23
Das menschliche Herz schlägt zwischen Fünfzig und Hundert Mal in der Minute. Bei körperlicher Anstrengung oder Stress steigt die Frequenz auf Werte jenseits der Hundertzwanzig.
Skirons Herz raste. Einhundertdreißig, vielleicht Hundertvierzig Schläge in der Minute. Sein Atem ging nur noch stoßweise, und er schnappte japsend nach Luft. Seine Lungen brannten, immer wieder musste er sich Schweiß aus den Augen wischen. Als ihr Sergeant zu Boden gegangen war, hatte er sich hinter einem umgestürzten Tisch in Sicherheit gebracht. Über ihm zuckten nun Laserstrahlen hin und her, ließen kaum erkennen, ob sie von Freund oder Feind stammten. Einer hatte ein schwarzes Loch kaum eine Armlänge von ihm entfernt in den Teppich gebrannt. Es ließ sich kaum sagen, von wo sie tatsächlich beschossen wurden, aber er glaubte, am anderen Ende des Raumes und auf der Bühne zur Linken Schemen gesehen hatte. Wie die anderen präzise das Feuer erwidern konnten, war ihm schleierhaft.
Sie brüllten einander etwas zu: Skiron konnte ihnen nicht recht folgen. Die Soldaten waren ebenfalls in Deckung gegangen, lagen hinter anderen Tischen, kleinen Ballustraden oder Absätzen. Nahe des Mittelpunktes des Raumes lag immer noch Nereus auf dem Bauch, eine kleine Blutlache um sich. Skiron hatte keine Ahnung, ob der Sergeant noch lebte.
Dium lag vielleicht einen Meter von ihm entfernt, den Kopf nah am Boden. Blut lief ihr aus der Nase, und sie zitterte leicht. Einen Augenblick lang starrte sie auf Nereus, dann drehte sie sich um und kroch in Deckung.
„Verdammtes Miststück“, zischte Skiron leise. „Beschissener kleiner Aasgeier.“ Sie hatte ihnen das alles von Anfang an eingebrockt, und nun kauerte sie feige in Deckung. Sie...
„Hab ich da was gehört?“, fragte Giftig, der plötzlich neben ihm auftauchte, mit hochgezogener Augenbraue. Er sah dafür, dass er mitten in einer verfluchten Todeszone steckte, unverschämt entspannt aus.
Skiron ließ das Lasergewehr, dass er hastig herum gerissen hatte, wieder sinken.
„Du! Ich hätte dich beinahe erschossen, Idiot.“
Giftig drückte den Lauf noch etwas weiter nach unten.
„Das wäre der Falsche, das kannst du mir glauben.“
„Wo kommen die Schweine auf einmal her?“
„Keine Ahnung.“ Giftig zuckte mit den Schultern. „Vielleicht haben die von der Straße sie verständigt.“
Er deutete ein Nicken in Richtung des Sergeants an.
„Was meinst du – willst du ewig leben? Und was man sonst noch so sagt...“
„Bitte was?“
Langsam aber sicher war sich Skiron nicht mehr sicher, ob sein Gegenüber noch bei Verstand war.
„Nun, es ist ganz einfach. Da Zittern es offensichtlich nicht einmal schafft, den Sergant in Sicherheit zu bringen, müssen wir wohl ran. Verstanden?“
Skiron schob den Kopf vorsichtig aus der Deckung heraus. Es war Wahnsinn. Ein dünnes blutrotes Gitter aus dem Feuer beider Seiten spann sich durch den gesamten Raum. Die Einzige, die auch nur etwas bei Sinnen einen Versuch, Nereus zu retten, wagen könnte, war Zittern.
Es war Irrsinn. Es war wie in einem verdammten Film. Die Guten schafften stets das Unschaffbare. Der Imperator war auf ihrer Seite. Ihm wurde bewusst, dass ein etwas dümmliches Grinsen sein Gesicht zieren musste – er nickte.
„Bereit.“
„In Ordnung!“, rief Giftig in Richtung der Tür. Skiron machte dort Sonnig, Merioth und Kälte aus. Der Mann aus Vanders Erstem war nirgends zu sehen. „Wir holen ihn da raus. Lasst sie die Köpfe unten halten. Drei...“
Skiron schickte ein Stoßgebet an den Imperator, bat um Schutz und Beistand, um Vergebung für Zitterns Sünden.
„Zwei...“
Was konnte schon schief gehen? Der Erzfeind unterlag stets, Er war bei ihnen. Der Glaube obsiegt stets, hieß es. Aber...
„Eins...“
... was, wenn ihn einfach ein verirrter Laserstrahl traf? Ein Zufall? Vielleicht eine Strafe des Gott-Imperators für Zitterns Zweifel? Was, wenn...?
„Los!“
Mit einem Mal war nichts als Ruhe in Skiron. Plötzlich waren alle Gedanken, alle Fragen verschwunden, nur eine tiefe Stille blieb zurück.
Er sprang auf und hastete hinter Giftig her, den Kopf gesenkt und die Schultern hochgezogen. Nereus lag nur wenige Meter entfernt, doch sie schienen sich plötzlich auf unnatürliche Art und Weise zu dehnen. Ein Laserstrahl durschnitt eine Handbreit über ihm die Luft – er glaubte, die Wärme spüren zu können. Giftigs Helm schwankte vor ihm hin und her.
Mit einem Male – beinahe überraschte es ihn – erreichten sie den Sergeant. Sie hakten sich bei ihm unter. Fast wäre er ihnen zu Boden gerutscht, so schlaff hing er. Noch immer hatte sie kein Laserstrahl auch nur gestreift. Skiron lächelte, während er Nereus davon schleifte. Manche Geschichten enthielten eben doch ein Körnchen Wahrheit – Heldentum wurde manchmal belohnt.
Mit einem Keuchen ließen sie sich mit dem Sergeant in Deckung fallen. Zittern starrte sie mit aufgerissenen Augen an, der Körper bebend. Irgendetwas war an diesem Bild falsch.
„Seltsam“, murmelte Skiron und fuhr sich erneut mit der Hand über die Augen. Als er sich die Finger besah, klebte Blut an ihnen.
„Oh“, machte er, während er an dem Tisch zusammen sank. Der Imperator bestrafte also jede Sünde sofort, unerbitterlich.
Skiron wollte noch etwas sagen, doch Schwärze griff nach ihm und trug ihn davon.
Langsam wurde sein Herzschlag schwächer.
24
Unerbitterliches Entsetzen hatte Dium zu dem Zeitpunkt gepackt, als der erste Schuss gefallen war. Und es ließ sie nicht mehr los.
Es begann, als ein Laserstrahl Nereus in die Seite traf. Feiner Blutdampf stieg auf und Dium, die sich vielleicht eine Armlänge entfernt befand und sich die Wange hielt, konnte den Blick nicht abwenden. Es wurde stärker, als das Gefecht an Intensität zunahm, als Nereus den Mund etwas öffnete und nur ein dünnes Blutrinnsal hervorkam. Dium floh vor dem Sergeanten hinter einen nahen Tisch. Oder floh sie nur vor dem feindlichen Feuer? Sie wusste es selbst nicht recht.
Als sich Gläubig neben sie sinken ließ, das halbe Gesicht von einem Laserstrahl verbrannt, auf der einen Seite nur eine blutige Höhle, wo eigentlich ein Auge sein sollte, verschluckte sie das Entsetzen zur Gänze. Dium wollte irgendetwas sagen, sie wollte losschreien, sie wollte...
Eine Ohrfeige ließ sie zu Sinnen kommen. Schon wieder. Giftig neben ihr starrte sie durchdringend an. Der Scheißkerl.
„Nicht, dass das wieder zur Gewohnheit wird, was, Madame?“
Dium versuchte, tief durch zu atmen. Er hatte dieses eine verdammte Mal recht. Sie zwang sich, alles in dem Raum in sich aufzunehmen: Sonnig und Merioth, die nebeneinander hinter einer Ballustrade vor der Bühne lagen; Kälte, die nahe der Tür in Deckung gegangen war und ungerührt zielte und schoss; Giftig neben ihr, der mit zusammengekniffenen Augen nach Vorne starrte; Nereus und Gläubig, beide bleich, die Lider geschlossen und an den Tisch gelehnt. Beinahe hätte sie den Mann aus Vanders Trupp übersehen, der seltsam verdreht inmitten zerbrochenen Geschirrs lag.
„Wie sieht es aus, Kälte?“, rief Giftig über die Schulter.
„Zwei Ziele auf der Bühne, Fünf weitere geradeaus hinten im Raum. Vier Ziele ausgeschaltet.“
„Na, das könnte doch schlimmer sein. Mer?“
„Sehe die auf der Bühne, aber kein wirklich gutes Schussfeld.“
Dium schnaubte. Nun hatte wohl Giftig das Kommando übernommen. Wenn dieser Idiot sie hier raus führen sollte, waren sie alle verdammt. Warum hörten die anderen nur auf ihn?
„Zittern, du kommst mit mir. Alles klar soweit?“
Verwirrt nickte sie. Alles klar was?
„Das selbe Spiel wie eben.“
Er wandte sich an Dium. „Wenn du hier aus der Reihe tanzt, bist du dran. Verstanden?“, wisperte er mit gesenkter Stimme.
Sie nickte. Eissplitter lagen in seinen Augen.
„Drei...“
Was hatte er nur vor? Sie waren zahlenmäßig unterlegen und niedergehalten.
„Zwei...“
Er würde doch nicht...? Nein. Nicht einmal Giftig wäre so verrückt. Sie korrigierte sich in Gedanken sofort. Natürlich wäre er das. Schweiß ließ das Lasergewehr plötzlich rutschig werden.
„Eins...“
Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Scheiße, wir werden alle draufgehen.
„Los!“
Giftig sprang auf und lief los. Dium rannte ihm blind hinterher.
Er rannte, geduckt und Tische sowie Stühle als Deckung ausnutzend, auf die Bühne zu. Ihr Pulsschlag, ihr Atem, die ganze Welt schien sich zu beschleunigen und gleichzeitig still zu stehen. Hatte Gläubig sich in seinen letzten Minuten genauso gefühlt?
Laserstrahlen schossen ihnen entgegen. Einer schwärzte Giftigs Helm vor ihr, ein anderer streifte sie an der Schulter. Es brannte höllisch. Wenn sie herausfand, wer ihnen diese Drecksschutzwesten gegeben hatte...
Die Bühne tauchte vor ihr auf, in Dunkelheit getaucht. Der Bühnenrand, vielleicht einen Meter hoch. Mit einem Satz hatte sie ihn erklommen – eine Leistung, die ihr während all des Drills stets unmöglich vorgekommen war.
Oben sah sie das erste Mal den Erzfeind von Angesicht zu Angesicht. Es waren zwei, dicht beieinander stehend, überrascht auf sie und Giftig vor ihnen blickend. Beide waren in grau-blauen Drillich gekleidet. Sie waren sauberer, als Dium sie sich vorgestellt hatte.
Bevor der Mann vor ihr reagieren konnte, hatte sie die Distanz zu ihm überwunden und warf sich gegen ihn. Ihr Gegner knickte ein, und sie beide wurden von ihrem Schwung auf den Boden der Bühne geworfen. Sie sah sein Gesicht mit dem spärlichen Bart direkt vor sich. Sein Atem roch schwach nach Zimt. Sie schlug ihm in das Gesicht, doch der Mann schüttelte den Schlag einfach ab und warf sie herum. Sie trat nach ihm, einmal, zweimal. Das erste Mal zuckte er nur leicht zusammen, beim zweiten ging ein Schaudern durch seinen Körper. Blut lief aus seinem Mund.
Ihr Gegner kippte zur Seite weg, und Giftig zog das Messer aus seinem Nacken.
Dium stieß den toten Körper zur Seite und hob ihr Gewehr vom Boden auf, das sie im Kampf fallen gelassen hatte. Von der Bühne aus hatte man einen guten Blick in den Raum hinein. Rechts von ihnen wagten sich die anderen langsam weiter vor, links sah sie einige Gestalten, die nun ihrerseits in Deckung gingen. Sie legte an und gab ein paar ungezielte Schüsse in ihre Richtung ab.
Giftig stimmte in das Feuer ein. Eine der Gestalten steckte mehrere Treffer ein, ehe sie zusammenbrach. Offensichtlich war deren Panzerung besser als ihre.
Eine der anderen hob einen schmalen Streifen Stoff in die Höhe, der vielleicht mal ein Verband oder ein Teil eines Kleidungsstück gewesen sein mochte. Er war weiß.
„Vorsichtig bleiben!“, rief Giftig, als sich die Überreste ihres Trupps auf den Erzfeind zu bewegten.
Angespannt behielt Dium ihr Gewehr an der Wange, den Lauf auf einen der Gegner gerichtet.
Keiner ihrer Feinde rührte sich mehr. Alle hatten die Arme erhoben, die Waffen vor die Füße gelegt.
Der Trupp kreiste sie ein, die Gewehre auf sie gerichtet.
Einer der Verräter hob flehentlich die Arme und deutete ein Lächeln an. Dium fuhr sich nervös über die Lippen. So sollten die sich nicht verhalten. War das ein verdammter Chaostrick? Eine Falle?
Sie sah den anderen in die Augen.
Sie atmete schwer, ihr Körper schmerzte. Irgendwo hinter ihnen lagen Nereus und Gläubig, vielleicht schon tot. Der Erzfeind war nach Aricia gekommen und nahm ihnen alles. Er war falsch, unnatürlich, ein Makel. Dium wusste, dass die anderen ähnlich dachten.
Giftig deutete eine ruckartige Bewegung mit der Hand an. Fünf Lasergewehre schossen. Immer und immer wieder.
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„Ich habe mich später oft gefragt, an was mich dieser Anblick erinnert hat. Es ist mir schließlich wie Schuppen von den Augen gefallen: als kleines Mädchen war ich einmal bei einem Freund zu Besuch; sein Vater war Schlachter.“
nach Lina „Sonnig“ Cedel
datiert auf 989.M41
aus: Fisher – gesammelte Werke
26
„Unsere Soldaten verteidigen nicht nur ihre Heimat, Aricia, und die Milliarden Menschen, die hier leben, sondern auch das gesamte Imperium. Sie wachen nicht nur über ihre Familien und Freunde, sondern über Billiarden von Menschen auf Millionen Welten.
Doch wichtiger noch ist: sie beschützen auch unsere Ideale, sie beschützen die Zivilisation, sie beschützen die Menschlichkeit.
Gouverneur Rivet Gration
989.M41, 14. Tag nach der Landung des Erzfeindes