Mit einem Grunzen duckte sich Karon unter der knisternden Hellebarde hinweg und rammte sein Kampfmesser in den Leib des Angreifers, der sich davon nicht stören ließ und Karon den Schaft der Hellebarde in die Rippen stieß. Röchelnd ging Karon zu Boden und schaffte es gerade rechtzeitig, sich wegzurollen, sodass der nächste Schlag des Angreifers daneben ging und sich seine Waffe in den festgetretenen Lehmboden grub. Karon schnellte hoch und ging auf seinen Gegner los; mit einer schnellen Bewegung stieß er sein Kampfmesser in den Hals seines Widersachers. Eine dunkle, schmierige Flüssigkeit quoll aus der Öffnung, die Karon’s Waffe gerissen hatte. Schwer atmend steckte Karon seine Waffe zurück in die Scheide, nachdem er sie am Ärmelsaum seines Trainingsanzuges abgewischt hatte. Er sah wachsam zu, wie das Glimmen in den Augen der Maschine erlosch, dann ging er zu Ausbildersergeant Saliel und schaute ihn fragend an. Der gerüstete Krieger blickte zu ihm herab und nickte dann. Karon sah zu, dass er Land gewann. Er war jetzt seit fast sechs Monaten hier im Lager und hatte das Prinzip von Disziplin und Gehorsam verstanden. Er trabte an den Trainingsgruben vorbei zur Messe. Die anderen Mitglieder seines Jagdtrupps waren bereits drinnen. Karon eilte zu Tür und öffnete sie einen Spalt, um vorsichtig hereinzuspähen, als die Tür von innen aufgerissen wurde und er mehr in den Raum fiel, als das er ihn betrat. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, packte ihn jemand mit stählernem Griff am Kragen und hob ihn hoch, sodass seine Füße in der Luft baumelten. Er blickte in das grimmige und leicht belustigte Gesicht von Ausbildersergeant Dorian. „Du bist zu spät.“, stellte er kategorisch fest. „Gibt es einen Grund, warum ich dich nicht zusammen mit deinem Trupp zur Streife einteilen sollte?“
Karon holte tief Luft, dann sagte er: „Es tut mir Leid, Ausbildersergeant, aber ich war als Letzter bei den Kämpfen in den Trainingsgruben dran, und…“
„Das reicht!“, unterbrach ihn Dorian. „Mach, dass du zu deinem Trupp kommst!“
Dorian setzte den jungen Aspiranten ab. Karon verbeugte sich kurz und lief dann zu seinen Kameraden, die an einem der langen Metalltische in der spärlich beleuchteten Messe saßen. Zur Begrüßung sahen sie ihn nur kurz an, um sich dann wieder ihrer Grütze zuzuwenden. Sprechen war beim Essen nicht erlaubt. Nachdem sie ihre Schüsseln restlos geleert hatten, erhoben sie sich, brachten ihre Schüsseln an die Essensausgabe zurück und verließen die Messe. Nachdem Essen war Beten angesagt. Also liefen sie eilig zur Kapelle. Wer auch immer das Lager geplant hatte, war entweder nicht mit dem Tagesablauf vertraut gewesen, oder wollte, wie die meisten hier vermuteten, die Aspiranten ärgern. Um nämlich zur Kapelle zu kommen, mussten sie das gesamte Lager durchqueren, was bedeutete, dass sie anderthalb Kilometer Luftlinie zurücklegen mussten, was nun wiederum hieß, dass sie rennen mussten, um es rechtzeitig zu schaffen. Sie rannten also los, an den Schlafhäusern, den Bädern, den Quartieren der Ausbilder, dem „Landefeld“, wie es die Ausbilder nannten, über eine kleine Brücke über den Bach, der das Lager teilte, und an den Waffenkammern vorbei, bis sie die Kapelle erreichten. Sie war, wie alle Gebäude, aus Holz, allerdings ungleich stärker verziert. Natürlich mit der allgegenwärtigen, geflügelten und in eine Kutte gehüllten Gestalt und dem geflügelten Schwert, aber die Tür war mit einem goldenen, doppelköpfigen Raubvogel versehen, der sich über die gesamte Fläche der Tür erstreckte. Davon war jetzt aber nicht viel zu sehen, denn die Doppeltür war bereits geöffnet. Die Kapelle hatte Platz für bis zu sechzig Personen, sodass der klägliche Rest von Karon’s Trupp, gerade mal ein Dutzend Jugendlicher, geradezu verloren wirkte. Tadelnd schaute Priester Nestor auf die Aspiranten herab. Das hieß, Karon nahm an, dass der Ordenspriester tadelnd auf sie herabblickte, denn er nahm seinen Helm in Gegenwart der Aspiranten niemals ab. Überhaupt war er recht eigentümlich, selbst für die Verhältnisse der Herren des Lagers. Während ihre Ausbilder dunkelgrüne, rar verzierte Rüstungen und nur selten Helme trugen, war die Panzerung des Priesters tiefschwarz und mit goldenen Ornamenten versehen, und er pflegte immer und überall seinen Helm, der einem Totenschädel nachempfunden war, zu tragen. Still begannen sie mit dem Gebet. Karon fragte sich, während er monoton die Litaneien zitierte, wie lange sie noch in diesem Lager bleiben würden. Als die Gerüsteten vor sechs Monaten zurückgekehrt waren, hatten die Ältesten die Geschichten erzählt, die sie ihrerseits vor Dekaden von den Ältesten gehört hatten. Sie hatten erzählt, dass früher, jeden Monat, riesige Krieger in die Dörfer kamen und die stärksten Jungen rekrutierten. Sie wurden nie wieder gesehen, doch man trauerte nicht um sie, denn es hieß, dass sie zu göttergleichen Kriegern erzogen wurden, die unbesiegbar waren. Vor sechs Monaten waren sie dann zurückgekehrt, und Karon war unter den ersten, die rekrutiert worden waren. Er war stolz gewesen, doch er hatte schnell begriffen, dass er keinen Grund dazu hatte. Die Ausbilder, Männer wie Dorian oder Saliel, waren den Aspiranten in jeder Hinsicht überlegen. Sie reagierten schneller als die Aspiranten, die von den Sairhi im Süden kamen, waren stärker als die Korhiko aus dem Norden und behänder, als die Gunkhris, die aus den Wäldern im Westen kamen. In sechs Monaten trainierten sie unablässig, und jeden Monat kamen neue Aspiranten. Während der Ausbildung schmolz ihre Gruppe immer weiter zusammen, bis sie bei dreizehn angelangt war.
Karon bekam die Antwort auf seine Frage unmittelbar nachdem sie die Kapelle verlassen hatten. Dort warteten Saliel und Dorian auf sie. Dorian erhob das Wort. „Heute“, sagte er laut, „wird sich entscheiden, ob ihr würdig seid, ein Engel des Todes zu werden. Ihr werdet jetzt eure Ausrüstung säubern und euch bei Einbruch der Dunkelheit an der Waffenkammer einfinden. Und jetzt Abmarsch.“
Die Aspiranten rannten euphorisch zu den Schlafsälen zurück. Dor angekommen, sammelten sie eilig ihre Sachen zusammen und säuberten sie mit vor Aufregung zittrigen Fingern. Als sich der Himmel rot färbte, liefen sie, noch aufgeregter, zu den Waffenkammern. „Was meint ihr, haben sie mit uns vor, wenn wir bestehen?“, fragte Rhumien, einer der Aspiranten, in die Runde. „Noch ein Lager, wie ich sie kenne.“, sagte Karon grimmig. Rhumien blickte ihn verständnislos an und hielt den Mund.
Vor der Waffenkammer warteten die Ausbilder und Nestor. Sie erhielten neue Messer, länger, und mit einer geschwärzten Klinge und Nestor segnete sie. Und wie schon nach der Messe ergriff Dorian das Wort. „In dieser letzten Prüfung werden drei grundlegende Charaktereigenschaften getestet, Tapferkeit, Beharrlichkeit und Demut. Ihr werdet euch in Abständen von einer Stunde auf den Pfad des Aspiranten begeben. Einige eurer Ahnen haben vor vielen Jahren diesen Weg beschritten, und nicht wenige sind gescheitert. Jeder von euch hat fünf Stunden für diese letzten Prüfungen. Wenn ihr euer Ziel erreicht, werdet ihr dieses Lager, und auch diesen Planeten verlassen. Wenn ihr scheitert…“
Der Sergeant ließ offen, was mit jenen passierte, die scheiterten, und Karon hatte nicht wirklich das Bedürfnis, es herauszufinden. Saliel wandte sich an Karon. „Du gehst als Erster, Karon. Achte deine Ausrüstung und erinnere dich an das was wir dir beigebracht haben. Los jetzt.“
Karon rannte ohne zu antworten durch das Südtor, raus aus dem mit Palisaden eingefassten Lager, hinein in die Hügelwälder, einem Meer aus dunklen Tannen.
Er folgte dem einzigen Pfad durch den dunklen Wald. In regelmäßigen Abständen brannten Fackeln, die in Metallfassungen steckten, die wiederum an Bäumen befestigt waren oder auf in den Boden gerammten Pfählen steckten. Mittlerweile war es vollständig Dunkel, und in dem spärlichen Licht der Fackeln fiel es Karon schwer, dem Pfad zu folgen. So rannte er mitten in die erste Prüfung.
Er stand unvermittelt auf einer Lichtung, die ebenfalls von Fackeln erleuchtet war und von einem eisernen Zaun eingefasst war. Mit einem Lauten, metallischen Klirren, dass Karon zusammenzucken ließ, schloss sich das Eisentor, durch das Karon auf die Lichtung gestolpert war. Karon spannte alle Muskeln an. Er war nicht alleine in diesem Käfig. Etwas war hier, und dieses Etwas war groß und wütend. Es war so wütend, dass die Luft zu knistern schien. Karon bewegte sich leise weiter auf die Lichtung. Ein fataler Fehler, denn so hätte er beinahe nicht gehört, wie das Carnodon hinter ihm zum Sprung ansetzte…