@Knight-Pilgrim:
Hast du zufällig einen Link zu dem von dir erwähnten Artikel? Jetzt hast du mich echt neugierig gemacht, wie Plastikdeutsch aussieht.
Der konkrete Artikel ist leider vier Jahre alt (das war kurz vor der Bundestagswahl 2009), aber wie es das Glück so will, bleibt sich die ZEIT treu, organisiert gar einen Tummelplatz für Schleiflackrhetorik. Hier ist mal ein Artikel von einem Schwergewicht dieser Disziplin:
http://www.zeit.de/2013/33/steinbrueck-europa-begeisterung
Das ist für mich ein hochdifferenzierter, überaus vernünftiger Artikel. In keinerlei Hinsicht radikal, grammatisch allzeit korrekt, brechreizerregend langweilig und vage, sprachlich regelrecht verwittert. Nur im Zustand hochreflektiertester Vollnüchternheit kommt ein solcher Absatz zustande:
Die EU ist einer der Aggregatzustände des Lebens der Europäer geworden, so wie das Niederländer-Sein und das Römer-Sein, sie hat den Schritt zur Selbstverständlichkeit geschafft. Ab und zu kann man sich für sie begeistern, etwa, wenn man mal außerhalb Europas ist, man kann dann sogar etwas stolz sein. Doch das findet alles in Wahrheit nicht mehr statt, um Europa zu legitimieren, die EU ist kein Ziel, sie ist schon da, sie braucht kein Narrativ, sie erzählt sich ständig selbst.
Manchmal kann man sich für sie begeistern, die EU. Selbstmurmelnd nicht zu sehr, wir wollen nicht die Fassung verlieren. Immerhin ist die EU als Aggregatzustand kein Ziel, sondern schon da, muss nicht erzählt werden, sondern ist Narrativ. Ja, so bekämpft man Europaskepsis! Die tausend Münder in den Wänden brauchen keine Vögel mehr, die von den Dächern pfeifen, dass wir die EU brauchen. Indes, das Niederländer-Sein gebietet es, vornehmlich außerhalb Europas ein kleines bisschen Stolz zu empfinden (wehret den Anfängen! Ein supranationalistischer Nationalismus ist ein brandgefährlicher Narrativ, der nicht erzählt wird, sondern sich selbst entrollt, so wie ein mottenzerfressener Teppich, der von der Stange herunterfällt) über diese Kulturleistung. Es fehlt nur noch der Kompass, das Gespräch auf Augenhöhe und den Ratschlag, alles nicht zu pauschal zu sehen, um dieses Musterbild von Diätsprache und -denke abzurunden.
Ach und KOG, meinst du es gibt noch Ultramontanisten? Ich meine als ernstzunehmende politische Kraft.
Bischof Williamson sieht sich ja als alleinseligmachenden Erben echten ultramontanistischen Denkens, in Anerkennung des Hegel'schen Diktums halt umso schlimmer für die Tatsachen, dass der Papst daselbst zu einem heidnischen Modernisten geworden ist.
😀
@Blackorc:
Das Schöne an Begriffen wie "links" und "rechts" ist, dass man damit ohne große Umschweife seine Position zu einem bestimmten Thema umreißen kann. Das Problem dabei ist, dass dies nicht mehr ohne Weiteres funktioniert - ich bin so frei jetzt mal als Beispiel von mir selbst auszugehen. Grundsätzlich verwende ich sie auch selbst gerne und bin grundsätzlich geneigt, meine politische Position insgesamt als "eher links" zu bezeichnen. Allerdings gerate ich dabei immer öfter an meine Grenzen. Nun dachte ich eine Weile, meine eigene politische Position würde sich einfach verschieben, stelle aber immer öfter fest, dass dies nicht ausreicht, um das Problem zu umfassen.
Wie gesagt, die gesamte Realität lässt sich nicht von einem einzigen Adjektiv abdecken, das liegt in der Natur der Sache. Genauso, wie es stramme Linke gibt, denen sich die Fußnägel aufrollen, wenn sie davon lesen, dass Deutschland aus der NATO auszutreten hat, gibt es eifrige Christen, die ausgerechnet bei Homosexuellenehen Ausnahmen zu machen bereit sind. Am Beispiel der Europapolitik lässt sich
prima facie festhalten, dass eher skeptische Positionen traditionell von rechts kommen und nationalstaatliche Bedenken einbinden. Es gibt hier wie überall auch Ausnahmen, gerade der tendentiell ganz linke Rand vertritt Positionen, die u.U. mit eher rechten verwechselt werden könnten. Mir ist allerdings ein griffiges Vokabular lieber, das es mir ermöglicht, auf wenig Raum breite Erklärungen anzubieten. Fragte mich z.B. jemand, wo ich Wolfgang Bosbach politisch verorten würde, wäre meine Antwort, dass es sich um einen konservativen, dem rechten Flügel der CDU angehörenden Politiker handelt, mit entschiedenen Ansichten zur Innenpolitik. Das wird dem Menschen Bosbach nicht in jeder Facette gerecht, bestimmt schert er in Teilbereichen (die mir womöglich nicht einmal gegenwärtig sind) sogar stark davon aus, verschafft nichtsdestoweniger dem Fragenden ein einigermaßen konkretes Bild.
Es ist denn auch nichts gegen echte Differenzierung zu sagen, solange sie nicht zu einer undefinierbaren, nährlösungsentzogenen Grütze wie oben zitiert verkommt. Auf Nachfrage oder Spezialinteresse hin lässt es sich immer vom Kleinsten ins Allerkleinste diskutieren. Oftmals steht "differenziertes Denken" leider in einer langen Reihe von Wieselworten und -phrasen, die sich im Anspruch sonnen, besonders tiefgehende Gedankenarbeit geleistet zu haben, letztlich aber noch weniger aussagen. Ich pflegte in der Oberstufe regelmäßig den Musikunterricht von seiner Bahn abzubringen, da der werte Herr Lehrer als kultivierter Mann gerne auch über Nietzsche, das Wiener Feuilleton und Staatsformen im 18. Jhdt. zu sprechen bereit war. Tatsächlich leistete ich so gute Arbeit, dass insgesamt kaum noch über Musik gesprochen worden ist. Augenzwinkernd vermerkte er dann, dass ich in der Lage sei, überaus "global" Zusammenhänge zu erkennen. Wir beide wussten natürlich, dass das ein sehr vornehmer Euphemismus dafür war, dass wir über Gott und die Welt (-> direkter Bezug
😀) sprachen, nur nicht über Musik. Bedauerlicherweise werden solche Begrifflichkeiten tatsächlich benützt, als wären sie werthaltig. "Global denken" ist so ein irrsinnig differenzierter Begriff, der darüber hinwegtäuscht, dass man an nichts im Besonderen gedacht hat, im Allgemeinen hingegen intellektuelle Schwerstarbeit.