So, weiter gehts. Hier noch einmal ein sehr dialog- und informationslastiges Kapitel, das den Grundstein für den weiteren Verlauf der Schlacht legt. Danach geht dann die Aktion los. Mir persönlich gefällt es bis auf ein-zwei Stellen sehr gut, deshalb werde ich auch im Nachhinein kein weiteres Statement dazu abgeben.
Viel Spaß.
Das Wort des Geistes
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Dass ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält.
- Faust, Erster Teil, Johann Wolfgang von Goethe
Naggarond; Naggaroth
2567 IC; 8. Vollmond (5. Tag)
9 Stunden nach Sonnenaufgang
Yetail starrte die Gestalt in der grauen Robe überrascht an, während die Kinder des Mordes herumwirbelten, bis dreizehn Augenpaare – vierzehn, wenn man Szar’zriss mitzählte – die Unbekannte musterten.
„Wer seid Ihr und woher nehmt Ihr das Recht, uns zu belästigen?“, fragte Sisrall barsch. Und wieso hat Szar’zriss Euch nicht aufgehalten?, fügte Yetail in Gedanken hinzu. Die Fremde stand fast unter dem Drachen und sein Schatten hüllte sie ein. Die grauen und schwarzen Gewänder samt Kapuze ließen sie wie einen Geist erscheinen. Nur an ihrem Kinn blitze ein Fleck blasser Haut hervor.
Die Zauberin ließ den Blick über den Körper der anderen Frau wandern. Es war schwer, Details in der Düsternis auszumachen, aber ihre schlanken Kurven zeichneten sich doch erkennbar unter dem schwarzen Stoff ab. Glattes Haar in derselben Farbe floss aus dem Schatten der Kapuze und fiel ihr bis auf Brusthöhe. Sie musste noch recht jung sein, aber ihre Stimme klang, als hätte sie schon Dinge gesehen und erlebt, über die schwächere Gemüter dem Wahnsinn verfallen wären. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor.
Yetail betrachtete den Stab, doch er gab ihr keinen Hinweis auf ihre Identität. Es war ein Artefaktstab, kein Katalysator, das erkannte sie auf den ersten Blick. Wer immer die Frau war, stellte also keine ernst zu nehmende Bedrohung für die Erwählten dar. Sie entspannte sich ein wenig.
„Nennt mich Geisterauge. Ich bin die erste und einzige Seherin der Druchii seit sechstausend Jahren. Und ich bitte Euch um Verzeihung für die Belästigung, aber ich hoffte, Euch helfen zu können. Ihr habt viele Fragen, die Ihr nicht beantworten könnt.“
Yetail runzelte die Stirn. Sie wusste, dass es seit Ularsa Schicksalsweg keine echten Seherinnen mehr gegeben hatte. War dies nur eine weitere Hexe, die Visionen von jenem geheimnisvollen Buch erhielt? Oder gar eine komplette Hochstaplerin, die sich hinter einem Titel und schönen Worten versteckte? Aber die Erwähnung der sechstausend Jahre machte sie stutzig. Das konnte Zufall sein, aber es stimmte. Und wieso kam ihr diese Stimme so bekannt vor?
„Wieso sollten wir Euch vertrauen?“, fragte Kerkil. Szar’zriss knurrte warnend. Angespannt blickten alle in Richtung des Splitterdrachen – bis auf die angebliche Seherin. Dann erst ging ihnen auf, dass der Drache das erste Kind des Mordes angeknurrt hatte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
„Heute Morgen vertraute ein Mann, auf dessen Schultern die Verantwortung für ein ganzes Volk lag, einem Mädchen und rief die gesamte Stadt zu den Waffen. Obwohl alle glaubten, der Feind wäre besiegt und die Kämpfe vorüber, gewährte diese frühe Reaktion den Druchii einen Vorteil, weil sie kampfbereit waren, als die Sonne aufging und die Untoten aus dem Nebel kamen. Später folgte derselbe Mann blind den Wünschen derselben Novizin, weil sie ihm versprach, dass er sie damit retten würde.“
Sie holte tief Luft. „Reckdis erfüllte furchtlos und trotz aller Verletzungen diese Bitte. Die Vorhersage erfüllte sich. Er rette ihr Leben. Dass er seines dafür gab, hatte sie nicht vorhersehen können. Doch am Ende starb er zufrieden und in dem Wissen, sein Schicksal erfüllt zu haben. Nun bittet eine Meisterin Euch, Kinder des Mordes, um dasselbe Vertrauen, das der Fürst der Khainler den unvollständigen Visionen der Novizin schenkte.“
Mit diesen Worten schlug sie die Kapuze zurück. Nachtschwarzes, glattes Haar floss um das blasse Gesicht, in dem eine Härte wohnte, die so gar nicht zu seinem Alter passen wollte. Yetail klappte der Mund auf. „Yucalta?“ Sie war es, daran zweifelte sie nicht. Doch ihre Novizin hatte sich verändert. Die grauschwarze Kleidung verlieh ihr etwas Geisterhaftes, schwer Fassbares, während ihre Haltung streng und selbstsicher war. Aber es waren ihre violetten Augen, die Yetail Angst machten. Sie spiegelten wider, was ihre Stimme nur hatte andeuten können. Dieses Mädchen hatte den Tod von Jahrhunderten gesehen und es kannte die Schicksale, die erst noch kommen würden. Nicht einmal Nerglots Augen hatten so alt gewirkt.
Ihr schossen tausend Fragen in den Sinn und sie konnte kaum sagen, ob sie von ihr oder den anderen Erwählten kamen. Die allgemeine Verwirrung verstärkte die Verbindung zwischen ihnen. Die Erwählten erinnerten sich an Yucalta, doch damals war sie nur eine Novizin gewesen, die sich allmählich zur Frau entwickelte. Niemandem entging die drastische Veränderung.
„Warum nennst du dich Geisterauge?“, schaffte sie es, zu fragen. „Und Meisterin?“ Eigentlich lagen ihr ganz andere Fragen auf der Zunge. Aber diese violetten Augen störten ihre Konzentration.
„Meine Fähigkeiten sind erwacht und vollständig entwickelt. Ihr könnt mich nichts lehren. Nicht einmal Ularsa Schicksalsweg könnte mir nun noch etwas beibringen. Sie hat mir den Anfang gezeigt und inzwischen verfüge ich über Fähigkeiten, die sie sich nicht einmal erträumt hätte. Laut Definition des Klosters gilt eine Ausbildung als abgeschlossen, wenn die Meisterin der Novizin deren Fähigkeiten für ausreichend erklärt oder wenn es niemanden mehr gibt, der ihr noch etwas in der von ihr gewählten Lehre der Magie beibringen kann. Und da ich die talentierteste weil einzige Zauberin in meinem Gebiet bin, kann ich die Position der höchsten Meisterin beanspruchen. Und als solche steht mir auch das Recht zu, einen Titel zu wählen.“
„Inwiefern haltet Ihr Eure Fähigkeiten denen von Ularsa überlegen?“, fragte Kerkil ein wenig ungehalten, während Yetail das noch verdaute. Ihre junge, unschuldige Novizin war nach zwei Tagen zu einer stolzen und selbstbewussten Meisterin geworden. Ihre Argumentation war absolut stichhaltig. Man könnte dagegenhalten, dass sie sich ursprünglich nicht als Seherin hatte ausbilden lassen, aber ein Blick in das junge, schöne und kalte Gesicht reichte, damit Yetail diesen Gedanken verwarf. Selbst wenn es rechtlich anfechtbar war, die Frau, die vor ihr stand, war mit jedem Zoll eine Meisterin.
„Ularsa sah nur Möglichkeiten der Zukunft und die Wege dahin. Ich sehe die Bedingungen dazu und die Alternativen. Allerdings verschwimmen die Visionen, je weiter ich schaue. Schon die morgigen Ereignisse kann ich nicht in allen Details betrachten. Ularsa sah die Entwicklung eines ganzen Zeitalters. Ich erkenne im besten Fall, was in fünfzig Jahren geschehen könnte. Alles jenseits dieser Grenze sind nur flackernde Möglichkeiten, die sich schneller ändern, als ich sie deuten kann.
Dafür reicht mein Blick nicht nur in die Zukunft. Wenn ich es will, kann ich die Gegenwart und die Vergangenheit jeder Person und jedes Ortes dieser Welt verfolgen. Ich habe die Kriege der Drachen gesehen, die Verbannung der Dämonen und die Erschaffung der Elfen. Ich habe sogar Euch, Meisterin Bluthand, dabei beobachten können, wie Ihr in Ularsas Buch gelesen habt. So gut, dass ich sogar mitlesen konnte. Und ich bin mir sicher, dass Ihr gerade überlegt, ob meine Fähigkeiten nicht ihre Begründung in selbigem Buch haben. Aber ich denke, Ihr kennt auch die Antwort.“
Yetail stockte der Atem, dann lachte sie laut und erschreckte die anderen Kinder des Mordes damit. „Als ich dich zu meiner Novizin machte, hatte ich das Gefühl, noch einige Überraschungen mit dir zu erleben, Yucalta. Doch das es soweit kommen würde, hätte ich nie erwartet.“ Die junge Frau war verdammt schlau. Tatsächlich waren Yetails Gedanken zu dem Buch geglitten. Ularsas Geist darin konnte zwar nicht in die Vergangenheit sehen, aber es speicherte genug Erinnerungen aus mehreren tausend Jahren Elfengeschichte, um damit einen Blick in die Vergangenheit vorgaukeln zu können.
Aber die Fähigkeiten des Buches waren nicht so gewaltig. Es konnte auch immer nur einen gewissen Teil des Wissens desjenigen aufnehmen, der es gerade las. Und auch nur, wenn derjenige es berührte. Es konnte außerdem zwar auch über größere Entfernungen hinweg die Geister, die es einmal berührt hatte, schützen und manipulieren, doch niemals so stark, dass es dem nahekam, was Yucalta beschrieben hatte. Es konnte Visionen in Träumen vortäuschen und sogar die Illusion von Gesprächen mit Göttern schaffen, doch niemals, wenn derjenige bei vollem Bewusstsein war.
„Sein Name war Glimmort.“, sagte Yucalta plötzlich und lächelte Kerkil an. Der Erwählte riss die Augen auf, dann erwiderte er das Lächeln und sah anschließend zu Yetail, die fragend eine Augenbraue hochzog.
„Ich wollte sie fragen, wie der Drache hieß, der mir damals im Kampf gegen den Splitterdrachen zu Hilfe gekommen war, um ihre Fähigkeiten zu testen. Also ich glaube ihr.“
Yetail nickte. Das Buch hätte die Frage natürlich auch in der Zukunft sehen können, doch es war unwahrscheinlich, dass Yucalta dann den Zeitpunkt so exakt getroffen hätte. Und eigentlich konnte das Buch den Namen des Drachen nicht kennen.
„Ich auch.“, antwortete Sisrall, der nur auf Yetails Zustimmung gewartet hatte. „Reckdis war ein guter Mann und die Nachricht seines Todes ist ein harter Schlag für uns. Wenn er für Euch gestorben ist, dann wäre es eine Beschmutzung seines Andenkens, wenn wir Euch nicht dasselbe Vertrauen entgegenbringen würden, das er Euch schenkte. Lasst uns zu Khaine beten, dass uns nicht dasselbe Schicksal daraus erwächst.“
„Ich kann Euch nichts zu Eurem Schicksal sagen. Manche Dinge müssen unklar bleiben. Wenn die Zukunft bekannt wird, dann wird sie sich nicht erfüllen. Und selbst wenn ich es wollte, gibt es zu viele Möglichkeiten, die sich ständig ändern und beeinflussen.
Aber seid soweit besorgt, dass es nicht Reckdis Vertrauen war, das ihm zum Verhängnis wurde. Es war die Tatsache, dass ich nur einen Teil des Ganzen gesehen habe. Es war nur ein einziger Eindruck, eine einzige Möglichkeit. Heute sehe ich Tausende.“
„Gebt nicht Euch die Schuld, Meisterin Geisterauge.“, sprach Trizil. „Aber lasst uns nun voranschreiten. Unser Feind wird nicht auf uns warten. Ihr sagtet, Ihr könntet uns Antworten geben!?“
Yucalta nickte. „Das tat ich und das werde ich. Ich habe gesehen, dass Ihr versuchtet, die Situation einzuschätzen. Ich werde versuchen, die Lücken zu schließen, wo Ihr es nicht konntet.“ Sie hielt kurz inne und musterte die Erwählten, als überlege sie, wo sie beginnen sollte. „Alle Gesichtslosen sind tatsächlich tot. Reckdis starb, wie ich es bereits sagte. Es war das Monster, das einst Darmal Eisfaust genannt wurde, das ihn tötete. Selbiger erlag wenig später der Macht seines Fluchs und des Sturms.“
„Darmal tötete Reckdis? Wieso? Und wie genau starb Eisfaust? Was für ein Sturm?“, fragte Sisrall. Bedauern schwang in seiner Stimme mit. Yetail bemerkte, dass Yucalta die Augen zusammenkniff, als sie es hörte. Die Zauberin wollte sich gar nicht vorstellen, welches Grauen die junge Frau hatte mit ansehen müssen. Sie kannte Darmals Fähigkeiten und hatte das Gefühl, dass das Wort tötete nicht im Entferntesten die wirklichen Ereignisse beschrieb. Nein, sie wollte es gar nicht wissen.
„Darmal verlor den Kampf gegen die Macht des Chaos in seinem Innern und verwandelte sich eine blutrünstige Bestie, die weder Freund noch Feind kannte. Für ihn gab es nur noch Beute.“ Yetail entging nicht, dass die Seherin bewusst nicht die letzte Frage des Erwählten beantwortete. Sie verschwieg ihnen etwas. Aber Yucalta hatte bereits ein anderes Thema aufgegriffen:
„Silberstich starb durch die Hand eines beseelten, untoten Schwarzen Gardisten. Reckdis erschlug selbigen. Der zweite, jener, der sich Euch, Meister Blutklinge, entgegenstellte, als Ihr dem Hexenkönig helfen wolltet, fiel durch die Axt von Eisfaust. Nun wisst Ihr, wie es um die Druchii bestellt ist.“
„Was geschah mit dem Schützen, der Lady Morathi verwundete?“, unterbrach Sisrall sie. Yucaltas Miene wurde hart. Auch Yetail erinnerte sich. War es derselbe Schütze gewesen, den Darmal gejagt hatte?
„Dazu wollte ich nun kommen. Denn Ihr habt die wichtigste Frage, die nach Euren Feinden, nie gestellt. Alle Untoten sind vernichtet, doch war es nicht Nerglots Tod, der seine Diener zerstört hat. Es war der Splitterdrache.“
Yetail starrte die junge Seherin entsetzt an. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. „Aber …“
„Nein, euer zweiter Schlag erreichte ihn nie. Er hätte es nicht überlebt, falls Euch das beruhigt, aber die Macht des Splitterdrachens sog die Attacke auf und rette so Eurem Feind das Leben.“ Sie blickte Sisrall an und Yetail ahnte, was nun kommen würde. Sie berührte unauffällig seine Hand. „Jener Schütze, von dem Ihr spracht, entkam Darmal. Es war Viverla’atar und dieselbe, die Nerglots Körper nach dem Auftauchen des Splitterdrachen in Sicherheit brachte. Es gelang ihr sogar, ihn zu heilen.“
„Das glaube ich nicht.“, begehrte Yetail auf. In ihrem Innern wusste sie, dass die junge Seherin sich über jedes Wort sicher war, aber es durfte nicht wahr sein! „Sie mag Heilkräfte besitzen, aber ich habe Nerglots Überreste gesehen. Selbst ich hätte ihn nicht mehr heilen können. Zumindest vor meine Erwählung nicht. Und ihre Magie ist vergleichsweise erbärmlich.“
„Vor Eurer Erwählung.“, wiederholte Yucalta und Yetail wurde eiskalt. „Aber mit der Marilim schon, nicht wahr?“
„Möglicherweise.“, antwortete Yetail mit einem ganz schlechten Gefühl.
„Habt Ihr Euch nie gefragt, wie Nerglot es geschafft hat, Euch so lange zu bekämpfen, obwohl Ihr auf derart göttliche Macht zurückgreifen konntet, genug, um theoretisch die gesamte Stadt in Schutt und Asche zu legen?“
„Nun ja, er ist ein Götterkrieger …“
„Ist er, aber Asaph ist gegen Khaine ein Nichts. Er mag Wissen von ihr bekommen haben, jedoch keine Stärke. Nein, es ist ihm gelungen, ein einzigartiges Artefakt zu erschaffen. Das Todesamulett. Oder auch als Drachenamulett bezeichnet.“
„Das Buch hat es erwähnt. Es meinte, es hätte die Macht, eine Wende der Magie herbeizuführen.“, flüsterte Yetail. „Aber was tut es überhaupt?“
„Es beherrscht den Tod. Es verwandelt Tod in Magie. Aus jeder Leiche in seiner Nähe zieht es unheilige Kraft, um damit seinen Beschwörer zu stärken, während es ihm gleichzeitig die Aufgabe abnimmt, den Toten zurück ins Unleben zu zwingen. Hier über dem Schlachtfeld ist seine Macht der Marilim wohl ebenbürtig.“
„Bei Khaine. Das sind schlechte Neuigkeiten.“, stellte Trizil fest.
„Aber was hat es mit Viverla’atar zu tun?“, fragte Sisrall. „Kann sie es auch benutzen?“
„Nein, es dient allein Nerglot. Doch die Kraft, die es in seinen Körper gepumpt hat, konnte sie verwenden, um ihn zu heilen.“
„Wo kann ich die Verräterin und ihren verdammten Meister finden?“, zischte Yetail. Sie würde die Schlampe töten. Ein für alle Mal. Und sie würde es langsam tun und jeden ihrer Schreie genießen. Ja, das würde sie.
„Wartet am Trümmerfeld des Khainetempels.“, erklärte Yucalta. Yetail nickte. Das reichte ihr.
„Also werden wir ohne unsere Zauberin gegen den Splitterdrachen kämpfen?“, fragte Kerkil erstaunt. „Und erklärt endlich, was Ihr damit meintet, dass wir ihn gar nichts tun können, um ihn zu töten!“
„Ja, das werdet Ihr, Meister Drachenfluch. Es war von jeher …“
„Drachenfluch?“, wurde sie von Trizil unterbrochen. Die Kriegerin blickte den Erwählten erstaunt an. Der wiederum starrte Yucalta an. Zögernd nickte er.
„Ja, so nannte man mich. Es war mein Titel. Doch woher wisst Ihr davon, wenn ich mich nicht einmal selbst daran erinnerte?“
„Ihr habt Euren Titel vergessen?“, fragte Yucalta erstaunt. Sie blickte alle Kinder des Mordes der Reihe nach an und bemerkte deren Verwirrung. „Ihr alle, nicht wahr? Jeder von Euch trug einst einen Titel.“
„Wartet!“, rief Blutklinge. Als sich sämtliche Aufmerksamkeit auf ihn richtete, erklärte er ruhiger: „Ich glaube, den Grund zu kennen. Bei meiner Erwählung sprach Khaine selbst folgende Worte zu mir: Behüte deinen Titel gut, Sisrall Blutklinge. Denn dein Titel ist deine Macht. Yetail beschrieb mir einmal, wie stark sich mein Verhalten ändert, wenn ich mich ganz der heiligen Pflicht und dem Kampf in Khaines Namen hingebe. In diesen Momenten bezeichnet sie mich zur Unterscheidung als Blutklinge, während sie mich sonst Sisrall nennt. Seit sie eine Erwählte ist, verwende ich ihren Titel ähnlich. Und ich weiß, dass ihr uns beide jeweils genauso unterscheidet.
Ich wage zu vermuten, dass es bei euch ähnlich war. Mit eurem Titel habt ihr die Macht der Marilim und eure Fähigkeiten im Dienste unseres blutigen Gottes verbunden. Als ihr starbt und die Marilim verloren habt, vergaßt ihr auch eure Titel. Und mit ihnen eure Fähigkeiten.“
Er wandte sich an Yucalta.
„Du besitzt das Wissen, das sie verloren. Aber die Zeit ist noch nicht reif, dass alle Kinder des Mordes ihre Titel zurückerlangen. Sie müssen es sich verdienen und sich beweisen, wie sie es einst taten. Behalte dein Wissen für dich, bis das Schicksal es erfordert.“
Sie nickte ernst. Yetail fühlte die Überraschung der Erwählten über die Entscheidung ihres Anführers, aber keiner protestierte. Tief in ihrem Innern fühlten sie, dass er recht hatte. Es gab einen Grund, weshalb sie vergessen hatten. Die Seherin lächelte.
„Ich glaube, Kerkils Zeit war gekommen. Denn für das, was kommt, wird er seine Fähigkeiten brauchen. Diesen Kampf werdet Ihr ohne Meisterin Bluthand führen. Es war seit jeher Schicksal des ersten und des letzten Kindes des Mordes, dieser Bestie gegenüberzustehen. Aber Ihr werdet Hilfe bekommen, die Ihr nicht erwartet. Und wenn es soweit ist, erinnert Euch der Worte Und nicht alle Feinde sind Feinde, Nicht alle Freunde sind Freunde. Bedenkt das.“
Sie blickte den Erwählten der Reihe nach in die Augen. Die Krieger nickten, um zu zeigen, dass sie verstanden hatten. Auch wenn sie noch nicht wussten, was genau auf sie zukommen würde.
„Ihr fragtet nach einem Weg, ihn zu töten. Es gibt keinen. Der Splitterdrachen kann nicht vernichtet werden. Ihr, Meister Drachenfluch, nahmt ihm das Feuer und zerstörtet ihn vorläufig. Damals gelang es Euch, die Schwachstelle zu nutzen, die er besitzt. Blutklinge vermochte es nicht, ihn damit zu besiegen, obgleich er all seine Kraft einsetzte. Bluthand schaffte es, ihm das Horn abzuschlagen. Er kann verletzt werden, ja. Doch mit jedem Teil, das Ihr ihm nehmt, wird er stärker statt schwächer. Er ist reiner dämonischer Hass vereint mit der Magie der wahren Drachen. Bevor ihm das Feuer genommen wurde, konnte er noch durch einen Schwertstich getötet werden. Nun, da ihm dieses Teil fehlte, vermochte es selbst die Macht der Marilim nicht, ihn schwer zu verletzen. Jetzt fehlen ihm sogar schon zwei der Splitter, aus denen er einst geschaffen wurde.“
„Und was wollt Ihr uns vorschlagen? Sollen wir ihn einfach bitten, uns in Ruhe zu lassen?“
„Nein. Er kann zwar nicht getötet, jedoch gebannt werden. Ich sagte Euch dies lediglich, um Euch zu warnen. Ihr könnt Ihn verletzen, ihm seine Flügel nehmen oder seinen Schwanz. Doch jedes Mal wird er auf andere Weise mächtiger und schwerer zu besiegen. Seht ihn Euch an.“, forderte sie und alle Augen richteten sich auf die gewaltige Bestie.
Das Monster saß in einem weiten Kreis aus verdorrtem Gras und abgestorbenen Bäumen. Bereits die Hälfte des Waldes war tot. Nur noch kahle, morsche Äste und gelbes Laub erinnerten an die einstige Pracht.
„Habt Ihr damals, vor sechstausend Jahren, gehört oder gesehen, dass der Splitterdrache die Natur um sich herum abtötet, allein durch seine Macht?“, fragte Yucalta Kerkil.
„Nein, damals tötete er durch Feuer und Krallen.“
„Tat er solches am zweiten Tag der Schlacht?“, wandte sie sich nun an Sisrall. Er schüttelte den Kopf.
„Der Verlust des Feuers“, fuhr Yucalta fort, „stärkte ihn soweit, dass er kaum noch besiegt werden kann. Der Verlust des Horns gab ihm die Macht, Lebewesen in seiner Nähe auszulöschen und sich deren Kraft anzueignen, nicht mehr nur ihre Magie. Denkt daran, wenn Ihr gegen ihn kämpft. Selbst ich weiß nicht, welche Fähigkeiten Ihr ihm gebt, wenn Ihr ihm seine körperlichen Waffen nehmt.“
Die Stille, die diesen Worten folgte, war furchterregend. Yetail konnte nachvollziehen, was den Kindern des Mordes durch den Kopf ging. Sie selbst war auf einmal froh, dass sie gegen Nerglot kämpfen musste, so mächtig der Bastard auch war. Bei ihm wusste sie immerhin, dass er sterben würde, wenn sie es schaffte, ihm einen Feuerball in die Brust zu jagen.
„Die einzige Möglichkeit, ihn vollkommen loszuwerden, ist, ihn in das Horn zu bannen, aus dem er beschworen wurde. Haltet Euch nicht mit der Suche danach auf, es wird zu Euch kommen, wenn die Zeit gekommen ist. Wenn Ihr es in den Händen haltet, dann könnt Ihr die Schwachstelle des Splitterdrachen nutzen. Stoßt es durch die beschädigte Schuppe und erlöst uns von seiner Existenz. Aber nur wenn das Horn auch bereit ist, werdet Ihr Erfolg haben. Denn bevor Ihr es ihm in den Leib rammen könnt, muss es die Seele eines Götterkriegers aufnehmen.“
„Ich werde dieses Opfer bringen.“, sprach Kerkil sofort. „Der Splitterdrache ist mein Schicksal.“
„Nein!“, flehte Trizil. Yetail spürte die Panik der Erwählten und sah sie überrascht an.
„Nein.“, wiederholte Yucalta und Trizil sackte vor Erleichterung ein wenig zusammen. Kerkil legte ihr die Hand auf den Rücken, während die Seherin fortfuhr. „Die Bedingungen sind einfach. Damit der Splitterdrache im Horn gehalten werden kann, muss dieses zum Zeitpunkt des Todes die Haut eines bis dahin lebendigen Götterkrieges durchstoßen und dessen Blut trinken. Wie er oder sie genau stirbt, spielt keine Rolle. Aber: die Beschwörung des Splitterdrachens erforderte ein freiwilliges Opfer. Um ihn zu verbannen, braucht es einen Mord.“
Schweigen folgte diesen Worten. Yetail spürte Sisralls hilflose Wut. „Der einzige andere Erwählte in dieser Stadt ist Nerglot und der ist nicht lebendig. Heißt das, einer von uns muss seinen Bruder oder seine Schwester töten?“, fragte er bemüht ruhig. Doch Yucalta antwortete nicht. Sie verzog auch keine Miene. Die Kinder des Mordes wechselten unsichere Blicke. Jeder von ihnen wäre bereit, sein Leben zu geben, um diese Bedrohung zu eliminieren. Doch dass einer von ihnen darüber bestimmen sollte, wer sterben musste, war unfassbar. Sie waren einander zu sehr verbunden, um sich gegenseitig töten zu können.
„Ich habe gesagt, was gesagt werden muss. Nun findet Euren Weg, uns alle zu retten. Meine Rolle hier ist gespielt. Von nun an gehört das Schlachtfeld Euch. In dreizehn Minuten wird sich diese grüne Bestie wieder in die Lüfte erheben.“
Damit zog sie die Kapuze über ihren Kopf, drehte sich um und tätschelte Szar’zriss Hals, bevor sie ihm leise etwas zuflüsterte. Yetails hörte die Worte mühelos, doch sie verstand die Sprache nicht. Der Drache allerdings stupste die Seherin leicht mit der Schnauze an, bevor sie unter ihm hindurch schlüpfte und verschwand. Was war nur aus dem unschuldigen Mädchen geworden, das sich im Grab unter dem Raum der Zwölf übergeben hatte? Die Kinder des Mordes sahen ihr überrascht nach, während ihnen ihre Worte immer wieder durch den Kopf gingen.
„Nun gut.“, riss sie Blutklinge schließlich in die Wirklichkeit zurück. „Meisterin Geisterauge hat uns viele Antworten gegeben und genauso viele neue Fragen aufgeworfen. Doch ist es seit jeher typisch für die Seher, dass sie uns stets nur das Wissen geben, das wir brauchen. Vielleicht sollten wir dankbar dafür sein. Es gibt Dinge, die nicht zu wissen eine Erleichterung ist. Sie hat uns unsere Möglichkeiten und die unseres Feindes beschrieben. Mehr brauchen wir nicht. Also macht euch kampfbereit. Wir haben einen Drachen zu schlachten!“
Seine entschlossenen Worte brachten ein Lächeln auf die nachdenklichen Gesichter der Erwählten. Ihr Anführer rief sie und sie würden folgen. Sie badeten in seiner Zuversicht und fast gleichzeitig wurden zwölf Klingen in die Luft gereckt. Blutklinge kletterte mit Kerkil auf den Rücken von Szar’zriss. Sie würden den Splitterdrachen zu Boden zwingen, wo die anderen Kinder des Mordes zu ihnen stoßen würden. Yetail beachteten sie kaum noch, während sie sich bereit machten. Dies war nicht ihr Kampf.
Also holte sie tief Luft und sprang dann über die Brüstung des Turms. Sofort tastete Magie nach ihrem Körper und hielt sie in der Luft. Tu, was getan werden muss. Sie sah über die Schulter. Sisrall blickte nicht in ihre Richtung, aber seine Gedanken waren klar und entschlossen. Geh mit meinem und Khaines Segen und bringe unsere Vergeltung. Sie erwiderte nichts und er fügte nichts hinzu. Es gab keine Worte mehr zu wechseln. Ihr Zauber setzte sie weich auf dem Pflaster ab und sie begann zu rennen. Ihr Ziel stand ihr klar vor Augen. Viverla’atar, diese dreckige Hure, sollte endlich bekommen, was sie verdiente. Sisrall würde es nicht deutlicher aussprechen, aber er hatte ihr soeben die Erlaubnis gegeben, sie zu töten.