Kapitel 2: Erwachen / Teil 2.3
Meine Wohnung ist Teil eines riesigen Komplexes, der wie eine kleine Stadt in der Stadt am nördlichen Rand des Makropolzentrums aufragt. Neben diesem gibt es noch vier weitere, die alle im Westen oder Norden liegen und aus der Ferne wie riesige Termitenhügel aussehen. Im Süden und Osten hingegen befindet sich – etwas abschüssig – die damasische Industrie.
Man kann in jedem der Wohnkomplexe leben, ohne jemals einen Fuß nach draußen zu setzen: auf verschiedenen Ebenen befinden sich Geschäfte, die sich teilweise über mehrere Hektar erstrecken und von exotischen Früchten über Antigravgleiter bis hin zu neuen Schuhen alles anbieten, was einem noch in den Sinn kommen könnte. Tatsächlich sollen schon einige der alteingesessenen Händler vor dem Gouverneur über Umsatzeinbußen geklagt haben, weil immer neue Läden eröffnen. Gerade das Zentrum trifft das schwer.
Wie die Makropole selbst verjüngt sich auch die Komplexe zur Spitze hin. Im Allgemeinen kann man Einkommen und sozialen Stand der Bewohner an ihrem Wohnort ablesen. Ganz unten, mehrere Kilometer unter der Planetenoberfläche, leben die Ärmsten der Ärmsten. In den riesigen Abwasserkanälen und auf Müllhalden hausen sie in Baracken und schiefen Hütten aus Altmetall. Nicht selten müssen wir dort einrücken und diese Behausungen zerstören, denn unten befinden sich auch die Stromgeneratoren und Teile der Wasserversorgung. Deshalb ist der Aufenthalt zumindest pro forma verboten, tatsächlich ist der Rest der Makropole aber so überfüllt, dass die Razzien kaum mehr als einen symbolischen Charakter haben.
Weiter oben leben die privilegierteren Arbeiter der Manufacturen in kleinen, schmutzigen Wohnungen. Oft umfassen diese nur ein oder zwei Zimmer, dennoch können sich ihre Bewohner glücklich schätzen. Viele andere leben in erbärmlichen Massenunterkünften am Stadtrand, weiter abwärts und nahe der rauchenden Schlote und des Lärms der Industrie.
Auf den oberen Ebenen sind Beamte wie wir untergebracht, kleine Zahnrädchen in der Verwaltung des Planeten. Darüber leben wohlhabende Kaufleute, Adlige und hohe Militärs, die es sich leisten können, unverschämt hohe Summen für einen Wohnort oberhalb der Smogwolken der unteren Makropolebenen zu zahlen.
Ich selbst teilte mir den Flur mit einigen anderen Beamten der Behörde. Als ich nach draußen trat, wurde mir schmerzlich die ungewohnte Stille bewusst. Der Gang war verwaist, alle anderen waren im Dienst. Ich verweilte einen Moment, die Hand noch an der Tür, biss mir so fest auf die Unterlippe, dass mir Tränen in die Augen stiegen. In diesem Augenblick fühlte ich mich verstoßen, ausgeschlossen. Auch wenn es nur für einige Wochen so sein sollte, erschien es mir, als sei ich von Brennain verraten worden, als er mich freigestellt hatte. Mit wenigen Worten hatte er mich aus den altbekannten Büroräumen verbannt und mir ein Leben verordnet, dass mir selbst fremd war. Ich wusste, dass jeder Versuch, wie gewohnt den Tag zu gestalten, keine Früchte tragen würde. Ich war allein gelassen worden. Oder hatte stattdessen ich die Behörde im Stich gelassen? Vielleicht ist das nur eine Frage des Standpunktes.
Ich spürte, dass ich drohte, wieder in Tränen auszubrechen und als Häufchen Elend mich auf dem Gang zusammenzukauern. Doch der Moment ging vorüber, und nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, machte ich mich auf den Weg.
Der Aufzug – eine geräumige Kabine aus verspiegeltem Metall – brachte mich nach unten. Auf Ebene 14 stieg ich aus, wie ich es auch sonst so oft getan hatte. Nur wenige Minuten zu Fuß entfernt befand sich hier einer der zahlreichen Stationen für die Züge, deren Gleisnetz die Makropole sternförmig durchschnitt. Doch wo ich mir sonst den Bahnsteig mit nur wenigen anderen Menschen geteilt hatte, die ebenfalls in aller Frühe aufstanden, fand ich mich nun inmitten hunderter, vielleicht tausender Arbeiter wieder. Riesige Tafeln und eine näselnde Stimme aus dutzenden Lautsprechern verkündeten den dritten Schichtwechsel des Tages, dabei stets zu noch größerem Arbeitseifer aufrufend. Von den Zügen kamen mir graue, ausgezehrte Gesichter entgegen, während ich mich selbst dem Strom derjenigen anschloss, die nun die Maschinen übernehmen würde. In meiner dunklen, recht feinen Kleidung stach ich zwischen den schlurfenden, verdreckten Gestalten hervor. Die Menschen um mich herum musterten mich unverhohlen, und wohin meine Blicke auch irrten, sah ich nur Misstrauen. Dazu die bräunliche, grobe Arbeitskluft,
in der Makrople wären sie vermutlich gar nicht aufgefallen.
Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn, sie war plötzlich schweißnass. Nicht schon wieder. Nicht hier.
Mit Vibromessern, Schockstäben, Dolchen, Messern bewaffnet. Klein genug, um sie unter der Kleidung zu verstecken.
Ich versuchte, all die Menschen um mich herum gleichzeitig im Auge zu behalten. Mir war bewusst, dass die Furcht kaum rational war, doch hatte eine tiefe, instinktive Furcht von mir Besitz ergriffen.
Mit einem Satz über die Barrikade hinweg. Ein Schrei, Blut. Und die Pistole, über allem schwebend.
Mit einem metallischen Kreischen fuhr eine Bahn vor mir ein. Kaum, dass sich ihre Türen geöffnet hatten, floh ich, verkroch ich mich in ihr.
Mit einem Knirschen setzte sie sich in Bewegung und beschleunigte langsam, und schlagartig fand ich mich alleine wieder.
Niemand anderes war eingestiegen, und als ich das Ziel sah, war mir klar, warum. Makropolmitte. Dort gab es keine Manufacturen, sondern nur sündhaft teure Einkaufsmeilen, unter Kuppeln liegende Parkanlagen, Verwaltungsgebäude, die Türme der Ekklesiarchie. Oder die Büros der Sicherheitsbehörde.
Ich ließ die Arme baumeln, legte den Kopf über die Lehne des Sitzes hinweg in den Nacken. Das monotone Rattern des Zuges beruhigte mich, schenkte mir einen zerbrechlichen inneren Frieden.
Später sollte mich jemand fragen, warum ich nicht psychologische Hilfe oder wenigstens Beistand von Familie oder Freunden ersucht hatte, warum ich mich selbst mit den Bildern in meinem Kopf, mit dem Schrecken alleine ließ.
Ich schenkte dem Fragenden ein bitteres Lachen. „Familie? Freunde? Psychologische Hilfe? Meine Familie ist tot oder hat mich vergessen, die wenigen, die ich Freunde nannte, hatten mich im Stich gelassen. Die anderen tuschelten nur, vermuteten, dass ich den Einsatz nicht schadlos überstanden habe. Denen sollte ich Gewissheit geben? Ich sollte ihnen die Genugtuung geben, meine Schwäche offen zu zeigen?
Nein, mein Freund, nur der Stärkste überlebt. Ein Zeichen, dass du strauchelst, und es dauert nicht lange bis du fällst. Damit konnte und durfte ich nur alleine zurecht kommen.“
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Ein weiterer kleiner Teil. Stückwerk ist wunderbar, nicht wahr?