Im letzten Moment machte sich die Bestie durch ein Schnauben bemerkbar, offenbar der Versuch, ein Brüllen zu unterdrücken. Karon fuhr herum und warf sich zur Seite, was ihn davor rettete, zerquetscht zu werden. Dafür wurde er von der rechten Klaue des Carnodons getroffen. Sie streifte ihn zwar lediglich, riss aber trotzdem tiefe Kratzer in Karon’s Schulter. Mit einem wütenden Aufschrei warf sich Karon dem Carnodon entgegen. Die Bestie schlug nach ihm, doch Karon duckte sich unter dem Schlag hinweg. Er riss sein Messer aus der Scheide und stieß es dem Raubtier zwischen die Rippen. Ein schmerzerfülltes Brüllen ertönt, und Karon schaffte es gerade noch, das Messer mit einem Schmatzen aus der Wunde zu ziehen, bevor sich das Carnodon aufbäumte. Mit ein paar schnellen Schritten war Karon hinter dem Tier. Mut, dachte er und warf sich auf den Rücken der Bestie. Er krallte sich im zotteligen verfilzten Fell fest und hangelte sich an dem mittlerweile über die ganze Lichtung tobenden Raubtier hoch. Als er das Genick erreicht hatte stieß er sein Messer hinein, erst einmal, dann zweimal, dann noch ei paar Mal. Die Bestie wurde sofort ruhiger, taumelte und brach endlich zusammen. Karon ließ sich mit zittrigen Beinen vom Kopf der Bestie gleiten. Wieder klirrte es metallisch, als sich ein Eisentor, diesmal aber auf der anderen Seite der Lichtung. Karon schritt, immer noch aufgekratzt durch das Adrenalin in seinen Adern, hindurch und folgte dem Pfad weiter durch die Dunkelheit.
Jetzt, nachdem er so unvermittelt in die erste Prüfung gestolpert war, achtete Karon auf seine Umgebung. Die nächste Prüfung hätte er allerdings ohnehin nur schwerlich übersehen können. Vor ihm tat sich eine Felswand auf, und e konnte das Gekreische der Hrun hören. Die Hrun waren etwa sieben Meter lange Flugreptilien mit etwa derselben Spannweite. Sie waren mit äußerst scharfen Zähnen bewaffnet und trugen ein Kleid aus Dornenschuppen. Die Weibchen waren im Allgemeinen größer und aggressiver, vor allem, wenn sie ihre Nistplätze verteidigten.
Da der Pfad weder nach rechts, noch nach links abbog, war klar, dass Karon nun vor seiner zweiten Prüfung stand. Er konnte allerdings nicht so recht verstehen wo der Sinn hinter den Prüfungen lag. Schließlich hatten sie, was die körperliche Anstrengung betraf, sehr viel Schlimmeres erlebt. Wie sehr er sich täuschte, begriff er eine Viertelstunde später. Nach drei Versuchen hatte er es endlich geschafft, einige Meter an der überraschend glatten Steinwand hoch zu klettern, als er von den Hrunweibchen angegriffen wurde. Das erste hatte direkt Erfolg. Es rauschte heran, traf Karon mit voller Wucht und sorgte äußerst effizient dafür, dass Karon auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde. Jetzt verstand er, was es mit der Beharrlichkeit auf sich hatte. Er kletterte wieder und wieder an der Wand hoch. Und er schaffte es! Er konzentrierte sich nur noch auf das Klettern und blendete die Stöße, Schnitte und Bisse der Hrun aus. Je mehr er sich konzentrierte, desto zügiger kam er voran. Nach zehn Minuten war der Aufstieg gemeistert, doch er gönnte sich keine Pause, um sich selbst zu gratulieren. Stattdessen rannte er weiter, in die Deckung der Bäume, denn die Hrun waren immer hinter ihm her. Irgendwann hatte er auch sie abgeschüttelt. Er war sich sicher, dass ihn nun nichts mehr stoppen könnte. Er lief weiter, zuerst beschwingt von seinem Erfolg, doch
Schnell machte sich die Erschöpfung bemerkbar. Der Weg schien endlos zu sein, und vor allem schien der Weg ihn zu besiegen. Das, was das harte Training, die merkwürdigen Maschinen und zuletzt weder das Carnodon, noch die Felswand oder die Hrun geschafft hatten, wurde schlicht und ergreifend von diesem Weg erledigt. Zur Erschöpfung gesellte sich ein merkwürdiges Gefühl der Bedrücktheit. Sein Stolz über die überstandenen Strapazen schwand und kehrte sich letztlich in das Gegenteil um. Er war nicht einfach nur bedrückt, er fühlte sich winzig, allein und verloren in dem riesigen Wald. Und als er dachte, es könnte nicht schlimmer werden, kamen die Geister. Sie fingen an, ihn zu umschwirren, blau glimmende Elmsfeuer, die die Gestalt von Menschen annahmen. Karon rannte wieder, er wollte weg von den Geistern, doch sie waren schneller als er. Schließlich fing er an, mit seiner Waffe nach den Gestalten zu schlagen, doch sie ließen sich nicht beirren und bedrängten ihn. Und da verstand Karon. Demut. Er hatte keinen Grund, stolz zu sein. Er hatte lediglich einen weiteren, kleinen Schritt auf dem Weg zum Ziel gemacht. Er musste hart an sich arbeiten und demütig jenen ehren, die erfahrener, weiser und reiner waren als er.
„Sehr gut. Der letzte Aspirant vor dir war ein echter Dickkopf. Er ist lange gelaufen, bis er es verstanden hat, viel länger als du, Karon.“
Karon fuhr herum. Hinter ihm traten Dorian und ein Krieger in einer dunkelblauen, verzierten Rüstung aus dem Dickicht.
„Du hast bestanden. Du bist würdig, dein Training im Kreise meiner Brüder fortzusetzen.“, sagte Dorian.
„Ich…ich danke euch, Ausbildersergeant.“, entgegnete Karon.
„Begib dich nun auf den Pfad hinter mir. Er wird dich zurück an den Waldrand auf Höhe des Osttores bringen. Melde dich bei Sergeant Saliel am Landefeld.“
Zum zweiten Mal an diesem Tag lief Karon ohne zu antworten los, diesmal allerdings kassierte er dafür einen Tritt. „Tut mir Leid, Ausbildersergeant!“, rief Karon eilig und war verschwunden.
Er konnte unmöglich sagen, wie lange er unterwegs gewesen war. Als er jedoch das Lager erreichte, dämmerte es bereits wieder und ein neuer Tag brach an. Er betrat das Lager durch das Osttor und begab sich zum Landefeld. Dort stand Sergeant Saliel, und hinter ihm, auf der freien Fläche, stand eine riesige Maschine. Karon hätte niemals gedacht, dass es derart große Maschinen gab. Wahrscheinlich hatten alle Stämme zusammen nicht genug Metall um auch nur einen der eisernen Flügel herzustellen. Karon fragte sich, was das für eine Maschine war, wofür sie gut war und vor allem, wie sie hier hergekommen war. Sergeant Saliel trat auf ihn zu. „Gratuliere, Aspirant Karon. Begib dich in den Thunderhawk.“, sagte Saliel und deutete auf eine Öffnung in der Seite der Maschine. „Wofür…?“, wollte Karon fragen. „Später.“, unterbrach ihn der Sergeant. „Geh jetzt.“
Karon stieg in das Innere der Maschine. Sie war sehr geräumig. Karon nahm auf einer der Bänke Platz. Ihm wurde bewusst, wie dünn der Jagdanzug und wie kalt ihm selbst war. Still wartete er. Nach einiger Zeit tönten von außen Stimmen zu ihm herein, kurze Zeit später betrat ein strahlender Rhumien den „Thunderhawk“, wie der Sergeant die Maschinen bezeichnet hatte. Karon wollte etwas sagen, doch er war zu erschöpft. Es trafen acht weitere Aspiranten ein. Mit dem letzten kamen auch Saliel und Dorian. Die Tür schloss sich von Geisterhand. Einen Moment lang passierte nichts. Dann fing die Maschine an zu beben und zu dröhnen. Nervös sah Karon aus einem der kleinen Fenster und sah, wie das Dorf im Boden zu versinken schien. Dann begriff er, dass nicht das Dorf, sondern die Maschine sich bewegte. Dorian teilte schwere Anzüge an die Aspiranten aus. „Zieht die an, sonst wird das ein kurzer Ausflug!“, rief Dorian gegen den Lärm. Eilig folgen die Aspiranten der Anweisungen und legten dann auf Dorians Geheiß die Gurte an. Nach kurzer Zeit wurde der Himmel draußen immer schwärzer und sie wurden auf die Bank gepresst. Die Aspiranten waren kurz vor einem Nervenzusammenbrauch, Saliel und Dorian wirkten allenfalls belustigt ob der Ängste ihrer Schützlinge. Der Druck ließ auf einmal abrupt nach, und draußen war die Schwärze des Weltraums zu sehen. Karon hatte gehört, wie sich die Ältesten über die Schönheit der Sterne unterhalten hatten, und Karon hatte sie nie verstanden. Jetzt tat er es. Der Thunderhawk schien zu beschleunigen, und Karon dachte erst, er hätte wieder Erscheinungen. Ein riesiger Berg schwebte mitten im Nichts, und sie hielten genau darauf zu. Als sie näher kamen, konnte Karon unzählige Türmchen und Ruinen auf der Oberseite erkennen, und der ganze Berg war von weiteren, sehr viel merkwürdigeren Maschinerien und Gebilden bedeckt. Es gab außerdem mehrere Metallflächen, die in den Fels eingelassen waren und aussahen wie Türen, obwohl Karon natürlich klar war, dass es so große Türen nicht geben konnte. Sie hielten jedoch auf eine sehr viel kleinere Öffnung zu. Sie flogen in den Berg hinein und landeten mit einem Ruck. Karon sandte ein Stoßgebet an die Ahnen dafür, dass er noch am Leben war. Dorian bedeutete den Aspiranten, die Anzüge auszuziehen. Als sie sich aus den schweren Anzügen geschält hatten, Sah Dorian feierlich auf sie herab. „Willkommen“, sagte er, „im Felsen!“…