Kapitel 1
Planet Polluctum, 6030990.M41
Die Tür der Baracke wurde aufgerissen. Das Erste, was er sah, war ein Augenpaar, das genau so todverheißend wirkte wie die Zwillingsmündung seines Sturmbolters.
„Wie können sie es wagen?“ Die Augen und die drohende Stimme gehörten einer Frau in schwarzer Kleidung. Ihr zugeknöpfter schwarzer Ledermantel, der fast zum Boden reichte, verstärkte den Eindruck der Gefahr noch. Das ob ihrem erst mittleren Alters schon weiße Haar rahmte das harte Gesicht. Schön würde diese Frau kein Mann nennen, selbst wenn ihr nicht gerade Mordlust ins Gesicht geschrieben stünde. Darüber würde sich aber auch kein Mann bei klarem Verstand Gedanken machen. Zumindest keiner von seinen Männern. Dafür sorgte die Kommissarsmütze, die akkurat auf ihrem Kopf saß. „Wie beim Imperator können sie es wagen?“, fauchte sie ihn nochmals an.
„Kommissarin, sie vergessen sich!“, bellte er zurück. Er wusste nicht, ob das eine gute Idee war, sie war seinem Regiment erst vor zwei Wochen zugeteilt worden, nachdem Kommissar Brandt an Bord der Libra gestorben war. Anscheinend hatte er jedoch den richtigen Tonfall getroffen, jedenfalls hielt sie inne und atmete tief ein.
„Sinclair, ich muss aufs Schärfste Protestieren. Sie können die Männer nicht einfach so begnadigen. Die standrechtliche Erschießung ist das vorgeschriebene Prozedere bei Fahnenflucht.“
Das war es also. Aber genau das hatte er auch erwartet. „Kommissarin Blake, sie haben durchaus recht. Bei Fahnenfluch ist die einzig mögliche Konsequenz das Erschießungskommando. Ich sehe hier aber keine Fahnenflucht.“
„Die Männer haben ihre Position verlassen...“
„... weil sie ansonsten getötet worden wären, ohne dass es einen Nutzen gehabt hätte. Gegen diese verräterischen Space Marines hätten sie keine Chance gehabt. Abgesehen davon wurde der Rückzugsbefehl gegeben.“
Blake blickte ihn einen Moment an. Sie schien unschlüssig, wie sie mit dem Regimentskommandanten umgehen sollte. Überlegte sie, ob sie ihn wegen irgendeines Vergehens seines Amtes entheben oder sie sich lieber fügen sollte? Sinclair war sich nicht sicher. Er ging zu seinem Schreibtisch und öffnete eine Schublade, aus der er ein kleines Metallkästchen entnahm. Er schloss es auf und holte ein in Tuch gewickelte Päckchen heraus, das er auf dem Tisch ausbreitete. In ihm war ein kleines in Leder gebundenes Buch. Das Buch war angekohlt. Die Metallbeschläge waren angeschmolzen, ebenso der goldene, zweiköpfige Adler. Vom Titel war nichts mehr zu erkennen. „Kennen sie solch ein Buch?“
Blake schwieg.
„Vor ein paar Jahren kämpften wir zusammen mit einigen Kompanien von Catachan. Ich habe das Buch von einem ihrer Kommissare, Kommissar Telk. Wir befanden uns auf dem Rückzug, die feindlichen Mächte drohten uns einzuschließen. Die Catachaner hatten den Kontakt zu ihrem Hauptquartier verloren. Der Sergeant befahl den Rückzug, Telk widersprach ihm, da der Trupp den Befehl nicht erhalten hatte. Unmittelbar darauf ereignete sich mit dem Flammenwerfer des Trupps ein tragischer Unfall und der Trupp zog sich zurück, da es keinen Widerspruch mehr gab. Na ja, sie wissen ja, wie die Catachaner zu ihren Kommissaren stehen sollen. Das Buch war jedenfalls das Einzige, was ich aus den Überresten von Telks Tasche bergen konnte.“
Blake schwieg noch immer.
„Was ich eigentlich sagen will ist, dass ich die Ansicht vertrete, dass es der Disziplin und der Moral zuträglicher ist, wenn man Soldaten, die in einer Situation richtig, aber eigenständig handeln, nicht gleich mit dem Tode bestraft. Und sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass sie straffrei ausgehen. Ich habe bereits sämtliche persönlichen Sachen der Soldaten konfiszieren lassen, alle Vergünstigungen gestrichen und sie im Arbeitsplan in Doppelschichten einteilen lassen – für den Latrinendienst.“
„Latrinendienst?“ Blake lachte ungläubig auf. „Das soll doch wohl ein Witz sein.“
„Keineswegs. Aber wenn sie das Reinigen der Latrinen nach anderthalb Monaten Einsatz bei Kampfverpflegung als Witz ansehen, dann stelle ich ihnen gerne frei, sich bei der nächsten Reinigung mitzuhelfen – und sei es nur als Aufsicht. Ich habe aber nicht vor, mit ihnen Fäkalien zu diskutieren. Wenn sie die Exekutionen wieder ansetzen wollen, dann kann ich sie leider nicht hindern. Sie sollten dann jedoch auch Reg Ryker und seine Tins auf die Liste setzen. Sie haben einerseits ihren Fahnenflüchtlingen geholfen und andererseits unerlaubt einen Angriff auf einen heranrückenden feindlichen Panzer durchgeführt.“
„Sie haben ihn aber zerstört.“
„Ach ja, die alte Maxime, dass ein Sieg keiner Rechtfertigung bedarf und eine Niederlage keine erlaubt. Wie auch immer, ich kann nur hoffen, dass sie das richtige für die Moral der Soldaten machen und dabei vielleicht auf ihren langjährigen Kommandanten hören.“ Sinclair hörte sich diese Worte gleichgültig aussprechen. Verdammt, er konnte nur hoffen, dass sie auf ihn hörte. Er hatte Prioritäten setzen müssen, entweder die neuen Berichte vom Schlachtfeld einsehen oder erst einmal seine Leute zurückzurufen. Und er kannte seine Männer. Sie waren bestimmt nicht feige, sie wussten aber, wann ein Rückzug sinnvoll war. Und jetzt kam eine neue Kommissarin und drohte ihm und seinen Untergebenen zusätzliche Steine in den Weg zu legen. Als ob die miese Versorgung mit Nahrungsmitteln und der Mangel an großkalibriger Munition nicht ausreichen würden. Er verfluchte Brandt. Warum hatte der alte Sturkopf unbedingt die Wartung des Aquila überwachen wollen?
Die Katastrophe hatte sich vor zehn Wochen an Bord der Libra ereignet, dem momentanen Flaggschiff der Reserveflotte Tarvis. Die Flotte hatte Sinclair und seine Fifth nach Polluctum gebracht. Nur wenige Stunden vor dem Eintritt in den Orbit war Sinclair zur Libra geflogen, um mit den Flottenoffizieren und dem Oberbefehlshaber der Operation die letzten Details für die Landung zu besprechen. Um Zeit zu sparen hatte er sich von Brandt begleiten lassen, damit dieser ihm letzte Rückmeldungen über die Moral der Soldaten geben konnte. Brandt wusste immer genau, wo es Probleme geben würde.
Die Besprechung verlief schnell, alles schien reibungslos zu laufen. Der Ort für die Landung war vielversprechend, das vorbereitende Bombardement war umfassend geplant. Es standen sogar genug Landungsboote zur Verfügung, um gleich die Hälfte der Gefechtskompanien und mindestens eine Unterstützungskompanie auf den Planeten zu bringen. Alles schien glatt zu laufen. Zu glatt.
Brandt war im Hangar geblieben. Er hatte keine besondere Zuneigung zu taktischen Besprechungen. Sie würden ihn immer so deprimieren. Also blieb er beim Shuttle und überwachte die Wartung. Sinclair wusste genau, warum er das tat. Es war nicht so, dass Brandt den Servitoren misstraute. Nein, er wäre vielmehr selbst gerne ein Pilot geworden – aber das Licht des Imperators wies ihm einen anderen Weg. Deshalb verbrachte er jede freie Minute in Hangars. Und hier sollte er auch sterben.
Die Besprechung war vorbei und Sinclair war auf dem Rückweg zum Aquila, als plötzlich der Alarm ertönte. Eine kleine Flotte Raumjäger hatte sich aus einem nahen Asteroidenfeld gelöst und hielt auf die Schiffe zu. Ihre Angriffe galten den pendelnden Versorgungsshuttles. Die Jäger stellten keine große Gefahr dar, zumindest nicht für die großen Schiffe. Die Türme richteten verheerende Schäden unter den feindlichen Jägern an und lichteten ihre Reihen, während die Laserkanonen der Feinde keine Schäden verursachen konnten. Doch dann geschah es. Sinclair war fast beim Hangar, als ein schwer getroffener Jäger das mächtige Tor rammte und durchstieß. Der Hangar verwandelte sich für Sekunden in ein flammendes Inferno, das alles Nichtmetallische zu Asche verbrannte, bevor die Flammen so schnell verschwanden, wie sie erschienen waren. Übrig blieben nur der verbrannte Leib eines riesigen Adlers und ein Loch in die unendliche Leere des Alls.
„Also gut, verfahren sie mit ihnen, wie sie es für richtig halten.“ Die Stimme riss Sinclair aus seinen Gedanken. „Zumindest für den Moment. Falls sie den Feldzug überleben, werden sie jedoch in eine Straflegion versetzt.“ Mit diesen Worten drehte sich Blake um und ging.
Er hatte es überlebt, die Boltgeschosse hatten ihn nicht zerrissen. Er hatte sogar eine Art Sieg über die Kommissarin errungen.
„Wenn sie noch einmal meine Autorität in Frage stellen, dann werde ich SIE exekutieren, Colonel.“ So viel zum Sieg über die Kommissarin. Sie schritt zur Tür und riss sie auf. Beim herausgehen stieß sie mit einer Frau zusammen, die offensichtlich gerade das Büro betreten wollte. Sichtlich verärgert schob sie sich an dem Neuankömmling vorbei.
Dass es eine Frau war, sah man nur an den angedeuteten Formen unter ihrer Kleidung. Sie trug die rote Uniform eines Flottenpilots. Die Mütze hatte sie tief ins Gesicht gezogen. Wahrscheinlich gehörte sie zu den auf dem Planeten stationierten Aufklärungsgeschwadern.
„Hallo Jim, ich muss mit dir reden!“ Genau das hatte noch gefehlt, um diesen sowieso schon miserablen Tag endgültig in die Hölle auf Erden zu wandeln.