleier des aufspritzenden Schlamms.
Mit einem Ruck trafen Grolo und Schneider aufeinander. Der Vampir packte den heranrasenden Ochsen an den Hörnern, drückte seinen Schädeln nach unten und stemmte sich mit aller Macht gegen das tobende Tier. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seine Arme, als seine Muskeln sich bis zum Zerreissen spannten, um gegen die Kraft des ausgewachsenen Bullen zu bestehen und er stieß einen kurzen Schrei aus, biss dann die Zähne zusammen und legte seine gesamte Stärke in den Versuch, die vorantreibende Wucht von Tier und Karren zum Stillstand zu bringen. Mehrere Schritt weit wurde er von Grolo durch den Schlamm geschoben, spürte wie kleine, scharfe Steine im Schlamm ihm seine Füße und Waden zerschnitten, doch dann, nach einigen endlosen Sekunden, kam das Gespann endlich zum Stehen. Keuchend ließ sich Schneider gegen den breiten Hals des immer noch unruhigen Ochsen sinken, hielt weiterhin seinen Kopf nach unten gedrückt, doch der Bulle leistete kaum noch Widerstand. Mit einem Kribbeln verheilten seine geschundenen Füße. Wie benommen tätschelte er Grolos Kopf, spürte die aufgeregte Hitze des Tieres an seinem Körper und der angestrengte Geruch von Fell und Schweiß stieg in seine Nase. Schnell und schwer pumpte das Herz des Ochsen das Blut durch seinen Leib, ließ den großen Lebensfaden an seinem Hals in regelmäßigen Abständen erbeben. Schneider schluckte. Seine Kehle erschien ihm plötzlich wie ausgedörrt. Er hatte ohnehin lange nichts getrunken und die Anstrengung hatte ihn durstig gemacht. Wie eine Faust hämmerte jeder Herzschlag des Ochsen in seinem Schädel und er konnte seine roten Augen nicht mehr von der pulsierenden Ader wenden. Der Durst wurde schlimmer, das Pochen in seinen Ohren zu einem schrillen, betäubenden Rauschen. Ein hohes Pfeifen füllte den Raum hinter seiner Stirn, ein schriller, beißender Ton, der in seinem Kopf schmerzte und der nur verschwinden würde, wenn er seine Zähne in das zähe Fleisch des Ochsen grub und sein dunkles, dickes Blut soff...
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus seinen düsteren Gedanken und Lüsten. Erschrocken fuhr Schneider herum und blickte in Oswalds Gesicht. Der feiste Mann stützte sich an Grolos Rücken ab und war mehr außer Atem als Schneider selbst. Schillernder Schweiß stand ihm auf der Stirn, aber sein Blick war klar und ernst. Schneider, immer noch keuchend und wild mit einer Hand gestikulierend, suchte nach Worten und hoffte irgendwie überspielen zu können, dass er gerade mit bloßen Händen einen rasenden Ochsen gebremst hatte. "Ich weiß nicht, weshalb er durchgedreht ist.“, begann er, „Vielleicht sind irgendwo Wölfe in der Gegend, oder ein Bär, den er gewittert hat, oder sonst irgendwelche anderen wilden Tiere. Wir sollten auf jeden Fall sicher schnell weiter."
Oswald nickte, ließ ihn aber nicht aus den Augen. "Ihr habt sicher recht, mein Freund", antwortete er knapp und nach Luft ringend. "Doch vorher mögt Ihr mir vielleicht erzählen, was das eben war? Ich meine, ich war schon verblüfft, als Ihr meinen Karren aus dem Schlamm befreit habt, doch ich hielt Euch für einen kräftigen, jungen Mann, der meinem alten Ochsen auf die Sprünge geholfen hat, nichts weiter, doch das hier? Ihr habt einen wilden Bullen gestoppt, mit nichts weiter als euren Händen und Euch... Euch fehlt nichts? Nicht ein Kratzer, kaum verausgabt! Verzeiht, mir mein Freund, doch bei Euch geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu! Kein gewöhnlicher Mensch vermag so etwas zu tun!"
"Oswald...", begann Schneider und suchte fieberhaft nach einer Ausrede, doch ihm wollte nichts vernünftiges einfallen. "Eigentlich... möchte ich lieber nicht darüber reden." Schneider hoffte nicht darauf, dass der Mann sich davon abwimmeln lassen würde, zu seltsam würde es ihm selbst vorkommen, wäre er an seiner Stelle. Wenn er ihm die Wahrheit sagte, würde er wieder zu Fuß reisen müssen, Odinoki auf dem Rücken tragen, durch Nacht und Unwetter. Und Oswald hatte allen Grund dazu, ihn stehen zu lassen und sich panisch aus dem Staub zu machen. Wenn Schneider ehrlich zu sich selbst war, dann war er es vermutlich selbst gewesen, der Grolo so in Angst versetzt hatte. Wahrscheinlich hatte das Tier seinen aufkeimenden Durst gespürte und versucht vor ihm, vor Schneider, zu entkommen. Mal wieder hatte er, er selbst, seine Begleiter in Gefahr gebracht. Wäre Odinoki was geschehen, er hätte es sich nicht verzeihen können.
"Ihr sagt mir besser, die Wahrheit", sprach Oswald mit flüsternder Stimme. "Sonst..."
"Ihr wollt mir drohen?", fragte Schneider ehrlich verblüfft und warf dem dicken Mann einen zweifelnden Blick zu. Zu seiner Verwunderung brach Oswald nur in schallendes, anscheinend ehrlich belustigtes Gelächter aus. "Was...?"
"Ich Euch drohen, mein Freund? Oh nein, oh nein! Ihr reißt mir noch mit bloßer Hand ein Rad vom Karren! Nein, nein, nein. Aber ihr hättet es mir doch sagen können!"
Schneiders Verwirrung kannte keine Grenzen mehr. Wieso war Oswald so ausgelassen? Störte es ihn überhaupt nicht, dass ein fleischgewordener Dämon vor ihm saß? Ein Kind der Nacht? Fürchtete er sich nicht vor ihm? Oder wovon sprach der Mann?
"Was meint Ihr?"
Oswald musste sich den Bauch halten vor Lachen. Machte er sich über ihn lustig? "Na, ihr wisst schon!", rief er fröhlich aus. Schneider zuckte mit den Achseln. Nein, er wusste nicht. "Ich bitte Euch, Ihr seid enttarnt! Es ist so offensichtlich!“ Sprachlosigkeit. „Ihr seid ein Hammerträger! Gesegnet von Sigmars Kraft!" Schneider fiel ein Steinbruch vom Herzen und in seinem Hals löste sich ein gewaltiger Klumpen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass auch Odinoki lauschte. Vielleicht war das ganz gut so. "Eigentlich hätte es mir gleich auffallen müssen", plauderte Oswald geradewegs aus dem Bauch heraus. "Ich meine, ihr seht schon so aus wie er! Seht euch an! Die wilden Augen, das zottelige blonde Haar, der dichte Bart! Ihr seht aus, als sei Sigmar höchstselbst zu uns zurückgekehrt! Kein Wunder, dass er Euch mit seiner Macht segnete! Selbstredend, dass ihr mehr Kraft in euren Armen habt, als der alte Grolo in seinem ganzen Leib! Ein greiser Esel, ich hab es doch gesagt!" Während Oswald sich in weiteren Tiraden erging, musste Schneider vor Erleichterung leise lachen. Auf diese Ausrede wäre er niemals selbst gekommen, dabei war sie tatsächlich gar nicht abwegig, zumindest solange er keinem wirklichen Sigmariten begegnete. Die Leute würden Odinoki und ihn nicht mehr abweisend, sondern viel eher zuvorkommend behandeln! In Altdorf selbst müsste er sich was neues einfallen lassen, die Priester des Tempels würden ihm zu schnell auf die Schliche kommen, aber bis dahin hatte Oswald ihm den besten Einfall seit langem geliefert! "Nun, wo Ihr es wisst", sprach Schneider mit erlöster Stimme und klopfte dem Mann vorsichtig auf die Schulter, "fühle ich mich deutlich besser. Es belastet das Herz, Geheimnisse mit sich zu tragen. Ich wollte nicht, dass Ihr euch von mir eingeschüchtert fühlt!"
"Ach, i wo!", rief Oswald und strahlte nahezu. "Keine Bange, mein Freund, ich lasse mich schon nicht so leicht einschüchtern! Und Ihr scheint mir wahrlich ein feiner Kerl zu sein! Doch nun kommt, lasst uns weiterfahren! Nun wo es raus ist, habt ihr sicherlich einige interessante Geschichten zu erzählen, von eurem abenteuerlichen Leben! Ich bin sicher, Ihr seid weit gereist? Habt Dämonen bekämpft?" Innerlich fluchte Schneider schon wieder, da er sich nun irgendwelche haarsträubenden Geschichten ausdenken musste. Er hätte von der großen Schlacht erzählen können und seine Rolle einfach leicht verändern, doch er wollte diese Zeit lieber ruhen lassen und in Vergessenheit begraben. Ihm würde schon was anderes gutes einfallen. Er lächelte und zwinkerte Odinoki zu. Auch sie schien irgendwie befreit und lächelte, das erste mal seit langer Zeit wieder, zurück. Schneider dankte in Gedanken kurz Sigmar und bat um Verzeihung dafür, dass er sich ohne Recht anmaßte, sich selbst als sein Geweihter zu bezeichnen, doch er war sich sicher, dass der Gott ihm verzeihen würde. Mit einem Satz zog er sich auf den Kutschbock und half dann dem dicken Oswald hinauf, der jedes mal einige Mühe damit hatte, sich hier hoch zu hieven. Als sie beide saßen stupste Oswald Grolo mit der Rute an und das Gespann setzte sich wieder langsam in Bewegung. Der Ochse wirkte immer noch sehr unruhig, gehorchte aber und hielt die Geschwindigkeit. Augenblicklich begann der Kaufmann ihn auszufragen, doch da er ihm zwischen seinen Fragen keine Zeit zum Antworten ließ, hatte er wohl noch eine Weile, bis er sich die ersten paar Lügen ausdenken musste. Schneider lächelte zufrieden. Was für ein unglaubliches Glück, dass sie Oswald getroffen hatten. Ein gutes Gefühl für die Zukunft erfüllte ihn. Seinen ersten Freund hinter Altdorfs Mauern hatte er schon mal gefunden. Er lehnte sich zurück und betrachtete den Himmel. Weit über ihnen kreiste ein großer Raubvogel. Wohl ein Adler oder ein Falke, auf der Suche nach Mäusen oder Hasen im Schlamm...
Der Schlag des Hammers traf ihn und augenblicklich wurde alles stumm und schwarz. Ein Meer aus Kälte und Endgültigkeit schwappte über ihn, zog ihn in seine drückenden Tiefen. Sterben rann in seine Kehle und flutete seine lang erkalteten Lungen. Er hatte gedacht, es würde sich anders anfühlen, doch wie es war, war es gut. Es war so ruhig. So still. So still... War er bereits tot? Oder steckte noch ein letzter Funke seines vergehenden Unlebens in ihm? Wie lange würde es noch dauern? Und wie, ja, das war die größte Frage, wie würde sich wohl dieser letzte Schritt anfühlen? Friedlich? Ja, das hoffte er, friedlich. Schon die Ruhe und Gleichgültigkeit, die die Dunkelheit um ihn herum umspülte schien ihm angenehm, doch noch war er da. Da war noch etwas. Seine Seele kreiste noch in seinem toten Körper, machte sich bereit für den ewigen Schlaf. Wie er sich darauf freute. Er hoffte, Walther Groll würde zu seinem Wort stehen. Sein alter, alter Feind. Markus war geschlagen, er hatte seine Rache gefunden und nun war nichts mehr geblieben, was er auf dieser Welt zu tun hatte. Er war fertig. Es war zu Ende. Eigentlich hatte er keinen Grund, dem Sigmarpriester zu trauen, doch er hegte auch keinen Zorn gegen ihn. Mochte er tun, was er gedachte. Er hatte es verdient, dass er es war, der ihn schlussendlich zur Strecke hatte bringen dürfen. Zwanzig Jahre, vielleicht noch länger, für einen Menschen eine so lange Zeit... so lange, hatte er ihn verfolgt, seine Ränke geschmiedet, um den Imperator zu einem Angriff auf Sylvania zu drängen und so vieles mehr menschenmögliche aufgebracht.... Ja, er hatte es verdient. Es war gut so. Es war endlich passiert.
...
Wie viel Zeit war vergangen? Er war noch da. Noch immer. Doch da waren keine Tage, keine Jahre, Jahrzehnte. Sein Bewusstsein war nur Dunkelheit. Vielleicht war er erst seit ein paar Stunden tot, vielleicht schon ein paar Dekaden. Eine halbe Unendlichkeit? Er wusste es nicht. Wo war sein Leib? War er beerdigt worden? War Tatjana bei ihm? Hatte Walther Groll sein Versprechen gehalten? Dunkelheit, nur Dunkelheit und Stille. Er war noch da. Irgendwo. Doch diese Einsamkeit machte ihm Angst. Wie viel Zeit war vergangen? Was war geschehen? Wann würde er endlich sterben? Wieso ließ man ihn nicht ziehen.
Es kam ihm lange vor, so lange und irgendwann war er sich sicher, dass mehrere Jahrhunderte vergangen sein mussten! Er wünschte sich, dass seine Seele endlich dem Chaos anheim fallen möge, alles wäre besser als diese Stille, alles. Sogar Qual. Hauptsache etwas. Aber da war nichts. Finsternis. Stille. Stille. Stille...
Doch dann, endlich. Endlich, nach langer Zeit, drang ein schmaler Strahl von Licht in die Dunkelheit. Ihm war als sehe... oder fühle... er einen Schatten, der sich durch diesen Strahl drängte. Ein Geruch von Ruhe und Stein drang in seine Nase. Er fühlte... ja... er fühlte... Walther Groll. Er wusste nicht ob er mit dem Auge oder mit seinem Verstand sah, doch er sah Walther Grolls dichten brauen Bart und dort auf seinem Arm - Tatjana! Er hatte sein Versprechen gehalten! Er fühlte Glück. Dann wurde alles wieder schwarz und dunkel, doch er fühlte, dass er nicht mehr alleine war. Dort war Tatjana. Sie war bei ihm, auf ewig! Und auch, wenn er niemals seinen Frieden finden sollte, diese Stille, diese Dunkelheit, doch mit ihr zusammen, das war für ihn vollkommen. So konnte es bleiben, auch für tausende von Jahren. War dies das Ende? Vielleicht gab es keine Hallen Sigmars, vielleicht gab es keine Feuer und Chaosgötter, keine Qualen und ewigen Leiden. Vielleicht war dies das Ende. Vielleicht war es immer so. Bei Tier, Mensch und Monster... Er spürte Tatjana an seiner Seite. Hin und wieder suchte er sie mit Blicken, doch er konnte sie nicht sehen. Um ihn war nur Finsternis, doch er wusste, sie war da. Und sie wusste es auch. Sie waren zusammen. Vereint. Auf ewig. Lange, stille Zeit verging und er gewöhnte sich an diesen Zustand, an diese Art des Seins. Es war wie ein langer, langer Traum, aus dem ein Mann nicht mehr erwachen konnte. Er lernte, ihn mit Bildern zu füllen, mit Farben und Tönen. Nichts davon existierte wirklich. Er war tot, das wusste er. Doch der Tod erschien ihm nicht so furchteinflößend. Es war angenehm. Und still. So viel gleichmäßiger als das Leben. So viel gleichmäßiger als der Tod, den er zuvor gekannt hatte. Lange, stille Zeit verging.
Und dann, eines Tages. Ein Lichtstrahl, erneut. Wieder der Geruch von Ruhe und Stein, wieder ein Schatten, der in diese Stille trat. Weitere Gesellschaft? Er wünschte nicht, dass jemand drittes die Ruhe von ihm und Tatjana störte, nein, er wollte mit ihr alleine bleiben! Und ohnehin, wer könnte es sein? Er sah, fühlte die Züge des Mannes, wusste, dass er sich über ihn lehnte, über seinen toten Leib. Die Ruhe war verschwunden. Krieg herrschte in ihm. Panik. Er kannte dieses Gesicht. Bleib fort, wollte er schreien, doch es gab nur Stille. Nur Stille. Er wurde entrissen, aus seinem Traum. Tatjana war verschwunden. Und er fühlte Unglück. Hilflos. Ohnmächtig. Er konnte nichts tun. Überall war diese einsame Dunkelheit. Und lange, stille Zeit verging...
Erneut der Strahl, erneut das Gesicht. Erneut Krieg und Panik. Wie viel Zeit war vergangen? Tatjana! Tatjana! Wie lange hat sie ohne ihn sein müssen? Wie sehr musste sie leiden! Wie sehr er selbst litt! Er wollte schreien, doch - Stille. Er fühlte Kälte - das erste mal seit langem fühlte er etwas. Es war seltsam, als fülle sich sein Körper mit Wasser, wie ein Tonkrug. Er war noch da. Er war wieder da. Nein! Er spürte etwas. Eine Art... Geschmack? Salz. Metall. Blut auf seiner Zunge. Es waren die ersten sinnlichen Gefühle seit einer schieren Ewigkeit und es wirkte sonderbar unvertraut. Es war, als rissen plötzlich tausende, gierige Finger nach ihm. Es war, als...
...
Kasimir riss die Augen auf, schrie, fuhr hoch, ein Schwall eisiges Wasser traf ihn ins Gesicht, ein grausames Lachen seine Ohren. "Willkommen zurück unter uns Unlebenden, Fürst", zerschnitt Slawas grässlich scharfe Stimme die Stille, die so lange sein Begleiter gewesen war. Er wollte ihn anspringen, zerreissen und töten, doch eine schwere Kette hielt ihn zurück. Verwirrt betastete er den Eisenring an seinem Hals. Sie hatten ihn gefangen und eingekerkert, an eine Leine gelegt, wie einen wilden Hund. Der Ring war nicht dick, doch er war viel zu schwach, um ihn zu zerreissen. "Du bist nun mein", sprach Slawa und seine Stimme schien von einer sonderbar bleiernen Härte. "Und du wirst mir zu Willen sein... bald..." Noch fühlte sich sein ganzer Leib taub an und alles erschien ihm unwirklich? Geschah das wirklich? Tatjana... Langsam füllten sich seine Augen mit kaltem Blut, heißen Tränen. Verschwommen sah er Slawas schlanke, schwarze Gestalt hinter dem roten Schleier, entsprungen aus einem grauenvollen Gemälde. Er kannte die Gewänder seiner Art. Von Carstein.
"Niemals", flüsterte Kasimir heiser. Es tat weh, sein Hals schmerzte, seine Kehle zog sich unangenehm zusammen. Es schien ihm, als habe er noch nie zuvor gesprochen. Seine Zunge schien ihm gleich einem rissigen Waschlappen. Hilflos wie ein Säugling. Slawa tat nicht mehr als ihn hemmungslos auszulachen. Der Leib des hochgewachsenen Fürsten schüttelte sich vor falscher Freude. Von all' den niederen Vampiren hatte ausgerechnet Slawa von Carstein nach der Macht über den Drakenhof greifen müssen. Er hatte Slawa gehasst. Schon damals. Und Slawa ihn.
"Sträube dich ruhig noch ein paar Jahre gegen dein erbärmliches Schicksal", antwortete Slawa mit genüsslich langgezogenen Wörtern. "Das macht deine Niederlage nur um so köstlicher für mich und umso demütigender für dich. Ein Gewinn für uns beide für ich sagen. Doch was auch immer du tust, schon bald gehört du - ganz - und - gar - mir!"
Kasimir schrie. Stemmte sich gegen seine Ketten. Es half nichts. Slawa verließ sein Verließ. Und lange, stille Zeit verging.
...
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme! Der eisige Wind strich durch Kasimirs Gesicht. Er fühlte seine ledrige Haut, als sei sie Pergament, das man eng über seinen Leib gespannt hatte. Seine einstige Schönheit war auf seinem Antlitz und in seinem Geist schon lange verblichen und vergessen. Er gehorchte bloß den Befehlen des Meister. Denken bereitete ihm Schmerzen. Erinnern noch viel mehr. Die Stimme des Meisters, das war genug. Er würde den Ring finden. Und ihn zu ihm bringen. Mit einem kräftigen Schlag seiner weiten Schwingen stieg er höher hinauf in die Lüfte, stieß durch einen Regenschleier und schmetterte einen hohen Schrei aus seiner Kehle hinaus.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme doch! Ich eile! Er war bald dort. Der Ring war nahe. Er hörte seinen Ruf. Der Sturm des Meister behinderte seinen Flug, aber bannte dafür das gleißende, schmerzende Sonnenlicht hinter die schwarzen Wolken. Er kam trotzdem schnell voran. Er war ganz und gar in seinem Element. Zu fliegen fühlte sich gut an. Gerade nach der langen Zeit, die er angekettet im Kerker verbracht hatte. Eine eiskalte Leidenschaft, oh ja, er liebte es! Er war beeindruckt, wie leicht es ihm fiel, es ging wie von selbst. Seine Flügel zerteilten Luft und Winde, trugen ihn schneller und weiter als jeden Vogel dieser Welt. Ein Kinderspiel. Als wäre er niemals etwas anderes gewesen, als das, was er jetzt war. Ein Vargheist.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme ja, ich komme ja! Stunden vergingen, später ein Tag, dann ein zweiter. Doch unaufhörlich kam Kasimir von Carstein dem Ring näher. Das konnte er spüren. Er hörte seinen stetigen Ruf, seinen Befehl. Und die Stimme des Meister, in seinem Kopf. Bring ihn zu mir. Bring ihn zu mir. Bring ihn zu mir. Vergessen waren alte Zeiten und alte Namen. Slawa, diesen Namen liebte und hasste er. Er wusste, dass er ihn hasste. Es gab nichts, was er mehr hasste. Doch es war der einzige Name, den er kannte. Dafür liebte er ihn. Es war alles, an das er sich erinnern konnte. Slawa. Und sein Ring. Alles was er hassen und lieben konnte. Und man musste hassen und lieben.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme! Er war dort. Seine Reise war zu Ende. Irgendwo unter ihm war der Ring. Dort, auf der finsteren Erde. Er presste die Flügel an seinen Leib und stieß kreischend durch die Wolkendecke, spannte sie dann ruckartig wieder auf und schwebte gleich einem gewaltigen Raubvogel in der Luft. Weit hing er über der Welt und seine glühenden Augen suchten das flache Land ab. Der Ring war hier. Er spürte ihn. Bring ihn zu mir. Dort. Dort war er. Einige Meilen entfernt erkannte er einen kleinen Karren, der sich über die Straße quälte, gezogen von einem fetten Tier. Der Duft von Fleisch war stark und er hätte sich zu gern auf dieses Tier geworfen und es in Fetzen gerissen, sich an seinem Blut gelabt und seine Innereien gefressen. Oh ja, das würde er! Doch erst brauchte er den Ring. Er war in diesem Tier. Oder? Nein, nein. Er war in dem Karren! Er hörte ihn rufen! Komm zu mir! Ich komme, dachte Kasimir. Ich komme. Und erneut setzte er zum Sturzflug an. Er stieß nieder wie der geflügelte Tod höchstselbst, so schnell, dass kein menschliches Paar Augen ihm zu folgen vermochte! Vor ihm zerteilte sich die Luft so scharf, dass sie wirbelnde, weiße Schleier bildete, die ihn umspielten wie Fahnen im Sturm! Dieses Gefühl war vollkommen! Alles was er wollte. So könnte es bleiben, auch für tausende von Jahren, so, wie er hier auf seine Beute niederstieß. Doch es währte nur ein paar verstreichende Bruchteile eines Moments. Er streckte seine Klauen aus, zielte genau auf den Karren, auf den Ring! Gleich war er da! Nur noch einen Augenblick!
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme!
Kapitel XVII
Geweihter Sigmars
"Ich hatte einmal eine Geliebte... sie ist nun tot und liegt im Keller meines Schlosses, auf einem Tisch aus schwarzem Stein, umgeben von einem Meer aus schwarzen Rosen..."
- Kasimir von Carstein, Die Kinder Sigmars, XL, Ein letztes mal ein Held
„Unfassbar“, hauchte Aurora verblüfft. Sie blinzelte ein paar mal, aber dennoch blieb der Turm eine baufällige Ruine. Augenscheinlich. „Es ist nötig, um uns zu schützen“, erklärte Lazarica ihr und ein düsteres Lächeln umspielte ihre dunklen Lippen. „Man möchte es wohl als auffällig bezeichnen, wenn stramme Jünglinge ohne jeden Grund aus den Dörfern verschwinden. Ein prunkvoller Turm mitten in der Ungastlichkeit des Gebirges neigt dazu, Gerüchten fruchtbaren Nährboden zu bieten. Vermutlich wäre längst eine Schar wütender Dorftölpel hier hinaufgekommen, um meinen Wohnsitz anzustecken.“
Sie verschränkte die Arme und warf Aurora einen vielsagenden Blick zu, sagte aber nichts weiter und beobachtete das Erstaunen der jungen Lahmia mit gewisser Belustigung. „Du scheinst überrascht?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens. Aurora nickte. „Das vermagst du? Du allein?“
„Gewiss.“
„Wie?“
Lazarica ließ ein liebliches, helles Lachen ertönen, das trotz des sanftes Spottes, der darin mitschwang, ehrliche Zuneigung in Aurora weckte. „Mit Magie natürlich, du Dummerchen! Wir Vampire sind Geschöpfe, die einst durch Zauberei geboren worden. Ein wenig davon steckt in jedem von uns.“
Aurora warf ihr einen fragenden Blick zu und ohne dass sie ihren Mund aufmachen musste, antwortete ihr Lazarica mit einem Lächeln: „Auch in dir.“
Auch in mir... In jedem Vampir. Bilder des blonden Wanderers zuckten auf einmal vor ihrem inneren Auge empor, zeigten sein höhnisch herab lächelndes Gesicht, seine dunklen, roten Augen, seine weiße Haut. Auch er ist einer von uns, begriff sie endlich. Er musste Magie verwendet haben, um Wotan und sie zu trennen. Sie konnte nicht beschreiben, was genau er getan hatte, sie wusste nur, wie es sich angefühlt hatte. Schmerzvoll. Zerreißend. Endgültig.
Wollte sie ihm begegnen, ihn umbringen und leiden lassen und er hatte solche Fähigkeiten, würde sie nicht gegen ihn bestehen können! Sie musste ebenfalls solche Macht besitzen und Lazarica hatte ihr eben eröffnet, dass sie in der Lage dazu war, sie zu erringen! Außerdem schien sie selbst sehr mächtig zu sein und würde ihr vielleicht helfen können. Möglicherweise würde sie ihr auch gegen den geheimnisvollen Wanderer beistehen? Kannte sie ihn womöglich sogar? Wusste sie, wer er war? Sicherlich hatte sie Kontakt zu anderen ihrer Art, die hier in der Gegend lebten und bestimmt wusste sie auch, mit was für einem Fluch dieser Teufel sie belegt hatte!
„Leben noch andere Vampire in diesen Bergen?“, fragte Aurora vorsichtig. Sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Zwar fühlte sie sich sehr zu der erfahreneren Lahmia hingezogen und war ihr mehr als dankbar dafür, dass sie ihr Leben gerettet hatte, doch trauen tat sie ihr deshalb noch lange nicht. Betört, ja. Dumm, nein. Sie wusste nichts über sie, ihre Absichten oder ihre Ziele. Und gnadenlose Tücke traute sie ihr durchaus zu.
„Nicht, dass ich wüsste“, gab Lazarica zurück. „Doch du fragst sicher nicht ohne Grund?“ Aurora wurde mit einem strengen Blick bemessen und ein düsteres Interesse blitzte in den Augen ihrer Gastgeberin auf. Sie war sich nicht sicher, ob Lazarica ihr ins Gesicht log oder ob sie die Wahrheit sagte. Scheinbar hatte sie sofort verstanden, dass es hier um mehr als eine belanglose Frage ging, dass mehr dahinter steckte. Insofern erschien ihr eine einfache Ausrede zwecklos. Sie überlegte kurz ehe sie antwortete und entschied, ihr so weit wie möglich die Wahrheit zu sagen und nur bestimmte Einzelheiten auszulassen. So unverfänglich wie möglich zuckte sie mit den Achseln. „Ich glaube ich traf einen, vor einiger Zeit. Er wanderte durch ein Tal, ein paar Tagesmärsche von hier entfernt. Ich dachte mir, du kennst ihn vielleicht?“ Doch zu Auroras Enttäuschung schüttelte Lazarica nur den Kopf und durchbohrte sie mit einem sonderbarem Blick. Glaubte sie ihr nicht? Oder war sie alarmiert, weil ein anderer Vampir sich vermutlich in der Nähe befand? „Wann hast du ihn getroffen?“, fragte sie ruhig. Ihrer Stimme war weder Vorsicht noch Misstrauen anzumerken.
„Vor ein paar Wochen wohl.“
„Hast du mit ihm gesprochen?“
Aurora schüttelte den Kopf. Nein, das hatte sie nicht. Gedankenverloren starrte sie die zerfallene Ruine des Turms an. Sie brauchte diese Macht ebenfalls! Sie wandte sich ab und sah zu Lazarica, die nachzudenken schien. Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatte, ergänzte Aurora ihre Geschichte freiwillig ein bisschen, um sie glaubwürdiger zu machen und ihrer Gastgeberin ein paar mehr Informationen zu geben. Vielleicht fiel ihr ja doch noch etwas ein. Oder jemand. "Ich traf ihn, genauer gesagt, er fand mich. ebenso wie du. Ich war sehr schwach und nicht in der Lage das Wort an ihn zu richten, doch er zog einfach weiter und ließ mich liegen."
Das war gelogen. Nein, er hatte sie nicht einfach nur liegen lassen. Er hatte ihre Seele mit schwelenden Verbrennungen überzogen! Wotan von ihrem Herzen gerissen. Auf ewig. Dann erst war er weitergezogen und hatte sie dort liegen gelassen! "Er war nicht wie du! Nicht so gnädig, schön und liebenswert", fuhr Aurora fort und versuchte, sich Zorn und Trauer nicht anmerken zu lassen, die wieder mal ungnädig nach ihrem Gemüt griffen. Dann näherte sich ihrer Gastgeberin behutsam und strich ihr zärtlich mit den Fingern über die Schultern. Doch Lazarica blieb ernst und schwieg.
"Ich kenne ihn nicht", sprach sie erst nach einer Weile und ihre Stimme klang angespannt. "Doch es ist nicht gut, wenn sich andere Vampire hier herum treiben. Sie erregen zu viel Aufmerksamkeit. Ich kann es nicht gebrauchen, wenn hier Sigmariten oder Ulric-Priester durch die Lande ziehen, hier jeden Stein umdrehen auf der Suche nach unsereins. Ich werde sehen, was ich herausfinde, du aber vergisst diese Sache am besten ganz schnell wieder. Wir sollten nun allmählich wieder reingehen." Mit diesen Worten löste sie sich von Aurora und schritt, ohne sich noch einmal umzusehen, zum Turm. Aurora folgte ihr und musterte sie unschlüssig. Hatte sie sie irgendwie verärgert? Oder machte sie sich nur ehrlich Sorgen? Sie musste vorsichtig sein, denn sie versprach sich viel von der Freundschaft zu Lazarica und es wäre sicherlich unklug, ihr Missfallen so früh zu erregen. Besser sie blieb noch für eine Weile das kleine, dumme Spielzeug. Sie erreichten den Turm, traten ein und sobald sie den ersten Fuß über die Schwelle gesetzt hatten, zerfiel die Illusion, die Lazarica um die Steine gesponnen hatte und gab die wahre Gestalt des Gemäuers preis. Eine wohlige Wärme schlug ihnen aus den heiß befeuerten Kaminen entgegen, der Duft von Ölen und Parfüm hing in der angenehm trockenen Luft und generell wäre jeder Fürst der Menschen neidisch auf diese Heimstätte gewesen. Fürstlich eingerichtet, mit teuersten Möbeln und edler Zierde dekoriert. Fein verputzte Wände und ornamentierte Säulen, gewaltige Gemälde an den Wänden, die Katzen und herrschaftliche Fürstinnen und Gräfinnen zeigten. Es war ein malerischer Ort. Von außen überhaupt nicht annehmbar. Aurora war immer noch überwältigt von der Macht des Zaubers, der diese Pracht zu verschleiern mochte. Sie wünschte, sie würde solch' atemberaubende Magie beherrschen.
"Ich möchte das auch vermögen", hauchte sie ehrfürchtig und umfasste die Hand ihrer Gastgeberin. "Kannst du mir das beibringen?"
"Selbstredend nicht!", zischte Lazarica wütend und schien mit einem mal wie ausgewechselt. "Ich bin dir nicht zu Diensten! Du bist hier zu meiner Unterhaltung, nichts anders herum!" Das Gesicht der Vampirin verzerrte sich vor Zorn und glich dem einer drohenden Schlange, den Kiefer weit nach unten gezogen, die geschlitzten Pupillen aufgebracht funkelnd. Aurora wich erschrocken zurück und starrte sie wie ein geprügeltes Tier an. Augenblicklich beruhigte Lazarica sich wieder, nahm ihr gewöhnliches, bezauberndes Äußeres an, strich sich die Haare glatt und richtete ihre Kleider, auch wenn ohnehin alles perfekt aussah. "Verzeih", sagte sie knapp und räusperte sich leise, ehe sie fortfuhr, "die Geschichte mit deinem Vampir hat mich ein wenig gereizt. Ich wollte es nicht an dir auslassen. Dennoch bin ich nicht hier, um dir irgendetwas beizubringen. Erinnere dich allerdings an meine Worte; dieser Turm ist nun dein zu Hause! Tu meinen Katzen kein Leid und was mein ist sei dein. Jedes Buch, jeder Foliant und jede Schriftrolle stehen dir offen. Lies sie, wenn du etwas lernen willst. Du findest hier nicht nur Heldengeschichten und Gedichte, glaub mir. Doch nun entschuldige mich, ich habe noch etwas zu erledigen!" Lazarica wandte sich ab und stieg ohne ein weiteres Wort die Treppe in ihre Gemächer hinauf. "Wie lange hast du gebraucht, das hier zu lernen?", rief Aurora ihr noch hinterher.
"Jahre, Liebes, Jahre...“, erklang die Stimme der Lahmia, während ihre Gestalt im Schatten verschwand, nun wieder zuckersüß. Jahre also. Aber als Vampir hatte sie Zeit, ebenso wie ihr Widersacher. Sie konnte sich diese Jahre nehmen und da Lazarica nun ohnehin beschäftigt war, könnte sie gleich damit anfangen. Noch einmal rief sie sich das Gesicht dieses Ungetüms ins Gedächtnis.
Der Gedanke an Rache trieb sie an.
Mit besorgtem Blick betrachtete Schneider Odinoki, die immer noch zitternd zwischen zwei Kisten saß. Zabota, wie sie es selbst immer nannte. Zabota in seinem Blick. Neben ihm schwafelte der dicke Oswald irgendwas von Kindern und ihren Launen und dass das alles vergehen werde, wenn sie nur ein wenig älter sei und er habe ja selbst zwei stolze Jungen und, und, und... Schneider hörte nur mit halbem Ohr hin, in Gedanken war er bei Odinoki. Er hatte genug von der Welt und ihren Unheilen gesehen, dass er wusste, dass es sich bei ihr nicht nur um die Wirren eines Kindes handelte. Nein. Ein Schatten lag auf ihrer Seele. Etwas belastete sie, nahm ihr die Unbekümmertheit, die ein Mädchen in ihrem Alter verdient hätte. Er ertappte sich selbst immer wieder dabei, wie er sie noch als kleines Kind betrachtete, obwohl sie beinahe schon eine junge Frau war, doch sie schien ihm immer so hilflos und verloren. Dass sie in wenigen Jahren bereits selber Söhne und Töchter haben könnte, war ihm undenkbar.
Seufzend wandte er den Blick ab und starrte auf den breiten Rücken des Ochsen, der den Karren über die matschige Straße zog. Er wusste nicht was er tun sollte. Es hatte lange gedauert, ehe Odinoki sich überhaupt getraut hatte, mit ihm zu sprechen und nun, nach dem Vorfall vor ein paar Stunden, sprach sie kein einziges Wort mehr. Nichts hatte geholfen, kein Versprechen, kein Flehen, keine Freundlichkeit, kein Verständnis und kein Ärger. Sie blieb stumm. Und er wusste einfach nicht, was los war oder was er tun könnter. Würde sie es ihm sagen, zu ihm sprechen, vielleicht könnte er ihr dann helfen, diese Last von ihren Schultern nehmen und dafür sorgen, dass es ihr wieder gut ging, dass sie wieder lächeln konnte. Doch so? Er war machtlos.
Oswalds Stimme war zu einem anhaltenden, verzerrten, dumpfen Ton verkommen, der taub durch seine Ohren pfiff und seinen Schädel mit Mattigkeit füllte, auch wenn er kein Wort mehr von dem verstand, was der Mann sagte. Trübe Gedanken hingen wie Nebelfäden hinter seiner Stirn und machten ihm das Denken schwer. Er fühlte sich müde und erschöpft. Ihm fiel auf, dass er, nun da er Tag und Nacht wandeln konnte, im Licht des Mondes und der Sonne, wie es ihm beliebte, so gut wie gar nicht mehr schlief, die Augen immer nur für ein paar kurze Momente schloss. Eigentlich hatte er nicht angenommen, dass ein Wesen wie er es war überhaupt noch Schlaf brauchte, aber anscheinend irrte er sich in diesem Punkt. Nicht viel vielleicht, aber ein bisschen? Es erschien ihm reizvoll die Lider fallen zu lassen und für einige, wenige Augenblicke weg zu dämmern, doch er wollte nicht unhöflich gegenüber Oswald sein, der, zumindest für seinen Teil, ein angeregtes Gespräch mit ihm führte. Oswald war ein guter, ehrlicher Mann, vermutlich einer der letzten auf dieser elenden, sich verdunkelnden Welt. Er wollte ihn nicht verärgern. Er hatte es nicht verdient. Ohne jede Rückfrage hatte Oswald sie auf seinem Karren mitgenommen, ihnen Speise und Trank geboten. Sie Freunde genannt, ehe sie noch kaum drei Worte miteinander gewechselt hatten. Ein seltener Lichtblick in diesen Zeiten. Alles war so finster. Alles war so kalt. So taub. Was hatte sich in den Jahren verändert? Nur er selbst. Das Land kam ihm so trist vor, die Bäume knorrig, die Sträucher voller Dornen, die Wiesen grau und ersoffen im Regen, der Boden kalt, nass und verschlammt, der Himmel schwarz, der Wind eisig, donnernde Wolkenberge und grelles, geisterhaftes Leuchten in der Ferne. Nicht nur jetzt, im Sturm, nein, seit Jahren. Seit seiner Verwandlung. Monatelang hatte er die Sonne nicht gesehen, doch jetzt, wo er sie wieder sehen konnte, war ihr Licht kalt und blau und sie hüllte sich in einen Mantel aus Nebel, Dunst und Wolken, war nur als grelle, unangenehm beißende Scheibe hinter einem dunklen Vorhang zu sehen. Aber nicht nur die Sonne und der Himmel schienen ihm verändert. Auch die Menschen. Dreckig, verlogen, mit eingefallenen Gesichtern und toten, leeren Augen, als lebten sie nur von Tag zu Tag, nicht weil sie leben wollten, sondern weil sie es mussten, da sie sich vor dem Sterben fürchteten. Vor dem Leben, wahrem Leben, allerdings auch. Er fragte sich, ob er früher auch so war und nur jetzt, wo er kein gewöhnliches Leben mehr führen konnte, sah, wie die Menschen ihre Zeit auf dieser Welt vergeudeten, doch es kam ihm nicht so vor. Als er noch lebendig gewesen war, ja, da hatte die Sonne golden gestrahlt, den blauen Himmel mit glänzendem Licht geflutet, schöner und leuchtender als alle Diamanten dieser Welt es konnten. Grünes Gras hatte sich sanft im lauen Wind gewiegt, die Erde war fest, warm und von einem satten Braun gewesen, hatte nach Leben geduftet. Das Lachen der Menschen, sein eigenes ebenfalls, hatte fröhlich und voll geklungen, heute klang es nur noch lieblos und hohl, falsch und vorgetäuscht. Oswald erinnerte ihn an diese alte Zeit, wie er so offenherzig über dieses und jenes plauderte, ihm von seinen Kindern erzählte, seinem Beruf, der ihn glücklich machte, seiner Frau, die ihn liebte, seinen Nachbarn, die er schätzte, sein Handelshaus, das ihn nährte und seinem Heim, das ihn wärmte. Er sprach nicht über Gerüchte von Schatten, Orks und wandelnden Toten, er sprach nicht über Krieg und Tod, nicht über den Imperator, der ja alles viel besser hätte machen können, nicht über Sigmar und seine gerüsteten Priester, von denen er sich so viel erwartete und die nie für ihn da waren, nein. Er sprach nur über gute Dinge. Und Schneider konnte es genießen, ohne ihm auch nur eine Sekunde lang zu zu hören. Es war angenehm, ruhig und machte sein Herz leicht. Keine schlimmen Geschichten, keine dunklen Legenden. Ehrliche Worte eines ehrlichen Mannes.
Er blinzelte verwirrt und es war ihm, als sei er doch für eine kurze Zeit weggenickt, denn Oswald sprach plötzlich nicht mehr und die Gegend schien leicht verändert. Weniger Bäume, mehr Schlamm. Der Himmel hatte ein kränkliches Weiß angenommen, ein ungesundes, diesiges Licht stach durch die Wolken. Ihm fiel auf, dass er auf dem Kutschbock in sich zusammengesunken war und setzte sich wieder auf, rieb sich mit einer Hand die juckenden Augen. "Ihr wart kurz weggetreten, mein Freund", lachte Oswald und schlug ihm herzlich auf die Schulter. "Ihr habt geschnarcht wie ein alter Zwerg!"
"Verzeiht", murmelte Schneider und spürte, wie das taube Gefühl der Müdigkeit langsam aus seinen Armen und Beinen wich.
"Ich bitte Euch, eine Entschuldigung ist nicht von Nöten, es war ein anstrengender Tag für Euch, mit ein paar anstrengenden Stunden."
Oswalds Stimme hatte einen sehr vertraulichen Ton bekommen und er nickte Schneider mit ernstem Blick zu. Bei diesen Worten schälte sich die Erinnerung an Odinoki aus seinem bleiernen Verstand und er sah sich nach ihr um. Auch sie schien eingenickt, hatte jedenfalls die Augen geschlossen, saß aber immer noch in der gleichen Haltung wie vorhin zwischen den Kisten und Säcken. Leise rief er ihren Namen, doch sie reagierte nicht. Wenn sie ihn gehört hatte, dann wollte sie es ihm nicht zeigen. Mit niedergeschlagener Miene wandte sich Schneider wieder an Oswald: "Wie lange war ich weg?"
"Nur eine Stunde, vielleicht zwei. Kein Grund sich zu schämen, mein Freund, ich hatte hier alles wunderbar im Griff." Er zwinkerte und nickte Schneider aufmunternd zu. Die Wulst seines Halses schob sich dabei hoch in seine Wangen, formte sie zu zwei großen Kugeln und ließ ihn aussehen wie ein freundliches, dickes Nagetier, mit einem breiten Lächeln auf den aufgeplusterten Zügen. Schneider musste grinsen, ob der gesunden, fleischigen Erscheinung des großen Mannes, doch es war kein Hohn darin, sondern nur ehrliche Freude. Bei jeder Bodenwelle wackelte Oswalds gesamter Leib und sein Bauch sprang in die Höhe, als verberge sich ein aufgeregter Welpe darin.
"Habt vielen Dank dafür, für alles", antwortete er ihm mit einem Lachen.
"Ach nicht doch, eigentlich müsst ihr auch gar nicht mir danken. Sondern Grolo, dem alten Ochsen, schließlich zieht er den Karren und meinen dicken Hintern. Auch wenn er manchmal zieht wie ein greises Maultier!" Oswald ließ ein bäriges Lachen hören und schlug dem Ochsen mit der Rute ein paar mal sanft auf das Hinterteil. Ein tiefes, ruhiges Blöken war die Antwort. Schneider muss erneut lachen. Grolo und Oswald kamen ihm vor wie zwei alte Freunde, auf gemeinsamer Reise in die unbekannte Fremde. "So dick ist Euer Hintern auch nicht, Oswald, immerhin nicht so dick wie seiner" , sagte er und deutete auf den Ochsen. "Das will ich aber überhört haben", antwortete Oswald mit gespieltem Ernst, "Niemand sagt etwas gegen meine alte Milchkuh!"
Plötzlich ging ein Ruck durch den Karren, Grolo schnaubte nervös und zog mächtig an und Schneider, der nicht damit gerechnet hatte, wäre beinahe vom Kutschbock gefallen. "He", rief Oswald, der auch sichtlich überrascht war, "so war das doch gar nicht gemeint, du alter Sturkopf!" Doch mit Worten schien sich der Ochse nicht beruhigen zu lassen, im Gegenteil. Grolo zog immer stärker und schneller, verfiel in leichten Trab und war scheinbar völlig außer sich. Er blökte und schnaubte und befand sich in heller Panik. Doch die Geschwindigkeit war zu hoch für die unebene Straße und wenn sich der Ochse nicht beruhigte und sie nicht wieder langsamer wurden, dann würde bei dem schwer beladenen Karren noch die Achse brechen. Oswald meckerte und fluchte, hieb seinen Ochsen mit der Rute, doch auch wenn Schneider keine Ahnung von Vieh hatte, bezweifelte er dennoch, dass das irgendetwas nützte. Der dicke Kaufmann konnte nichts tun. Jemand tippte ihm auf die Schulter und er wandte sich um und sah in Odinokis besorgte Augen, die fragend mit den Schultern zuckte. Er befahl ihr, sich wieder nach hinten zu setzen und ruhig zu bleiben, dann sprang er mit einem Satz vom Bock. Matsch spritzte auf, als er bis zu den Knöcheln in den braunen Boden sank, doch der rutschige Schlamm störte ihn nicht. Mit wenigen, schnellen Sprüngen hatte er den wildgewordenen Ochsen überholt und stellte sich breitbeinig vor ihm auf die Straße. Ungebremst donnerte Grolo auf ihn zu, warf den Kopf in wilder Angst umher, Schaum stand ihm vorm Maul. "Was tut Ihr da? Seid ihr wahnsinnig? Verschwindet da!", hörte er Oswalds Stimme durch das panische Blöken, des Ochsen hindurch. Er konnte das ängstliche Gesicht des Mannes sehen, verzerrt durch die Schleier des aufspritzenden Schlamms.
Mit einem Ruck trafen Grolo und Schneider aufeinander. Der Vampir packte den heranrasenden Ochsen an den Hörnern, drückte seinen Schädeln nach unten und stemmte sich mit aller Macht gegen das tobende Tier. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seine Arme, als seine Muskeln sich bis zum Zerreissen spannten, um gegen die Kraft des ausgewachsenen Bullen zu bestehen und er stieß einen kurzen Schrei aus, biss dann die Zähne zusammen und legte seine gesamte Stärke in den Versuch, die vorantreibende Wucht von Tier und Karren zum Stillstand zu bringen. Mehrere Schritt weit wurde er von Grolo durch den Schlamm geschoben, spürte wie kleine, scharfe Steine im Schlamm ihm seine Füße und Waden zerschnitten, doch dann, nach einigen endlosen Sekunden, kam das Gespann endlich zum Stehen. Keuchend ließ sich Schneider gegen den breiten Hals des immer noch unruhigen Ochsen sinken, hielt weiterhin seinen Kopf nach unten gedrückt, doch der Bulle leistete kaum noch Widerstand. Mit einem Kribbeln verheilten seine geschundenen Füße. Wie benommen tätschelte er Grolos Kopf, spürte die aufgeregte Hitze des Tieres an seinem Körper und der angestrengte Geruch von Fell und Schweiß stieg in seine Nase. Schnell und schwer pumpte das Herz des Ochsen das Blut durch seinen Leib, ließ den großen Lebensfaden an seinem Hals in regelmäßigen Abständen erbeben. Schneider schluckte. Seine Kehle erschien ihm plötzlich wie ausgedörrt. Er hatte ohnehin lange nichts getrunken und die Anstrengung hatte ihn durstig gemacht. Wie eine Faust hämmerte jeder Herzschlag des Ochsen in seinem Schädel und er konnte seine roten Augen nicht mehr von der pulsierenden Ader wenden. Der Durst wurde schlimmer, das Pochen in seinen Ohren zu einem schrillen, betäubenden Rauschen. Ein hohes Pfeifen füllte den Raum hinter seiner Stirn, ein schriller, beißender Ton, der in seinem Kopf schmerzte und der nur verschwinden würde, wenn er seine Zähne in das zähe Fleisch des Ochsen grub und sein dunkles, dickes Blut soff...
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus seinen düsteren Gedanken und Lüsten. Erschrocken fuhr Schneider herum und blickte in Oswalds Gesicht. Der feiste Mann stützte sich an Grolos Rücken ab und war mehr außer Atem als Schneider selbst. Schillernder Schweiß stand ihm auf der Stirn, aber sein Blick war klar und ernst. Schneider, immer noch keuchend und wild mit einer Hand gestikulierend, suchte nach Worten und hoffte irgendwie überspielen zu können, dass er gerade mit bloßen Händen einen rasenden Ochsen gebremst hatte. "Ich weiß nicht, weshalb er durchgedreht ist.“, begann er, „Vielleicht sind irgendwo Wölfe in der Gegend, oder ein Bär, den er gewittert hat, oder sonst irgendwelche anderen wilden Tiere. Wir sollten auf jeden Fall sicher schnell weiter."
Oswald nickte, ließ ihn aber nicht aus den Augen. "Ihr habt sicher recht, mein Freund", antwortete er knapp und nach Luft ringend. "Doch vorher mögt Ihr mir vielleicht erzählen, was das eben war? Ich meine, ich war schon verblüfft, als Ihr meinen Karren aus dem Schlamm befreit habt, doch ich hielt Euch für einen kräftigen, jungen Mann, der meinem alten Ochsen auf die Sprünge geholfen hat, nichts weiter, doch das hier? Ihr habt einen wilden Bullen gestoppt, mit nichts weiter als euren Händen und Euch... Euch fehlt nichts? Nicht ein Kratzer, kaum verausgabt! Verzeiht, mir mein Freund, doch bei Euch geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu! Kein gewöhnlicher Mensch vermag so etwas zu tun!"
"Oswald...", begann Schneider und suchte fieberhaft nach einer Ausrede, doch ihm wollte nichts vernünftiges einfallen. "Eigentlich... möchte ich lieber nicht darüber reden." Schneider hoffte nicht darauf, dass der Mann sich davon abwimmeln lassen würde, zu seltsam würde es ihm selbst vorkommen, wäre er an seiner Stelle. Wenn er ihm die Wahrheit sagte, würde er wieder zu Fuß reisen müssen, Odinoki auf dem Rücken tragen, durch Nacht und Unwetter. Und Oswald hatte allen Grund dazu, ihn stehen zu lassen und sich panisch aus dem Staub zu machen. Wenn Schneider ehrlich zu sich selbst war, dann war er es vermutlich selbst gewesen, der Grolo so in Angst versetzt hatte. Wahrscheinlich hatte das Tier seinen aufkeimenden Durst gespürte und versucht vor ihm, vor Schneider, zu entkommen. Mal wieder hatte er, er selbst, seine Begleiter in Gefahr gebracht. Wäre Odinoki was geschehen, er hätte es sich nicht verzeihen können.
"Ihr sagt mir besser, die Wahrheit", sprach Oswald mit flüsternder Stimme. "Sonst..."
"Ihr wollt mir drohen?", fragte Schneider ehrlich verblüfft und warf dem dicken Mann einen zweifelnden Blick zu. Zu seiner Verwunderung brach Oswald nur in schallendes, anscheinend ehrlich belustigtes Gelächter aus. "Was...?"
"Ich Euch drohen, mein Freund? Oh nein, oh nein! Ihr reißt mir noch mit bloßer Hand ein Rad vom Karren! Nein, nein, nein. Aber ihr hättet es mir doch sagen können!"
Schneiders Verwirrung kannte keine Grenzen mehr. Wieso war Oswald so ausgelassen? Störte es ihn überhaupt nicht, dass ein fleischgewordener Dämon vor ihm saß? Ein Kind der Nacht? Fürchtete er sich nicht vor ihm? Oder wovon sprach der Mann?
"Was meint Ihr?"
Oswald musste sich den Bauch halten vor Lachen. Machte er sich über ihn lustig? "Na, ihr wisst schon!", rief er fröhlich aus. Schneider zuckte mit den Achseln. Nein, er wusste nicht. "Ich bitte Euch, Ihr seid enttarnt! Es ist so offensichtlich!“ Sprachlosigkeit. „Ihr seid ein Hammerträger! Gesegnet von Sigmars Kraft!" Schneider fiel ein Steinbruch vom Herzen und in seinem Hals löste sich ein gewaltiger Klumpen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass auch Odinoki lauschte. Vielleicht war das ganz gut so. "Eigentlich hätte es mir gleich auffallen müssen", plauderte Oswald geradewegs aus dem Bauch heraus. "Ich meine, ihr seht schon so aus wie er! Seht euch an! Die wilden Augen, das zottelige blonde Haar, der dichte Bart! Ihr seht aus, als sei Sigmar höchstselbst zu uns zurückgekehrt! Kein Wunder, dass er Euch mit seiner Macht segnete! Selbstredend, dass ihr mehr Kraft in euren Armen habt, als der alte Grolo in seinem ganzen Leib! Ein greiser Esel, ich hab es doch gesagt!" Während Oswald sich in weiteren Tiraden erging, musste Schneider vor Erleichterung leise lachen. Auf diese Ausrede wäre er niemals selbst gekommen, dabei war sie tatsächlich gar nicht abwegig, zumindest solange er keinem wirklichen Sigmariten begegnete. Die Leute würden Odinoki und ihn nicht mehr abweisend, sondern viel eher zuvorkommend behandeln! In Altdorf selbst müsste er sich was neues einfallen lassen, die Priester des Tempels würden ihm zu schnell auf die Schliche kommen, aber bis dahin hatte Oswald ihm den besten Einfall seit langem geliefert! "Nun, wo Ihr es wisst", sprach Schneider mit erlöster Stimme und klopfte dem Mann vorsichtig auf die Schulter, "fühle ich mich deutlich besser. Es belastet das Herz, Geheimnisse mit sich zu tragen. Ich wollte nicht, dass Ihr euch von mir eingeschüchtert fühlt!"
"Ach, i wo!", rief Oswald und strahlte nahezu. "Keine Bange, mein Freund, ich lasse mich schon nicht so leicht einschüchtern! Und Ihr scheint mir wahrlich ein feiner Kerl zu sein! Doch nun kommt, lasst uns weiterfahren! Nun wo es raus ist, habt ihr sicherlich einige interessante Geschichten zu erzählen, von eurem abenteuerlichen Leben! Ich bin sicher, Ihr seid weit gereist? Habt Dämonen bekämpft?" Innerlich fluchte Schneider schon wieder, da er sich nun irgendwelche haarsträubenden Geschichten ausdenken musste. Er hätte von der großen Schlacht erzählen können und seine Rolle einfach leicht verändern, doch er wollte diese Zeit lieber ruhen lassen und in Vergessenheit begraben. Ihm würde schon was anderes gutes einfallen. Er lächelte und zwinkerte Odinoki zu. Auch sie schien irgendwie befreit und lächelte, das erste mal seit langer Zeit wieder, zurück. Schneider dankte in Gedanken kurz Sigmar und bat um Verzeihung dafür, dass er sich ohne Recht anmaßte, sich selbst als sein Geweihter zu bezeichnen, doch er war sich sicher, dass der Gott ihm verzeihen würde. Mit einem Satz zog er sich auf den Kutschbock und half dann dem dicken Oswald hinauf, der jedes mal einige Mühe damit hatte, sich hier hoch zu hieven. Als sie beide saßen stupste Oswald Grolo mit der Rute an und das Gespann setzte sich wieder langsam in Bewegung. Der Ochse wirkte immer noch sehr unruhig, gehorchte aber und hielt die Geschwindigkeit. Augenblicklich begann der Kaufmann ihn auszufragen, doch da er ihm zwischen seinen Fragen keine Zeit zum Antworten ließ, hatte er wohl noch eine Weile, bis er sich die ersten paar Lügen ausdenken musste. Schneider lächelte zufrieden. Was für ein unglaubliches Glück, dass sie Oswald getroffen hatten. Ein gutes Gefühl für die Zukunft erfüllte ihn. Seinen ersten Freund hinter Altdorfs Mauern hatte er schon mal gefunden. Er lehnte sich zurück und betrachtete den Himmel. Weit über ihnen kreiste ein großer Raubvogel. Wohl ein Adler oder ein Falke, auf der Suche nach Mäusen oder Hasen im Schlamm...
Der Schlag des Hammers traf ihn und augenblicklich wurde alles stumm und schwarz. Ein Meer aus Kälte und Endgültigkeit schwappte über ihn, zog ihn in seine drückenden Tiefen. Sterben rann in seine Kehle und flutete seine lang erkalteten Lungen. Er hatte gedacht, es würde sich anders anfühlen, doch wie es war, war es gut. Es war so ruhig. So still. So still... War er bereits tot? Oder steckte noch ein letzter Funke seines vergehenden Unlebens in ihm? Wie lange würde es noch dauern? Und wie, ja, das war die größte Frage, wie würde sich wohl dieser letzte Schritt anfühlen? Friedlich? Ja, das hoffte er, friedlich. Schon die Ruhe und Gleichgültigkeit, die die Dunkelheit um ihn herum umspülte schien ihm angenehm, doch noch war er da. Da war noch etwas. Seine Seele kreiste noch in seinem toten Körper, machte sich bereit für den ewigen Schlaf. Wie er sich darauf freute. Er hoffte, Walther Groll würde zu seinem Wort stehen. Sein alter, alter Feind. Markus war geschlagen, er hatte seine Rache gefunden und nun war nichts mehr geblieben, was er auf dieser Welt zu tun hatte. Er war fertig. Es war zu Ende. Eigentlich hatte er keinen Grund, dem Sigmarpriester zu trauen, doch er hegte auch keinen Zorn gegen ihn. Mochte er tun, was er gedachte. Er hatte es verdient, dass er es war, der ihn schlussendlich zur Strecke hatte bringen dürfen. Zwanzig Jahre, vielleicht noch länger, für einen Menschen eine so lange Zeit... so lange, hatte er ihn verfolgt, seine Ränke geschmiedet, um den Imperator zu einem Angriff auf Sylvania zu drängen und so vieles mehr menschenmögliche aufgebracht.... Ja, er hatte es verdient. Es war gut so. Es war endlich passiert.
...
Wie viel Zeit war vergangen? Er war noch da. Noch immer. Doch da waren keine Tage, keine Jahre, Jahrzehnte. Sein Bewusstsein war nur Dunkelheit. Vielleicht war er erst seit ein paar Stunden tot, vielleicht schon ein paar Dekaden. Eine halbe Unendlichkeit? Er wusste es nicht. Wo war sein Leib? War er beerdigt worden? War Tatjana bei ihm? Hatte Walther Groll sein Versprechen gehalten? Dunkelheit, nur Dunkelheit und Stille. Er war noch da. Irgendwo. Doch diese Einsamkeit machte ihm Angst. Wie viel Zeit war vergangen? Was war geschehen? Wann würde er endlich sterben? Wieso ließ man ihn nicht ziehen.
Es kam ihm lange vor, so lange und irgendwann war er sich sicher, dass mehrere Jahrhunderte vergangen sein mussten! Er wünschte sich, dass seine Seele endlich dem Chaos anheim fallen möge, alles wäre besser als diese Stille, alles. Sogar Qual. Hauptsache etwas. Aber da war nichts. Finsternis. Stille. Stille. Stille...
Doch dann, endlich. Endlich, nach langer Zeit, drang ein schmaler Strahl von Licht in die Dunkelheit. Ihm war als sehe... oder fühle... er einen Schatten, der sich durch diesen Strahl drängte. Ein Geruch von Ruhe und Stein drang in seine Nase. Er fühlte... ja... er fühlte... Walther Groll. Er wusste nicht ob er mit dem Auge oder mit seinem Verstand sah, doch er sah Walther Grolls dichten brauen Bart und dort auf seinem Arm - Tatjana! Er hatte sein Versprechen gehalten! Er fühlte Glück. Dann wurde alles wieder schwarz und dunkel, doch er fühlte, dass er nicht mehr alleine war. Dort war Tatjana. Sie war bei ihm, auf ewig! Und auch, wenn er niemals seinen Frieden finden sollte, diese Stille, diese Dunkelheit, doch mit ihr zusammen, das war für ihn vollkommen. So konnte es bleiben, auch für tausende von Jahren. War dies das Ende? Vielleicht gab es keine Hallen Sigmars, vielleicht gab es keine Feuer und Chaosgötter, keine Qualen und ewigen Leiden. Vielleicht war dies das Ende. Vielleicht war es immer so. Bei Tier, Mensch und Monster... Er spürte Tatjana an seiner Seite. Hin und wieder suchte er sie mit Blicken, doch er konnte sie nicht sehen. Um ihn war nur Finsternis, doch er wusste, sie war da. Und sie wusste es auch. Sie waren zusammen. Vereint. Auf ewig. Lange, stille Zeit verging und er gewöhnte sich an diesen Zustand, an diese Art des Seins. Es war wie ein langer, langer Traum, aus dem ein Mann nicht mehr erwachen konnte. Er lernte, ihn mit Bildern zu füllen, mit Farben und Tönen. Nichts davon existierte wirklich. Er war tot, das wusste er. Doch der Tod erschien ihm nicht so furchteinflößend. Es war angenehm. Und still. So viel gleichmäßiger als das Leben. So viel gleichmäßiger als der Tod, den er zuvor gekannt hatte. Lange, stille Zeit verging.
Und dann, eines Tages. Ein Lichtstrahl, erneut. Wieder der Geruch von Ruhe und Stein, wieder ein Schatten, der in diese Stille trat. Weitere Gesellschaft? Er wünschte nicht, dass jemand drittes die Ruhe von ihm und Tatjana störte, nein, er wollte mit ihr alleine bleiben! Und ohnehin, wer könnte es sein? Er sah, fühlte die Züge des Mannes, wusste, dass er sich über ihn lehnte, über seinen toten Leib. Die Ruhe war verschwunden. Krieg herrschte in ihm. Panik. Er kannte dieses Gesicht. Bleib fort, wollte er schreien, doch es gab nur Stille. Nur Stille. Er wurde entrissen, aus seinem Traum. Tatjana war verschwunden. Und er fühlte Unglück. Hilflos. Ohnmächtig. Er konnte nichts tun. Überall war diese einsame Dunkelheit. Und lange, stille Zeit verging...
Erneut der Strahl, erneut das Gesicht. Erneut Krieg und Panik. Wie viel Zeit war vergangen? Tatjana! Tatjana! Wie lange hat sie ohne ihn sein müssen? Wie sehr musste sie leiden! Wie sehr er selbst litt! Er wollte schreien, doch - Stille. Er fühlte Kälte - das erste mal seit langem fühlte er etwas. Es war seltsam, als fülle sich sein Körper mit Wasser, wie ein Tonkrug. Er war noch da. Er war wieder da. Nein! Er spürte etwas. Eine Art... Geschmack? Salz. Metall. Blut auf seiner Zunge. Es waren die ersten sinnlichen Gefühle seit einer schieren Ewigkeit und es wirkte sonderbar unvertraut. Es war, als rissen plötzlich tausende, gierige Finger nach ihm. Es war, als...
...
Kasimir riss die Augen auf, schrie, fuhr hoch, ein Schwall eisiges Wasser traf ihn ins Gesicht, ein grausames Lachen seine Ohren. "Willkommen zurück unter uns Unlebenden, Fürst", zerschnitt Slawas grässlich scharfe Stimme die Stille, die so lange sein Begleiter gewesen war. Er wollte ihn anspringen, zerreissen und töten, doch eine schwere Kette hielt ihn zurück. Verwirrt betastete er den Eisenring an seinem Hals. Sie hatten ihn gefangen und eingekerkert, an eine Leine gelegt, wie einen wilden Hund. Der Ring war nicht dick, doch er war viel zu schwach, um ihn zu zerreissen. "Du bist nun mein", sprach Slawa und seine Stimme schien von einer sonderbar bleiernen Härte. "Und du wirst mir zu Willen sein... bald..." Noch fühlte sich sein ganzer Leib taub an und alles erschien ihm unwirklich? Geschah das wirklich? Tatjana... Langsam füllten sich seine Augen mit kaltem Blut, heißen Tränen. Verschwommen sah er Slawas schlanke, schwarze Gestalt hinter dem roten Schleier, entsprungen aus einem grauenvollen Gemälde. Er kannte die Gewänder seiner Art. Von Carstein.
"Niemals", flüsterte Kasimir heiser. Es tat weh, sein Hals schmerzte, seine Kehle zog sich unangenehm zusammen. Es schien ihm, als habe er noch nie zuvor gesprochen. Seine Zunge schien ihm gleich einem rissigen Waschlappen. Hilflos wie ein Säugling. Slawa tat nicht mehr als ihn hemmungslos auszulachen. Der Leib des hochgewachsenen Fürsten schüttelte sich vor falscher Freude. Von all' den niederen Vampiren hatte ausgerechnet Slawa von Carstein nach der Macht über den Drakenhof greifen müssen. Er hatte Slawa gehasst. Schon damals. Und Slawa ihn.
"Sträube dich ruhig noch ein paar Jahre gegen dein erbärmliches Schicksal", antwortete Slawa mit genüsslich langgezogenen Wörtern. "Das macht deine Niederlage nur um so köstlicher für mich und umso demütigender für dich. Ein Gewinn für uns beide für ich sagen. Doch was auch immer du tust, schon bald gehört du - ganz - und - gar - mir!"
Kasimir schrie. Stemmte sich gegen seine Ketten. Es half nichts. Slawa verließ sein Verließ. Und lange, stille Zeit verging.
...
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme! Der eisige Wind strich durch Kasimirs Gesicht. Er fühlte seine ledrige Haut, als sei sie Pergament, das man eng über seinen Leib gespannt hatte. Seine einstige Schönheit war auf seinem Antlitz und in seinem Geist schon lange verblichen und vergessen. Er gehorchte bloß den Befehlen des Meister. Denken bereitete ihm Schmerzen. Erinnern noch viel mehr. Die Stimme des Meisters, das war genug. Er würde den Ring finden. Und ihn zu ihm bringen. Mit einem kräftigen Schlag seiner weiten Schwingen stieg er höher hinauf in die Lüfte, stieß durch einen Regenschleier und schmetterte einen hohen Schrei aus seiner Kehle hinaus.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme doch! Ich eile! Er war bald dort. Der Ring war nahe. Er hörte seinen Ruf. Der Sturm des Meister behinderte seinen Flug, aber bannte dafür das gleißende, schmerzende Sonnenlicht hinter die schwarzen Wolken. Er kam trotzdem schnell voran. Er war ganz und gar in seinem Element. Zu fliegen fühlte sich gut an. Gerade nach der langen Zeit, die er angekettet im Kerker verbracht hatte. Eine eiskalte Leidenschaft, oh ja, er liebte es! Er war beeindruckt, wie leicht es ihm fiel, es ging wie von selbst. Seine Flügel zerteilten Luft und Winde, trugen ihn schneller und weiter als jeden Vogel dieser Welt. Ein Kinderspiel. Als wäre er niemals etwas anderes gewesen, als das, was er jetzt war. Ein Vargheist.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme ja, ich komme ja! Stunden vergingen, später ein Tag, dann ein zweiter. Doch unaufhörlich kam Kasimir von Carstein dem Ring näher. Das konnte er spüren. Er hörte seinen stetigen Ruf, seinen Befehl. Und die Stimme des Meister, in seinem Kopf. Bring ihn zu mir. Bring ihn zu mir. Bring ihn zu mir. Vergessen waren alte Zeiten und alte Namen. Slawa, diesen Namen liebte und hasste er. Er wusste, dass er ihn hasste. Es gab nichts, was er mehr hasste. Doch es war der einzige Name, den er kannte. Dafür liebte er ihn. Es war alles, an das er sich erinnern konnte. Slawa. Und sein Ring. Alles was er hassen und lieben konnte. Und man musste hassen und lieben.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme! Er war dort. Seine Reise war zu Ende. Irgendwo unter ihm war der Ring. Dort, auf der finsteren Erde. Er presste die Flügel an seinen Leib und stieß kreischend durch die Wolkendecke, spannte sie dann ruckartig wieder auf und schwebte gleich einem gewaltigen Raubvogel in der Luft. Weit hing er über der Welt und seine glühenden Augen suchten das flache Land ab. Der Ring war hier. Er spürte ihn. Bring ihn zu mir. Dort. Dort war er. Einige Meilen entfernt erkannte er einen kleinen Karren, der sich über die Straße quälte, gezogen von einem fetten Tier. Der Duft von Fleisch war stark und er hätte sich zu gern auf dieses Tier geworfen und es in Fetzen gerissen, sich an seinem Blut gelabt und seine Innereien gefressen. Oh ja, das würde er! Doch erst brauchte er den Ring. Er war in diesem Tier. Oder? Nein, nein. Er war in dem Karren! Er hörte ihn rufen! Komm zu mir! Ich komme, dachte Kasimir. Ich komme. Und erneut setzte er zum Sturzflug an. Er stieß nieder wie der geflügelte Tod höchstselbst, so schnell, dass kein menschliches Paar Augen ihm zu folgen vermochte! Vor ihm zerteilte sich die Luft so scharf, dass sie wirbelnde, weiße Schleier bildete, die ihn umspielten wie Fahnen im Sturm! Dieses Gefühl war vollkommen! Alles was er wollte. So könnte es bleiben, auch für tausende von Jahren, so, wie er hier auf seine Beute niederstieß. Doch es währte nur ein paar verstreichende Bruchteile eines Moments. Er streckte seine Klauen aus, zielte genau auf den Karren, auf den Ring! Gleich war er da! Nur noch einen Augenblick!
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Komm zu mir.
Ich komme!
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