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Kapitel 6: Ein vermeintliches Bollwerk
Meister Zxeo warf einen Blick auf den neben ihm stehenden Generalfeldmarschall. Bednjagins tiefgrüne Augen konzentrierten sich starr auf einen Punkt auf dem Bildschirm vor ihnen. Er hatte soeben ein weiteres Ausputschmittel geschluckt und die Müdigkeit, die der Space Marine in den letzten Stunden im Gesicht des Generals zunehmen sah, war wie weggeblasen. Doch Zxeo konnte aus eigener Erfahrung sagen, dass nur die physische Müdigkeit von diesen Mitteln weggewischt werden konnte, gegen mentale Übermüdung konnte einem nichts wirklich helfen. Der relativ junge Meister der zweiten Kompanie der Masters of War entdeckte zudem ein leichtes Zittern in den Fingern des Generals, der seine Hände hinterm Rücken hielt, um seine Erschöpfung nicht durch seine Haltung zu verraten. Zxeo konnte nur vermuten, wie sich Bednjagin fühlen musste, denn im Gegensatz zu vielen wichtigen Persönlichkeiten seines Ordens war er kein Psioniker, von einem allgegenwärtigen Nullfeld konnte er nichts wahrnehmen.
Ein weiters rotes Warnzeichen blinkte auf, und gesellte sich zu den vier bereits vorhandenen. Es war ein Zeichen, das angab, wenn ein Kommunikationskanal blockiert war, aber gerade eine Nachricht durch ihn Samara zu erreichen versuchte. Blockiert waren sie alle, Nachrichten würden noch viele kommen. Man hatte ihm nichts genaues gesagt, doch Zxeo konnte sich vorstellen, dass Tzeez schon irgendwas erfinden würde, um ihre Funkstille und das gewaltige Nullfeld zu rechtfertigen. Eine Delegation der Inquisition würde mit Sicherheit in den nächsten Monaten erscheinen, auch nur um den Abschlussbericht des Großinquisitors zu bestätigen. Und das bedeutete noch mehr Arbeit für Bednjagin und andere Eingeweihte, denn während der Abwesenheit des Ordens bliebe all die Vertuschungsarbeit bei ihnen.
Zxeo kratze sich an der Nase und genehmigte sich ein kräftiges Gähnen, auch wenn er dadurch einen missfallenden Blick vom General erntete. Der einhundertundeins Jahre alte Space Marine Meister fühlte sich ziemlich nutzlos, da wo er war, im Kommandozentrum des Hauptquartiers der planetaren Polizei, mitten im Regierungsbezirk von Meridian. Oder anders, weit weg von jeglicher praktischen Arbeit. Zwar hatte er keine Wutausbrüche und keine Tobsuchtsanfälle mehr, wenn man ihn davon abhielt seine Feinde direkt anzugreifen, das hatte er in den letzten zehn Jahren gut unter Kontrolle bringen können, doch am liebsten wäre er jetzt an einem der zahlreichen Kontrollpunkte in der Stadt, um zusammen mit Polizisten, Soldaten, Arbitratoren und Space Marines die knapp sechsunddreißig Millionen Einwohner der Hauptstadt zu kontrollieren.
Auf Befehl des Ordensmeisters, des Großinquisitors und des Generalfeldmarschalls, die eindeutig zu verstehen gegeben hatten, dass sie momentan ein Triumvirat bildeten, war die Hauptstadt Samaras vollkommen abgeriegelt, die Gas- und Stromversorgung in der gesamten Stadt deaktiviert, eine allgemeine Flugverbotszone mit einem Radius von fünfzig Kilometern um die Stadt eingerichtet worden und alle Bezirke der Stadt von einander gekappt, indem die öffentlichen Verkehrsmittel gestoppt und alle Autobahnen, die in Meridian unterirdisch verliefen, blockiert worden waren. Die Bürger hatten Anweisung sich nach Hause zu begeben und, sobald ihr Subbezirk an der Reihe war, sich beim nächsten Kontrollpunkt bei den Sicherheitskräften zu melden. Da auf Samara absolute Meldepflicht bestand, war man sicher, dass niemand sich den Kontrollen entziehen würde. Die Männer an den Kontrollposten hatten Weisung, alle Männer, auf die die steckbriefliche Beschreibung zutraf, in Gewahrsam zu nehmen. Den Steckbrief hatte man Anhand der Angaben von Meister Octavius und dessen ehemaliger Schülerin erstellt, nichtsdestotrotz war die Beschreibung eher vage. Jeder kahle Mann, sowie alle mit kurz geschorenen Haaren, wurden separiert und auf psionische Aktivität untersucht, wovon auch die Armee- und Polizeiangehörigen nicht befreit waren. Einige Scriptoren des Ordens hatten Bedenken geäußert, ob die Scanner, die man mithilfe von Eldartechnologie entwickelt hatte, unter Einfluss des Nullfelds einwandfrei funktionieren würden, doch die Führung war bereit das Risiko einzugehen. Was sollte man auch besseres tun?
Zxeo blickte wieder zum Generalfeldmarschall, der sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegt hatte. Er persönlich hasste solche Situationen, denn als nicht Psioniker fühlte er sich schrecklich nutzlos. Er konnte kämpfen und für Sicherheit sorgen und die Truppen anführen, aber im Kampf gegen einen Gegner, wie den, dem sie aktuell entgegenstanden, war er hilflos und so viel wert wie jeder Armeerekrut. Nämlich gar nichts.
„General, es juckt mir unter den Fingernägeln. Geben Sie mir etwas zu tun.“
„Ihr werdet früh genug Arbeit bekommen, Meister Zxeo. Reicht es Euch nicht, dass ihr in etwas zwei Wochen eine Übermacht von Feinden begegnen werdet. Während des Kreuzzugs wird genug Blut zu vergießen sein.“
Zxeo ballte eine Faust. Nur nicht aufregen, dachte er sich.
„Aber ich muss jetzt hier raus.“, presste Zxeo hervor. Das zivile Leben der letzten Jahre, nur sporadisch von kleineren Kriegen auf fernen Planeten oder von Bergungsmissionen für irgendwelche uralte Technologie unterbrochen, war seiner Selbstbeherrschung zuträglich gewesen. Der Generalfeldmarschall wandte sich ihm endlich zu, sodass Zxeo ihn nicht nur im Profil sah. Die Schirmmütze hatte der Offizier tief im Gesicht, bei Bednjagin ein eindeutiges Zeichen für geistige Arbeit.
„Selbst ohne meine psionischen Kräfte kann ich es in Euch kochen sehen. Woher kommt diese innere Unruhe in Euch?“
Das war die Höhe. Zxeo fletschte die Zähne. Der General hatte sich einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um Seelenklempner zu spielen.
„Jetzt hören Sie mal, ich…“
„Geht zum Kontrollpunkt des Subbezirks dreiundsechzig im vierzehnten Bezirk. Von dort angefangen geht ihr die Bezirke vierzehn und fünfzehn durch. Das Kommando in diesem Bereich liegt bei Brigadegeneral Rybak. Habt ihr die Zahlen, oder soll ich es aufschreiben.“
Leck mich du Affe, dachte Zxeo, und war sehr froh über das Nullfeld, dass seine Beleidigung vor Bednjagin verbarg. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich auf der Stelle um und rannte aus dem Raum, wobei er mehrere Polizeioffiziere umwarf. Bednjagin schüttelte nur den Kopf und nahm seine ursprüngliche Haltung wieder ein.
Oberst Koji Iwasaki hatte seinen Blick auf seinem Armchronometer geheftet und zählte die Sekunden bis zu vollen Stunde im Kopf mit. Um Punkt dreizehn Uhr mittags sprang er von seinem Platz in der Kantine der Umarov- Kaserne auf, setzte sich den weißen Helm mit dem goldenen I auf und rannte, gefolgt von mehreren Leutnanten und Hauptmännern der Inquisitionsgarde, aus dem großen Saal. Nach dem Passieren zweier Korridore erreichte die Gruppe den Innenhof des rechteckigen Militärgebäudes und bestieg einen wartenden Transporter lokaler Bauweise, ein Schwebefahrzeug, welches Iwasaki im ganzen Imperium noch nie gesehen hatte.
Der Pilot, ein Oberleutnant der samarianischen Raumflotte, nickte dem Oberst zu, als sich alle auf einen Platz gesetzt hatten und startete die bereits warmgelaufenen Triebwerke. Neben der Antigravplatte, die unter dem Gefährt angebracht war und dessen Levitation ermöglichte, besaß der Gleiter drei bewegliche Düsen an seinem Heck, womit er beeindruckende Geschwindigkeiten erreichen konnte. Der Gardist war zuvor am Tage zum ersten Mal mit einem dieser Geräte befördert worden und hatte sie sofort schätzen gelernt.
Der Gleiter schnitt durch die Luft, dank der Flugverbotszone hatte er völlig freie Bahn und musste nur gelegentlich einem hohen Gebäude ausweichen, und brachte die Offiziere der Inquisitionstruppen ihrem Ziel näher, der Sammelstelle für verdächtige Individuen. Iwasaki war die Aufgabe zugeteilt worden, die drei Sammelstellen im Süden der Stadt zu inspizieren und nach ihrem wilden Psioniker Ausschau zu halten. Von seinen Männern war er der einzige, der wusste, was wirklich vor sich ging, und er entschied, dass es auch so gut war. Der Gedanke daran, dass das Nullfeld womöglich doch aus irgendeinem Grund keinen Effekt auf den Wilden haben könnte, behagte ihm nicht. Schlimmstenfalls würde dieses Monster ihn und seine Ordonnanz einfach mit einem Blick töten, in Fetzen reißen oder explodieren lassen.
Kein erbauender Gedanken, und doch war ihm klar, dass sie in ihrer momentanen Lage und zum aktuellen Informationsstand nichts anderes tun konnten, als auf gut Glück die Stadt nach verdächtigen Psionikern zu untersuchen. Insgeheim hatte ein Scriptor der Masters of War Iwasaki erzählt, dass die Chancen den Wilden unter Einfluss eines Nullfeldes und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es dem Geheimdienst in den letzten Wochen ebenfalls nicht gelungen war, ihren Feind aufzuspüren, einzufangen, denkbar schlecht standen.
Der Flug dauerte nur wenige Minuten. Nach erreichen des ersten Kontrollpunktes landete das Fahrzeug, ließ jedoch die Motoren laufen. Der Oberst und seine Männer sprangen förmlich aus dem Gleiter und näherten sich schnell dem zuständigen Offizier für diesen Kontrollpunkt, einen Polizeihauptkommissar Semjonewitsch.
„Ihr Statusbericht, Hauptkommissar.“, sagte Iwasaki.
Sein Gegenüber musterte ihn. Ein Fremdweltler, der noch dazu in einem merkwürdig akzentuiertem Hochgotisch sprach, war nicht die übliche Sorte Vorgesetzter, die der Mann gewöhnt war. Er salutierte etwas zu spät.
„Keinerlei psionische Aktivität, Herr Oberst. Nichts auf den Scannern. Weiterhin wurden alle bewaffneten Personen separiert und entwaffnet. Möchten Sie diese Personen inspizieren?“
Das war Teil der Tarnung, erinnerte sich Iwasaki. Sie konnten den einfachen Sicherheitskräften ja schlecht die Wahrheit sagen.
„Beinhaltete die Bewaffnung Sprengstoff oder unter das Kriegswaffenrecht fallende Geräte?“
„Nein, Herr Oberst.“
Iwasaki ließ seinen Blick über den Platz schweifen und bemerkte erst jetzt all die Details. Die Bewohner dieses Subsektors hatten sich in mehreren Schlangen vor dem Kontrollpunkt angestellt und wurden nacheinander von Sicherheitskräften gescannt. Einige sahen besorgt aus, Mütter achteten besonders auf ihre Kinder, doch keiner war panisch oder verängstigt und niemand leistete Widerstand. Die Disziplin und der Gehorsam, die auf Samara herrschten, beeindruckten Iwasaki. Wenngleich er solch vorbildliche Welten schon kannte, seine Heimat war keine Ausnahme, so hatte er doch im Dienste der Inquisition schon zahlreiche Orte besuchen müssen, wo samarianische, oder mordianische, oder cadianische, oder rozzarianische Disziplin nötig wäre.
„Fahren Sie fort. Die nächste Inspektion findet in drei Stunden statt.“
Iwasaki salutierte, der Polizeioffizier tat es ihm gleich. Dann drehte sich der Inquisitionsgardist auf dem Absatz um und rannte zurück zum Transporter, gefolgt von seinen Männern, die während seiner Unterredung die Informationen notierten, auch wenn es keine gab, und mit ihren kurzen Maschinenpistolen auf Basis konventioneller Projektilwaffen den Oberst sicherten – nur für den Fall.
Dieselbe Prozedur wiederholte sich weitere Male, stets ohne neue Informationen für den Oberst. Auf dem Weg zum mittlerweile siebzehnten Kontrollpunkt überprüfte Iwasaki mittels eines Cogitators, ob nicht eine andere Inspektionsgruppe Neuigkeiten hatte. Doch der Datenkanal, mit dem er ständig verbunden war, war nur überflutet von Meldungen, dass es nichts zu melden gab. Er selbst fügte eine weitere, gleichlautende hinzu.
Sein Gleiter hatte unterdessen wieder auf dem Boden aufgesetzt und die ihn begleitenden Offiziere waren schon halb ausgestiegen. Iwasaki erhob sich ebenfalls und verließ etwas langsamer den Transporter. Flankiert von seinen Männern näherte er sich dem Munitorumskommissar, der diesen Kontrollpunkt überwachte, das Tempo hatten sie jedoch schon längst reduziert.
Iwasaki salutierte dem Kommissar, der ihm in Begleitung eines Feldwebels eines Gardezuges entgegen kam. Der Kommissar war ein Mann mit spitz zulaufendem Gesicht und sehr dunklen Augen, die nur knapp unter der Schirmmütze auszumachen waren. Sein Salut war Lehrbuchmäßig. Der Feldwebel an seiner Linken war ein Hüne mit kurz geschorenen dunklen Haaren.
„Keine positiven Informationen, Herr Oberst.“, sagte die Hakennase.
Was in diesem Fall negative Informationen sind.“, antwortete Iwasaki. Der Kommissar und sein Begleiter verzogen trotz des schlechten Wortspiels keine Miene.
„Nun, gut.“, sagte der Inquisitionsdiener, nachdem sein Gesprächspartner anscheinend nichts weiter zu sagen hatte.
„Wir gehen. Die nächste Inspektion ist in drei Stunden. Seien Sie…“
Etwas ließ ihn Stocken. Kam es ihm nur so vor, oder war es plötzlich heißer und windstill geworden. Den übrigen Offizieren entging sein Zögern nicht, und wahrscheinlich fiel mehreren Anderen Augenblicke später auch auf, was dem Oberst verdächtig erschien. Aus einem Gefühl heraus, ließ er sich zu Boden fallen und presste sich an den Untergrund. Sofort taten seine Gardeoffiziere es ihm gleich, gefolgt vom Kommissar und dem Feldwebel, der sofort mit einer Hand an seine Funkgerät griff.
„Volle Deckung, wiederhole, volle Deckung!“
Aus dem Augenwinkel sah Iwasaki, wie alle Sicherheitskräfte in Bruchteilen von Sekunden in Deckung gingen, sich zu Boden warfen und regungslos verweilten. Was Iwasaki mehr beeindruckte war, dass auch sämtliche Zivilisten dem Aufruf folgten und niemand in Panik ausbrach oder davonlief. Alle gingen zu Boden, Alten wurde geholfen, Kinder von ihren Eltern schützend bedeckt. Nach wenigen Sekunden stand niemand mehr, außer einem Mann in langem Mantel und mit dunkler Mütze.
Iwasaki blickte zu jenem Mann, der ungefähr hundert Meter von ihm entfernt stand und war kurz davor ihm zuzurufen, als plötzlich ein grelles Licht ihn blendete. Gleich darauf erfasste ihn eine Schockwelle, riss an ihm und versuchte ihn fort zu schleudern. Iwasaki machte sich so klein wie er nur konnte und presste sich stärker gegen den Boden. Etwas landete auf ihm, wodurch er fast eine unbedachte Bewegung gemacht hätte. Doch dank seiner Disziplin bewegte er sich nicht. Er bemerkte, dass sich jemand an ihm festhielt. Dann hatte er wohl einen kurzzeitigen Aussetzer.
Denn als er die Augen wieder öffnete, waren sicherlich mehrere Sekunden vergangen. Die ersten Personen erhoben sich bereits wieder und sahen nach den Leuten um sich herum. Vor sich erkannte er den Kommissar, der nun ohne Mütze auf dem Boden kniete und sich den Nacken rieb, der Hüne von Feldwebel war bereits aufgesprungen und reorganisierte seine Männer.
Oberst Iwasaki zog sich unter dem Körper hervor, der auf ihm gelandet war und blickte auf einen jungen Mann, der zwar bei Bewusstsein, jedoch nicht in allzu gutes Verfassung war. Er klopfte dem Mann auf die Schulter.
„Verstehen Sie mich?“
Der Angesprochene, ein junger Kerl mit blonden Haaren und grünen Augen, der wegen der Druckwelle ziemlich blass im Gesicht war, nickte und sich das Revers seiner Jacke richtete. Die Schirmmütze, die Iwasaki abhanden gekommen war, hatte der andere retten können und reichte sie dem Offizier.
Dieser hob den Blick und zählte schnell seine Männer durch. Alle schienen da zu sein und keiner war verletzt. Zumindest soweit Iwasaki es auf die Entfernung beurteilen konnte. Also setzte er sich die Schirmmütze wieder auf und erhob sich, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
Zaitsew kratzt sich unschlüssig am Kopf, als er nach einer halben Stunde, die er sich als Pause gegönnt hatte, zurückkam und Bednjagin in unveränderter Haltung vorfand. Der Offizier stand immer noch mit hinter dem Rücken verschränkten Händen da, den Blick starr auf den Holobildschirm vor sich gerichtet. Allerdings musste er sich zwischenzeitlich bewegt haben, denn den Mantel hatte Bednjagin, nach siebzehn Stunden Arbeit, unterbrochen von nur wenigen kurzen Pausen, abgelegt und stand jetzt in Uniformrock da.
„Bednjagin!“, sagte Zaitsew. Der andere Mann reagierte nicht.
„Sergej!“, versuchte er es mit dem Vornamen.
„Was?“, antwortete der General, ohne den Blick vom Schirm zu nehmen.
„Ich habe hier den Bericht der Kriminaltechnischen Untersuchung. Wollen Sie ihn sehen?“
Bednjagin bewegte den Kopf nur minimal.
„Vom wem haben Sie ihn?“
„Irgendein Oberst von der Militärpolizei.“
„Ein junger Glatzkopf?“, fragte er nach.
Zaitsew zuckte mit den Achseln, auch wenn man das unter dem Ledermantel kaum erkennen konnte.
„Ja, wieso?“
Endlich drehte Bednjagin ihm seine Front zu und blickte ihm aus müden Augen an. Das linke Auge zuckte leicht, woraus Zaitsew schloss, dass sein Kamerad wohl irgendein Aufputschmittel eingenommen hatte.
„Denis Karamasow. War mal mein Adjutant.“
„Haben Sie was genommen?“
Ja, wollen Sie auch eine Tablette?“
Der Kommissar winkte ab. Er trat den den Holotisch heran und reichte die Datentafel einem Oberleutnant, der sie in einen Computer einführte und die Daten auf den Hauptschirm legte. Die eingehenden Berichte wichen und verschwanden wieder auf die kleineren Schirme der Kommunikationsoffiziere. Der junge Mann blickte den Oberbefehlshaber der Samarianer an.
„Vergessen Sie die Details, das ist Sache der Kommissare und Arbitratoren. Sofort zu den Ergebnissen.“, befahl er.
Der Oberleutnant blätterte durch die einzelnen Seiten, durch seitenlange Berichte und mehrere Tatortfotos, bis zu einer tabellarischen Zusammenfassung der Ergebnisse. Dann las der Mann vor, auch wenn es eigentlich nicht nötig war.
„Bei der Explosion am Kontrollpunkt vierundvierzig des Subsektors siebenundzwanzig gab es einhundertsieben Verletzte, von denen dreiundzwanzig in medizinische Behandlung überführt werden mussten. Die Zahl der Verletzten mit bleibenden Schäden beträgt null. Die Explosion hatte lediglich die Stärke einer kleinen Mörsergranate, jedoch ohne Splitterwirkung. Den Scannern zufolge handelte es sich bei der Druckwelle lediglich um stark erhitzte Luft. Durch den Umstand, dass zum Zeitpunkt der Explosion sämtliche anwesenden Zivilisten und Sicherheitskräfte sich zu Boden geworfen hatten, sind ernstere Verletzungen oder gar Todesopfer vermieden worden.
An der Stelle, an der das Zentrum der Explosion vermutet wird, wurden Fußabdrücke entdeckte, die sich in den Beton eingebrannt haben. Dem Profil zufolge waren es gewöhnliche, handelsübliche Halbschuhe einer verbreiteten Marke, die auch von Verwaltungsbeamten oft getragen wird. Allerdings lässt sich durch das Schuhprofil nicht auf einen Beamten schließen.
Oberst Iwasaki von der Inquisitionsgarde, der ebenfalls leichte Verletzungen durch die Explosion erlitten hat, berichtete von einem verdächtigen Mann in dunklem Mantel, der in der Nähe des Explosionszentrums gestanden hatte. Der Mann konnte nach dem Vorfall nicht mehr erfasst werden. Glücklicherweise hat jedoch ein weiterer Zeuge neben dem Oberst, ein im Süden der Hauptstadt wohnhafter Einzelhändler, den Mann gesehen und konnte sich an ihn erinnern. Er konnte ebenfalls die Angabe machen, dass er den Verdächtigen nach dem Vorfall fliehen sah, wobei wir uns nicht erklären können, wie er an den Sicherheitskräften vorbeikommen konnte. Interne Untersuchungen wurden eingeleitet. An einer Wand, die der Verdächtige passierte, entdeckten die KTU Fingerabdrücke, die keiner der anwesenden dreihundertsiebzig Personen zugeordnet werden konnten.“
„Die können von jedem stammen.“, unterbrach ein Hauptmann der Kommunikation den Vortrag des Soldaten.
Der Unterbrochene räusperte sich und fuhr fort.
„Die Fingerabdrücke konnten nicht in unserem System gefunden werden. Die Suche wurde auf den ganzen Planeten ausgeweitet, lieferte jedoch keine Ergebnisse. Wir haben es hier also mit den Fingerabdrücken eines Fremdweltlers zu tun.“
„Dann muss diese Spur nicht weiter verfolgt werden.“, sagte Bednjagin. Mit einer Intervention des Generals hatte niemand gerechnet, normalerweise hörte er sich immer alles erst an, bevor er den übrigen Offizieren seine Gedanken mitteilte. Zaitsew schloss, dass sein Kollege so schnell wie möglich zu einer Lösung gelangen wollte.
„Es ist ausgeschlossen, dass es sich bei den Terroristen um Fremdweltler handelt, das widerspräche unseren Informationen.“
„Ist es möglich, dass sich die Sachlage geändert hat?“, fragte ein Kommissar.
„Nein.“, antwortete Bednjagin.
Keiner Widersprach, denn an der Glaubwürdigkeit eines Generalfeldmarschalls gab es nichts zu zweifeln. Der Oberleutnant fuhr fort.
„Anhand der Angaben des Obersten und des weiteren Zeugen, konnte ein Phantombild erstellt werden.“
Es folgte eine digitale Darstellung eines kargen, schlanken Männergesichts ohne Gesichtsbehaarung und mit für das Gesicht zu großen Augen. Über Kopfbehaarung konnte nichts ermittelt werden, denn der Mann hatte eine schwarze Wollmütze getragen. Keinem kam das Gesicht bekannt vor, jedoch herrschte allgemeiner Konsens, dass es sich nicht um einen Soldaten handeln konnte, ein so magerer Geselle könnte nicht die körperlichen Voraussetzungen erfüllen.
„Uns ist nicht bekannt, um welche Art von Sprengsatz er sich gehandelt haben könnte. Ein ernsthaft gemeinter Anschlag sähe sicherlich anders aus. Die Produktion oder der Erwerb wirksameren Sprengstoffs wäre eigentlich kein Problem.“
Der Mann bezog sich auf das relativ lockere Waffenrecht auf Samara.
Plötzlich trat der Generalfeldmarschall vor und machte eine wegwischende Handbewegung.
„Ich weiß, was ich wissen musste. Machen Sie weiter wie gehabt, der Bericht wird an Meister Tiberius geschickt.“
Bednjagin wandte sich um, um zu gehen. Kommissar Zaitsew blickte seinem fast halb so alten Kameraden nach, der sich anschickte, die dunkle, dämmrige Kommandozentrale zu verlassen. Er hatte bereits den Mantel aufgenommen und zog ihn sich an. Der alte Mann ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, über die dunklen Wände, die grell leuchtenden Bildschirme, die blassen Gesichter der Offiziere im schummrigen Licht.
„Sergej!“, rief der Kommissar. Bednjagin machte an der Tür halt und wandte sich zu ihm um.
„Warten Sie, ich komme mit Ihnen.“
Der General nickte.
„Lordkommissar Antolev, Sie haben das Kommando.“, sagte er. Der Angesprochene, ein Mann mittleren Alters mit stechenden blauen Augen salutierte.
Beim Verlassen des Raumes schloss Zaitsew zum General auf.
„Was auch immer Sie eingenommen haben, geben Sie mir auch eine davon.“