Als ich erwachte, war es draußen bereits hell. Durch halb geschlossene Läden drang das Licht in Streifen in mein Zimmer, in denen der Staub hin und her tanzte.
Mit der aufgehenden Sonne war ein Lichtstrahl bis an die Stelle vor dem Bett gekrochen, an der ich lag. Helle, rote Flecken blühten unter meinen Lidern auf, und so sehr ich auch versuchte, mich an den Schlaf, die wohltuende Dunkelheit zu klammern, so sträubte ich mich doch vergebens.
Über Nacht waren meine Glieder schwer und taub geworden, und ich spürte meine klammen Händen kaum, als ich sie aneinanderrieb. Nur mit Mühe schaffte ich es schließlich, mich an dem Bett hochzuziehen und auf wackligen Füßen zu stehen.
Die Bilder in meinem Kopf waren verschwunden, ich fühlte mich seltsam leer, fühlte mich, als sei ich in Watte gehüllt. Dumpfe Schmerzen gingen von der Schulter und meinem Kopf aus, die es mir schwer machten, einen klaren Gedanken zu fassen. Mir war speiübel.
Die Finger an die Schläfen gepresst wankte ich ins Bad. Ich fühlte mich wie nach einer durchzechten Nacht – ein einziges Mal vor vielen Jahren hatte ich mir diese Blöße gegeben – und als ob ich zusammengeschlagen worden wäre.
Noch auf dem Weg dorthin verkrampfte sich mein Magen, und ich erbrach in meinem Wohnzimmer auf einen karmesinroten Teppich. Ich glaube mich dumpf zu erinnern, dass er mir geschenkt worden und zweifellos irrsinnig kostbar gewesen war. Mir war es gleich.
Das Gesicht Cynwes. Die Pistolenmündung. Bilder, die ich bis heute nicht vergessen habe. Immer wieder spielten sich diese Szenen des Wahnsinns in meinem Kopf ab. Wir – ich – hatten einen gefährlichen Zugriff erwartet, aber nicht das. Nicht diese Verluste. Hätte ich das alles vielleicht verhindern können? Habe ich falsch gehandelt?
Der Tod anderer Beamten ist immer eine schlimme Erfahrung, doch war es auch etwas, dass ich schon vorher viele Male kennen gelernt hatte. Er kann bei solchen Einsätzen allgegenwärtig sein. Man befürchtet, man erwartet unter feindlichem Feuer jederzeit, dass es den Freund an seiner Seite treffen kann. Doch nie rechnet man damit, dass der nächste Schuss einem selber gilt. Dass man selber stirbt. Als ich das unnatürlich laut erscheinende Klicken eines sich durchdrückenden Abzugs hörte, ist in gewissem Sinne tatsächlich ein Teil von mir gestorben, und ließ den Rest meines Geistes, meiner Seele, verwundet und verängstigt zurück.
Ich würgte ein weiteres Mal, leicht vornüber gebeugt, die Hände auf meinen zitternden Schenkeln abgestützt.
Schließlich schaffte ich es, die restlichen Schritte zum Bad hin zurückzulegen. Mit einem Klicken sprang die Beleuchtung an, erhellte einen vielleicht acht mal acht Fuß großen Raum, der mit weißen Fliesen gekachelt war. Neben einer geräumigen Wanne sowie den üblichen sanitären Einrichtungen beinhaltete er noch eine Dusche, deren Boden ebenso zahlreiche Kalkflecken aufwies wie die transparente Plastektür. Am auffälligsten war allerdings der monumentale Spiegel, der die Wand, die der Tür gegenüberlag, fast vollständig ausfüllte. Auch auf ihm waren zahlreiche Wasserspritzer zu erkennen, doch war er sauber genug, um mich scharf und deutlich zu sehen.
Auf der riesigen Oberfläche des Spiegels wirkte ich seltsam verloren. Ich würde mich nicht als besonders klein bezeichnen, doch bin ich auch nicht gerade groß. Ohne die Uniform und das Gewicht der Waffe an meiner Hüfte wirkte ich in meiner Nacktheit schwach und verletzlich. Die fahle Haut, die vor Schweiß fiebrig glänzte, und das ständige Zittern mögen ihr Übriges dazu beigetragen haben.
Meine Schulter war mit Bandagen umwickelt, genauso wie meine rechte Hand, an der mich der Hieb des ersten Angreifers getroffen hatte. Um jeweils ein Fuß- und Handgelenk wanden sich schmale, schwarze Lederbänder, neben der Kette das einzige Zugeständnis, das ich Schmuck machte.
Ich trat einen Schritt näher an mein Spiegelbild heran. Ein weiteres ledernes Band führte um meinen Hals herum und verschwand zwischen den Wölbungen meiner Brüste. Dort glänzte etwas silbrig. Nachdenklich legte ich meine Hand auf den kleinen Anhänger in Form eines imperialen Adlers. An ihm hingen viele Erinnerungen.
Mein Gesicht wirkte geisterhaft. Unter den verquollenen Augen lagen tiefe Schatten, die Wangen waren hohl und eingefallen. Meine Lippen hatten sich von der Kälte blau verfärbt und waren zu einem Strich zusammengepresst. Vorher sorgsam aufgetragenes, dezentes Make-Up, allem voran der Lidschatten, war verwischt, eine verschmierte schwarze Linie zog sich von meinen Augen hinunter bis neben die Nase.
Das war also mein erster wirklicher Urlaub seit Jahren? Ein Gedanke, der mich heute durchaus erheitert. Ich habe mir nie frei genommen – Killian hat das ebenfalls nie getan, wenn ich mich recht entsinne – und arbeitete oft die Nächte durch. Ich wusste, dass ich mit meiner Arbeit etwas Sinnvolles tat, und sah nicht ein, diese Zeit zu vergeuden, indem ich zu Hause herumlungerte. Zudem beherrschte mich eine geradezu paranoide Angst, dass Killian genau dann einen großen Fall an Land ziehen würde.
„Zu Hause“ ist überhaupt ein recht schmeichelhafter Begriff für meine Wohnung. Ich hielt mich dort nur auf, um zu schlafen. Früh am Morgen ging es zur Behörde, wo ich so lange wie möglich blieb.
Ich verbrachte eine scheinbar endlose Zeit damit, mich zu waschen, spürte unter der Dusche warmes Wasser meinen Rücken hinabrinnen. Das Geräusch des plätschernden Wassers war beruhigend, und langsam entspannte ich mich das erste Mal seit Stunden.
Im Lazarett hatte große Aufregung geherrscht, der Druck, der auf den wenigen Ärzten und Schwestern lastet, war immens. Ich war schnell und kompetent versorgt worden, die Wunden waren gesäubert und genäht worden. Doch erst jetzt spülte ich verkrustetes Blut und Dreck von meiner Haut, von Brust, Schenkeln und Armen. Als ich mich später abgetrocknet hatte und mit geröteter Haut wieder vor dem Spiegel stand, fühlte ich mich etwas besser.
Mir fröstelte, und so beeilte ich mich, mich wieder anzuziehen. Die verdreckte Uniform ließ ich auf dem Stuhl liegen, stattdessen holte ich – noch in ein weites Handtuch gehüllt – aus dem Schrank schlichte Kleidung hervor und legte sie auf dem unberührten Bett ab. Neben frischer Unterwäsche wählte ich eine dunkle Hose mit einer Vielzahl eingenähter Taschen, deren Beine ich in meine Stiefel stopfte. Dazu kam noch ein Oberteil in dem gleichen, undefinierbaren Farbton und mit Kapuze. Am Schluss zog ich den Lidschatten wieder nach.
Draußen hatte die Sonne ihren Zenit bereits überschritten, und so beeilte ich mich, mich schließlich anzuziehen.
Mein Magen protestierte bei dem bloßen Gedanken an Essen. Ich ließ meine sowieso spärlichen Vorräte unangetastet, stattdessen streifte ich ruhelos in den Räumen meiner Wohnung umher. Ich fühlte mich eingesperrt mit den Erinnerungen an den letzten Tag, und immer wieder kreisten meine Gedanken um den Einsatz. Was die anderen nun wohl machten? Wie hatten sie das Desaster verwunden? Wer war an diesem Tag ebenfalls getötet worden? Getötet... ich musste wieder würgen.
Endlich fasste ich mir ein Herz. Aus einem Schrank, den ich schon seit Jahren nicht mehr angetastet hatte, nahm ich eine kleine Flasche, noch bis zum Rand gefüllt mir Amasec, dem hochprozentigen Schnaps der hiesigen Bevölkerung.
Ich nahm einige tiefe Schlücke, ehe ich sie mir in die Tasche steckte. Auf dem Weg zum Ausgang rollte ich den ruinierten Teppich sorgsam zusammen und verstaute ihn einfach in der Zimmerecke, bevor ich in einen weiten, hochgeschlossenen Mantel hineinschlüpfte. Ein letzter Blick in das Halbdunkel der Wohnung, dann wandte ich mich ab und schloss die Tür hinter mir.