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Die meisten berichteten nachher, dass ihnen ein helles Pfeifen aufgefallen wäre. Sie sagten, dass sie nicht gewusst hätten, was dieses Geräusch bedeuten würde. Einige kampferprobte Soldaten, die dies zufällig mitgehört hatten, schüttelten ungläubig den Kopf.
Schon vorher hatten alle erwartet, das etwas, irgendetwas passieren würde. Vielleicht ein Stoßtrupp des Erzfeindes, deren Weg sie kreuzten, vielleicht ein Hinterhalt. Man erwartete, an diesem Tag noch zu kämpfen, sich die ersten Sporen zu verdienen. Viele blickten deshalb noch einmal sehnsüchtig auf die Chimären zurück, die hinter ihnen wendeten. Die Schützenpanzer, so die einhellige Meinung, würden ihnen im Gefecht fehlen.
Als sie sich durch die Ruine des riesigen Komplexes vorantasteten, verstummten auch die letzten Gespräche. Eine oder mehrere Artilleriegranaten, vielleicht auch Fliegerbomben, hatten den Wohnblock getroffen und eine Hälfte förmlich auf die Straße gedrückt. Stahlträger und Beton waren wie von einer riesigen Faust verbogen, verworfen und zerschmettert worden, um anschließend überall verstreut und aufgetürmt zu werden.
Schutt und Geröll waren schlüpfrig und erschwerten ein Vorangekommen. Mehr als einmal stürzte jemand und richtete sich mit einem unterdrückten Fluch wieder auf. Dazu kamen Asche und Staub, die schwer in der Luft hingen, in den Augen brannten und das Atmen erschwerten.
Die intakte Seite des Habitatsblocks erhob sich zu ihrer Rechten. Dium erinnerte es vage an ein überdimensioniertes Puppenhaus: man konnte in Zimmer hineinblicken, die vollkommen ausgebrannt waren, und in andere, die wie durch ein Wunder noch vollkommen intakt schienen. Sie sah Tische, auf denen noch Mahlzeiten standen, ein ganzes offengelegtes Treppenhaus, Schlafzimmer, Bäder und Flure. Fast erwartete man, einer der Bewohner des Komplexes könne in einen der Räume treten.
Den Soldaten war unbehaglich zumute. Geflüstert machte ein Wort die Runde, „Totenstadt“. Tatsächlich sahen sie nirgends auch nur ein Anzeichen von Leben, keinen Menschen, kein einziges Tier. Die Zimmer muteten an wie die Zeugnisse einer schon lange untergegangenen Zivilisation.
Dium kümmerte das alles wenig. Schon seit Anfang des Tages hatte sie pochende Kopfschmerzen, war schlecht gelaunt und reizbar. Als sie ob des Staubes ausspie, war der Speichel rot von Blut. Wenn sie von der Patrouille zurückkehrten, würde sie die Sanitäter aufsuchen. Nervös spielte sie mit dem Zigarettenstummel.
Sie sehnte sich nach Mitch. Im Gegensatz zu den Weichköpfen ihres Trupps würde ihr Freund Verständnis zeigen, sie beruhigen – und sie nicht einfach wegen ihrer nichtigen Sorgen zu verlachen. Insgeheim sorgte sie sich um ihn. Als sie das letzte Mal mit ihm geredet hatte, war er kurz davor, in eine sogenannte heiße Zone verlegt zu werden. Sie hatte ihm noch viel Glück wünschen wollen, doch dann war die Leitung zusammengebrochen.
Es war jemand aus Vanders erstem Trupp, der zuerst das Scharren Dutzender schlurfender Füße sowie dumpfes Stimmengemurmel bemerkte und Dium an das Hier und Jetzt erinnerte. Sie waren beinahe am Ende des Habitatsblocks angelangt. Vor ihnen erhob sich eine Halde aus Geröll, die sich an eine halb eingestürzte Mauer schmiegte.
In Abwesenheit Leutnant Estabans – jemand hatte einmal süffisant bemerkt, er sei „kein Frontoffizier“ – hatte Sergeant Vander den Befehl. Mit raschen Handbewegungen bedeutete er dem fünften und ihrem Trupp, sich den Hang hinaufzuarbeiten.
Mit leisem Klicken wurden neunzehn Lasergewehre entsichert. Leicht geduckt schlich Dium vorwärts. Zu den rasenden Kopfschmerzen kamen schweißnasse Hände. Ihr Atem und Herzschlag erschienen ihr mit einem Male unnatürlich laut in den Ohren.
Langsam tasteten sie sich den Abhang hinauf, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend. Bei vielen glänzten die Gesichter fiebrig vor Schweiß und Aufregung.
„Na, Hosen voll?“, zischte ihr Giftig von der Seite zu, den Mund zu einem Lächeln verzogen. Ran Razzac, aus gutem Hause stammend und bedauerlicherweise in beinahe allen Prüfungen mit Bestnoten, war einer der Ersten, der einen Spitznamen erhalten hatte.
Dium schwieg zur Antwort.
„Man sieht's dir doch an der Nasenspitze an. Nicht nur schwächlich, sondern auch noch feige, was?“
Bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte, fiel ihr etwas hinter Giftigs Schulter auf. Mit dunkler Faszination sah sie zu, wie täuschend langsam ein Soldat aus dem Fünften wegrutschte, bei seinem Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, mehr und mehr Geröll lostrat, wie sich mehr und mehr Steine lösten und laut vernehmlich zu den anderen Trupps herunter rollten. Die Soldaten auf dem Hang erstarrten. Auf der anderen Seite und außer Sicht verstummten nach und nach die Geräusche, erst die Stimmen, dann auch die Schritte.
Sie wagten es kaum zu atmen. Dium blickte wie die anderen aus ihrem Trupp zu Nereus. Der Sergeant bedeutete angespannt ihr, Giftig und Merioth, sich weiter nach vorne zu bewegen. In diesem Moment hasste Dium ihn inbrünstig.
Der Weg nach oben, obgleich nur ein Dutzend Meter lang, kam ihr unvorstellbar lang vor. Als sie schließlich dort ankam, klebte ihr der Drillich an der schweißnassen Haut. Giftig und Merioth kauerten bereits an der Mauer, neben einer rechteckigen Öffnung, die mal ein Fenster gewesen sein mochte.
Sie schob sich ebenfalls heran, das Gewehr vor sich haltend, um einen Blick hinaus zu erhaschen, jederzeit bereit, wieder zurück zu zucken. Der Wohnkomplex ging zu dieser Seite zu einer gut ausgebauten Straße hinaus, die quer zu der Einkaufsmeile verlief, die sie kürzlich passiert hatten. Dutzende, Hunderte Menschen schienen in ihre Richtung zu blicken: alte und junge, kränkliche und gebrechliche, Gesunde, Menschen in der groben Kleidung der hiesigen Industriearbeiter. Ein Flüchtlingstross. Dium entfuhr ein Stoßseufzer.
Während die anderen beiden ins Freie traten – langsam und bedächtig, um die Zivilisten nicht zu erschrecken – machte sich Dium auf den Weg nach unten, um Bericht zu erstatten. Beinahe wäre sie in ihrer Hast ebenfalls abgerutscht.
Leise getuschelt machte die Neuigkeit schnell die Runde, und jeder, den die Nachricht erreichte, entspannte sich schnell.
Die vorigen Sorgen und Befürchtungen, die Anspannung schienen plötzlich nichtig.
“War ja gar nicht schlimm”, sagte man sich, “ist ja nichts passiert. Feinde, hier? Ha!”
Gespräche entspannen sich, dann und wann lachte jemand auf und musste von seinem Sergeant zur Raison gerufen werden.
Etwas abseits standen die Unteroffiziere zusammen und warteten auf Antwort des Kommandostabs. Kälte, die Funkerin des dritten Trupps, hatte in knappen, nüchternen Worten ihre Situation geschildert. Nun bildeten sie einen losen Ring und ließen ein LHO-Stäbchen von Hand zu Hand wandern. Giftig und Merioth waren immer noch draußen auf der Straße bei den Flüchtlingen.
Es dauerte mehrere Minuten, bis knisternd eine Antwort über Funk hereinkam: der vierte Zug solle die Zivilisten aus dem Gebiet geleiten, bis sie in Sicherheit wären.
Erleichtert strömten die Soldaten aus der Ruine, den Flüchtlingen entgegen. Vielen der jungen Frauen und Männer war es willkommen, wieder mit Menschen außerhalb des grauen Alltags in den improvisierten Kasernen, außerhalb des steten Drills zu reden: sie plauderten angeregt mit den Alten, Kranken und Kindern, die nicht zur Verteidigung der Makropole eingezogen und nun auf der Flucht vor dem Erzfeind waren.
Angeführt wurden sie von einem Prediger, wie man sie in letzter Zeit oft auf den Straßen sah; einem Mann undefinierbaren Alters mit langem, verfilzten Bart und in zerschlissener Robe. Er war von unsteter Energie erfüllt und sprach mit schneller, eindringlicher Stimme mit Vander.
Langsam setzte sich die Kolonne, nun in Begleitung der Soldaten, in Bewegung. Noch immer irrten Blicke zu allen Seiten, noch immer ruhten Hände auf ihren Waffen, doch die Unruhe und düstere Stimmung, die den Zug zuvor befallen hatte, war verschwunden. Die Menschen, die sie nun begleiteten, hätten oft Vater oder Mutter, Schwester, Bruder, Großeltern eines jeden von ihnen sei können. Sie gaben den Soldaten ein diffuses Gefühl von Sicherheit.
Es war schließlich vielen nicht klar, was sie nach vielleicht einer Stunde so beunruhigte. Einige blieben stehen und schauten irritiert umher, manche kratzten sich unbehaglich oder legten den Kopf in den Nacken. Kurz darauf fiel auch den Letzten das helle Pfeifen auf, und der Tross kam zur Gänze zum Stehen. Nach und nach wurde das Geräusch lauter und dumpfer.
“Runter!”, schrie plötzlich jemand – vielleicht war es Vander, vielleicht Nereus. “Runter von Straße!”
Nur wenige Augenblicke später schlugen die ersten Artilleriegranaten zwischen den dicht gedrängten Leibern ein.
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Warum wir diesen Krieg gewinnen werden? Unsere Krieger sind unbeugsam, mein lieber Van Viegand – zäh wie Catachaner, schnell wie ein Lightning-Jäger und hart wie Adamantium. Unsere Armee besteht aus den diszipliniertesten und mutigsten Kriegern der Menschheit!
Rivet Gration nach Van Viegand, Adliger Aricias
datiert auf 989.M41
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Zäh wie der Dreck in den Kloaken, schnell wie ein heimtückischer Taschendieb, hart wie ein gedungener Schläger.
Aricisches Sprichwort
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Suchen Sie bei Angriffen durch feindliche Artillerie möglichst zügig und geordnet den nächsten gekennzeichneten Schutzraum auf. Vermeiden Sie jegliche Panik!
Aus: Verhalten im Verteidigungsfall
Veröffentlicht durch das Heimatschutzbureau
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