Schwarmbewusstsein – was ist das?
Jetzt wird’s schwierig, denn dieses Thema überschreitet den Bereich der Naturwissenschaften und spielt in die Metaphysik des 40k-Universums hinüber. Also: Alles, was mir da einfällt, ist mit entsprechender Vorsicht zu genießen ?
Der Begriff hive mind wurde nicht von GW geprägt, sondern ist im Englischen allgemeinsprachlich und meint praktisch dasselbe, was im Deutschen als kollektive Intelligenz oder Gruppen-/Schwarmintelligenz bezeichnet wird. Die Codices von GW übersetzen es traditionell mit Schwarmbewusstsein, was eine interessante Entscheidung war, da man sich darunter fast so etwas wie ein Wesen vorstellen kann (während „Intelligenz“ sehr abstrakt bleibt und nicht zwangsläufig an eine Wesenheit denken lässt). Dadurch ist eine Mehrdeutigkeit entstanden, die es ermöglichte, sich den „Großen Verschlinger“ als eine Art Personifikation dieses Wesens vorzustellen und ihn womöglich sogar als übersinnliche Entität im Warp zu verorten. Ob das zutreffend oder sinnvoll ist, kann ich nicht bewerten, da wir damit ja wirklich den Bereich der Wissenschaften verlassen. Ich versuche deshalb, auf einer eher biologischen Ebene anzusetzen.
„Kollektive Intelligenz“ bezeichnet die Fähigkeit von Kollektiven, Konstruktions- oder Problemlösungs-Leistungen zu vollbringen, die keinem einzelnen Mitglied des Kollektivs alleine möglich gewesen wären. Einfacher gesagt: Das Kollektiv zeigt Fähigkeiten, die sich nicht aus der Summe der Fähigkeiten seiner Mitglieder erklären lassen, sondern nur aus ihrer Interaktion. Schon seit langem wird dieser Begriff auf Insektenstaaten angewandt; in neuerer Zeit auf alle möglichen Interaktionen von Lebewesen einschließlich des Menschen.
Klassiker sind z.B. Wespen, die ein Nest bauen. Keine einzelne Wespe hat dabei einen „Masterplan“ und eine Vorstellung davon, wie das Nest am Ende aussehen soll; trotzdem kommt eine bestimmte, sehr regelmäßige Form zustande. Entscheidend dabei ist, dass es keinen master mind gibt, der das Kollektiv anleitet. Also: Kein einziger hat das Konzept im Kopf, sondern es ergibt sich erst aus der Zusammenwirkung aller. Jede Wespe hat nur ihren kleinen, begrenzten Arbeitsabschnitt vor sich, ahmt die anderen Wespen nach und wird zugleich von ihnen nachgeahmt, sodass eine vielfache Rückkopplung entsteht, die das Ergebnis in einer bestimmten Weise formt.
Das andere bekannte Beispiel ist die Ameisenstraße. Eine Ameise findet etwas Essbares und läuft zum Nest zurück. Dabei gibt sie Pheromone ab, die ihren Weg markieren. Nach und nach folgen andere Ameisen dem Weg, finden aber viele kleine Abkürzungen oder beseitigen hier und da ein Hindernis. Wenn immer mehr Ameisen folgen, entsteht eine gebahnte „Straße“, die den kürzesten Weg zur Nahrungsquelle darstellt, ohne dass eine einzelne Ameise allein genau diesen Weg finden musste.
Das Konzept ist sehr fruchtbar und lässt sich auch auf andere Systeme anwenden. Zum Beispiel wurde schon oft das menschliche Gehirn mit einem „Superorganismus“ verglichen, und zwar, weil einzelne Gehirnzellen ja eigentlich „dumm“ sind und nichts weiter können, als elektrische Impulse zu empfangen und weiterzugeben. Intelligenz ergibt sich erst im Zusammenspiel extrem vieler Zellen, wobei Qualitäten wie „Gedanken“ oder „Gefühle“ auftauchen, die sich nicht aus den Eigenschaften einzelner Zellen erklären lassen (denn die Zelle denkt nichts). Solche Eigenschaften nennt man „emergent“ („aufleuchtend“), d.h. sie tauchen ab einer gewissen Organisationsgröße plötzlich wie aus dem Nichts auf. Auch das Internet ist mit einem solchen Superorganismus verglichen worden. Z.b. gelang die Entschlüsselung des Genoms von SarsCoV-2 durch einen ungeplanten und nicht zentral geregelten internationalen Informationsaustausch diverser Forscher via Internet.
Für kollektive Intelligenz ist also vor allem eine Eigenschaft maßgeblich: Sie hat keine zentrale Koordination. Keine Wespe oder Ameise gibt den Ton an; keine Nervenzelle „regiert“ über die anderen und sagt ihnen, was zu tun ist. Der Superorganismus ist quasi eine „Masse ohne Führer“.
Dieser Aspekt ist jetzt sehr wichtig in Bezug auf die Tyraniden. Zum Vergleich verweise ich auf den Film „Starship Troopers“, weil den vermutlich jeder kennt. Auch dort geht es um eine insektoide Alienrasse. Die „Bugs“ in diesem Film haben im Grunde aber keine kollektive Intelligenz. Stattdessen gibt es eine spezialisierte „Vordenker“-Klasse, die brain bugs. Sie sind es, die Strategien ausarbeiten, Entscheidungen treffen und ihre Anweisungen an die anderen Organismen kommunizieren. Kollektive Intelligenz ist es deshalb nicht, weil hier vielmehr die Intelligenz Einzelner, nämlich eben der brain bugs, das Verhalten des Kollektivs steuert.
Und hier meine These: Ich glaube, dass die Tyraniden das Beispiel für eine „echte“ kollektive Intelligenz sind bzw sein sollen. Das heißt: Sie haben keine brain bugs. Ich weiß noch, als vor Jahren der Zoantroph erschien, wie ich dachte: Ach schade, jetzt gibt es also doch einen „Master mind“. Glücklicherweise stellte sich dann heraus, dass diese Kreaturen einfach „nur“ Psioniker und nicht so etwas wie Vordenker oder Strategen sind. Meine These wäre, dass es bei den Tyraniden gar keine Vordenker gibt, und dass ihre strategischen und operativen Leistungen tatsächlich das Ergebnis kollektiver Intelligenz darstellen.
Gegen meine Annahme scheint zunächst einmal die Existenz der Synapsenkreaturen zu sprechen. Sind sie nicht die Vordenker? Leiten sie nicht Befehle direkt oder über andere Synapsenkreaturen an die Schwärme? Handelt es sich also nicht einfach um eine Befehlskette wie bei gewöhnlichen Armeen?
Ich glaube nicht – auch wenn ich es nicht beweisen kann. Vielmehr vermute ich, dass eine Synapsenkreatur wie z.B. ein Schwarmtyrant ähnlich hilflos wäre wie ein Hormagant, wenn er allein und von jeder Verbindung mit dem Schwarm getrennt wäre. Zumindest, vermute ich, wäre er verwirrt, in seinem Denken verunsichert und in seinem Handeln gehemmt. Deshalb sieht man Synapsenkreaturen auch nie einzeln in Erscheinung treten, weil sie den Schwarm offenbar auf ganz ähnliche Weise brauchen wie der Schwarm sie. Individuelles Heldentum, echtes Ausscheren aus der Gesamtstrategie, subjektive Bewertung von Situationen scheint selbst bei Synapsenkreaturen kaum bis gar nicht vorzukommen. Zumindest müssen mehrere Synapsenkreaturen zusammen ein synaptisches Netz bilden, also wieder als Kollektiv arbeiten, um schnelle und sichere Entscheidungen zu treffen.
Man kann dieses Netz sehr sinnreich mit dem Nervensystem eines Insekts vergleichen, denn das Konzept der kollektiven Intelligenz spiegelt sich darin. Insekten haben kein zentralisiertes Gehirn, sondern mehrere Nerven-„Knoten“ (Ganglien) in verschiedenen Teilen des Körpers, die untereinander verbunden sind, oft in der Form einer Strickleiter („Strickleiternervensystem“). Bildlich gesprochen: Das Insekt hat mehrere Gehirne, die zusammenarbeiten. Wie sich das Insekt dann konkret verhält, wird durch Informationsaustausch und Summierung der Impulse aus den verschiedenen Ganglien bestimmt, also auch hier quasi durch „Kollektivleistung“. Stellen wir uns das einmal bei uns Menschen vor. Angenommen, wir hätten ein Gehirn im Kopf, ein weiteres in den Händen, eins in den Füßen und eins im Bauch, alle etwa gleich groß und mit vergleichbaren Fähigkeiten. Wie würden wir dann handeln? Wahrscheinlich nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die verschiedenen Instanzen sozusagen „einigen“ können. Ich fantasiere mal: Die Füße sagen „wir sind unruhig und wollen bewegt werden“; der Kopf sagt „ich brauch frische Luft“; die Hände sagen „wir wollen jetzt mal locker baumeln“ und der Bauch sagt „Macht was ihr wollt, ist mir egal“. Ergebnis: Wir machen einen Spaziergang ?. Vielleicht funktioniert es so oder ähnlich. Alle Impulse werden summiert und bahnen quasi eine „Straße“, auf die sich das Individuum dann begibt.
GW hat das mit dem System der Synapsenkreaturen sehr schön veranschaulicht. „Synapsen“ sind bei Nervenzellen die Zwischenräume zwischen den Enden der Axone, mit denen sie sich (fast) berühren, also einfacher gesagt: die Schnittstelle zwischen zwei Nervenzellen, an der die Signale weitergeleitet werden. Eine Synapsenkreatur ist also ein „Informations-Weiterleiter“. Sie ist nicht im eigentlichen Sinne ein „Befehlshaber“ wie bei einer klassischen Armee, der eine individuelle Entscheidung trifft und den entsprechenden Befehl gibt. Vielmehr sammelt die Kreatur Impulse von anderen Kreaturen ein, bündelt sie auf irgendeine Weise und leitet sie weiter. Die eigentliche Entscheidung scheint erst durch die Vernetzung, als Summe von zahllosen Einzelimpulsen zu entstehen. Die Entscheidung wird damit vom synaptischen Netz nicht nur weitergeleitet, sondern auch von ihm getroffen; bzw. der Unterschied zwischen Information und Entscheidung ist in gewissem Sinne aufgehoben. Kommunikation bedingt die Entscheidung, und die Entscheidung wird wiederum kommuniziert; beides ist ständig miteinander rückgekoppelt.
Dazu passt, dass die von Synapsenkreaturen im Spiel bewirkten Aktionen in der Regel keine „Befehle“ sind (auch wenn im deutschsprachigen Codex die etwas unglückliche Bezeichnung „synaptischer Imperativ“ gewählt wurde). Vielmehr ist es meistens so, dass eine Synapsenfähigkeit einem Schwarm in Reichweite besondere Fähigkeiten verleiht, z.B. effektiver zu kämpfen oder von besonderem Schutz zu profitieren. Die Synapsenkreatur fokussiert dabei sozusagen den Willen aller (des Kollektivs) auf eine einzelne Einheit, die dadurch angespornt oder gestärkt wird. Es ist nicht eigentlich ein „Befehl“. Auch können die Synapsenkreaturen „netzwerken“, d.h. Synpasenkreatur A darf einen Impuls an Synapsenkreatur B senden, und B darf ihn an eine andere Einheit weitersenden. Ich würde sagen: Die Synapsenkreaturen formen eine Art Nervensystem oder Nervennetz. Keiner ist im eigentlichen Sinne der Anführer, wahrscheinlich nicht einmal ein Schwarmtyrant. Jede Kreatur ist gewissermaßen eine einzelne Nervenzelle in einem kollektiven Gehirn, und dieses Gehirn sammelt die Informationen und trifft auch die Entscheidungen.
Was die Art betrifft, wie die Informationen weitergeleitet werden – das lässt GW bekanntlich im Dunkeln, bzw. charakterisiert es als „Psi“ und damit als nicht weiter hinterfragbar. Es ist so etwas wie Telepathie. Nur, was ist Telepathie, speziell bei Tyraniden? So etwas wie „Gedankenlesen“ kann ich mir ohnehin nicht vorstellen, erst recht aber nicht bei einer Gattung von Lebewesen, die über kein abstraktes Kommunikationssystem wie Sprache verfügt. Eine Kommunikation in Bildern wäre möglich, doch bildhafte Symbole haben den Nachteil, in der Regel sehr uneindeutig zu sein. Beispiel: Vor meinen Augen erscheint das Bild einer Keule – heißt das jetzt: „hau mit der Keule drauf!“, oder „Vorsicht, jemand will gerade mit der Keule auf dich hauen, also zieh dich zurück“ ? – Gerade in Kampfsituationen eine knifflige Sache.
Es ist wohl vermessen, so etwas wie Psikräfte „erklären“ zu wollen. Aber ich greife jetzt trotzdem mal auf das zurück, was uns die Naturwissenschaften über die Kommunikation zwischen Lebewesen sagen. Von einigen Insekten, speziell Ameisen, wissen wir, dass sie Duftstoffe (Pheromone) zur Kommunikation benutzen. Es gibt ähnliche Duftsignale auch bei Amphibien und Fischen. Pheromon-Signale können sehr spezifisch sein und müssen vom Empfänger gar nicht „interpretiert“ werden, sondern lösen meist mehr oder weniger automatisch ein bestimmtes Verhalten aus. Ein „Aggregations“-Pheromon z.B. bewirkt, dass sich bestimmte Käfer an einer Nahrungsquelle sammeln. Sexualpheromone locken Geschlechtspartner an. Warn-Pheromone signalisieren Gefahr. Trotzdem ist die Semantik einer solchen „Sprache“ natürlich noch sehr eingeschränkt. Sie könnte z.B. einem Hormaganten zwar sagen „Achtung Gefahr!“, aber nicht „Schweres Feuer von links hinter dem Hügel“.
Die andere, ubiquitär verbreitete Signalsprache ist die der Bewegungen. Fast alle Tiere kommunizieren durch Haltungen, Gesten und Bewegungsmuster. Spektakuläre Beispiele sind der berühmte Schwänzeltanz der Bienen (mit der Bedeutung: „Hier ist Futter“) oder die Formationen von Zugvögeln, die eine Pfeilspitze bilden (Signal: „da geht’s lang“). Auch das sind wieder Leistungen kollektiver Intelligenz, weil es dabei keinen „Anführer“ (allenfalls einen Initiator) gibt und sich die Bewegungsmuster durch gegenseitige Rückkopplungsreaktionen quasi von selbst herstellen. Tatsächlich aber kommunizieren praktisch alle Tiere, und zwar ständig, durch Körperhaltungen und Bewegungsmuster; auch wir Menschen, obwohl das in der Regel weder dem Signalsender noch dem Empfänger bewusst ist (und gleichwohl massive Auswirkungen auf unser Verhalten hat).
Langer Rede kurzer Sinn… ich vermute, dass die Tyraniden ihr „Schwarmbewusstsein“ am ehesten durch Bewegungsmuster aufrechterhalten, eventuell durch Pheromone oder ähnliche Stoffe unterstützt. Ich glaube nicht, dass es irgendein höheres Wesen wie einen Großer-Verschlinger-Schwarmgott gibt, der sozusagen über dem Schlachtfeld schwebt und die Truppen lenkt, und auch nicht, dass einzelne Synapsenkreaturen im eigentlichen Sinn die Strategen oder Befehlsgeber sind. Beides wäre mit dem Konzept der kollektiven Intelligenz nicht vereinbar. Wenn sie wirklich kollektiv ist, wird von allen etwas dazu beigetragen, selbst vom kleinsten Termaganten.
Ich stelle mir die Sache ungefähr so vor, dass Gruppen von Tyraniden bestimmte Bewegungsmuster erzeugen, und zwar umso deutlicher, je größer der betreffende Schwarm ist. Andere Tyraniden reagieren auf diese Bewegungsmuster, je nach Situation verstärkend oder gegenläufig (=hemmend), woraus in der Summe zum Beispiel Entscheidungen über weiteres Vordringen oder Rückzug resultieren. Ich fantasiere jetzt mal: Angenommen, Termaganten stürmen auf einen feindlichen Festungskomplex ein, werden aber durch schweres Feuer zurückgeworfen und erzeugen beim Zurückweichen – als Masse – ein bestimmtes Bewegungsmuster wie eine sich brechende Welle. Auf dieses Muster reagieren andere Termaganten, weichen zurück und suchen nach alternativen Wegen. Einige finden irgendwo einen Durchschlupf und dringen ins Innere der Festung ein, wobei sie diesen Weg mit Pheromonen markieren. Andere folgen ihnen und bahnen eine „Duftstraße“, womit sie zum lebendigen Signal für den Rest der Angreifer werden. Synapsenkreaturen erkennen diese Vorgänge und kommunizieren sie durch bestimmte Bewegungen an entferntere Truppen. So könnten relativ komplexe taktische Entscheidungen im Zusammenspiel getroffen werden, wobei das Verhalten jedes Einzelnen zu diesen Entscheidungen beiträgt. Die Synapsenkreatur mag deutlich intelligenter sein als ein Termagant, aber ohne die Termaganten hätte sie die Bresche nicht entdeckt. Weitere Kommunikationsmöglichkeiten – neben Pheromonen, Körperhaltungen und Bewegungsmustern – könnten Farbsignale sein. Von einigen Tyraniden, etwa dem Liktor, sind gezielte Veränderungen der Hautfarbe bekannt. Solche Signalfunktionen gibt es auch bei Tieren.
…Und trotz alldem bleibt das Schwarmbewusstsein ein Rätsel. Ich würde euch daher bitten, wenn ihr mögt, eine Diskussion zu eröffnen. Wie interpretiert ihr das Schwarmbewusstsein? Habt ihr eine andere Erklärung, oder würdet ihr es eher rein psionisch (übernatürlich) deuten? Gibt es womöglich doch einen brain bug, oder eine geheime Tyraniden-„Sprache“, oder einen Großen Verschlinger als leitende Entität im Warp?