Wie willst du zwischen einem "modernen Antisemit" und einem Israelkritiker unterscheiden?
Klare Trennlinien werden sich seriös nicht ermitteln lassen. Ein paar wiederkehrende Motive halte ich allerdings für sichere Indizien:
- Der Antisemit nimmt Israel grundsätzlich alles übel, auch das Gegenteil. Zieht es sich aus dem Gazastreifen zurück, hinterlässt es Elend und bezeugt Verantwortungslosigkeit, bleibt es dort, ist es Besatzungsmacht. Ist Israels Stimme laut politisch zu vernehmen, dann leistet es agitatorische Arbeit, nimmt es sich zurück, dann sind es eben die israelischen Lobbyisten, die im Hintergrund die Fäden ziehen.
- Israel (anstatt: der Jude) ist unser aller Unglück. Wie der sprichwörtliche Brunnenvergifter und Zündler wartet Israel nur darauf, den Weltfrieden zu zerstören. Ganz gleich, wie rational (oder irrational) das Sicherheitsinteresse Israels begründet sein mag, Israel ist grundsätzlich ein Aggressor.
- Offensichtlich antisemitische Reden klassischer Prägung werden beispielsweise auf sprachakrobatischste Weise relativiert. So ließ es sich Katajun Amirpur nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass Ahmadinedschad nicht etwa sagte, dass "Israel von der Landkarte getilgt wird", sondern dass er im Intransitiv sprach, also "Israel wird von den Seiten der Geschichte getilgt werden". Ganz so, als ob sich Dein bulliger Nachbar vor Dir aufbaut und verkündet "Du wirst verprügelt werden", und das nicht als Drohung zu verstehen ist, immerhin ist mit keiner Silbe die Rede davon, er (oder überhaupt irgendein Agens) werde der Täter sein.
Im Übrigen beurteile ich damit nicht den Wahrheitsgehalt antisemitischer Aussagen. Ebenso, wie ein überzeugter Stalinist oder Faschist richtige (jedenfalls aber diskutable) politische Aussagen treffen kann, ist nicht jedes Ressentiment gegenüber Israel (oder gegenüber Ethnien, anderen Staaten, Religionen, sexuellen Präferenzen etc. pp.) zwingend faktisch falsch. Trotzdem sollte das Kind beim Namen genannt werden. Wer dauernd die moralische Unter- oder Überlegenheit des männlichen/weiblichen Geschlechts propagiert, muss sich auch nicht wundern, wenn er in eine dazugehörige Ecke gestellt wird. Ebenso, wie es ermöglicht wird, unfair, unsachgemäß und wahrheitswidrig über Israel zu sprechen, kann es geschehen, dass Du kurzum einen Stempel aufgedrückt bekommst, den Du für ebenso unbotmäßig hältst. Denn selbstredend wird ein bürgerlicher Antisemit niemals von sich aus zugeben, Antisemit zu sein, das entzöge ihm ja die Grundlage seiner vorgeblich sachlichen Kritik.
Dass Israel weltweit überdurchschnittlich viel Beachtung findet ist aber nun wahrlich nichts Neues und auch kein deutsches Phänomen.
Die Ausprägung, mit der wir es hierzulande zutun haben, halte ich sehr wohl für ein deutsches Phänomen. Wenn sich Leute, deren Qualifikation daraus besteht, Karl May etwas gründlicher gelesen zu haben als andere, in sämtlichen politischen Sendungen als "Nahostexperten" ankündigen, oder sich als Israelkritiker vorstellen, dann sollte einem das durchaus zu denken geben.