So, hier der nächste Teil!
Er konnte unmöglich sagen, wie lange er schon auf der Ladefläche des schaukelnden Lastwagens gelegen hatte. Zum einen, weil er nicht wusste, wie lange er nach dem Schlag des Soldaten bewusstlos gewesen war, zum anderen, weil er sich an dem schmalen Ausschnitt der Landschaft, die hinter dem Heck des Fahrzeuges sichtbar war, nicht orientieren konnte. Es mochte eine halbe stunde gewesen sein oder auch zwei oder drei. Vielleicht kam ihm die Zeit auch nur so lange vor, weil niemand sprach. Der Wächter gab keinen Ton von sich, er beschränkte sich lediglich darauf, finster dreinschauend neben der Heckklappe der Ladefläche zu sitzen und jeden Fluchtversuch schon als im Vorneherein zum Scheitern verurteilt aussehen zu lassen. Den elf Passagieren, allesamt junge, verängstigte Burschen, hatte man das Sprechen untersagt. Nicht ausdrücklich, aber als Eiken einen der anderen nach seinem Namen gefragt hatte, hatte er sich umgehend einen schmerzhaften tritt in die Nierengegend eingefangen.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als in aller Stille seinen düsteren Gedanken nach zu hängen. Er machte sich weniger Sorgen um sich selbst. Damit, eines Tages eingezogen zu werden, hatte er sich schon lange abgefunden. So gut wie jeder junge männliche Leibeigene musste früher oder später in den Krieg ziehen. Natürlich wussten sie nicht, um was genau es ging oder gegen wen sie kämpfen mussten, aber Gotfried verfügte über eine Militärmaschinerie beachtlichen Ausmaßes und sie verbrauchte Soldaten wie ein motorisiertes Fahrzeug Treibstoff. Diese Maschine war unersättlich. Es konnte niemals genügend Soldaten geben. Dennoch konnte man nicht jeden Mann in den Krieg schicken. Einige mussten bleiben, um zu arbeiten und neue Nachkommen zu zeugen. Eikens Vater war einer von ihnen. Er war nicht eingezogen worden, nein, er hatte ein Stück Land zugeteilt bekommen, das er im Auftrag des Grafen bewirtschaften musste und eine Zeugungsrate, die er zu erfüllen hatte. Man sagte den Gotfriedern nach, sie seien ausgezeichnete Organisatoren.
Worüber sich der junge Rickers wirklich Sorgen machte, war seine Familie. Seine beiden älteren Brüder waren eingezogen worden, sobald sie im wehrfähigen Alter waren und seine übrigen Geschwister waren noch nicht alt genug, um seinen Teil der Arbeit übernehmen zu können. Vater würde es nicht alleine schaffen. Das bedeutete eine Kürzung der Nahrungsrationen, die ohnehin nicht besonders reichlich waren. Sie brauchten ihn, doch er konnte nichts mehr tun, das wusste er. Familien von Verweigerern hatten größere Probleme als Lebensmittelknappheit.
Er dachte kurz an seine Mutter. Ob sie ihn wohl vermissen würde? Er konnte sich noch ziemlich gut daran erinnern, wie sie sich verhalten hatte, als sein nächst älterer Bruder abgeholt worden war. Sie hatte weitergemacht, als sei nichts geschehen. Als sei Gregor nur kurz fortgegangen, um die Ernte wegzubringen und käme bald wieder. Doch nachts, wenn das ganze Haus still war, hatte Eiken sie leise weinen gehört. Sie wusste, dass Gregor nicht wiederkommen würde. Kaum einer, der ging, kehrte jemals wieder zurück. Nicht von den einfachen Soldaten.
Rickers wurde mit einem mal bewusst, dass er die ganze Zeit vor sich auf die hölzerne Ladefläche gestarrt hatte. Er hob den Blick und bemerkte, dass hinter ihrem ein andere grauer Lastwagen fuhr. Plötzlich bremste ihr Fahrzeug ab und rumpelte schwerfällig um eine enge Kurve. Sie durchfuhren einen breiten Torbogen und kamen nach wenigen Metern ruckend zum Stillstand. Unvermittelt kam Leben in den Soldaten, der die Rekruten bewachte. Er schoss in die Höhe und brüllte: „Los, los, ihr Ratten! Endstation, alles aussteigen!“ Er packte Eiken, der der Heckklappe am nächsten saß, am Oberarm und warf ihn kurzerhand vom Lastwagen. Der Junge war dermaßen überrascht, dass er völlig unkontrolliert aufschlug und kurz orientierungslos liegen blieb. Eine kräftige Hand griff ihn am Genick und zog ihn hoch. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf dunkelgrünen Stoff, dann schrie ihm jemand ins Ohr: „Macht hier etwa jemand ein Nickerchen? Glaubst du, das hier ist eine Vergnügungsreise?“
Ein heftiger Tritt in die Kniekehle ließ ihn einknicken und gepeinigt aufschreien.
„Nicht nur faul, auch noch winselig! Das haben wir gerne...da rüber und in die Reihe stellen!“
Der unsichtbare Schinder versetzte ihm einen harschen Stoß ins Kreuz, der Eiken vornüber kippen und aufs Gesicht schlagen ließ. Staub und Sand verstopften ihm Mund und Nase. Ohne zu überlegen krabbelte er auf allen Vieren in die befohlene Richtung. Rings um ihn prügelten grün uniformierte Männer die anderen Rekruten auf die selbe Stelle zu. Die Burschen bildeten ein ungefähres Rechteck. Eiken landete in der ersten Reihe. Obwohl er noch keine fünf Minuten hier war, war er sich ziemlich sicher, dass dies kein guter Platz war. Wenigstens hatte er kurz Zeit, sich umzusehen.
Sie waren etwa zweihundert Mann verschiedenen Alters, alle relativ jung und alle heruntergekommen. Männer in dunkelgrünen, gestärkten Uniformen mit weißen Rangabzeichen und Schulterklappen hatten sie in eine ungefähr rechteckige Formation in der Mitte eines ummauerten Hofes geprügelt. Einer von ihnen, ein hässlicher Kerl mit Augenklappe und verkniffenem Gesicht, brüllte mit unfassbarer Lautstärke: „Aaaachtung! Stillgestanden und Maul gehalten, ihr nutzlosen Ratten!“
Die plötzliche Stille, die sich anschloss, traf Eiken wie einen Hammerschlag und war beinahe noch unerträglicher als das Geschrei zuvor. Die knirschenden Schritte eines zackig marschierenden Mannes ertönten, und von rechts erschien ein großer Offizier mittleren Alter im Blickfeld der Rekruten. Früher mochte er eine imposante Gestalt gewesen sein, bevor er seinen linken Arm verloren hatte und sein Gesicht durch ein enges Narbengeflecht entstellt worden war. Er blieb in der Mitte vor der Formation der jungen Männer stehen und musterte sie aus kleinen, funkelnden Augen. Dann begann er langsam die erste Reihe abzuschreiten.
Zweihundert Augenpaare folgten ihm.
„Erschreckend. Erbärmlich. Widerlich.“ Die Stimme des Offiziers war kaum mehr als ein lautes Flüstern, doch in der absoluten Stille war sie überdeutlich vernehmbar. Sie brannte wie ätzendes Gift, sodass sich den Rekruten die Nackenhaare aufrichteten.
Der Soldat war fast bei Eiken angekommen, als er plötzlich herumfuhr und dem Mann neben dem Jungen einen Stoß versetzte. Der Rekrut taumelte zurück, prallte gegen den hinter ihm Stehenden und fiel auf die Knie.
„Schwächlich.“, zischte der Einarmige, zog mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung eine glänzende Automatikpistole und schoss dem Knienden durch den Kopf. Die anderen Rekruten zuckten zurück, einige schrieen und die Formation geriet in Unordnung. Plötzlich hatten auch die anderen Uniformierten ihre Handwaffen gezogen und zielten in die Menge.
Nur Eiken hatte sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt. Alles in seinem Verstand verlangte danach, zu rennen, irgendwohin, und sich zu verstecken. Sein Magen drehte sich um. Wäre er nicht leer gewesen, hätte Rickers sich übergeben. Doch irgendein Instinkt, von dem er bis jetzt nicht einmal gewusst hatte, dass er ihn besaß, hinderte ihn daran. Er wusste einfach mit absoluter Sicherheit, dass jede Bewegung ihn in Schwierigkeiten bringen konnte. Allein dieser Instinkt hielt ihn an Ort und Stelle, nagelte ihn förmlich auf dem Boden fest.
„Niemand läuft weg!“, schrie der Offizier, seine Waffe auf die Männer vor sich gerichtet. „Wer sich rührt, stirbt!“
Als die verängstigten Rekruten sich ein wenig beruhigt hatten, fuhr er fort: „Ihr seid hier, um in Kürze für den Imperator zu kämpfen. Männer werden neben euch getötet werden. Doch ihr werdet nicht weglaufen. Ihr werdet gehorchen. Ohne Fragen, ohne Widerworte, ohne zu zögern. Ihr werdet niemals wanken. Wer diesen Anforderungen nicht genügt, wird erfahren, dass nicht nur der Feind einen umbringen kann. Kein Offizier wird ungehorsame Soldaten dulden. Merkt euch das, oder ihr werdet enden wie das da.“ Er zeigte auf den Leichnam des Rekruten, den er getötet hatte.
„Lektion Nummer eins: Niemals wanken. Ihr habt versucht, euch vor mir zurückzuziehen. Dies kann nicht toleriert werden.“ Der Offizier wandte sich an die anderen Uniformierten.
„Lassen Sie die Männer in Gruppen zu zwanzig antreten. Zwanzig Peitschenhiebe für jeden. Exekutieren Sie drei. Weitermachen.“
Noch während seine Untergebenen mit vorgehaltener Pistole Gruppen bildeten, wandte der Offizier sich an Eiken. Er näherte sich dem Gesicht des Jungen bis auf wenige Zentimeter. Der stand noch immer wie angewurzelt vor ihm.
„Du hast dich nicht gerührt. Warum nicht? Bist du taub oder blind?“
„Nein, Herr.“
„Dann bist du wohl ein Mörder und mit dem Tod vertraut?“
„Nein, Herr.“
Das vernarbte Gesicht des Offiziers verzog sich zu einer wahren Maske des Schreckens, als er grollte: „Dann sage mir, warum es dich nicht berührt, dass der Mann neben dir stirbt?“
„Ich wusste, Sie würden mich bestrafen, wenn ich mich bewege, Herr.“
„Sieh an, sieh an. Ein Mann mit Zukunft. Wenigstens mit einer kurzen. Du wirst nicht bestraft werden. Aber du wirst genau hier stehen bleiben, wie du es schon so hervorragend getan hast, und der Disziplinierung der anderen zusehen. Du wirst sehr genau zusehen und dir dabei stets sagen, dass du recht hattest. Hast du das verstanden?“
„Ja, Herr.“
Der Offizier grinste freudlos. In einer Ecke des Hofes knallte der Schuss der ersten Exekution