Kapitel 5: Der gesichtslose Schrecken
Mit einem Seufzer warf sich Nadja in ihr Bett und blickte an die Decke. Der wohltuende braunrote Farbton ihres Zimmers war eine angenehme Abwechslung zum samarianischen schwarzen, goldenen, weißen und silbernen Wahnsinn. Es markierte für sie Privatsphäre. Einen abgeschlossenen, in sich stimmigen Lebensraum, der ihr ganz persönlicher war und zu dem nur eine handvoll Personen zutritt hatte. Ein Ort, an dem sie sich von ihrer Arbeit erholen und an dem sie Freunde empfangen konnte. Und ein Ort, an dem sie allein sein konnte. Es tat ihr gut, ab und zu allein zu sein. Auch wenn sie schon immer ein sehr geselliger Mensch gewesen war, war es natürlich nicht einfach die frohe und unbeschwerte Fassade, die sie nach außen hin zur Schau stellte, stets aufrecht zu erhalten. Die Zeiten, in denen die zierliche, blonde, gut gebaute Frau wirklich unbeschwert und immer optimistisch war, waren schon seit Jahren Geschichte.
Die Zeit hatte sicher einiges dazu beigetragen, doch dass sie jetzt älter, schon jenseits der dreißig, war, konnte nicht die einzige Erklärung sein. Sie persönlich machte ihre Arbeit für ihren Wandel verantwortlich. Sie war Lehrerin an der psionischen Schule Samaras, einer offiziell nicht existenten Organisation, in der die Samarianer, zusammen mit dem Orden der Masters of War, tausende Psioniker vor der Inquisition versteckten, ausbildeten und ihnen gefälschte Dokumente bezüglich der Sanktionierung, also der Seelenbindung, ausstellten. Nadja war selbst einer dieser Psioniker, die vor den Schwarzen Schiffen gerettet worden waren. Doch sie gehörte sozusagen zur ersten Generation, entdeckt durch Meister Tiberius, ausgebildet durch Meister Octavius persönlich. Nebenbei war sie als Alpha, an guten Tagen selbst als Alpha- plus, zu kategorisieren.
Durch ihre Arbeit hatte sie viel gelernt. Über die Galaxis, die Psionik, den Warp, über das Imperium, seine wahre Entstehungsgeschichte und das Wesen seiner Diener. Es hatte sie schockiert, dann angewidert, dann in Depressionen gestürzt und ihr Weltbild in sich zusammenbrechen lassen. Letztlich hatte es sie vom imperialen Glauben befreit, so wie alle involvierten auf Samara und auch außerhalb, und sie wurde eine glühende Verfechterin von Meister Tiberius Vorhaben.
Sie rollte sich auf die Seite, wobei ihr leichtes Nachtkleid verrutschte. Sie zupfte alles wieder zu Recht und nahm dann einen Datenblock zur Hand, in dem die Namen und persönlichen Daten der Psioniker waren, die am vorherigen Tag von den Masters of War entdeckt worden waren. Sie war froh, dass ihr Schatz Helos den Einsatz angeführt hatte. Kaum vorzustellen, hätte einer dieser Vollblutsoldaten wie Zxeo oder Hauptmann Azelas die Operation geleitet, er hätte sicherlich zuerst geschossen, bevor er sich näher seine Feinde angesehen hätte. Octavius hatte Recht behalten, dass ein Psioniker der beste Mann für die Aufgabe war. Die Psioniker wurden alle getestet, klassifiziert und verschiedenen Bereichen der Schule zugeteilt, in denen sie dann allerlei Dinge lernen würden, um mit ihrer psionischen Begabung Samara zu unterstützen. Dabei wurde stets darauf geachtet, die Psioniker weder zu quälen, noch ihnen den Einsatz ihrer Kräfte gegen ihren Willen aufzuzwingen. Wer kein Psioniker werden wollte, zumindest in dem Sinne einer, der seine Kräfte bewusst einsetzt, dem wurde ein winziges Nullfeld, basierend auf einer uralten, von den Masters of War bei einer Expedition ausgegrabenen Maschine, implantiert und er wurde, natürlich unter ständiger Beobachtung, zurück ins normale, zivile Leben entlassen. Doch all dies würde erst in der nächsten Zeit geschehen. Zunächst mussten die Psioniker sich von den Strapazen erholen, die sie durch ihre Flucht vor den Behörden durchgemacht hatten. Und sie mussten erst Vertrauen zu ihren Lehrern aufbauen, denn schließlich war plötzlich alles, was man ihnen, nach imperialer Maxime, über Psioniker beigebracht hatte, nutzloses, unwahres Wissen und Menschen verabschieden sich nur schwer von gewohnten Anschauungen. Nadja, die nur unmilitärischen Einsatz von Psionik lehrte, mit Schwerpunkt auf Kommunikation und Navigation von Schiffen durch den Warpraum, war froh, dass sie diesmal viele junge Schüler hatte. Jüngere konnte man viel leichter dazu bringen, sich auf die neuen Erfahrungen und Gefühle einzulassen, die ihre Kräfte auslösten und es war auch leichter sie vom imperialen Irrglauben zu lösen.
Sie ließ den Datenblock vom Bett fallen. Der Aufprall des Geräts wurde von dem flauschigen sandfarbenen Teppich abgefangen, sodass sich Nadja keine Gedanken um Schäden an dem Ding zu machen brauchte. Verträumt blickte sie in die Ferne, auf einen Punkt im Nirgendwo und ihre Gedanken lösten sich von ihrer Arbeit. Doch schon umfingen sie die nächsten unangenehmen Erinnerungen.
„K’ari.“, flüsterte sie schwach.
Ihre beste Freundin so zu sehen hatte sie heute an die Peripherie eines Nervenzusammenbruchs geführt. Und der Tag davor war noch schlimmer gewesen, als die von Meister Tiberius ausgelöste Erschütterung durch den Warp fegte und alle Psioniker benommen zu Boden gehen ließ. Mittlerweile hatten sie erfahren, dass sich aufgrund dieser Welle mehrere Schiffe verflogen hatten und auf einem nahe vorbei fliegenden Schwarzen Schiff ein Aufstand ausgebrochen war. Wodurch K’aris Koma ausgelöst wurde, konnte keiner sagen. Die Militärärzte, Zivilisten dürften von diesem Vorfall nicht erfahren, waren ratlos, da die de facto Frau des Ordensmeisters keine Verletzungen aufwies. Auch die psionische Untersuchung hatte nichts ergeben. K’ari war mental völlig unversehrt und auch nicht besessen oder aus ihrem Körper entschwunden. Nicht, dass jemand gewagt hätte daran zu denken oder es vor dem Ordensmeister zu erwähnen, aber man hatte alles Denkbare ausschließen wollen.
Nadja sprang auf und war mit wenigen Schritten aus ihrem Schlafzimmer durch zwei Türen in ihr Badezimmer gelangt. Sie drehte den Hahn für das kalte Wasser weit auf und wusch sich mit mehreren Ladungen erfrischenden Wassers das Gesicht, um endlich die üblen Gedanken zu vertreiben. Nachdem sie genug hatte, drehte sie das Wasser wieder ab, trocknete sich das Gesicht und verließ das Bad. Im Flur brannte kein Licht, nur ein schwacher Schimmer, der durch die halb geöffnete Tür ihres Schlafzimmers brach, erleuchtete die Szenerie. Die Türen zu Wohn- und Empfangszimmer, zur Küche und zur Bibliothek waren verschlossen und das einzige Geräusch, dass die Frau wahrnehmen konnte, war das leise Ticken einer altmodischen Uhr, die sie vor einigen Monaten gekauft und über die Garderobe gehängt hatte. Die Uhr hatte ein Holzgehäuse und ein Ziffernblatt aus dunklem Stein, mit weißen Zeigern, die trotz des wenigen Lichtes deutlich zu erkennen waren. Die Uhr war ebenfalls etwas, was sie als Kontrast zur weißen, erhabenen Welt außerhalb ihres Apartments gekauft hatte.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie war sich sicher, dass Helos wieder einmal nicht nach Hause kommen würde, sondern bis in den nächsten Tag seinen Dienst verrichten würde. Und am folgenden Tag erwartete sie ihn auch nicht, sowie den Tag darauf und den darauf. Und danach würden die Masters of War aufbrechen, um an irgendeinem sinnlosen Kreuzzug zur Rückeroberung irgendwelcher heiliger Systeme teilzunehmen, die weder wirtschaftlich, noch strategisch von Bedeutung waren. Sie würde Helos, beziehungsweise Hiro, wie er vor seiner Transformation zum Astartes geheißen hatte, anrufen und sich bei ihm ausheulen. Tiberius achtete doch auch darauf, seine Frau nicht allein zu lassen und er kam fast jeden Abend nach Hause, obwohl er als Space Marine nur alle einhundert Stunden zu Schlafen hatte.
Sie hob den Datenblock auf und legte ihn auf ihren Schreibtisch, auf die Akten, die sie morgen ihrem Lehrmeister Octavius, der der Direktor der Psionikerschule war, bringen würde. Doch als sie den Datenblock abgesetzt hatte, hielt sie plötzlich inne. Etwas hatte sich verändert. Etwas Unbekanntes war in ihrer Nähe, eine unbekannte, sehr starke Präsenz, die näher zu kommen schien. Nadja erschrak. Sie suchte nach Octavius, um nach ihm zu rufen, doch der alte Space Marine war nicht leicht zu lokalisieren, denn viele starke Psioniker waren in der Stadt. Sie fand ihren Meister schließlich, in einem anderen Turm des Gouverneurspalastes. Sie wollte ihn rufen, aber seine Präsenz entglitt ihr. Sie versuchte nach einem anderen Psioniker zu greifen, doch sie konnte keinen mehr spüren. Sie wandte sich um, im Flur war das Telefon. Doch der Unbekannte war schneller. Sie spürte nur noch einen Druck um ihren Hals und extreme Kälte, bevor ihr Bewusstsein aus der materiellen Welt entglitt.
Sie fand sich im Warp wieder, soviel stand fest. Auch wenn alles um sie herum eher dunkel war, erkannte sie ein diffuses Farbenspiel, welches sie sicherlich verwirrt Hätte, wäre sie nicht Lehrerin für Navigation und an den Anblick gewohnt gewesen. Sie spürte tausende niederer Warpbewohner, die augenblicklich nach ihrem Eintritt in die andere Sphäre ihre Verteidigung auf die Probe stellten. Keine der Kreaturen konnte ihr wirklich gefährlich werden, doch die schiere Masse bereitete ihr Sorgen, sodass sie begann, psionische Wellen auszusenden, um die Biester auf Distanz zu halten. Ihr war bewusst, dass sie schleunigst zurück in die materielle Welt musste und so tastete sie nach der Barriere zwischen Realität und Immaterium. Die Barriere war stark und frei von Rissen, was an sich ein gutes Zeichen gewesen wäre, gäbe es nicht den Umstand, dass sie nicht in der Lage war, durch eine unbeschädigte Barriere zu dringen. Nadja erweiterte den Radius ihrer Suche, sodass sie sicherlich auch Punkte außerhalb Meridians, der Hauptstadt Samaras, abtastete, doch sie fand keinen Weg zurück. Die Psioniker Samaras leisteten ganze Arbeit.
Die Frau hatte die Orientierung verloren, sodass sie nach dem Astronomicon Ausschau hielt. Das Leuchtfeuer des Imperators sollte ihr zumindest vermitteln, wo welche Richtung war. Es dauerte einen Moment, bis sie die Seele des Imperators im fernen Terra ausgemacht hatte, doch anhand ihrer Positionsbestimmung war sie zumindest sicher, dass sie auf Samara war. Etwas am Astronomicon jedoch gab ihr zu denken. Es schien kleiner, weiter entfernt. Etwas, was offenkundig nicht sein konnte. Doch wie konnte es sein, dass das Leuchtfeuer nicht die gewohnte Intensität aufwies. Hatte derjenige, der sie in diese Welt geschleudert hatte, auch ihren Blick getrübt? Übte er immer noch Druck auf sie aus?
Von einem Moment auf den anderen war die Samarianerin plötzlich in einem runden Raum, dessen Wände in einem gefährlichen dunkelrot pulsierten. Über sich konnte sie keine Decke ausmachen, nur einen scheinbar in die Unendlichkeit aufsteigenden Tunnel. Sie versuchte sich zu bewegen, doch etwas hielt sie fest. Nur allmählich klarte sich ihr Blick, und sie erkannte eine Gestalt, die über ihr kniete. Oder besser gesagt auf ihr kniete.
Sie erkannte die Silhouette eines Mannes, kahl, groß und mit schlanken, fast ausgemagerten Gesichtszügen. Er saß auf ihr, sie lag auf dem Rücken und seine Beine drückten ihre Arme nieder, während seine Hände auf ihren Schultern ruhten. Sie wollte etwas sagen, als das nicht ging wollte sie schreien. Aber kein Laut entfloh ihrer Kehle. Sie spürte wie die Hände des Angreifers nach unten wanderten, die Träger ihres Nachtkleides von ihren Schultern ziehend. Dieser Wicht würde es doch nicht wagen, dachte sie erschrocken. War es das, was er K’ari angetan hatte? Der wilde Psioniker zog ihr Kleid weiter an ihrem Körper nach unten, entblößte ihre Brüste und zog es schließlich weiter hinab, ohne jedoch den Druck von ihren Armen zu nehmen. Sie spürte, dass ihr Kleid nur noch ihre Füße bedeckte, als er sich langsam zu ihr herunterbeugte. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, denn anstatt von Gesichtszügen waren da nur Schatten, er selbst war nur eine groteske Silhouette. Nadja konnte ihre Psionik nicht einsetzen, sie hatte keine Macht über ihren Körper und keine Macht über ihre Kräfte. Langsam schlich sich die Panik in ihren Geist, denn ihr waren die Optionen ausgegangen und sie wusste keinen Ausweg mehr. Als sein Gesicht das ihre fast berührte, schloss sie die Augen und schrie innerlich, nach ihrem Meister, nach ihrem Mann, nach jedem vertrauten Psioniker,
Octavius spürte den Ruf viel zu spät und nur am Rande seines Bewusstseins. Als er endlich in den nahen Warpraum spähte, schlugen ihm Angst und Hilflosigkeit entgegen, und er glaubte seine ehemalige Schülerin schreien zu hören. Ohne ein Wort der Erklärung sprang er auf und öffnete einen Riss ins Immaterium, was ein gravierender Sicherheitsbruch war und in der Psioniküberwachung Samaras, in der Tag und Nacht Telepaten in mehreren Schichten den Warp und die Stabilität der Barriere zwischen den Welten rund um ihr System überwachten, sämtliche Alarmglocken zum Läuten brachte. Sekundenbruchteile später war der alte Space Marine im Warpraum verschwunden und sein Freund und nächst untergebener Scriptor im Orden, Epistolarius Brutus, schickte sofort eine erschrockene Nachricht an den Ordensmeister.
Octavius orientierte sich schnell und machte den Ursprung des Gefühls ganz in seiner Nähe aus. Im Warpraum hatte jemand eine Parallelwelt geschaffen. Eine kleine und mit simplen Gesetzen, doch sie war ein abgeschlossener Raum, in den er erst eindringen musste. Er konzentrierte sich und brach mit einem mächtigen Stoß durch die Barriere zwischen den Welten. Er erkannte eine Gestalt, die ihre Züge perfekt im Dunkeln zu verbergen verstand. Und diese Gestalt saß auf seiner entkleideten Schülerin, wobei seine klauenartigen Hände über ihren Körper strichen. Die Gestalt, bei der es sich zweifelsohne um den wilden Psioniker handeln musste, war so schockiert über die Ankunft des Scriptors, dass er zu langsam reagierte. Bevor er die Welt kollabieren lassen und verschwinden konnte, hatte Octavius ihm am Kopf gepackt, was ihm als Space Marine ein Leichtes war, und investierte all seine Kraft in seinen Griff. Dass der Feind nicht augenblicklich pulverisiert wurde war ein weiterer Beweis für die Stärke und die Gefährlichkeit dieses wilden Psionikers. Octavius versuchte den Mann zu halten, doch sein Widerstand war von ebensolcher Kraft wie sein Griff. Und während Octavius Kräfte schwanden, schienen seine Reserven unerschöpflich. Nach einigem hin und her wurde der Schmerz im Kopf des alten Mannes unerträglich und mit dem allergrößten Widerwillen löste sich seine Hand vom Kopf des Aggressors. Nach dem Verlust ihres Erschaffers, der sofort entschwunden war, brach die künstliche Parallelwelt zusammen und schleuderte ihre beiden Besucher zurück in den Warp. Das schreckliche Dröhnen in seinem Kopf ignorierend, fasste Octavius Nadjas Bewusstsein und machte sich daran, das Immaterium zu verlassen. Der Sog dieser feindlichen Welt wuchs an, ihre Bewohner wollten die beiden starken, hell leuchtenden Seelen nicht gehen lassen. Der Mensch strengte sich weiter an, den Glauben in die Reserven seiner Kräfte verlierend, als sich ihm ein anderes Bewusstsein entgegenstreckte und ihn samt Nadja aus dem Warp zog.
Als die zierliche Frau wieder zu sich kam und schemenhaft Bewegungen vor ihren Augen wahrnahm, erwartete sie im ersten Moment, den Angreifer vor sich zu entdecken. Umso erleichterter war sie, als sich der, zugegeben ebenfalls kahle, Kopf vor ihr als der ihres alten Meisters herausstellte. Er trug sie in seinen Armen, eingehüllt in eine Decke, und bewegte sich mit ihr schnellen Schrittes durch zahlreiche Korridore. Nach einigen Augenblicken wurde er ihres Erwachens gewahr.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er ruhig, aber auch schwach von seinem Kampf mit dem Wilden. Nadja meinte, einen väterlichen Unterton in seiner Stimme zu hören. Es gab ihr ein warmes Gefühl.
„Besser als in der anderen Welt.“, sagte sie beinahe flüsternd.
Sie blickte auf und versuchte auszumachen, wer ihr Begleiter war, auf den sie durch einen Blick ihres Meisters aufmerksam wurde. Dieser kam ihrem Vorhaben entgegen. Sie blickte einem weiteren alten Mann entgegen, der gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Meister hatte, wenngleich noch mehr von seinen Haaren erhalten war, als bei Octavius.
„Ich bin Großinquisitor Halim Tzeez, Frau Edano.“, sagte er freundlich.
Edano, fragte sie sich in Gedanken. Nur langsam kam ihr in den Sinn, dass das ihr Nachname war, der Name den sie nach ihrer formalen Hochzeit mit ihrem Schatz angenommen hatte.
„Der Großinquisitor war es, der uns aus dem Warp gezogen hat.“, erklärte Octavius.
Jetzt fiel Nadja auch wieder ein, wo sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Auch wenn er ein wenig gealtert war. Doch auch sie war kein Mädchen mehr.
„Yucatan. Damals im Krieg gegen die Dark Eldar. Das wart doch auch Ihr.“
„Richtig.“, bestätigte der Inquisitor. „Es ist lange her. Damals waren Sie noch ein junges Mädchen und flirteten mit sämtlichen Offizieren und hochrangigen Space Marines.“, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
Nadja errötete.
Sie hatte ihre Umgebung kaum wahrgenommen und war umso erstaunter, als sie plötzlich Stimmengewirr und einen sterilen Geruch wahrnahm. Dann änderte sich die Beschaffenheit der Umgebung, die sie erkennen konnte. Die prunkvollen Fahnen und Gemälde, die in den Gängen des Palastes dominierten, waren kargen weißen Wänden gewichen, auf denen in regelmäßigen Abständen profane Zahlenmarkierungen erschienen. Dann betraten sie einen großen Raum, in dem Octavius sie auf einen Operationstisch ablegte und aus ihrem Blickfeld verschwand. Kurz darauf erschien das freundliche Lächeln eines ergrauten Arztes.
„Entspannen Sie sich bitte. Meine Kolleginnen werden sie gleich untersuchen.“
Bednjagin hastete durch die langen, verlassenen Korridore des Palastflügels, der den Masters of War vorbehalten war. Über seinem dunkelgrauen Hemd trug er nur Weste und sein Ehrenkreuz, also nur das, was er in seinem Lesezimmer getragen hatte. Er war vor über zwei Stunden im Feierabend, auch wenn er einen solchen als einer der höchsten Repräsentanten Samaras eigentlich gar nicht hatte. Vertieft in die Lektüre eines systemweit bekannten Kriminalromans hatte er einen aufgeregten Anruf eines Majors der Nachtschicht erhalten, welcher ihm nicht viel mehr sagen konnte, als dass es einen Angriff seitens der Terroristen gegeben hätte, Bednjagin hätte fast nach dem wilden Psioniker gefragt und die Tarnung gefährdet, und dass Meister Tiberius ihn augenblicklich in seinen Räumen zu sprechen wünsche. Vor Tiberius Arbeitszimmer, welches gleich neben dem Eingang zu seiner Wohnung lag, traf er Hauptmann Pollux, den er am vorigen Tage gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Anscheinend hatte der Space Marine den Befehl bekommen, auszuschlafen, denn der Krieger wirkte auf ihn, als könne er es mit einer Horde Orks aufnehmen. Pollux war in ungewohnter weise in samarianischer Dienstuniform, welche er zwar tragen durfte, normalerweise aber zu Gunsten seiner Ordensroben im Schrank ließ.
„Wir haben Sie erwartet, Generalfeldmarschall. Tiberius und der Großinquisitor sind in des Meisters Wohnung.“
Ohne ein weiteres Wort stieß der Space Marine die nur angelehnte Tür zu seiner Linken auf und bedeutete dem Offizier einzutreten.
Bednjagin verlor keine weitere Zeit, schlüpfte jenseits der Tür aus den Schaftstiefeln und lief, ohne sich an den zahlreichen Paaren an Hausschuhen zu bedienen, ins Wohnzimmer, aus dem er Licht und Stimmen vernahm. Er stürzte förmlich in den Raum und blickte vier Männern entgegen.
Tiberius, immer noch in Dienstuniform, Großinquisitor Tzeez, in einer leichten Uniform der Inquisition, jedoch in seinen persönlichen Farben, Meister Octavius, in seinen Scirptorroben, welche mit Purpur und Silberstoff sich von den der normalen Ordensbrüder unterschieden, und einen gehetzt wirkenden jungen Space Marine. Der Samarianer erkannte Bruder Helos.
„Danke, dass du so schnell gekommen bist. Und ’tschuldige, dass wir dich nach all den Tagen ohne Schlaf wieder in der Nacht stören.“
Bednjagin setzte sich in einen freien Sessel und nickte den Anwesenden zu. Hinter ihm betrat der Adjutant des Ordensmeisters den Raum und schloss die Tür hinter sich.
„Was ist geschehen? Es gab einen Angriff des Wilden?“
„Ja.“, antwortete zu Bednjagins Erstaunen Octavius. Nach kurzem innehalten fuhr er fort.
„Er hat meine Schülerin angegriffen. Sie sollten sie kennen. Ihr Name ist Nadja Edano.“
Bednjagin nickte, auch wenn er die Lehrerin an der geheimen Psionikschule nur flüchtig kannte. Er hatte sie das letzte Mal bei einem Marinemanöver getroffen, bei dem ihre neuesten Navigatoren getestet wurden.
„Sie ist nur leicht verletzt, auch wenn ich noch nicht sagen kann, wie es in ihrem Inneren aussieht.“
Der alte Mann warf Tiberius einen Blick zu, der daraufhin das Wort ergriff.
„Jedoch können wir nun vielleicht sagen, was mit K’ari passierte.“
Bednjagin schwieg. Sein Blick fiel auf Bruder Helos, der den Eindruck machte, schnell verschwinden zu wollen. Dem Ordensmeister entging nicht, worauf Bednjagin achtete.
„Helos kann gehen, sobald ich deine Meinung gehört habe, Sergej.“
Der Angesprochene nickte.
„Der Angreifer zog Nadja in den Warp, erschuf eine eigene Parallelwelt und versuchte… Mit K’ari geschah wohl das Gleiche…“
Tiberius brach ab. Tzeez reagierte und nickte dem Adjutanten Pollux, der immer noch scheinbar unbeteiligt an der Tür wartete zu. Der Adjutant war wahrscheinlich der Einzige im Raum, der keine emotionale Bindung an die Ereignisse hatte.
„Der Wilde versuchte Frau Edano zu vergewaltigen. Und dasselbe ist wohl mit Captain K’ari geschehen.“
Bednjagin konnte seinen Ohren kaum trauen. Hatte der Hauptmann gerade „vergewaltigt“ gesagt? Er blickte seinen Freund Tiberius an, der den Blick hilflos erwiderte. So hilflos, wie Bednjagin diesen mächtigen Mann noch nie gesehen hatte, mit scheinbar ins Leere gehendem Blick.
„Dann müssen wir ihn einfangen.“
Nach einigem Nachdenken fügte er erregt hinzu: „Und wir müssen Schutzmaßnahmen errichten. All die anderen psionische begabten Frauen auf dem Planeten könnten sich noch weniger wehren als Nadja und K’ari, die zumindest mit Alpha bis Alpha- plus eingestuft werden.“
„Das ist eher das Problem, denn seine Lösung.“, sagte Tzeez, der damit zum ersten Mal etwas von sich gab, nachdem er minutenlang fast ausdruckslos dem Treffen beigewohnt war.
„Durch die Kraft, die den beiden Frauen eigen ist, konnte dieser Verrückte sie schneller lokalisieren. Dennoch haben Sie recht, Herr General, dass eine gewöhnliche Psionikerin, denn auf diese scheint unser Wilder es abgesehen zu haben, sich in keinster Weise zur Wehr setzen könnte.“
„Helos, du darfst gehen.“, sagte Tiberius. „Geh zu deiner Frau. Ich entbinde dich bis morgen Mittag und zwei vom Dienst. Das sind fast genau zwölf Stunden.“
Der Space Marine nickte seinem Ordensmeister zu und verließ deutlich erleichtert, aber sehr zügig, den Raum. Erst als Bednjagin sich sicher war, dass der Mann die Wohnung verlassen hatte, stellte er seine Frage.
„Wolltest du ihn nicht hier behalten, bis du meine Meinung gehörst hast?“
„Ich habe deine Meinung gehört. Durch deine Reaktion auf die Fakten, hat Helos gesehen, dass auch du dir um die Frauen Sorgen machst. Ich habe Zweifel in seinem Verstand gelesen, Gefühle, die er nicht haben sollte. Ich will den Jungen von Dummheiten abhalten, auch wenn ich seine Sorge und seine Angst um den geliebtesten aller Menschen völlig nachvollziehen kann.
Sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen, sodass Tzeez und ich nicht mehr zu Stelle sein würden, sollte Helos, und er stellvertretend für den Orden, wissen, dass du jemand bist, dem er trauen kann.“
Bednjagin nickte. Er verstand zwar, dass die Lage erst war, doch konnte er Tiberius Worte nicht nachvollziehen. Warum sollten der Inquisitor und er nicht mehr zur Stelle sein. Würden sie gegen den Wilden kämpfen, falls sie ihn nicht in Gewahrsam zu nehmen imstande seien?
„Wir müssen eine Verteidigung errichten. Wir werden zunächst Meridian, dann den gesamten Planeten in ein Nullfeld hüllen. Wir werden dafür viel Energie und alle unsere Omega- Psioniker brauchen. Und selbstverständlich werden auch wir unserer Kräfte beraubt und uns blieben nur noch die konventionellen Mittel. Tiberius und ich halten dies für das Beste. Bist du auch einverstanden?“
„Sicher. Aber warum braucht ihr dafür mein Einverständnis?“
Tzeez lächelte, die beiden Space Marines in den anderen Sesseln stimmten mit ein.
„Weil zunächst einmal du dann zum wichtigsten Akteur in dieser Hatz wirst. Ohne Psionik können wir in dieser Affäre nicht viel ausrichten. Die Masters of War sind zu wenige und meine Garde kennt den Planeten nicht. Die Samarianische Garde wird die Last zu tragen haben.
Und schließlich bist du einer von uns. Deine Meinung zählt für uns, wie, so hoffen wir, unsere Meinung für dich zählt.“
Bednjagin war überrascht, in einer positiven Weise. Tiberius hatte Recht behalten, als er sagte, der Großinquisitor sei wahrlich ein Mitglied ihres Zirkels, auch wenn er seinen Beitrag fernab von Samara leistete.
„Also gut. Ich werde die Kommandeure der anwesenden Divisionen aus den Betten klingeln und die Stadt in eine Festung verwandeln. Achtet nur darauf, dass unser Wilder tatsächlich durch das Nullfeld blockiert wird. Wenn’s hart auf hart kommt bin nämlich auch ich meiner Kräfte beraubt und kann außer einer Boltpistole und einer Energieschwertes nicht viel vorweisen.“
Kurze Zeit später rannte Bednjagin zu seiner Wohnung zurück, um seine Uniform anzulegen, wobei er unablässig Befehle in sein Funkgerät brüllte. Tiberius, Octavius und Tzeez kümmerten sich derweil um das Nullfeld. Eine nahe Uhr schlug zu halb drei in der Nacht und erinnerte den Offizier daran, dass sie nur noch drei Tage hatten, bevor die Masters of War gehen mussten, mit oder ohne Triumph über den Psioniker. Ein Ausbleiben ihrer Unterstützung für irgendeinen lächerlichen Kreuzzug der imperialen Kirche würde Ermittlungen nach sich ziehen. Und Schnüffler konnten sie auf Samara nicht gebrauchen.