Die Großstadt-Guerilla marschiert
Von ralfschuler
Was sagt es aus über eine Gesellschaft, wenn eine Nischen-Splittergruppe aus dem Stand (besser aus der Bauchlage) den Sprung in ein Landesparlament schafft?
Man wird zunächst einschränken müssen, dass Berlin kein Land ist, sondern eine Stadt. Wäre die Fusion mit Brandenburg gelungen, und hätte die Metropole dementsprechend tatsächlich ein Hinterland, so wäre dieser Erfolg der Piratenpartei nicht möglich gewesen.
Die Piraten bringen das Kunststück fertig, im gleichen Partei- und Wahlprogramm einen stärkeren Schutz personenbezogener Daten und eine weitreichende Aushöhlung des Urheberrechts zu fordern. Sie prangern einen „veralteten Begriff“ von „geistigem Eigentum“ an, wollen das Recht auf Privatkopie festschreiben, Ämterdaten frei zugänglich machen, allen Ernstes „Whistleblowerschutz“ per Gesetz festschreiben und halten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble für das geeignete Pictogramm von „Stasi 2.0″.
Für jeden einzelnen Punkt finden sich sicher geeignete Beispiele, und doch ist es schon einigermaßen atemberaubend, wie leichtfertig hier Einzelinteressen als Berechtigung für Eingriffe ins gesamte Rechtsgefüge angesehen werden. Einerseits macht es sich die Netz-Guerilla zu einfach, wenn sie unterstellt, der Staat sei der größte Orwell’sche Bruder beim Datensammeln, andererseits ist Internet-Kommunismus keine hundert Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution nun offenbar modern und wählbar.
Anstatt sich gegen das schon heute sichtbare Elend zahlloser Kreativer aufzulehnen, deren Produkte von der Gratis-Unkultur im Netz verschluckt werden, wird das „geistige Eigentum“ nun mit ähnlicher Verve geschleift, wie weiland der materielle Besitz durch die Leninisten. Software-Patente findet der fröhlich-freie „Digital Na(t)iv“ überflüssig, und den „Verpfeiferschutz“ kann nur fordern, wer die umgebende Gesellschaft für ein unnötiges, lästiges und reaktionär-finsteres Netzwerk hält.
Kurz: Die Nische fordert mehr Raum. Eine Truppe, die das Internet mit der Gesellschaft verwechselt, will die Gesellschaft dem Netz anpassen. Es ist ein Philosophie, die vernetzte Kommunikation nicht als Dienstleistung für eine reale Menschenwelt betrachtet, sondern sich die virtuelle Surf-Sorglosigkeit als Vorlage für ein soziales Gewimmel draußen vorstellt. Der Gesellschaftsentwurf, der sich aus den Programm-Rudimenten der Piraten erahnen lässt, schimmert in der schattenlosen Lichtästhetik von Science-Fiction-Laboren und Fantasy-Filmen. Kann das wer wollen?
Übertroffen wird diese programmatische Wirrnis nur durch den eindringlichen Hinweis, man habe sich zu vielen Themen noch keine hinreichende Meinung gebildet, um Antworten parat zu haben. In einer Zeit, da Leerverkäufe an den Börsen geächtet werden, schafft es eine Partei ins Parlament, die Ahnungslosigkeit zum Programm macht. Was sagt es also aus über eine Gesellschaft, die nicht nur Armut sexy findet, sondern offenbar auch Geistesarmut? Lässt man die unhöflichsten Interpretationen einmal beiseite, so kann man der Hauptstadt immerhin Konsequenz und Ehrlichkeit bescheinigen: Wer genauso doof ist, wie man selbst, der eignet sich gut zum Volksvertreter. Außerdem produziert man hinterher keine Enttäuschung, wenn man vorher sagt, dass man keine Ahnung hat.
Im Grunde leuchtet hier aber wohl auch die neue Internet-Informationsgesellschaft herauf, in der sich ein paar Individualisten mit Insel-Interessen zusammentun und sich nicht mit dem Verständnis komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge beschweren. Man muss nicht das große Ganze sehen, sondern nur vor seine eigenen Füße, und da soll es irgendwie schöner und besser sein. Wird schon.
Vielleicht ist die Erklärung für den Erfolg der Piraten aber auch viel einfacher: Immer wieder traf man in den zurückliegenden Wochen (meist junge) Berliner, die im Netz den „Wahlomat“ besucht und entsetzt festgestellt hatten: Mein Werteprofil entspricht der FDP. Da liegt der Wechsel zu den Piraten in der Tat nicht fern. Die Ideenwelt ist ähnlich konfus und bindungslos wie das Auftreten der Liberalen in jüngster Zeit, nur der Name klingt halt besser.