Weiter, immer weiter. Nur nicht stehen bleiben. Neben ihr verschwamm alles zu einer merkwürdigen grauen Wand. Immer wieder traten Farbschlieren hervor, die sich manchmal wie ein Kreis um sie herumdrehten, dann sich wie Rinnsale von Wasser ewig lang hinzogen. Manche waren grün, andere rot. Sie bekam oft ein Gefühl von Kälte, Nässe, Hitze, brodelnde Wärme. All diese Begriffe stiegen einfach so in ihr empor. Dabei kamen Wörter in ihr hervor, die sie einerseits gar nicht verstand, aber andererseits schon. So als würde etwas in ihr denken, dass sie zwar mitbekam, doch die Sprache des anderen nicht verstand. Nur, dass dieses andere auch sie war, denn sie verstand es mit dem Teil in dem es vorkam. Sie spürte, schmeckte, roch, empfand das Farbengewirr. Im Rot bekam sie das Gefühl, dass sie aus Feuer bestand. Dabei wusste sie nicht, was Feuer war. Gleich darauf schien es ihr, als würde sie im Blau den Ozean schmecken. Aber sie kannte nichts, was ein Ozean sein soll. Gleichzeitig schien sie alles zu wissen und alles nicht zu wissen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Was war ein Reim?! Sie tat einfach das weiter, was sie schon die ganze Zeit getan hatte, sie folgte dem Pfad weiter, der sich vor ihr erstreckte. Quälend langsam schien sich alles vorwärtszubewegen. Das Grau wich nur kurz den Farben, dann war es schon wieder da. Kein Ende schien in Sicht zu sein. Dabei sah sie ja nicht einmal diese graue Wand, sie wusste eben nur das sie da war. Wie lange war sie eigentlich schon unterwegs? Gar nicht. Es gab keine Zeit.
„Hey, du da“. Irgendetwas drang durch das Grau zu ihr, doch sie eilte schon weiter voraus. „Hey du, nicht da lang. Komm ein bisschen hier rüber“. Sie eilte immer noch weiter. Wie sollte sie auch woanders hingehen. Es gab nur den Pfad, nur den einen. Sie musste nach vorne, das wusste sie. Hinter ihr gab es nichts mehr. Doch plötzlich schien der Pfad, das Grau rundherum, zu bröckeln. Mehre Farbschlieren erschienen und rahmten einen Art Torbogen inmitten des Pfades. Sie hielt nicht an. Der Torbogen folgte ihr. „Hey, jetzt komm schon. Hör auf, sinnlos durch die Gegend zu kreuzen und komm hierher. Irgendwann musst du sowieso rüber wechseln, warum nicht gleich hier? Wir haben hier echt viel Spaß und zwar die ganze Zeit! Komm schon, lass dir das nicht entgehen“. Die Farben sprudelten um sie herum. In tausenden verschiedenen Sprachen drangen die Worte auf sie ein. Gleichzeitig schmeckte und sah sie was ihr angeboten wurde. Es wollte etwas in ihr ansprechen, das einzige andere etwas, was noch zu existieren schien. Sie verleiten, ihre Selle ansprechen. Hatte sie denn das überhaupt? Die Versprechungen ließen sie kalt. Nichts tat sich in ihr, sie folgte weiter dem Pfad.
Das Gezwitscher von Vögeln und das wütende Brüllen des Meeres kam über sie. Wie zuvor waren die Farbschlieren stärker und bildeten einen Torbogen. Sie vernahm die Wörter, spürte sie. Sie folgte weiter dem Pfad. Aus dem Grau wurde bald eine Art Regenbogen, tausende Farben, alle schien sie zu kennen. Und jede einzelne sprach zu ihr. Gefühle und Emotionen durchbrachen die Wände ihres Tunnels und versuchten sie zu umgarnen. Zorniges Schnauben, eine Bitte, die sich anfühlte wie ein explodierender Vulkan. Helligkeit, pure Helligkeit und weitreichendes Wissen. Sie fand in den Farben alles, Harmonie und völlige Gegensätzlichkeit. Einige schienen hart und unbeweglich, andere vollkommen durchlässig und fast nicht existent. Alle wollten sie, alle riefen sie. Nur glitt es an ihr ab. All die Emotionen und Gefühle, der Hochgenuss und die tiefste erbärmlichste Scham. Sie griff nicht. Glitt an ihr ab. Das Grau aus ihrem Tunnel schien fast verschwunden zu sein, alles wurde nur noch von den Farben überlagert die sie mal in die eine oder andere Richtung herlocken wollten.
„Entschuldigung, darf ich mich zu dir gesellen“? Ja, natürlich. Solange sie dem Pfad weiter folgen konnte. Der pulsierte derzeit regelrecht, schien sich mal auszuweiten, dann wieder zusammenzuziehen. In einem völligen Wirrwarr explodierten alle möglichen Kräfte die es gab, lösten sich gegenseitig auf, stritten miteinander, paarten sich. Sie eilte weiter einfach den Pfad entlang. Zusammen mit jemand anderen. „Danke das ich dich da begleiten darf. Du hast dir aber einen ziemlich schönen Weg ausgesucht, was“? Irgendetwas machte sie bei den Worten… stutzig? Sie empfand das Gefühl nicht, was damit erklärt wurde, aber sie war es irgendwie doch. „Der Haufen da draußen ist schon ganz schön aufgeladen. Bist wohl die Erste, die sie so lange zappeln lässt.“ Sie kam erst nach und nach drauf. Das war keine der Farben, die von außen zu ihr sprachen und auch keine Stimme, die aus ihr entsprang. Da war jemand anderes mit ihr auf dem Pfad. „Was bist du?“, kam es aus ihr, in der Form von tausenden Sprachen und unzähligen Symbolen. „Das haben sich schon einige gefragt“, bekam sie die Gegenantwort, die sie schmeckte. Als hätte sie leichtfüßigen Humor gegessen, rann es ihr hinunter. Dabei konnte sie ja nicht einmal essen. Dazu brauchte man einen Körper und sie… Auweh, sie hatte keinen Körper.
„ich habe keinen Körper.“, ließ sie sogleich das Wesen wissen. Als würde sie ein Stern umarmen, kam die Antwort zurück:“ Ja, das kann man wohl sagen“. „Warum hast du dann einen“? Ihre Frage war ein Gebirgsbach der auf einen Felsen schlug. „Vielleicht weil du einen willst“? Als wäre Wind durch einen Baum gefahren. Sie sah das Wesen. Neben, über, unter, vor sich. Es war da und hatte eine Form, die ihr bekannt vorkam, nur sagte es ihr nichts. Immer schienen nur Teile von ihr die Gestalt zu erkennen, die wiederum für die anderen Teile völlig fremd waren. Die Gestalt lenkte sie völlig von den pulsierenden Farben um sie herum ab. Selbst der Pfad schien an Wichtigkeit verloren zu haben. Warum war er eigentlich wichtig? Sie folgte ihm, das war alles. Immer weiter, immer geradeaus.
Endlos lange schien sie gemeinsam mit dem anderen Wesen dahinzugleiten. Begleitet von dem immer stärker werdenden Pulsieren, das mal flüsternd, mal brüllend nach ihr schrie. Dunkle Begierden und wahrhaftiger Frieden wurden ihr geboten.
„Die lassen nicht wirklich locker, ganz schön eifrige Kerlchen“. Vergnügt wie ein Morgentau im Sommer rannen die Worte über sie. Die Gestalt schien äußerst belustigt zu sein.
„Was willst du eigentlich hier“? Ihre Frage kam aus dem nichts, wieder ausgesprochen in tausenden Sprachen. Das Wesen verwirrte sie. Dabei konnte sie gar nicht verwirrt sein, nicht vollkommen.
„Ich möchte nur deinen Pfad eine Zeit lang begleiten“.
„Das ist doch nicht mein Pfad“.
„Du folgst ihm aber, oder“?
„Ja natürlich“.
„Du bist auch die einzige auf diesem Pfad außer mir, oder“?
„Ja“.
„Da mir der Pfad nicht gehört und ich auch erst nach dir gekommen bin, gehe ich also davon aus das es dein Pfad ist, oder“?
„Aber ich war doch auch nicht als Erster auf den Pfad!“
„Ach so, gab es diesen Pfad den überhaupt schon vor dir“?
„Natürlich gab es den Pfad schon davor“. Sie war sich sicher das der Pfad immer schon da war. Sie war ihm immer schon gefolgt, Alles wofür sie existierte, war den Pfad folgen. Dafür gab es sie beide. Ihr Dasein wurde durch die Gegenwart des anderen ermöglicht.
„Was willst du hier“? Wieder fragte sie, dieses Mal mit der Kraft eines Wüstensturms, die Haut von Knochen und Fleisch riss.
„Ich möchte nur, dass du auf den Pfad bleibst und nicht zu den Anderen hinaus gehst“.
„Zu den Farben“?
„Ja, zu den Farben. Sie meinen zwar groß zu sein, doch eigentlich sind sie noch sehr beschränkt in ihrem Handeln. Sie würden nichts Gutes tun, dich nur sammeln und zu dem anderen Ramsch beifügen. Das wäre schade, Das ist schade für jede, die sie besitzen“.
„ich bleibe ja auf den Pfad, also deine Pflicht ist getan“.
„Nicht ganz. Du wandelst in die falsche Richtung“.
„Nein, ich muss nach vorne, immer weiter nach vorne“.
„Glaub mir, dass musst du nicht“.
„Doch, das muss ich! Deswegen gibt es mich, deswegen gibt es den Pfad“!
„Dann wird es ihn auch geben, wenn du dich umdrehst. Der Pfad geht ewig weiter und irgendwann wirst du eine Abzweigung nehmen. Die Anderen, die Farben, müssen dich nicht bekommen. Nicht jetzt. Für dich gibt es noch anderes zu tun. Also vertrau mir, denn ich werde an deiner Seite bleiben, egal welche Pfade du beschreitest“. Sie war unsicher. Sie wollte weiter, einfach geradeaus, durch das Farbenmeer und den tausenden von Schreien erfüllten Torbogen hindurch. Doch sie tat es nicht. Das Wesen hatte sie berührt, zum Schlechten oder Guten für sie, sie tat was es von ihr verlangte. Sie drehte sich um und schoss zurück. Farben, dann Grau, immer wieder Schlieren. Aus Grau wurde Erde, schwarzes Nichts. Blau wurde zu Wasser, zu Sternen, Rot wurde zu großen pulsierenden Sonnen, wurde zu Feuer. Sie wandelte durch Elemente, endlose Leeren, Lebewesen. Dann blieb sie stecken.
„Hey, sie ist wieder da“! Sie öffnete ihre Augen, ihr gesamter Körper war ein einziger gequetschter Schmerz. Sie blinzelte im Licht der untergehenden Sonne in ein Gesicht das sie freudig anlächelte. Aus ihrem Bauch steckte ein bolzenlanges Eisenstück, der mit einem Verband verbunden war. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte ein Felsen drauf gelegen. Die Erinnerungen ihrer Reise überfluteten ihren körperlichen Geist und ihr blieb nichts anderes übrig, als völlig verstört in das Gesicht zu starren. „Ach du meine Güte“.